Читать книгу Die unsichtbaren Fäden - Lise Gast - Страница 5

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Im Spätsommer gab es viel zu tun, viel zu bedenken, viel zu organisieren. Das Semester fing zwar erst im Oktober an, aber Krister fuhr schon jetzt nach Hamburg, wo er Biochemie studierte; dort war es ihm gelungen, einen Laborplatz zu bekommen. Martin blieb in seiner Lehrstelle, er arbeitete in einer Buchhandlung in Göttingen. Hans, der nach dem Abitur seine Militärzeit als Sanitäter abgeleistet hatte, wollte in Erlangen anfangen; er hatte sich zur Theologie entschlossen und würde zunächst bei Bekannten seines Vaters wohnen, bis er ein Zimmer fand. Er brach gleichzeitig mit Krister auf. Vaters Freund in Erlangen hatte ihm einen interessanten Ferienjob vermittelt.

Bess war sehr verwundert, als Martin eines Tages ihr und Richard verkündete, er hätte die Budenwirtschaft satt und habe sich ein Auto gekauft. Er werde täglich zur Arbeit fahren und zu Hause wohnen. Die Aussicht, den Sohn wieder daheim zu haben in der zweifellos kritischen Zeit, in der die Kinder sich vom Elternhaus zu lösen pflegen, beglückte Bess so sehr, daß sie nicht verstand, wie unwillig Richard darauf reagierte.

»Natürlich kann er sich diese alte Schleuder kaufen, wenn er sie selbst bezahlt, dazu braucht er unsere Erlaubnis nicht«, sagte Richard. Martins VW zeichnete sich nicht gerade durch übergroße Modernität aus. »Aber der nächste Winter kommt bestimmt, wie uns die Kohlenhändler so klar vor Augen führen. Na, und im Winter damit auf der Straße liegen – danke schön. Außerdem hätte er vorher mit mir sprechen können, statt mich vor vollendete Tatsachen zu stellen. Vielleicht sogar dich fragen, ob es dir recht ist, daß er wieder zu Hause wohnt.«

»Warum soll es mir denn nicht recht sein?« Bess war ehrlich verblüfft. »Es ist doch selbstverständlich, daß er zu Hause wohnen kann.«

»So. Immer. Immer ist es dir selbstverständlich, wenn sie etwas von dir verlangen.« Richard war so heftig, wie es sonst nicht seine Art war.

Bess schwieg betroffen.

Gerade kam die Kindergärtnerin, um etwas zu fragen. Sie war ein nettes junges Mädchen, und Richard widmete sich ihr. Bess ging hinaus in den Garten und sprach mit dem alten Mann, der ihr bei den schwereren Arbeiten half, einem Rentner, dessen Gehör nachzulassen begann. Sie nahm Richards Verstimmung nicht allzu ernst. Vermutlich verstand er seine Heftigkeit selbst nicht mehr.

Bess lief umher und versuchte, die mannigfaltige Arbeit zu bewältigen. Um diese Zeit gab es viel Zusätzliches: Die Wintersachen der Familie sollten durchgesehen und ergänzt werden, Krister und Hans mußte sie einige Kleidungsstücke nachschicken, vielerlei am und im Haus war zu richten. Die Apfelbäume trugen in diesem Jahr schwer. Obst ist eine Gabe Gottes, und Bess erinnerte sich der Zeiten, da eine Handvoll davon ein Vermögen bedeutete. In Süddeutschland vermostete man die Äpfel, hier wurden sie eingekocht, und das brauchte Zeit.

Bess setzte sich an den Gartentisch in die milde Sonne, um Äpfel zu schneiden, und dabei stellte sie sich vor, wie hübsch es wäre, eine Tochter neben sich zu haben, die ihr dabei half. So eine wie Friederike. Daß diese Tochter gar nicht hier säße, sondern in der Schule wäre, jedenfalls vormittags, und nachmittags ihre Schularbeiten machte oder lieber schwimmen ginge, vermutlich in männlicher Begleitung, das fiel ihr nicht ein.

Gleich darauf erschien eine Gastarbeiterfrau, eine Griechin, mit ihrem Kind, das sie trotz des warmen Tages dick in ein Wolltuch eingewickelt auf dem Arm trug. Es war krebsrot und schrie.

Bess betrachtete es mitleidig.

Diese Frau Zapkeni hatte Vertrauen zu ihr gefaßt, seit Bess einmal alle Griechinnen, Türkinnen und Italienerinnen, die im Dorf lebten, mit ihren Kindern zu einem Gartenfest eingeladen hatte. Lange hatte sie überlegt, was man miteinander treiben könne, ohne die Sprache zu beherrschen, vom Topfschlagen bis zum Wurstschnappen und den Ballspielen. Richard konnte an dem Tag nicht dabeisein, also mußte es Bess allein schaffen. Hans hatte ihr dann geholfen. Ihn darum zu bitten, wagte sie nicht; wie manchmal kam er jedoch später von selbst, scharte die kleineren Jungen um sich und begann, mit ihnen Kreisball im Sitzen zu spielen. Da ging es lustig zu, und man hörte lautes Kreischen in verschiedenen Sprachen, auch mal ein deutsches Schimpfwort dazwischen.

