Читать книгу Glück in kleinen Dosen - Lise Gast - Страница 4
ОглавлениеNele sprang vom Rad, verzweifelt, den Tränen nahe. Die Luft im hinteren Reifen hielt nicht; dreimal hatte sie nun nachgepumpt, und schon wieder fuhr sie auf der Felge. Dazu dieser fürchterliche Regen, und Gegenwind hatte man ja immer. Erste Erfahrung jedes Radfahrers: Der Wind kommt immer von vorn. Nie, nie würde sie auf diese Weise die andern einholen.
Das war an sich schon betrüblich genug. Nele hatte sich sehr auf die Fahrt mit Hille und ihren Brüdern gefreut, das ganze Jahr über.
„In den Herbstferien darf ich mit Hille Hollmann auf Fahrt!“ Allen mußte sie das verkünden. Und nun hatten sie sie so schmählich im Stich gelassen, waren zeitiger aufgebrochen. „Es sah so nach Regen aus, und da dachten sie, wir machen uns vorher davon“, erzählte Hilles Mutter, als Nele zur verabredeten Zeit in Marienbrunn ankam und dachte, nun ginge es los, zu fünft, zu siebent, vielleicht zu zehnt. „Lange sind sie noch nicht fort, du holst sie sicher noch ein, wenn du ein bißchen schnell fährst. Jaja, Richtung Altenburg.“
Wenn sie sie nicht vor Altenburg erwischte, bestand keinerlei Hoffnung, die Fahrt mitzumachen. Von dort aus wollte Hille nach Thüringen hinein, irgendwo von Jugendherberge zu Jugendherberge – ein genauer Plan lag nicht vor. Nele wischte sich die Tränen aus den Augen und beugte sich zur Luftpumpe hinunter, ließ sie dann aber stecken, plötzlich ganz mut- und energielos. Ihre Windjacke war dunkel vor Nässe, und die Zöpfe hingen ihr wie zwei schwere Schlangen über die Schultern. In den Halbschuhen quatschte das Wasser. Sie richtete sich nicht wieder auf, sondern legte den Unterarm auf die Lenkstange und die Stirn darauf. So stand sie, geduckt und verzweifelt, und weinte nun richtig, stoßweise, schluchzend.
Umkehren kam nicht in Frage. Es war so schwer gewesen, den Eltern die Erlaubnis für diese Fahrt abzuringen. „Du bist zu jung, erst fünfzehn, und gerade mit dieser Hille Hollmann! Sie ist ja nett, aber doch ziemlich unzuverlässig und recht selbstherrlich erzogen. Dazu diese Zeiten, in denen alles so unsicher ist –“
Nele hatte Hille leidenschaftlich verteidigt. Sie wäre nicht unzuverlässig, sie wäre solch ein guter Kamerad, und ihre Brüder würden ja auch mitfahren, und – und – und – bis sie endlich, endlich mitdurfte. Und nun waren die Hollmanns ohne sie losgefahren!
„Sie kann ja nachkommen, vielleicht darf sie wieder mal nicht. Ihre Eltern haben immer gräßliche Angst, sie sind völlig von vorgestern“, mochte sie gesagt haben. Beide hatten recht. Hille und die Eltern. Aber das nützte nichts, hier auf der Chaussee, bei Regen und Gegenwind und mit dem kaputten Fahrrad, allein ...
„Nele!“
„Ja?“
Sie fuhr auf, schnupfte und versuchte, so zu tun, als habe sie gar nicht geweint. Es konnte doch der Regen sein, der ihr vom Gesicht lief. Sie strich hastig mit dem Ärmel darüber. War vielleicht einer von Hilles Gruppe später losgefahren und konnte ihr noch den Anschluß an die andern ermöglichen, wenn er wußte, wohin sie sich wenden wollten? Der durfte nicht merken, daß sie geweint hatte.
Nein, keiner von ihnen. Es war Utz, Utz Schwertfeger, Mutters Mittagstischstudent. Nele fühlte, wie die Enttäuschung neu in ihr aufbrach; es wäre so schön gewesen, doch noch mitzukönnen. Gleichzeitig aber sikkerte ein Tröpfchen Trost in ihr Herz, sparsam zuerst, gleichsam abwartend. Utz war fünfundzwanzig, zehn Jahre älter als sie, und gehörte völlig zu den Erwachsenen. Die hatten, wie man immer wieder feststellen mußte, kein Verständnis für solche Nöte wie die ihren. Utz aber zeigte sich ihr gegenüber immer sehr freundlich, nie herablassend oder gar hohnvoll-verächtlich und spottlustig wie die Brüder, bei denen sie ja immer „nur“ ein Mädchen blieb, noch dazu ein jüngeres. Er brachte es fertig, sie so zu behandeln wie einen gleichberechtigten Menschen.
Vielleicht kam das daher, daß es ihm selbst sehr schlecht ging. Er studierte Chemie und arbeitete in seiner freien Zeit in einer Fabrik für ätherische Öle. Ein übertrieben süßlicher Geruch haftete an seinen Sachen, sie merkte immer sofort, wenn sie heimkam und sein Mantel im Flur hing, daß Utz da sein mußte. Ein- oder zweimal hatte sie ihn auch auf dem Schulweg getroffen. Sein Labor befand sich in der Liebigstraße, durch die ihr Schulweg führte. Einmal begleitete er sie bis ans Tor. Die Mädchen aus ihrer Klasse hatten runde Augen gemacht. Nele fühlte noch jetzt, wie gut ihr das getan hatte.
Utz trug eine alte Lederjacke, Knickerbocker und auf dem Kopf eine Mütze mit Schild, einen sogenannten Blaser, etwas, was bei Hille und ihren Leuten für unmöglich galt. Dort ging man bei Regen, Wind und Sonnenschein ohne Kopfbedeckung. Freilich wurde man dabei auch so naß wie sie jetzt. Aber man ertrug Nässe und Kälte mit Haltung und Stolz.
Das alles ging sekundenschnell durch ihren Kopf, während sie versuchte, Utz zuzulächeln. Er war abgestiegen und lehnte sein Rad gegen einen Chausseebaum.
„Luft raus? So ein Pech. Warte, ich seh’ mal nach, was man machen könnte.“
Nele trat zurück, und während Utz sich um ihr Rad mühte, konnte sie sich die Nase sehr gründlich schnauben.
