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I.

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„Reni!“

Das war Mutters Stimme. Reni, die gerade quer über den Spielplatz zwischen den beiden Heimhäusern rannte, bremste so plötzlich, daß sie um ein Haar hingeschlittert wäre. Sie hatte zu Christian gewollt, der ihr von drüben winkte. Er sah ihr Rutschen und machte unwillkürlich die Balancebewegung auch, mit der sie sich fing; das wirkte so komisch, daß Reni laut lachen mußte. Und durch dieses Lachen vergaß sie den Ärger, den sie erst gespürt hatte: Mutter rief, wer weiß, was man jetzt wieder unbedingt ‚mußte‘.

Mutter gehörte zum großen Glück nicht zu der Sorte Eltern, die andauernd etwas wollen. ‚Reni, tu dies oder laß das‘, ‚Reni, lauf und hol mir —‘ nein, so war Mutter nicht. Deshalb hatte Reni sich fest vorgenommen, wenn sie schon rief, immer sofort und ohne mauliges Gesicht zu erscheinen.

Mutters Einstellung kam sicher auch davon, daß sie nicht nur für die eigene Familie, sondern für das ganze geliebte Heim am Berge verantwortlich war. So wie die Heimkinder ihre freien Stunden hatten, obwohl auch sie sonst nicht ohne kleine Pflichten waren, respektierte Mutter auch Renis und Christians Freizeit. Jetzt aber hatte sie gerufen, und Reni versuchte in Eile, sich darauf einzustellen, daß dieser erste Ferientag nun keiner werden würde. Dann also begannen erst morgen die großen Ferien. Es kommt nur auf den Standpunkt an, von dem aus man das Leben anguckt, hatte Vater ihr gesagt. Schön, sie wollte es versuchen.

„Ja, Mutter, ich komm schon!“

Reni lief, nicht ganz so schnell wie vorhin, in entgegengesetzter Richtung; immerhin so, daß niemand behaupten konnte, sie trödelte. Und siehe da, sie wurde überraschend belohnt. Mutter hatte überhaupt nicht die Absicht, sie zu irgendeiner zeitraubenden Beschäftigung herzurufen, — Brüderchenhüten, beim Kirschenaussteinen helfen oder Postwegbringen, sondern zu einer Überraschung, die Renis Herz hüpfen ließ.

„Nur einen Augenblick, Reni“, sagte Mutter, „mal sehen, ob dir meine Reithose paßt. Möchtest du sie haben?“

„Die helle?“ fragte Reni atemlos. Mutter besaß eine wunderbare, beigefarbene Jodpurhose, eine von dem Schnitt, den man sowohl zu Stiefeln als auch zu Halbschuhen tragen kann, und die außerdem einen Lederbesatz hatte, einen richtigen, zünftig mürbe gerittenen. Reni hatte sie von jeher um diese Hose heimlich beneidet. Wahrhaftig, Mutter trug sie in der Hand.

„Du bist in letzter Zeit so gewachsen. Eigentlich gehört sich das gar nicht, dreizehn Jahre bist du und fängst an, einem über den Kopf zu schießen.“ Mutter lachte und hielt ihr die Hose mit dem Bund um den Gürtel. Reni sah an sich hinunter.

„Darf ich mal reinschlüpfen?“ fragte sie eifrig. Mutter nickte.

Die Hose paßte. Sie saß wie angegossen, und Reni ließ die Tür von Mutters Stube offen stehen, während sie in den Flur rannte, um sich im großen Spiegel bewundern zu können. Mutter blickte ihrer jungen Tochter nach.

Wahrhaftig, das Mädchen war so groß wie die Mutter! Eine eigentlich ganz unerklärliche Rührung bewegte Mutters Herz: Nun war Reni schon fast erwachsen, und sie hatte so wenig von ihr gehabt. Erst hatte sie das Kind ins Heim geben müssen, weil sie selbst verwitwet und berufstätig war, und als sie Reni endlich zu sich nehmen konnte, hatte das Kind sich heiß und wild zurückgesehnt in ihr geliebtes Heim am Berge. Erst seit anderthalb Jahren lebten beide zusammen als richtige Familie. Mutter hatte Renis Onkel Doktor geheiratet, der Christian, seinen Sohn aus erster Ehe, mitbrachte, und lange Zeit war Reni viel mehr Onkel Doktors Kind und Christians Schwester als ihre, Mutters, Tochter gewesen. Jetzt aber hatte die Liebe zu den Pferden sie beide doch sehr innig verbunden.

„Darf ich sie wirklich tragen?“ fragte Reni, als sie in der Hose wieder kam. Mutter lachte.

„Nicht nur tragen, behalten. Ganz. Ich reite doch nicht mehr“, sagte sie freundlich. Reni bewunderte sie. Diesen Satz ohne Tränen herauszubringen, wenn man so gern geritten war wie Mutter, dazu gehörte ein tapferes Herz. Sie nahm Mutter ganz schnell um den Hals und drückte sie an sich.

„Danke“, sagte sie leise und ein wenig verlegen, „danke, Mutter. Wunderbar! Jetzt bin ich richtig eingekleidet.“ Sie wollte noch etwas hinzusetzen, bremste aber ab, so, wie sie vorhin ihr Rennen abgestoppt hatte. Vielleicht war jetzt noch nicht der richtige Moment, mit dem herauszurücken, was ja wiederum ein Wunsch war, ein wilder, heißer Herzenswunsch. Renis Wünsche waren immer so, das lag in ihrer Natur, und Mutter sah es mit Sorge. Auch jetzt blickte sie nachdenklich auf die Tochter. Dann sagte sie:

„Ich schenke sie dir nicht ohne Absicht, Reni. Verraten darf ich nichts, ich tu es auch nicht, aber ich glaube, du wirst sie in nächster Zeit gebrauchen können.“

„Weil?“ Reni bekam ganz runde Augen vor Spannung. „Weil — ach, sag doch, Mutter!“

„Es ist eine Überraschung, die Vater sich ausgedacht hat“, sagte Mutter nach sekundenlangem Zögern, „wiedermal hat er — ach Reni, wißt ihr eigentlich, was ihr für einen Vater habt, Christian und du?“

„Und Brüderchen, nicht zu vergessen“, fiel Reni stürmisch ein, „wir drei haben einen ganz, ganz lieben Vater, aber auch eine ganz tolle Mutter“, fügte sie schnell hinzu. Mutter durfte nicht zurückstehen, auch nicht im Spaß. „Eine Mutter, die ihre schönste Hose verschenkt — danke danke danke!“

Weg war Reni. Mutter sah ihr nach. Aber sie kannte nun ihre Tochter schon ein wenig: Immer wurde Reni schrecklich verlegen, wenn sie sich freute. Und gefreut hatte sie sich bestimmt!

Reni war die Treppe hinuntergefegt und sauste über den Hof, dorthin, wo Christian noch stand.

„Wie findest du mich?“ fragte sie, nach Luft schnappend. „Mutters beste Hose. Große Klasse, was?“

„Ja, wunderbar, Reni.“

Christian musterte sie von oben bis unten. Reni war in diesem Frühjahr tatsächlich in die Höhe geschossen, dabei dünn geworden, fast mager. Die Haut spannte über den Backenknochen, und das helle Haar, jetzt im Sommer ziemlich kurz geschnitten, unterstrich noch mehr das Jungenhafte, das Reni oft hatte, im Gegensatz zu Erika, ihrer Freundin. Erika sah immer wie ein Mädel aus, auch in Reithosen, und sie war und blieb ein ganzes Mädel, während Reni von jeher lieber ein Junge gewesen wäre.

„Du, ich glaub, er erlaubt’s!“ stieß sie jetzt hervor. „Mutter sagte so was. Er hätte sich eine Überraschung ausgedacht. Und dabei schenkte sie mir die Hose. Geschenkt, nicht bloß geborgt, verstehst du?“

„Hm, das kann natürlich stimmen“, sagte Christian langsam. „Kann, Reni. Du bist ein ewiger Optimist. Immer denkst du, wenn Vater auch nur mit dem winzigsten Finger winkt ...“

„Ich weiß, ich weiß. Und du denkst immer, man muß von Anfang an immer das Schlimmste annehmen, um nicht enttäuscht zu werden“, antwortete Reni hitzig. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß es noch schön auf der Welt ist, wenn man immer und ewig das Schlimmste annimmt.“

Dies war ein Streitpunkt, der oft zwischen ihnen erörtert wurde.

„Unsinn, ich sage nicht —“

„Du sagst —“

„Du läßt mich ja gar nicht zu Worte kommen —“

Puh, der schönste Krach! Und das heute am ersten Tag der großen Ferien, an dem Reni auch noch ein wunderbares Geschenk bekommen hatte! Schämte sie sich nicht?

Doch. Sie schämte sich, und zwar doppelt und dreifach, als in diesem Augenblick jemand in den Spielhof des Heims einbog, ein Jemand, den sie beide gut kannten: Erika! Erika Niethammer! Sie kam zu den Ferien her, und die beiden hatten wahrhaftig vergessen, den Gast abzuholen.

Da stand Erika, mit Köfferchen und Tasche beladen, heiß und ein wenig vorwurfsvoll. Die letzten wütenden Worte zwischen Reni und Christian hatte sie gerade noch mitgekriegt.

„Euch kann man auch nicht alleine lassen“, sagte sie und pustete die Haare aus der Stirn, „uff, nichts als unter die Brause! Um was ging es denn wieder mal?“

„Ach, Christian ist —“

„Und Reni findet —“

Reni nahm Erika kurzerhand am Arm und zog sie im Geschwindschritt durch den Hof, dem Duschkeller zu.

„Das Gepäck bringt Christian. Ja? In mein Zimmer, gelt? Erika wohnt bei mir.“ Weg waren sie.

Christian sah verärgert auf die beiden Gepäckstücke herunter, zögerte und entschloß sich dann doch, sie den Mädchen nachzutragen. Was blieb auch übrig?

„... und wenn es Vater erlaubt, kann Mutter auch nichts dagegen haben“, beendete Reni gerade einen Satz von der Länge einer Riesenschlange. Christian kannte ihre Art, zu reden. Als er bei Renis Zimmer anlangte, zu dem die Mädel, Reni noch immer in der neuen Reithose, Erika im Bademantel, zurückkamen, blieb er stehen.

„Deine Mutter dagegen? Wer ist denn im Leben am meisten geritten?“ hörte er Erika lachend fragen.

„Ja aber — und sie hat selber gesagt, ich wäre so schrecklich gewachsen, und ich müßte eine neue Hose haben, und — Erika, sag doch selbst, das kann unmöglich was anderes bedeuten, als daß ich nun endlich in —“

„Du? Na was denn?“

„Kannst du das wirklich nicht erraten?“

„In den Reitverein darfst, in dem Christian ist?“

„Natürlich. Was denn sonst! Christian reitet doch dort schon ewig. Und ich —“

„Na?“

„Ich darf höchstens auf den Ponys reiten, und —“

„Höchstens?“

„Ach Erika, stell dich doch nicht an wie Fräulein Sonneson, wenn wir maulten, weil wir statt der ewigen Leberwurst auch mal Schinken aufs Zweite-Frühstücks-Brot haben wollten“, rief Reni übermütig. Erika lachte. Ach ja, Fräulein Sonneson, die Hauslehrerin! Sie hatte Erika und Reni ein halbes Jahr lang unterrichtet, als Reni bei Erikas Eltern wohnte, wo Renis Mutter damals angestellt war. Auch jene Zeit, so bitterlich voller Heimweh nach dem Onkel Doktor und dem geliebten Heim am Berge, lustige Stunden hatte sie ihnen trotzdem geschenkt.