„Das Ventil ist es nicht, ich hab’ schon nachgesehen“, schluckte sie. Er richtete sich wieder auf und sah sie an, nachdenklich.
„Hier können wir nicht flicken, in diesem Regen!“
„Wir“, sagte er. Dieses kleine Wort lockerte in Nele das, was sie gerade nach hinten geschoben und festgeklemmt hatte: all den Jammer und die Verzweiflung ihrer Situation. Ihr „Wir“ fuhr davon, nach Thüringen, hatte Altenburg sicher längst hinter sich und sie vergessen ...
„Was ist denn?“ fragte Utz, verwundert und mitleidig.
Durch seinen freundlichen Ton brach bei Nele der Staudamm. Sie schluchzte wild, und mit dem Schluchzen kam das zutage, was sie sonst wahrscheinlich niemandem gesagt hätte: die Abneigung ihrer Eltern gegen Hilles Gruppe, der verpaßte Anschluß, die Unmöglichkeit, die andern noch zu erreichen. Alles, alles kam heraus. Nele verstand selbst nicht, daß sie Utz dies alles erzählte; es war wohl ihr Ausgeschlossensein und die Hoffnungslosigkeit und seine freundliche, mitfühlende Art, die das bewirkte. Sogar ansehen konnte sie ihn jetzt, obwohl ihr die Tränen über das Gesicht flossen.
Sie war viel kleiner als er. Und während sie zu ihm aufsah und all diese schrecklichen Zusammenhänge daherstammelte, fiel ihr zum erstenmal die Farbe seiner Augen auf, dieses sanfte, schimmernde Blau. In diesen Augen saß ein zärtliches, ernstes und weiches Lächeln. Er legte eine Sekunde lang seine beiden Hände um ihre Schultern, zog sie ein wenig näher zu sich und sagte halblaut, ohne seinen Blick zu senken, in ihre Augen und, so deuchte es sie, mitten in ihr Herz hinein:
„Still. Hab keine Angst. Ich bin ja bei dir.“
Nie, nie vergaß sie diese Worte. Zauberworte, niemals bisher gehört, ein Leben lang ersehnt, so schien es ihr. Nele hörte auf zu weinen, holte tief Luft, und wie mit einem Schlag war alles gut. Utz sah die Veränderung ihres Gesichts, es spiegelte ihr Empfinden wider wie ein überdeutlicher Film, klar und unmißverständlich. Er lachte. Und dann ließ er ihre Schultern los, ging zu seinem Fahrrad und nahm es mit der einen Hand während er mit der anderen Neles Rad ergriff.
„Es bleibt uns keine Wahl, wir müssen schieben“, sagte er munter, „bis zum nächsten Dorf jedenfalls. Und dort –“ „Dort?“ fragte Nele, nun ohne Tränen, neugierig und gespannt.
„Dort“ – er genoß es, Schicksal zu spielen und diesem kleinen Mädchen helfen zu können. Es tat so gut und wärmte das Herz, der Große und Kluge, der Mächtige zu sein, der den gordischen Knoten durchschlug und alles zurechtbog. Große Sorgen – für sie. Er selbst hatte auch welche, deren sich niemand annahm. Um so schöner war es, helfen zu können und zu merken, ein Mensch vertraute sich ihm an, ohne Rückfrage, gläubig und hoffnungsvoll. Schönstes Gefühl für einen Mann. „Dort“, fuhr er fort, „bauen wir erstmal den Schlauch aus, und ich flicke ihn. Flickzeug habe ich dabei. Und dann rufen wir bei dir daheim an, daß du –“
„Daß ich die andern.,.“ Nele sprach nicht weiter. Er schüttelte den Kopf und verbarg ein winziges, zärtliches Lächeln. O nein, nicht lachen, dieser junge Mensch mußte ernstgenommen werden mit all seinen Schwierigkeiten.
„Aber nein. Ich verrate dich doch nicht. Wir sagen, ich hätte dich getroffen, als du – nun, ehe du in Marienbrunn warst. Und du fährst jetzt mit mir nach Langenbernsdorf. Ich hab’ mir das schon immer gewünscht und deine Eltern oft und oft gefragt, ob du oder deine Brüder nicht einmal zu uns kommen wollten, in den Ferien. Du hast doch Ferien?“
Nele nickte.
„Und Lust?“
Sie nickte wieder, sehr schüchtern aber unmißverständlich. Er fuhr fort:
„Meine Eltern freuen sich bestimmt. Wir haben einen riesengroßen Garten mit Pflaumen- und Apfelbäumen, eine Ziege, einen Dackel – und eine von meinen Schwestern ist auch daheim, die Anne. Du kannst dich an Obst toll und voll essen, es wird nie alle, wir bewältigen es kaum, auch wenn wir verkaufen. Und im Garten ist eine Kegelbahn, weißt du, so eine, bei der die Kugel hängt. Baumelschub nennt man das. Es ist nicht einfach, aber ich zeige dir, wie man kegelt. Oder wir fahren mit den Rädern über Land, zur Göltzschtalbrücke oder in den Werdauer Wald, und früh gehen wir Pilze suchen. Es gibt Unmengen dort, du wirst staunen, und meine Mutter fädelt sie auf und trocknet sie vor dem Fenster.
Und du hilfst mir, die letzten Kartoffeln herauszumachen. Anne backt zur Feier dieses Tages immer Pflaumenkuchen, das war von jeher so. Um diese Zeit muß auch Kirmes sein. Kirmes ist ein lustiges Fest auf dem Dorf, und man bekommt Besuch, so daß Anne immer wieder nach Kaffee laufen muß. Wenn wir Glück mit dem Wetter haben, sitzen wir dann im Garten, und ringsum leuchtet es von Dahlien und Georginen und Astern ...“
Er sprach noch weiter, während sie schon miteinander dahinmarschierten, ruhig und im gleichen Schritt. Nele hatte ihr Fahrrad nun selbst genommen und schob es, während sie zuhörte. Der Regen hatte nachgelassen, es sah aus, als würde es heller.
„Wie lange bleiben Sie denn zu Hause?“ fragte Nele. Dies war schon eine Zusage. Er merkte es und freute sich.