„Weißt du noch, wie wir der Mamsell das Gespenst aufstellten?“

„Ja, und dann unterm Wehr? Als du das Schlüsselbein gebrochen hast?“

„Und wie das alte dicke Kutschpferd mitten im Bach stehen blieb, weil es da so schön kühl war, und zu Hause warteten sie mit dem Essen?“

Erika hatte sich trocken gerubbelt und war in den Luftanzug geschlüpft. Hier im Heim lief man so viel wie möglich in sparsamster Bekleidung herum, das war üblich. Auch Reni mußte sich von ihrer schönen Hose trennen.

„Aber paß auf, ich trag sie jetzt oft. Jede Woche! Und du kommst mit und guckst zu, wenn wir reiten, Christian und ich. Oder vielleicht bezahlen deine Eltern dir für die Ferien auch ein paar Reitstunden?“

„Ach, ich weiß nicht. Ich — —“ Erika schwieg. Sie schwieg ausnahmsweise einmal nicht deshalb, weil Reni ihr in die Rede gefallen war, wie sie es meistens tat — sie war allzu stürmisch, auch im Sprechen —, sondern weil sie sich selbst nicht recht darüber klar war, was sie sich wünschte.

„Meinst du, das wird zu teuer?“ fragte Reni, über die Pause in ihrer Redeschlacht beinah betroffen.

„Nein, oder doch, auch — aber — — —. Du, Reni, ich glaub, ich trau mich nicht auf richtige Pferde.“

„Du —?“ Reni blieb der Mund offen. Dann lachte sie. Sie lachte und riß die Freundin an der Hand mit sich, denn sie hatte unten im Hof ein Auto brummen hören.

„Vater kommt!“ schrie sie aufgeregt, „los, wir müssen unten sein, ehe er aussteigt.“ Und Erika mußte mit, ob sie wollte oder nicht.

Sie wollte. Auch sie liebte Renis Vater, den Onkel Doktor des Heims, zärtlich und innig, wie eigentlich alle Kinder diesen großen, dicken, beinah häßlichen, aber so unwahrscheinlich gütigen und klugen Mann liebten. ‚Wenn der Doktor hereinkommt, geht ein Fenster mit Sonne auf‘, hatte einmal eine Patientin gesagt. So ähnlich empfanden es alle, die das Glück hatten, mit ihm zusammenzuleben. Tante Mumme, seine Schwester, die früher das Heim leitete, hatte diesen Posten seinetwegen übernommen, Mutter tat ihm zu Liebe, was sie nur konnte. Auch Christian sprang und lief, wenn er ihm einen Gefallen tun sollte. Reni hatte lange unter einer verborgenen, aber nicht totzukriegenden Eifersucht gelitten, wenn sie das mit ansah. Eigentlich war Vater ja ihr Onkel Doktor, ihr, ihr Eigentum, und alle andern kamen an zweiter Stelle. Sie war sein Kind gewesen, so lange sie denken konnte. Tante Mumme hatte sie zwar gefüttert und gekleidet, aber auf des Doktors Knien hatte sie sprechen und lachen, singen und beten gelernt, sein Kind war sie. Er hatte ihr den Unterschied zwischen Gut und Böse, Heiß und Kalt beigebracht, die Namen der Vögel, die im Winter vor dem Fenster am Futterhäuschen pickten, er hatte ihr die Sternbilder gezeigt und ihr von den deutschen Kaisern und Königen, den Dichtern und Musikern erzählt. Das erste Buch, dessen Blätter sie umschlug, hatte er ihr geschenkt — auch das erste kleine Pferd, auf dem sie reiten und die allerersten Anfänge dieser Kunst erfassen durfte.

Nur „Vater — Vater — Vater —“ hatte es jahrelang in ihrem Herzen geklungen, bis schließlich eine dunkle und angstvolle Zeit ihr auch die Mutter nahe brachte. Noch immer aber saß ganz vorn, ein kleines Stückchen vor Mutter, eben Vater, dieser lustige, verständnisvolle, herzenswarme und unter all diesen Eigenschaften auch sehr ernste Vater, dieser liebste Mensch der Welt. Christian ging es genauso, sie wußte es. Auch Erika.

„Vater, Erika ist da!“ schrie Reni ihm also entgegen, als er — sie hatte das Rennen gewonnen — sich ein wenig ächzend aus dem Auto quetschte. „Erika, und sie bleibt die ganzen Ferien, und Mutter hat mir ihre Reithose geschenkt, bloß so, ohne jeden Anlaß — sie paßt mir genau, denk, so groß bin ich schon!“ Reni mußte immer alles, was ihr Herz bewegte, vor Vater ausbreiten. „Ich hatte sie eben noch an, wenn ich gewußt hätte, daß du so schnell kommst, hätte ich sie anbehalten —“

„Donnerschlag, was du immer zu berichten hast“, lachte Vater, nahm ihren Hals schnell in die Armbeuge und drückte ihn ein wenig. „Und Erika ist da? Na so ein Glück. Komm her, zweite Tochter, und mach vor Vatern eine Reverenz!“

„Guten Tag, und viele viele Grüße von meinen Eltern“, sagte Erika und versank in einem tiefen Hofknicks, der bei ihrem kurzen Lufthöschen sehr komisch wirkte. Sie tat dabei, als hielte sie ein weites, faltenreiches Kleid an den Zipfeln rechts und links und setzte die Füße zierlich voreinander. Reni und Christian klatschten Beifall.