„Weiß noch nicht. Ich kann mich ja nach dir und deinen Ferien richten. Wir fahren dann wieder miteinander zurück nach Leipzig, und ich liefere dich bei deinen Eltern ab. Und wie ich meine Mutter kenne, wird sie uns einen tüchtigen Sack Äpfel mitgeben oder einen Korb Pflaumen, oder beides. Aber eins geht nicht“, unterbrach er sich plötzlich. Neles Herzschlag wollte stocken: Gerade jetzt hatte sie gedacht, sie sei gerettet aus Einsamkeit und Kummer. „Was denn?“ fragte sie erschrocken.
Er lachte.
„Daß du mich ‚Sie‘ nennst. Unmöglich! Was, meinst du, würden meine Eltern sich denken, wenn ich ein ganz fremdes Mädchen, das mich siezt, daherbringe! Ich wollte es dir schon immer sagen. Dein Vater duzt mich, weil er Alter Herr ist bei uns, von Marburg her, du weißt ja – und deine Brüder, weil wir uns im Alter nahe sind. Aber deine Mutter und du, ihr siezt mich immer noch. Könntest du nicht Utz und du zu mir sagen?“
„Doch“, sagte Nele leise, „wenn ich darf?“
Sie sagte nicht: Wenn ich soll. Er lächelte sie an.
„Du darfst. Ich bitte dich darum. Ich habe es mir längst gewünscht. Utz und du, das ist doch viel handlicher.“
Nele nickte. Sie wagte nichts zu sagen, aber ihr Herz dehnte sich vor Stolz. Utz duzen zu dürfen, das erschien ihr wie ein Ritterschlag. Wenn die andern aus ihrer Klasse das wüßten! Nur merken lassen durfte sie sich nichts. So ging sie schweigend und mit möglichst unbewegtem Gesicht weiter. Utz sprach. Seltsam, sonst war er wortkarg, jetzt aber erzählte und schilderte er, lachte und war lebhaft – Nele hatte ihn so noch nie erlebt. Und ehe sie es merkte, hatten sie die Chaussee hinter sich und Espenhain erreicht. Schön waren die sächsischen Dörfer ja nicht – wenigstens hier nicht. Ziegelsteinbauten und Misthaufen vor der Tür, aber was machte das, wenn man nur einen Gasthof fand, in den man erst einmal hineinschlüpfen konnte.
„Telefon wird es hier schon geben und für uns etwas Warmes zu trinken auch“, verhieß Utz aufgeräumt. „Herein, herein meine Dame. Nein, das Stahlroß hole ich nachher. Lehn es ruhig hier an den Zaun, so – und jetzt wollen wir uns erst einmal richtig aufwärmen und trocknen.“
Das Pfarrhaus lag oben neben der Kirche auf dem Berg, der so steil war, daß man nicht nur aufwärts, sondern auch abwärts vom Rad steigen und schieben mußte, wie Utz erklärte. Selbst er stiege ab, kein Rücktritt hielte das aus. Die Kirche war klein und seltsam geformt, sie besaß zwei Türme, einen auf der Giebelseite, den andern als kleinen Dachreiter obendrauf. Hinter ihr standen vier sehr hohe und breite Linden. Die Pfarre war weiß, behäbig, zweistöckig, sie schien von oben her das Dorf zu beherrschen. Nele sagte das. Utz lachte.
„Wir haben jedenfalls den größten Bauernhof hier. Aber das meiste Land hat Vater verpachtet. Nur einen Kartoffelstreifen behalten wir immer, und den Grasgarten. Siehst du die Birke dort? Die pflanzten meine Eltern, als mein Bruder fiel, am Annaberg, in Oberschlesien. Er war Freikorpskämpfer.“
Nele schwieg. Sie war müde jetzt, und alles tat ihr weh, besonders das Kreuz und die Muskeln an den Waden. Langenbernsdorf lag etwa neunzig Kilometer von Leipzig entfernt, sie waren also eine ganz tüchtige Strecke gefahren. Aber man durfte natürlich keine Schwäche spüren lassen sondern mußte tun, als wäre man frisch und munter. Aufatmend ließ sie sich am Fuß des Kirchberges vom Sattel gleiten.
„Komm, ich schiebe mit!“ sagte Utz und faßte an ihre Lenkstange. Sie stiegen langsam und pustend aufwärts. Dann ging man zwischen dem Friedhof links, in dessen Mitte das Kirchlein lag, und dem Lehrerhaus rechts hindurch, direkt auf den Pfarrgarten zu. Utz hielt ihr das Türchen auf.
„Herzlich willkommen!“ sagte er, und es klang beinahe feierlich und gar nicht wie Spaß. Nele argwöhnte immer noch ein bißchen, er könnte in ihr die Kleine, das Kind sehen, wie es die Brüder immer taten.
„So, und nun haben wir Ferien, du und ich“, lachte er und streckte die Arme, nachdem er das Rad weggestellt hatte, „Himmel, bin ich steif – bestimmt hab’ ich morgen einen fürchterlichen Muskelkater. Du auch? Aber wacker hast du dich gehalten, es ist erst vier!“
Er deutete zur Kirchenuhr hinauf.
Miteinander erstiegen sie die Stufen vor der Haustür. Man gelangte in einen hellen, mit Fliesen ausgelegten Flur. Rechts stand die Tür zur Küche offen – niemand war zu sehen – und dann ging es eine steile Holztreppe hinauf.
„Was meinst du, wie oft wir Kinder hier heruntergekullert sind“, erzählte Utz, „allesamt, so sehr Mutter auch aufpaßte. Ich habe mir dreimal das Schlüsselbein gebrochen. – Wo stecken sie nur alle? Mut – ter!“
Sein Ruf hallte, aber niemand antwortete.
„Vielleicht ist jemand im Dorf krank, und sie kümmert sich um ihn. Komm, komm – ach, ich bin froh, erstens, daß ich überhaupt zu Hause bin, und zweitens, weil du mit bist.“
Es war ein großer, rechteckiger, niedriger Raum, in den sie traten, Wohn- und Eßzimmer in einem. Nele fühlte sich sofort heimisch. So etwa hatte sie sich immer einen Wohnraum gewünscht, so und nicht so städtisch und eng wie zu Hause. Am besten gefiel ihr die Ecke. Sie war durch das Klavier, das mit der Schmalseite an der südlichen Fensterwand stand, abgeteilt. Die Rückseite des Klaviers hatte man mit grünem Rupfen bespannt und ein paar gerahmte Fotos daran gehängt, und überall, auf dem Klavier, auf einem Tischchen und der Fensterbank grünte und blühte es von Zimmerpflanzen, üppig und voll. Dann aber entdeckte sie gegenüber die Ofenecke. Nein, die war noch schöner! Nele vergaß alle Schüchternheit und sprang hinüber, hockte sich auf die helle Bank mit den bunten Kissen, die ringsum lief, und jauchzte halblaut: „Oh, ist das schön, ist das schön!“
Utz lachte zufrieden und mit Besitzerstolz. Freilich, der Ofen stellte den Glanzpunkt des Zimmers dar. Er war breit, behäbig und braun. In halber Höhe verjüngte er sich, so daß er dort einen Sims bildete, der sofort an Bratäpfel und deren süßen Duft denken ließ. Ach, und die entzückenden Kacheln!
Sie verdankten ihre Entstehung bestimmt keiner Fabrik, waren quadratisch, nach innen gewölbt und glänzend, und in der Mitte trugen sie einen knallblauen Klecks. Dieser Klecks machte es, er gab dem Ofen das Einmalige, das verschmitzt Lustige bei aller Würde, die ein richtiger Ofen ja ausströmen muß. Nele schmiegte die Wange an den Ofen, als wäre er ein geliebter und vertrauter Mensch, streichelte ihn und zog die Beine auf die Bank herauf, nachdem sie schnell aus den Schuhen geschlüpft war. So saß sie, die Hände um die angezogenen Knie geschlungen, und lehnte sich an die warmen Kacheln.
„Hier steh’ ich nie wieder auf!“
Ach, es tat so gut, so gut, zu sitzen! Das Zimmer war dämmerig, der wilde Wein wucherte allzu dick um die Fenster, und jetzt, Ende September, waren die Tage schon wieder kurz. Aber sie brauchten ja nicht mehr weiter zu fahren, sie waren angekommen, niemand verlangte mehr etwas von Nele. Hille und die andern mochten radeln, wohin sie wollten, ihr war es gleich. Utz stand neben ihr, wärmte sich die Hände am Ofen und lächelte auf sie herab. Es war so unbeschreiblich schön, nach Hause zu kommen und aus einem jungen und frischen Mund zu hören: Hier ist es schön, hier gefällt es mir ...
Es waren verzauberte Tage.
Wenn Nele früh in ihrem Eckzimmerchen erwachte, blieb sie immer noch eine kurze Weile still liegen, gleichsam halb im Traum, aber mit dem beseligenden Bewußtsein, daß es eben doch kein Traum, sondern traumschöne Wirklichkeit war. Die Luft war kalt, so kalt, daß man den Hauch sah, und es roch säuerlich nach eingelagertem Obst. Vor dem Fenster wackelte der Ast eines Apfelbaumes hin und her, meist heftig, denn hier oben blies es um diese Jahreszeit ganz schön. Das Dorf im Tal lag noch im Nebel. Nele rührte sich nicht.
Verzaubert, ja, so kam sie sich vor. Ob sie nun mit Utz’ Mutter über die herbstlich kurzgeschorenen Wiesen ging, dem Wald entgegen, der sich zu färben begann, oder mit Anne Pflaumen aus dem nassen Gras auflas – am Sonntag war also wirklich Kirmes, und dazu mußte es Pflaumenkuchen geben –, oder ob sie allein mit einem Buch in der schrägen Herbstsonne im Grasgarten lag und beim Lesen Äpfel schmauste – sie hatte sehr schnell gelernt, welche Bäume die schmackhaftesten trugen, und es gab so viel, für ein Stadtkind schier unglaublich viel –, immer kam sie sich vor wie in einem Traumland. So etwas gab es doch in Wirklichkeit gar nicht mehr, solch ein Pfarrhaus in einem richtigen Bauerndorf, solche blitzend klaren Morgen, solch hohen, kristallenen Himmel an den Mittagen. Und dazu Utz, diesen erwachsenen Mann, der sich um sie bemühte, als wäre sie auch schon erwachsen, der mit ihr Radtouren unternahm, bei denen man in benachbarten Pfarrhäusern guten Tag sagte und mit Kaffee und dickem Kuchen gelabt wurde, bei denen man kilometerweit die Räder schob und dann, losgelöst wie die Vögel, bergab sauste – ach ja, es war ein märchenhaftes Dasein. Und alle waren nett zu Nele, alle, nicht nur Utz – der natürlich am allernettesten.
Aber auch Utz’ Vater gefiel ihr. Er war uralt, so meinte sie, weißhaarig mit Brille und Bart, einem richtigen kurzen Vollbart, und bei Tisch sprach er mit lustigem Augenzwinkern lateinisch, weil er gehört hatte, daß Nele mit einem ihrer Brüder ein Weilchen Latein gebüffelt hatte. Nele gab sich die größte Mühe, alles zu verstehen, sie versuchte, lateinisch zu antworten, notfalls sagte Utz ihr vor. „Vater hört nicht mehr ganz gut“, erklärte er einmal nebenbei. Seitdem hatte Nele nicht mehr solches Lampenfieber, wenn Herr Pastor Schwertfeger sie ansprach. Und es machte Spaß, richtig zu übersetzen. Das meiste verstand sie übrigens auch ohne Utz’ Hilfe.
Im Garten gab es einen Strauch mit sogenannten Pumpernüssen. Nele kannte diese kirschgroßen, blankbraunen Früchte noch nicht. Sie waren nicht eßbar, aber es machte ihr ein kindliches Vergnügen, sie zu sammeln.
„Wir haben das früher auch getan“, erzählte Anne, die viel und gern im Garten arbeitete. „Einmal hab’ ich es auf tausend gebracht, eher hörte ich nicht auf.“
Nele beschloß, es Anne nachzutun.
Während sie unter dem Strauch hockte und auflas, hörte sie Utz’ Schritt auf der Treppe. Sie blickte nicht hin – aber immer, wenn sie ihn nahe wußte, mußte sie an jene Worte denken, die er gesprochen hatte, als sie allein und verloren auf der regennassen Straße stand, ohne zu wissen, was nun werden sollte: „Sei still. Hab’ keine Angst. Ich bin ja bei dir.“ Niemals, so glaubte sie, habe sie so zauberhafte Worte gehört.