„Wunderbar, hast du im Winter Tanzstunde gehabt?“

„Nein, noch nicht. Ich hab dazu überhaupt keine Lust ohne euch! Tanzstunde ohne Freundin ist blöd“, sagte sie. Der Doktor lachte.

„Bleib doch bei uns, für immer! Wie wär’s? Da könnt ihr im Winter zusammen übers Parkett schweben, in diesem, oder im nächsten, wie ihr mögt.“

„Schön wär’s!“ seufzte Erika, „aber —“

„Aber, ach ja! Das Leben besteht aus Abern“, ahmte der Doktor ihre Sprechweise nach. „Kommt, meine Kinderlein, wollen sehen, was Mutter uns bescheret zum lecker bereiteten Mahl. Sag’s griechisch, Christian!“ fuhr er, übertrieben plötzlich, seinen Sohn an.

Christian grinste.

„Ich hab Ferien.“

„Na und?“

„In den Ferien kann ich nur deutsch.“

„Dann sag du es uns wenigstens französisch, Reni“, sagte der Doktor kläglich. „Laß mich nicht vergeblich leiern!“

„Venez souper à sans-souci!“ rief Reni, schnell gefaßt, und der Doktor vollendete aufatmend:

„J’ai grand appetit! Danke, Reni, du bist doch die Beste und läßt einen alten Mann nicht im Stich!“

Gemeinsam betraten sie das linke Haus des Heims, in dem die Privatzimmer der Familie lagen. Der nächste Schwarm Heimkinder war erst für übermorgen angesagt, man war ausnahmsweise unter sich.

Mutter hatte im Kaminzimmer gedeckt.

„Ihr Scheusäler, die arme Erika nicht abzuholen, noch dazu bei dieser Hitze! Wartet, das vergißt sie euch nicht!“ drohte Mutter den beiden andern. „Dafür darf sie auch heute neben Vater sitzen.“

„Heute? Von nun an bis in Ewigkeit“, bestimmte Vater und faltete genußreich seine Serviette auseinander. „Erika ist ab heute die Lieblingsfrau des Maharadschah, und ihr andern seid alle abgemeldet, Tante Mumme und Mutter und Reni erst recht!“

„Vielleicht will ich gar nicht?“ sagte Erika vergnügt, „vielleicht mag ich den Maharadschah gar nicht? Sondern einen andern Mann viel lieber?“

„Oho, etwa Christian?“ fragte Vater mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Aber wo!“ Erikas Gesicht sprühte vor lustiger Pfiffigkeit. ‚Das Mädel wird hübsch‘, dachte der Doktor lächelnd. „Sondern jemand anderes, den ihr alle anscheinend vergeßt. Meinen Patensohn, jawohl! Wo ist er? Wo ist Stefan, die Hauptperson?“

„Schläft“, sagte Mutter schnell, „aber nicht mehr lange. Dann kannst du ihn bewundern und mitnehmen auf die Wiese und alles, was du willst. Erst aber wollen wir in Ruhe essen und vorher beten. Wer ist dran?“

„Christian.“

„Schön.“

Das Amt des Tischgebets ging reihum, nicht nur unter den Kindern. Je eine Woche lang betete Mutter, dann Vater, dann Tante Mumme, Christian und Reni, jetzt natürlich auch Erika. Vater wußte viele schöne alte Gebete, und Mutter bemühte sich, auch welche zu finden. Es war aber durchaus erlaubt, wenn man nichts Neues wußte, die einfachsten Formeln zu sagen: „Segne, Vater, diese Speise“, oder „Komm, Herr Jesus.“ Trotzdem freute sich jeder, wenn einer wieder einmal ein besonders schönes Gebet brachte, das noch niemand kannte.

Christian hatte einen raschen Blick auf den verschwenderisch bunten Salat getan, der in einer breiten Schüssel mitten auf dem Tisch prangte, und fand, dazu passe der Vers:

„Erde, die es uns gebracht,

Sonne, die es reif gemacht —

Gott gab Sonne, Gott gab Erde,

Gottes nicht vergessen werde!“

Reni kannte den Vierzeiler noch nicht und fand ihn schön.

„Von dir?“ fragte sie halblaut. Sie wußte, daß Christian manchmal Verse schmiedete. Er schüttelte den Kopf. Vater brummte:

„Reni, ich seh in Abgründe deiner Bildung! Schon die alten Ägypter pflegten dies zu beten.“

„Die Babylonier“, verbesserte Christian milde, und wenn Mutter jetzt nicht energisch eingegriffen und bestimmt hätte, über Tischgebete dürften keine dummen Witze gemacht werden, so hätte man das Thema sicher totgehetzt, und weder der Salat noch die neuen, hellschaligen Pellkartoffeln wären voll gewürdigt worden.

„Es sind die ersten neuen Kartoffeln des Jahres, die wir bekommen“, sagte Tante Mumme und schälte mit flinken Fingern, „dabei darf man sich was wünschen.“

„Was denn?“ fragte Reni ein wenig hinterhältig. Die vergnügte Stimmung bei Tisch schien ihr geeignet für ihre Pläne.

„Hast du denn immer noch Wünsche?“ knurrte Vater und tat sehr beschäftigt mit seinem Teller. „Ich dachte dein Herz hätte nun alles, was es je begehrte: eine richtige Familie, zwei Brüder, einen großen und einen kleinen, Ponys — und noch dazu Erika hier. Mehr kann man sich doch wahrhaftig nicht ersehnen.“

„Du vergißt, daß ich heute sogar noch etwas Zusätzliches bekommen habe: die schönste Reithose der Welt“, lachte Reni.

„Na siehst du. Und?“

„Und? Reithosen wollen benutzt werden, reiten dürfen!“

„Das tust du doch jeden Tag, denke ich?“

Die andern aßen und stellten sich, als merkten sie gar nicht, was hier gespielt wurde. Sie wußten es aber alle. Die große Überraschung hing so offensichtlich in der Luft, daß man sie hätte greifen können. Erika brachte vor Spannung fast keinen Bissen mehr hinunter und trat Reni nachdrücklich auf den Fuß, daß die beinah: „Au, laß doch!“ gestöhnt hätte. Nur mit Mühe verbiß sie es.

„Na, dann kommt mal mit, ehe der kleine Schreihals aufwacht“, sagte Vater, als alle fertig waren.

Mutter ärgerte sich jedesmal, wenn Vater Brüderchen so nannte. Brüderchen war wirklich kein ewig schreiender Säugling, es lag oft stundenlang wach im Körbchen, spielte mit seinen Füßen und gurrte vor sich hin. Vater lachte und faßte Mutter unter.

„Du bist beinah wie Reni, die auch auf jeden Leim kriecht“, sagte er vergnügt. „Kommt, meine Trabanten, wir machen einen kleinen Nach-Tisch-Spaziergang.“

Reni wunderte sich. Um ihr zu sagen, daß sie von nun an im Reitverein mittun dürfe, brauchte man doch nicht spazieren zu gehen. Vater tat das sonst nie nach dem Essen, dazu war er viel zu müde, überbeansprucht wie Ärzte nun einmal sind. Er legte sich, wenn irgend möglich, nach Tisch kurz hin, und es war Renis Ehrenpflicht, ihn zur Couch zu begleiten und für alles zu sorgen, was er gern hatte: Vorhänge zuziehen, die Zeitung bereithalten, das Telefon umstöpseln. Heute aber wollte er spazieren gehen.

„Verstehst du das?“ fragte sie Christian halblaut. Der zuckte die Achseln.

Gleich darauf verstanden sie es. Vater dirigierte seinen Planetenschwarm zur Liege wiese, wo die Ponys jetzt wegen der Sommerwärme tagsüber im Schuppen standen, im ‚Schwedenschuppen‘, geschützt vor Hitze und Fliegen. Im selben Augenblick aber, als sie um die Ecke bogen, hörte man es poltern, und dazu erklang ein schrilles Gewieher, so, wie es nur wütend kämpfende Pferde ausstoßen, und dann sahen sie aus der offenstehenden Schuppentür jemanden rückwärts herausfliegen, wie von einem Katapult abgeschossen: Güsti. Güsti, den Alleskönner, den hilfreichen Geist des Heims, der Wasserleitungen legen und Heizungen heilen konnte, mauern, schlossern und tischlern, der Zäune baute und Reifen flickte und sich mit den Kindern, vor allem aber mit Reni und Christian, bei jeder nur möglichen Gelegenheit stritt und neckte. Güsti also flog ihnen entgegen, landete vor ihnen im Gras und kullerte, da es hier ziemlich abschüssig war, noch ein Stück. Es sah aus wie eine Szene aus einem Lustspielfilm.

Reni lachte laut, doch hielt sie sich im nächsten Augenblick den Mund mit beiden Händen zu. Güsti konnte sich ja auch weh getan haben. Auch Christian konnte ein Grinsen nicht verbergen. Einzig Erika sprang hin und versuchte, Güsti aufzuhelfen. Das war etwas schwierig; Güsti gehörte nicht zu den Schlanksten, dazu aß er zu gern und zu viel.

„Ist was Schlimmes passiert?“ fragte Erika und zerrte ihn am Arm. „Komm, Güsti, wart ...“

„Nichts. Aber dieser Satan!“

„Welcher? Welcher Satan? Der Graf?“ fragte Reni sofort. Ihr Ponyhengst sollte ein Satan sein?

„Aber nein, der doch nicht! Der andere ...“

Wieder hörte man das Schrillen, und im Schuppentor erschien ein Ponyhinterteil, das weder Reni noch Erika noch Christian kannten. Es war fuchsrot mit einem etwas helleren Schweif. Gleich darauf sah man das ganze dazugehörige Pony, das rückwärts aus dem Stall drängte, immerzu mit den Vorderbeinen schlagend. Reni und Christian stürzten. Der Graf, Renis etwa ein Meter hoher Shetlandhengst, drängte das neue Pony trotz dessen Gegenwehr aus dem Stall. Sein kleiner strammer Körper war zusammengezogen, der Hals gebogen — nie sind Hengste so schön wie im Kampf. Immer wieder trompete er ohrenzerreißend und schlug mit den Vorderhufen auf den Gegner ein. Der wehrte sich, konnte aber auf der abfallenden Wiese keinen festen Stand fassen. Er war größer als der Graf, sicher zwanzig Zentimeter höher am Widerrist, dick, mit geteilter Kruppe, dem kleinen rabiaten Rappen aber anscheinend nicht gewachsen. Der schlug jedenfalls blindwütig auf ihn ein, und so schön Reni auch dieses Kampfbild fand, brüllte sie ihren kleinen Hengst doch an, so laut sie konnte:

„Graf! Graf! Wirst du wohl? Was fällt dir denn ein!“ und warf sich, ohne eine Sekunde zu zögern, zwischen die beiden. Erika stand mit entsetzten, weit offnen Augen und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. Tante Mumme schrie, und Mutter, die Vater untergehakt hatte, ließ ihn los und wollte auch vorwärts laufen. Vater aber hielt sie am Ärmel zurück.