Vielleicht dachte Utz überhaupt nicht mehr daran, daß er sie ausgesprochen hatte, sie aber hörte sie immer wieder, sobald er in ihrer Nähe war. Konnte noch irgend etwas mißlingen, schief ausgehen, einen bedrohen oder bedrücken, wenn man an diese Worte dachte? Nichts im ganzen Leben.
„Nele? Ach, dort bist du. Hör, wollen wir in die Kirche, den Altar schmücken? Am Sonntag ist Erntedankfest.“
Nele krabbelte unter ihrem Strauch hervor, putzte sich die Knie ab und stellte das Körbchen mit Pumpernüssen auf das steinerne Treppengeländer.
„Schön. Hier holt es keiner weg“, sagte Utz zufrieden. „Nun komm, im Schuppen liegt schon einiges, wir laden es auf den kleinen Leiterwagen und fahren es hinüber.“
Der wilde Wein an der Hauswand fing an, sich zu färben. An manchen Stellen war er schon blutrot.
„Wenn im Purpurschein
blinkt der wilde Wein“
summte Utz vor sich hin. Nele kannte das Lied, es stand in Vaters Kommersbuch.
„Wenn die Haselmaus
in ihr Winterhaus
schleppt die allerletzte Buchennuß“
war ihre Lieblingsstrophe. Halblaut fiel sie ein, und nun sang auch Utz richtig. Er hatte einen weichen, gleichsam zärtlichen Bariton.
„Sollt’ ich sterben eh’r
weine nicht so sehr,
weil es schad’ um deine Äuglein wär ...“
„Komm, nimm du von den Karotten dort, nein, nur die allerschönsten, die roten“, sagte er, während er mit beiden Händen einen Kürbis hochhob und hinaustrug zum Wägelchen. „Laß das Grünzeug dran, das gibt einen schönen Kontrast.“
Der Kürbis sah aus wie eine Sonne, strahlend goldgelb geflammt. Nele packte eifrig Karotten und Kohlrabi dazu, und dann lief sie in den Apfelkeller und holte von den schönen gestreiften Gravensteinern, soviel sie mit beiden Armen fortbrachte. Utz kam ihr nach und wählte aus, gelbe und hellere, nur die grauen Reinetten ließ er liegen.
„Die halten mehr als sie versprechen“, sagte er mit der ernsten Sachkenntnis des Pastorensohnes, der hier Jahr um Jahr geerntet hat, eingewintert, sortiert und auch gefuttert. „Und Birnen gehören dazu, die dicken, goldfarbenen. Ja, nimm auch welche von dort, von der Guten Luise. Wart, wir bringen nicht alles auf einmal fort, wir kommen lieber noch einmal wieder.“
Dann zogen sie miteinander das vollbepackte Wägelchen über den Kirchhof.
„Heute abend machen wir ein Feuer hinter der Mauer“, versprach Utz eifrig, „das durften wir als Kinder jedes Jahr tun. Alles vom Kompost kommt rein, was brennt – hach, wie die halbzerfallenen Grabkränze glühen, das Lorbeerkraut schmort und die feuchten Papierblumen zerfallen!“
„O ja!“
Nele sah zu ihm auf, glücklich, als habe er ihr das Paradies versprochen.
In der Kirche war es kühl und dämmerig. Es mutete fremd und seltsam an, hier voller Eifer hin und her zu laufen und zu schleppen, wegkollernde Äpfel einzufangen und sich gegenseitig halblaute Anweisungen zuzurufen. Irgendwie schien Nele die Geschäftigkeit in diesem Raum unpassend. „Komm, hier fehlt noch was, ja, es muß doch eine richtige Pyramide geben! Nein, nicht zu viel, sonst fällt alles auseinander, und die ganze Gemeinde prustet in die Gesangbücher. Was glaubst du, was Vater dazu sagen würde!“
Nele lachte. „Ist das schon einmal passiert?“
„Ja. Da war ich ungefähr so alt wie du jetzt. Der ganze Berg kam ins Rutschen und floß auseinander.“ Utz zeigte ihr, bis wohin die Äpfel und Kartoffel, die Pflaumen und Birnen gerollt waren. „Bis unter den Taufstein, wahrhaftig!“
Nele lachte so laut, daß sie sich unwillkürlich erschrocken den Mund zuhielt. Wenn auch kein Gottesdienst war, quieken durfte man in der Kirche halt doch nicht.
„Das ist der Taufstein?“ Sie stand und sah in das spiegelnde Rund hinein, nachdenklich jetzt, versonnen. „Wurdest du auch hier getauft?“
„Ja, wir alle. Von Vater. Schön, nicht wahr?“
„Schön.“
Wie sie so dastand, das Haar mit einem blauen Band, das eine hübsche Kopfform gab, zusammengehalten, still und andächtig – das rührte ihn seltsam tief. Sie war fünfzehn, so jung, so ganz im Anfang – das Leben sollte ihr nicht wehtun. Sie war so weich, jeder Stoß oder Schlag mußte eine Narbe geben, die nie ganz verheilte, so meinte er zu wissen. Man mußte gut zu ihr sein, gut – und behutsam. Wer weiß, was das Schicksal mit ihr vorhatte, mit diesem jungen Kind, das noch so gar nichts von sich wußte – und von der Welt, der es entgegenwuchs.
„Was hast du?“ fragte Nele jetzt, nachdem sie den Blick zu ihm gehoben hatte und merkte, wie ernst er sie ansah.
„Nichts“, sagte er heftig, heftiger, als er gewollt hatte, und lachte ein wenig geniert. „Nichts, ich dachte nur an etwas. Wir haben noch viel zu tun. Komm!“
Er nahm ihre Hand und führte sie mit sich, so, wie man ein Kind führt. Nele war viele Jahre lang nicht so gegangen, es erschien ihr merkwürdig, auf solche Art geführt zu werden, aber auch seltsam süß.
Sie verließen die Kirche und durchquerten den Gottesacker, gingen aber nicht in die Pfarre zurück, sondern um die kleine Kapelle herum zum westlichen Hang. Dort stand unter Bäumen und verwachsenen Büschen eine Bank. Utz setzte sich, und Nele ließ sich neben ihn ziehen.