Christian hatte am überlegtesten gehandelt. Er war mit einem Satz in den Schuppen gerannt, hatte dort einen der Zügel von der Wand gerissen, die sorgfältig geordnet und unter den Namensschildern der Ponys an Haken an der Wand hingen, um jederzeit griffbereit zu sein. Schwupp, hatte er den Zügel über den Hals des kleinen Rappen geworfen, erwischte das zweite Ende durch Geschick oder Zufall auf den ersten Anhieb und konnte den wütenden Kämpfer nun zurückhalten, auf jeden Fall seine vorwärtsdrängende Schnelligkeit mindern. Durch die Kraft des kleinen Pferdes wurde er zwar hinter diesem hergerissen, aber doch nur so schnell, daß es dem dicken Gegner gelang, sich außer Reichweite zu begeben. Da war Reni heran. Sie packte das neue Pony an der Mähne und versuchte, es mit aller Kraft zurückzuhalten. Christian zerrte den Grafen nach der Liegewiese, also bergab, Reni den Fuchs bergauf. Güsti hatte sich aufgerappelt und half, zwar hinkend und stöhnend, aber im ganzen unverletzt. Tante Mumme hörte auf zu schreien und setzte sich auf die Bank, die Güsti an die eine Wand des Schwedenschuppens gebaut hatte. Mutter stand schon neben Reni.

„Hat er was abgekriegt?“ fragte sie als erstes.

Reni beugte sich über ihr Pony.

„Ja, hier — und hier —“

An den Flanken und am Hals sah man ein paar Bißwunden, die bluteten, und das eine Auge war dick geschwollen. Zum Glück konnte Mutter feststellen, daß der Schlag nicht ins Auge direkt, sondern genau darunter getroffen haben mußte. Es blutete, aber nicht sehr stark.

„Und der Graf?“

„Ein paar hat er auch kassiert“, meldete Christian, der mit dem jetzt etwas beruhigten kleinen Hengst um die Schuppenecke kam. „Ist ihm ganz gesund, angegriffen hat er.“

„Und ich dachte, mit einem Wallach wird er sich nicht schlagen“, sagte Vater kopfschüttelnd, „nein, so ein Deivel! Hättest du das hinter deinem sanften Grafen vermutet, Reni?“

„Sanft? Reit ihn mal!“ sagte Reni atemlos. Alle lachten, als sie sich den Doktor auf dem kleinen Pferd vorstellten. Reni wunderte sich erst, dann lachte sie mit.

„Ich meine, du solltest ihn mal kennenlernen, wenn er etwas nicht will — oder etwas will, was er nicht soll!“

„Meist liegt es am Reiter, wenn das Pferd nicht pariert“, sagte Christian, und Erika fragte immerzu dasselbe, ohne daß jemand darauf hörte: „Wo ist die Gräfin? Wo ist der Prinz?“

Alle sprachen durcheinander, wie meist nach wilden Ereignissen, und keiner antwortete.

„Ich glaube, die beiden lassen wir so bald nicht wieder zueinander“, beschloß Christian, während er nicht ohne Mühe den kleinen Hengst am Zügel zurückhielt. Der wollte immer wieder auf seinen Gegner los, stampfte mit den Vorderbeinen wie ein Streitroß und wieherte laut und ohrenzerreißend. Der Wallach benahm sich ruhiger, zeigte aber auch erschrockne Augen, in denen man das Weiße sah, und schlug mit dem Kopf, sobald Reni ihn auch nur ein klein wenig vorwärtstreten ließ, auf den Grafen zu.

„Nein, zunächst nicht“, sagte auch Mutter. „Der Graf bleibt hier, und du, armer geschundener Raubritter, dich bringen wir auf die Nebenweide. Ein Glück, daß wir die haben.“

Güsti hatte vor einiger Zeit die Ponyweide mit einem Zaun unterteilt, damit immer nur die eine Hälfte abgeweidet werden konnte, die andere ausruhte und neu wuchs. So hält man es auf größeren Gestüten. Der Zaun bestand aus festen Pfosten mit dazwischengenagelten Brettern, sogenannten Schwarten, und war rund einen Meter hoch. Da die beiden Ponys, die man bisher hier laufen hatte, nicht viel über einen Meter hoch waren, hatte Güsti diese Zaunhöhe gewählt.

Während Christian also den kleinen Rappen festhielt, gingen Reni und Mutter mit dem neuen Pferd zum Koppeltor. Reni schob die Stangen beiseite, und Mutter führte das kleine Pferd hinüber. Alle warteten gespannt, was nun geschehen würde.

„Soll ich ihn loslassen?“ fragte Christian vom Schuppen aus.

„Ja, mal versuchen!“ rief Mutter. Christian gehorchte, und wie die Kugel aus dem Rohr fegte der kleine Hengst über den Rasen, auf die Zaunstelle zu, hinter der der Wallach stand, und schon hatten sich beide auf die Hinterhufe gestellt und schlugen aufeinander los, trafen den Zaun, trafen Reni, die dazwischensprang, trafen Mutter, kurzum, der Zaun nützte nicht das geringste, wie man sah. Binnen kurzem würde er heruntergetreten und zerschlagen, sozusagen niedergewalzt sein.

„Nun aber Ruhe, oder ihr sollt was erleben!“ keuchte Christian, als er seinen kleinen Wüterich wieder am Zügel hatte. „Jetzt bleibst du im Stall, daß du’s weißt!“

Er haute die Tür hinter dem Grafen zu, daß es dröhnte, und schob aufatmend den Riegel vor.

„Ja, er ist der Zankteufel, er!“ schrie Güsti anklagend. „Der andere ist so sanft, so brav, so artig ... er hat ...“

„Unsern Güsti nur aus dem Stall gefeuert, daß wir dachten, Münchhausen reitet rückwärts auf der Kanonenkugel“, lachte Vater. „Natürlich, nur der Graf ist schuld! Mal sehen, Reni, laß deinen jetzt mal los!“

Reni stand noch immer auf der andern Seite des Zaunes und hielt das größere Pony mit aller Kraft fest.

„Soll ich?“

„Ja, versuch es mal. Der Graf ist ja jetzt nicht zu sehen“, meinte Mutter. Reni ließ die Mähne los. Gleich darauf setzte der Fuchswallach an und sprang mit kurzem Anlauf elegant über den Zaun, dem Stall entgegen. Allen blieb der Mund offen.

„Habt ihr das gesehen?“ flüsterte Tante Mumme. Dieser Satz war ziemlich unnötig, denn keiner hatte den Blick von dem Pony gewandt gehabt. Trotzdem lachte niemand.

„Toll“, sagte Reni bewundernd, und Christian nahm den Fuchs um den Hals.

„In dir steckt mehr, als man meint“, sagte er anerkennend. „Freilich, ob es das richtige ist, daß du so gut springen kannst, möchte ich bezweifeln. Wie hoch muß denn nun ein Zaun sein, damit du nicht drüber kommst?“

Auch Güsti kratzte sich am Kopf. Reni aber war außer sich vor Begeisterung.

„Laß mich mal rauf, Mutter, bitte, bitte! Nur mal zum Ausprobieren!“ bettelte sie. „Gib die Trense, Christian, schnell, aber laß den Grafen nicht raus! Kriegst du sie? Sie hängt gleich vorn, die erste. Sie wird dem Kerl hier schon passen, sonst verschnallen wir sie. Ich muß doch sehen —“ sie trat von einem Fuß auf den andern, brennend vor Ungeduld und Spannung.

„Den Sattel?“ fragte Erika.

Reni winkte ungeduldig ab.

„Brauch keinen Sattel. Los, nun gib schon!“

Das neue Pony ließ sich gutmütig aufzäumen. Mutter hielt es, nicht ohne Bedenken, ob die Sache auch gut gehen würde, und Reni sprang auf seinen Rüchen. Sie hatte sich genau überlegt: sollte sie aufspringen oder sich vorsichtig von Christian hinaufhelfen lassen? Dann aber war sie zu dem Entschluß gekommen, es sei besser, dem Pferd von vornherein den Herrn zu zeigen. Oft und oft hatten sie es bei ihren eigenen Ponys geübt, Erika und sie, aufzuspringen, ohne dem Pferd ins Kreuz zu fallen. Man mußte die Oberschenkel gleichsam wie eine Kneifzange halten und an den Flanken entlanggleiten lassen, so daß das Pferd vom Gewicht des Reiters allmählich und sanft belastet wurde, nicht mit einem Ruck. Man durfte dabei weder zu weit vorn auf dem Hals landen, da konnte man sich nur schwer halten, außerdem tat es weh, auch nicht zu weit hinten, denn das können Pferde nicht leiden. Dann fangen sie an zu bocken, senken den Kopf und hauen mit den Hinterbeinen nach hinten-oben aus, drehen sich dabei im Kreise — viel mehr ist nicht nötig, um einen auch sitzfesten Reiter loszuwerden. Diesmal hatte Reni Glück. Sie kam sofort genau auf die richtige Stelle, kurz hinter dem Widerrist, fand festen Halt und konnte ihr neues Pferd zunächst mal richtig hinstellen. Mutter, Christian und Erika sahen mit kritischen Augen zu, Tante Mumme mit angstvollen und Vater ganz leise schmunzelnd. Dann ritt Reni im Schritt an.

„Na was denn!“ sagte sie halblaut, nahm die Schenkel heran, und schon galoppierte das Pferdchen an, duckte sich zusammen und setzte mit Reni über den Zaun, glatt, wie hundertmal geübt. Reni hatte die Knie unwillkürlich angeklemmt und war mit der Bewegung gegangen, wie es ihr in ihrem jungen Leben wohl noch nie auf Ponyrücken geglückt war. Auch Reiter, die jeden und jeden Tag springen, haben gute und schlechte Tage. Reni mußte heute einen außerordentlich guten haben, das merkte sie selbst.

„Reni!“ quiekte Tante Mumme, die die Kinder noch nie hatte springen sehen. Und —

„Na also!“ murmelte Christian.

Vater lachte. Er ging zu Reni und ihrem Pferdchen hin und tätschelte dem Kleinen den Hals, Reni den Arm.

„Das habt ihr wirklich fein gemacht.“

„Ja, ich hatte Glück, Vater“, sagte Reni ehrlich, aber doch strahlend vor Stolz. Wenn man einen ordentlichen Sprung landete, hatte ihn meist niemand gesehen. Das traf diesmal nicht zu. Sie lachte. Und dann ritt sie ihr neues Pferdchen rasch ein paarmal im Kreis, trieb es mit den Schenkeln, völlig sicher und wie darauf zu Hause. Nach der dritten Runde hatte der Fuchs es satt. Er bockte, setzte seine Reiterin, die an kein Aussteigen mehr dachte, mit Schwung in die Wiese und sprang davon. Alle lachten, Reni am meisten.

„Nun reicht’s für heute, Reni“, rief Tante Mumme und kam mit einem Zuckerstück in der einen Hand gelaufen, um es dem Pferd zu geben und mit der andern Hand Reni festzuhalten, die, o Wunder!, noch lebte.