Es war noch hell, obwohl die Sonne schon hinter dem gegenüberliegenden Hügel verschwunden war. Der Himmel leuchtete himbeerfarben dort, wo er auf dem schmalen Strich der Erde auflag, weiter oben in starkem Messinggelb, das allmählich blasser und schließlich ganz weiß wurde, silbern, durchsichtig. Darüber begann ein zartes Kristallgrün, in dem der Abendstern stand.
Sie saßen ganz still. Erst nach Minuten wagte Utz, seinen rechten Arm auf die Lehne der Bank hinter Nele zu legen.
„Ein Lied dürfen wir uns nun aussuchen, von denen, die am Sonntag gesungen werden, meine ich“, sagte Utz nach einem langen Schweigen, und er mußte sich vorher ein wenig räuspern, damit seine Stimme so klang wie sonst, „das war immer so. Wer die Kirche schmückte, durfte das. Was möchtest du denn für eins?“
„Und du?“ fragte Nele, ohne sich zu bewegen. Utz sah in die verlöschende Glut des Abendhimmels.
„Ich hab’ ein Lieblingslied, vielleicht kennst du es gar nicht.“ Er summte andeutungsweise die Melodie, und Nele nickte. „Es ist eigentlich ein geistliches Volkslied. ‚Auf Adlersflügeln getragen, übers wogende Meer der Zeit – ‘.“
Er hatte eingesetzt, ganz leise, nur mit Kopfstimme.
„Getragen auf Adlersflügeln, bis hinein in die Ewigkeit –“
„O ja. Das möchte ich gern, daß wir das singen“, sagte Nele, als sie geendet hatten, „steht das in euerm Gesangbuch? Ich habe es noch nie gedruckt gesehen.“
„Im Anhang.“
Utz stand auf. Es war fast dunkel. Ob er mich wieder an der Hand nimmt? dachte sie, während sie ihm folgte. Er tat es nicht. Er schob seinen Arm durch ihren, sacht, mit unglaublicher Vorsicht und Zartheit. Nele war noch nie im Leben mit einem Mann so gegangen.
„Vorsicht, hier geht es bergab“, sagte Utz halblaut, gleichsam erklärend, warum er dies tat.
„Ich fall’ nicht“, sagte sie wie im Traum, und er hörte an ihrer Stimme, daß sie dabei lächelte. Langsam ging sie an seiner Seite dahin und wünschte nur, der Weg bis zum Gartenpförtchen wäre noch viel, viel länger, unendlich lang ...
Etwas Wunderbares erlebte Nele am vorletzten Tag, den sie hier in Utz’ Heimat war. Leider erst an diesem Tag – wie hätte es werden können, wenn sie eher dazu gekommen wäre! Aber auch so war sie glücklich und dankbar, so sehr, daß es Utz bewegte. Er hatte ja nicht ahnen können, an welche Saite er da rührte, überhaupt war ihm nicht klar, wie junge Menschen in der Stadt aufwachsen und welch einen Reichtum es bedeutete, die ersten Jahre seines Lebens auf dem Lande zu verleben, Tieren und Bäumen verschwistert und vertraut ...
Sie waren durchs Dorf gebummelt, Utz und Nele, und er erzählte ihr von diesem und jenem Haus. Wer darin wohnte, ein Schulkamerad, ein Freund, ein Gegner. Im Dorf gibt es unter der Schuljugend Gegnerschaften, die sich durch Jahre hinziehen. Da wird belagert, aufgelauert, gekämpft und gesiegt, und keiner der Erwachsenen ahnt etwas davon. In diesem Dorf gab es eine Müller- und eine Oberdorfpartei. Utz gehörte der Müllerpartei an, obwohl das Pfarrhaus im Oberdorf lag. Der Sohn des Müllers war sein Freund, mit ihm sammelte er seine Getreuen um sich, wenn auf dem Anger hinter der Mühle die Schlachten ausgetragen wurden.
„Daher kann ich so gut werfen“, sagte Utz, „ich habe darin Übung. Unsere Gefechte wurden mit Steinen ausgefochten, im Winter mit Schneebällen. Als ich später in die Stadt kam, ins Gymnasium, da staunte ich, was für eine Aufregung um ein bißchen Steinewerfen gemacht wurde. Dort gab es für jeden Steinwurf eine Stunde Arrest, ja, manche Lehrer gerieten schon außer sich, wenn man sich nur nach einem Stein bückte. Solange wir hier Krieg führten, und das dauerte viele Jahre, ist nie etwas Ernstliches passiert, eine Augenverletzung oder so was. In der Stadt war es strengstens verboten. Anfangs stieß ich gewaltig mit den dortigen Grundsätzen zusammen –“ er lachte halblaut, und Nele merkte, daß er an etwas Bestimmtes dachte.
„Was gibts? Erzähl!“
„Ach, weiter nichts. Ich mußte nur an eine Geschichte denken, die in einem Sammelband steht – er muß übrigens noch da sein –, aus dem Vater uns manchmal vorlas. Die fängt an: ‚Landpfarrersbuben sind eine bitterböse Rasse!‘“
„Wirklich? Das ist aber übertrieben!“ sagte Nele schnell und so bestimmt, daß er lachen mußte.
„Es wird dann auch sofort eingeschränkt. ‚Jedenfalls, solange sie noch Buben sind‘, heißt es. ‚Später werden dann mitunter ganz tüchtige Leute aus ihnen. Aber in den Jahren, wo des Vaters Studierstube noch ihr Gymnasium ist, der oberste Kastanienwipfel ihr Empfangszimmer, die Ortsgemarkung ihr Spielplatz und die Dorfjugend ihr Gefolge, sind sie auf dem besten Wege, gemeingefährliche Herrenmenschen zu werden‘ – oder so ähnlich.“
„Gemeingefährlich!“ sagte Nele halblaut und empört, „das klingt ja scheußlich. Aber wenn ihr spieltet, warst du also der Anführer?“
„Manchmal ja. Nicht immer. Der Fritz und ich – der Fritz ist der Müllerssohn von hier –, wir hielten zusammen. Man sagt ja auch: ‚Pastors Kinder, Müllers Vieh, gedeihen selten oder nie‘. Ja, es muß schon etwas Wahres dran sein. Also mit dem Fritz hatte ich Nibelungentreue geschworen, und da mußte jeder einmal befehlen dürfen. Übrigens beschränkte sich unsere Freundschaft nicht auf das Kriegerische. Wir hatten auch friedliche gemeinsame Interessen. Wir angelten im Mühlgraben und sind dabei unzählige Male ins Wasser gefallen. Mühlgräben sind tückisch, weil sie nicht sanfte, natürliche Ufer haben wie ein Bach oder ein Fluß, sondern künstlich angelegt sind. Die Ränder gehen steil hinunter, und das Wasser reißt sehr. Aber wir konnten seit eh und je schwimmen. Ich besinne mich überhaupt nicht, daß oder wie wir es gelernt haben, wir konnten es eben. Und wir fuhren Boot, machten Kopfsprung vom Mühlenwehr hinunter, tauchten und tobten im Wasser herum. Und dann ritten wir auf den Mühlenpferden.