Reni aber wehrte ab, und auch Mutter sagte freundlich, aber bestimmt:

„Nein, Mummelein, nun muß Reni erst nochmal rauf, und Zucker gibt es erst, wenn der Reiter freiwillig abgestiegen ist. Was denkst du, Pferde haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und dieser kleine Gauner hier würde von nun an immer versuchen, seine Reiter loszuwerden, um dann erstens Zucker zu bekommen und zweitens die Reitstunde zu beenden.“

Das sah Tante Mumme ein. Reni ritt noch ein Stück, sprang dann ab, und nun durfte das neue Pony ganz allein auf der Weide bleiben. Die drei andern, der Graf und die Gräfin samt Prinz, ihrem Fohlen, mußten im Stall stehen.

„Später findet sich schon irgendein Rat“, sagte Vater, und Christian nickte ihm zu. ‚Ich werd das mit Güsti schon hinkriegen‘, hieß dieser Blick. Noch atemlos und aufgeregt verließ die Familie den Schauplatz der Ereignisse.

„Na? Und was sagst du nun zu Vater?“ fragte Mutter schließlich leise in das endlose Fachgesimpel hinein, in dem Reni, Christian und Erika dahinmarschierten. Reni wurde rot.

„Ja: danke natürlich ... aber ich weiß ja gar nicht mal, wem er gehören soll. Oder was — hast du ihn geborgt, Vater, den Fuchs?“

Der Doktor sah sie nachdenklich an.

„Das wollte ich eigentlich sagen, Reni, als Ausrede, weil ich ein rabenschwarzes Gewissen habe. Auch Väter können unter Gewissensbissen leiden, und bei mir war das stark der Fall. Ohne Grund den Kindern ein viertes Pony zu schenken, grenzt das nicht an allzu große Verwöhnung? Aber erstens wachst ihr wirklich allmählich über die Shetland-Ponys hinaus, und zweitens hast du Ostern ein sehr anständiges Zeugnis gebracht, Reni, ich hab das nicht vergessen. Christian übrigens auch. Immer muß so was ja nicht belohnt werden, aber manchmal. Und drittens und hauptsächlich, mein Kind, habe ich das Pferdchen gekauft, weil ich finde, die Pferde sollen endlich ihren eigentlichen Zweck erfüllen: nicht nur, damit ihr drei andauernd damit reitet und fahrt, sondern wegen der Heimkinder. Dieser Fuchswallach soll ein gutes Voltigierpferd sein, deshalb hab ich ihn gekauft. Ihr habt jetzt genug gelernt, um euch selbst auf Pferderücken zu behaupten. Nun soll es endlich damit losgehen, daß auch die Heimkinder oder doch diejenigen, die es gern möchten, etwas davon haben. Weil ich aber nicht vierzig oder fünfzig Ponys anschaffen kann, damit jedes ein eigenes reitet, dachte ich, wir nehmen ein Voltigierpferd. Und das soll dieser Muckel sein. Voltigieren können gut sechs oder zehn Kinder, und wenn der Muckel vormittags eine halbe Stunde läuft, damit die Kinder an ihm turnen, und nachmittags wieder eine andere Gruppe, so können doch alle mal auf einen Pferderücken kommen. Und sie haben ihren Spaß.“

„Ja, o ja, Vater. Aber manchmal darf ich ihn auch reiten — und springen! Frühmorgens — oder abends, wenn die Kinder schon in den Schlafsälen sind, und sonntags — und —“

„Und — und — und — — — Reni, du bleibst doch immer, wie du warst. Denk ein einziges Mal an die andern und nicht nur an dich“, mahnte Mutter leise. Reni wurde rot.

„Also Muckel heißt er“, sagte sie dann, schnell auf ein anderes Thema kommend, „eigentlich kein sehr schöner Name, wenn man Graf und Gräfin dagegen hält. Und wie werden wir es schaffen, ohne daß er und der Graf sich gegenseitig zusammenschlagen?“

„Reni“, sagte nun auch Erika, leise und ziemlich mahnend, „du hast schon wieder vergessen ...“

„Richtig. Ich bin ein Scheusal. Danke, Vater“, sagte Reni und sprang dem Vater an den Hals. Er tat, als fiele er von diesem Ansprung um, nahm sie dann um die Schulter und ging so mit ihr vor den andern her, dem Hause zu.

„Bitte, Reni. Gern geschehen“, sagte er, und es klang, als wollte er noch mehr sagen. Aber er schwieg. Und sie waren auch schon am Hause angelangt.

Reni zog ihn die Treppe hinauf, wie sie es als kleines Kind getan hatte, wenn er unten stand und jammerte, er könne nicht mehr, und bugsierte ihn liebevoll-übermütig in sein Zimmer.

„Hoffentlich hast du nun noch eine Viertelstunde Ruhe“, sagte sie und warf ihm eine Decke über die Beine, strich sie glatt, so daß der Doktor sich schreiend unter dieser Liebkosung krümmte.

„Laß midi leben, bitte!“

„Ach, Vater.“ Sie kam noch einmal zum Kopfende der Couch, beugte sich herunter und küßte seine braunrote Wange mit den tiefen Falten. „Ich danke dir, ich danke dir sehr, sehr schön!“

Erst als sie die Tür, so leise wie möglich, hinter sich zugemacht hatte, fiel ihr ein, daß die Überraschung, auf die sie gewartet hatte, eine ganz andere geworden war. Sie blieb stehen und sah auf ihre Fußspitzen herab, nachdenklich, minutenlang. So fand Christian sie, der zufällig vorbeischlenderte.

„Na?“ fragte er und gab ihr einen kleinen Puff.

„Was denn: na?“ sagte Reni gereizt. Das war ja das Scheußliche an Christian: er wußte immer, was man dachte. Es war die reinste Zauberei bei ihm.

„Gar nicht na, daß du es nur weißt“, sagte sie und gab ihm einen viel gröberen Puff, um gleich danach die Treppe hinunterzusausen, schnell, schnell, schneller, als er hinterhergucken konnte ...

Brüder machen manchmal Kummer

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