Es waren zwei Falben, und sie hießen Hans und Liese, wie die meisten Pferde auf dem Land. Für uns aber waren sie die schönsten und kostbarsten Rosse. Wir nannten sie Schimming und Grani wie die Pferde aus der Nibelungen- und Amelungensage. Schimming gehörte dem starken Schmiedsohn Wittich, und Grani war Siegfrieds Pferd. Ich liebte die deutschen Sagen sehr und kannte sie ganz genau. Indianer haben wir fast nie gespielt, immer nur Dinge aus den Sagen. Mir gehörte der Schimming. Vielleicht sind sie noch da, so lange ist es schließlich nicht her, wenn es einem auch vorkommt, als wäre es eine andere Welt.“
„Wir fragen mal!“ drängte Nele mit weit aufgerissenen Augen. „Und mit denen seid ihr dann geritten?“
„Ja, wenn sie nicht gerade zu tun hatten. Sie zogen die Wagen mit den Mehlsäcken und dem gequetschten Hafer, oder sie arbeiteten auf dem Feld. Im Herbst aber, wenn draußen nicht mehr viel zu tun war, dann holten wir sie uns und ritten über die Felder.“
„Hattet ihr denn Sättel?“
„Nein. Es ging auch ohne. Mühlenpferde sind breit und bequem, weißt du.“
Sie hatten die Mühle erreicht. Utz hielt Nele die Tür auf und ließ sie vor sich eintreten, eine Höflichkeit, die Nele von den Brüdern nicht kannte. Sie wurde ein bißchen rot und genierte sich, aber es tat ihr auch wohl. Und dann begrüßte Utz seinen Jugendfreund, dem jetzt die Mühle gehörte. Sie schüttelten sich die Hände und lachten sich an, und Nele und Utz mußten ins Zimmer hereinkommen und sich erst einmal setzen. Später führte Fritz seine Gäste durch sein Reich. Es roch nach Mehl und Sauberkeit und frischem Brot, und auf allem lag ein hauchdünner weißer Puder, auf Säcken und Kästen, Dielen und Geländern. Utz bestand darauf, daß Nele auch das Rad sehen müsse, und Fritz war gutmütig dazu bereit, es laufen zu lassen. Nele stand im Dämmern des Wasserstaubes, halb betäubt vom Rauschen und Donnern des Baches, und staunte hinauf zu dem urtümlich riesenhaften Ding, das sich da drehte, angetrieben von der Gewalt des Wassers.
„Und die Pferde, sind die auch noch da?“ fragte Utz schließlich.
„Natürlich. Von denen trenne ich mich doch nicht!“
Sie traten in den Stall. Auch hier herrschte peinlichste Ordnung und Sauberkeit, wie das in Mühlen so üblich ist. In ihren Boxen, knietief in frischem Stroh, standen die beiden Falben, wirklich noch dieselben, die Utz als Junge geritten hatte, und wandten ihre mächtigen Köpfe den Besuchern zu. Utz trat in den Stand und liebkoste ihre Stirnen und Nasen, und Nele schlüpfte zu ihm, ein wenig bang, aber wie magisch angezogen. Weich wie Samt fühlte sich die Pferdelippe an, wenn sie tastend den Zucker, den Fritz ihnen gab, von der flachen Hand herunternahm.
„Oh, und wie sie riechen! Wie sie riechen!“ stammelte Nele hingerissen. „Pferde riechen so wunderbar – so, wie kein anderes Tier –“
„Dürfen wir mal ein Stück reiten?“ fragte Utz. Fritz nickte gönnerhaft, als verschenke er ein Königreich, und Nele fand das ganz in Ordnung. Das heißt, für sie wäre ein Königreich höchst unwichtig gewesen neben einem Pferd. Mit klopfendem Herzen sah sie zu, wie die beiden Männer die Pferde aufzäumten. Fritz suchte ein wenig an der Wand, wo allerlei Zaumzeug an hölzernen Knäufen hing.
„Hier, nehmt das als Reitzügel, ich habe im Augenblick keinen richtigen da. Mit wem sollte ich wohl reiten, seit du in der Stadt bist.“ Er lachte ein wenig. Nele fühlte ihr Herz zittern. Reiten dürfen! Aber plötzlich fiel ihr ein: Sie trug ja ein Kleid! Was tun?
„Du mußt wohl etwas drüberziehen. Wir holten uns immer die Hosen der Gehilfen“, sagte Utz im selben Augenblick, „in kurzen Buxen ritten wir nicht gern.“
Fritz kam ihnen schon entgegen, zwei Paar helle, verblichene Leinenhosen über dem Arm.
„Da! Jetzt brauch’ ich sie ja nicht mehr heimlich wegzuholen.“ Er warf jedem von ihnen ein Paar zu. Utz ging in die eine Mehlkammer und schob Nele in die zweite.
„Zieh sie einfach übers Kleid und stopf alles hinein. Wie es aussieht, ist egal!“ riet er.
Nele gehorchte. Es ging. Sie kam wieder heraus, Fritz hatte soeben die beiden Pferde in den Hof geführt. Er half ihr auf das eine, während Utz im Stütz auf das andere sprang und das eine Bein elegant hinüberschwang.
„So, und nun schön im Schritt anreiten. Bis nachher!“ Er winkte dem Freund zu. Der stand und sah ihnen nach, während die Pferde durch den Hof trotteten, nebeneinander, ein wenig verschlafen und sehr behäbig. Neles Herz dehnte sich. Sie ritt, oh, herrlich, herrlich! Ein Entzücken ohnegleichen durchflutete sie.
Es geschah ihr zum erstenmal im Leben, daß sie auf einem Pferderücken saß, daß sie die lebendige Bewegung unter sich fühlte.
„Sitz gerade, ja, so! Und mach die Beine lang!“ sagte Utz freundlich, „ja, siehst du, du bist wie für den Sattel geboren! Die Zügel ein bißchen kürzer – na, geht die Liese nicht sofort anders? Wenn wir hier wohnten, ritten wir jeden Tag, du und ich, meinst du nicht?“
„O Utz, jeden! Jeden einzigen Tag! Sag, ist es schwer, zu traben? Ich möchte so gern! Darf man das am ersten Tag?“
„Natürlich. Wir müssen nur warten, bis der Untergrund weich ist, dann traben wir an. Dort auf dem grasigen Weg. Ich reite voran, die Liese kommt immer hinterher, du brauchst gar nicht bange zu sein.“
Nele war nicht bange. Es war ein Glück ohnegleichen, ein Rausch, sanft und gleichzeitig gewaltig, ein Brausen im Kopf, ein Aufwärtsschwingen des Herzens. Sie ritten. Sie trabten. Die breiten Pferderücken stießen kaum, man saß auf ihnen, als habe man immer dahin gehört. Nele war froh, daß sie hinter Utz ritt, auf diese Weise konnte er nicht sehen, wenn sie immer wieder einmal seitlich ein bißchen rutschte und sich zurechtrücken mußte.
„Greif mit einer Hand in die Mähne, wenn du in Wohnungsnot kommst!“ rief er nach hinten. „Alle Anfänger halten sich an der Mähne, ja nicht am Zügel. Damit tust du dem Pferd nur weh. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß du Angst hast. Wollen wir ein kleines Stück galoppieren? Du wirst sehen, Galopp ist die leichteste Gangart, viel leichter als Trab. Siehst du – na wunderbar!“
Der Himmel war seidig und hell, ein wenig blaß, so, wie er in dieser Jahreszeit oft ist, die Luft leicht, leicht zu atmen. Nele fühlte, wie das Blut in der Kühle des Herbsttages in ihr zu kreisen begann, schneller, lebhaft, warm. Es war ein Gefühl ohnegleichen. Noch nie, so glaubte sie, hatte sie derart bewußt und voller Genuß gelebt wie in dieser Stunde auf dem Pferderücken, neben Utz, in der lieblich welligen und herbstlich bunten, ein klein wenig wehmütigen Landschaft seiner Heimat ...
„Nele?“
„Ja?“
„Du bist so still. Bist du müde? Oder fahre ich dir zu schnell?“
„Nein, nein.“
Nun waren sie schon fast in Probstheida. Seit einer Stunde kämpfte sie darum, etwas zu sagen – oh, gleich, gleich würde das Märchen zu Ende und sie wieder daheim sein, die kleine dumme Schwester großer Brüder. Sie würden sie verspotten und über sie lachen, falls sie überhaupt zuhörten, und wenn sie eines Tages merkten, daß sie und Utz sich duzten – ach, spätere Sorgen! Jetzt, jetzt mußte sie es sagen, solange sie noch mit Utz allein war.
Sie setzte an.
„Kommst du wieder mal zu uns zu Mittag?“
Utz antwortete nicht gleich. Er fuhr links neben ihr, sah nachdenklich vor sich hin und dann zu ihr hinüber.
„Nele, ich bin jeden Freitagabend in der Motette. Wenn du mir mal was sagen willst, ich meine – jeden Freitag. Du mußt rechts am Haupteingang warten, und wenn du mich dort nicht erwischst, hinterher beim alten Herrn Johann Sebastian. Dort kann man einander unmöglich verfehlen. Wirst du kommen?“
„Ja. Jetzt sind bald wieder die schönsten Motetten, jetzt, wenn es Winter wird –“
Nele wagte es, zu ihm hinzusehen, und lächelte ihn dann eine Sekunde lang an, leuchtend, glücklich, so, daß er es nie vergaß. Sie hatten einander verstanden. In die Motette konnte sie jederzeit gehen, das fiel zu Hause nicht auf. Unwillkürlich dachte sie an die Adventswochen, die nun in absehbarer Zeit kamen. Da verpaßte man keine einzige Motette. Sie sah im Geist die kleinen Sänger auf der Empore, dick in Mäntel verpackt, wie ihnen ein zarter, hellgrauer Atemhauch vor dem Mund stand, während sie sangen, rein wie Engel, die Augen auf den Primaner geheftet, der dirigierte, während die Kirche voll war von Andächtigen, alle so still, daß man wahrhaftig die berühmte Stecknadel würde fallen hören. „Er ist gewaltig und stark ...“ und „Ein hohes Haus im Himmel steht, zu dem ein Weg von Golde geht ...“, zart wie Filigran auf dunklem Goldgrund. Und hinterher jubelte die Orgel, gespielt vom größten Bach-Interpreten des Jahrhunderts.
Sie waren in Leipzig angekommen. Straßenbahnen rasselten, und dort stand die Pappel, von der aus man die Kilometer zählte, wenn man einander hier traf und zusammen losfuhr. Links, schon ein wenig im Dämmer des Herbstabends, ahnte man grau und wuchtig das Völkerschlachtdenkmal.
„Siehst du, da sind wir wieder“, sagte Utz. Nele sah zu ihm hin.
„Utz“, setzte sie an, eilig, als fürchte sie, doch noch zu versäumen, was zu sagen ihr auf dem Herzen brannte. „Utz, ich dank’ dir auch schön, daß du mich mitgenommen hast. Es war – es war – ich hab’ mich so toll gefreut, du!“ Es klang ungeschickt und verlegen, aber er verstand sie genau. Er nickte ihr zu und schwang sich vom Rad.
„Komm“, sagte er halblaut, aber entschlossen – auch er hatte lange mit dieser Frage gerungen, „komm, wir gehen die letzte Strecke zu Fuß, hier, an der Bahn entlang. Es ist etwas weiter, aber deine Eltern wissen ja nicht, wann wir ankommen. Wollen wir noch eine halbe Stunde zugeben?“