Die Kinder saßen im Kreis auf dem Rasen und mußten einander einen Ball zuwerfen, ohne daß einer, der in der Mitte stand, ihn erwischte. Hans ging zuerst selbst in die Mitte, er warf sich wie ein Torwart hinter dem Ball her, überschlug sich, kugelte zwischen den erst ein wenig verdutzt dreinschauenden kleinen Murillos herum und steckte sie allmählich mit seinem Eifer an. Den größten Erfolg aber hatte Richard, der nach einiger Zeit heimkam und sogleich in den Garten ging, um nachzuschauen, wie die Sache lief. Er bat, in den Kreis zu dürfen, und die Jungen klatschten Beifall. Sie wurden aber enttäuscht, wenn sie gehofft hatten, der »Herr Farr« würde sich recht blamieren. Richard hatte früher viel Handball gespielt, er sprang und reckte sich im Sprung, und binnen kurzem hatte er den Ball erwischt, so daß ein anderer in den Kreis mußte. Die kleinen Mädchen, die inzwischen von Bess beschäftigt worden waren, verloren das Interesse und drängten sich zu den Jungen. Zuletzt war alles ein wildes Getobe, sogar ein paar südländische Mütter taten mit. Bess war hinterher zerrauft, erhitzt und sehr glücklich. Sie verabschiedete jede Mutter und jedes Kind mit Handschlag und Namen.

»Und wie schön manche Namen klingen! Evangelia und Romeo und Petros und Antigone – wenn sie auch Antigónne ausgesprochen wird«, sagte sie und lachte erschöpft. »Ja, auch die eigenen Eltern sprechen diesen klassischen Namen unklassisch aus, ich hab aufgepaßt. Fehlt nur eine Penelópe.«

Frau Zapkeni also hatte damals auch mitgespielt oder doch zugesehen, dabeigewesen war sie bestimmt, Bess erinnerte sich jetzt wieder genau. Sie führte sie ins Haus und bat sie, das Kind auszuwickeln. Es hatte überall kleine rote Pusteln, Wind- oder Wasserpocken wahrscheinlich.

»Du zum Doktor gehen, Doktor wieder gesund machen«, sagte sie in der ungeschickten Art, in die man so leicht verfällt, wenn man mit Ausländern spricht.

»Geschrien hast du, als wäre die arme Frau taub«, sagte Richard später, als sie davon erzählte. Er war im Nebenzimmer gewesen.

Bess schämte sich ein wenig. »Aber . . .«

»Aber daß sie kam, war ein Erfolg!« Er lächelte.

»Hättest du die Frauen damals nicht eingeladen, dann wäre das nicht geschehen. Übrigens, wie ist es mit dem diesjährigen Bazar? Ich will ihn früher ansetzen als im letzten Jahr, damit ich mit meinen Terminen zurechtkomme. Kann ich wieder mit deiner Hilfe rechnen, oder hast du zuviel zu tun?«

»Natürlich helfe ich! Bis dahin habe ich alles Obst im Garten verkraftet«, sagte Bess, beglückt durch sein Lob. Der Spielnachmittag mit den Ausländerinnen war ihre Idee gewesen. Sie rieb die Nase an seinem Ärmel. »Ich mach wieder Pferdchen, die werden so gern gekauft.«

Handgroße Pferdchen aus Leder herzustellen gehörte zu ihren liebsten Basteleien. Sie verstand sie so zu nähen, daß jedes anders, jedes in seiner Art reizend wurde. »Eigentlich zu schade zum Verkauf«, sagte sie manchmal und legte die Wange an das weiche Leder des soeben fertig gewordenen Tierchens. »Na, wer es kauft, der freut sich.«

Beim Bazar im Gemeindehaus hoffte sie, einige der Gastarbeiterfrauen wiederzusehen. Ihr lagen sie sehr am Herzen, vor allem aber deren Kinder. Die Erwachsenen würden sich immer zurücksehnen, sie würden nie richtig heimisch werden in diesem Land, in das sie zogen, weil ihre Männer hier auf Arbeit hofften. »Fern im Süd das schöne Spanien – Spanien ist mein Heimatland.« Ein kitschiges Lied, zugegeben, aber doch eins, das diese Sehnsucht veranschaulichte. Die Kinder jedoch, die hier zur Schule gingen, sich mit deutschen Kindern schlugen und vertrugen, deren Herzen sollten nicht mitten durchgerissen sein zwischen zwei Heimatländern, von denen keins das ganz richtige war. Bess hatte sich von Anfang an dafür eingesetzt, daß sie hier ein Zuhause finden sollten. Nach dem Bazar plante sie in jeder Woche eine Müttersprechstunde einzurichten, und im Januar oder Februar wollte sie mit ihnen eine Schneewanderung machen, allein mit all diesen Kindern, ohne Mütter, die so auch einmal einen freien Tag haben sollten.

Am liebsten wäre sie jetzt schon mit ihnen losgelaufen. Es war ein bezaubernder Spätsommer in diesem Jahr, klar, zart, durchsichtig. In der Frühe dachte Bess immer wieder an das Engelein mit den rosigen Füßen und fand, daß man dieses Gedicht auch singen können müsse. Vielleicht war es schon vertont, und sie wußte es nur nicht? Zu schade, daß man so wenig zur Musik kam! Sie erinnerte sich gern an den Nachmittag, als sie mit Hennings zusammen gesungen hatte. Singen macht froh, und gemeinsam singen erst recht, es verbindet auf eine geheimnisvolle Weise.

Der griechische Besuch hatte noch ein Nachspiel, von dem Bess aus einer gewissen Scheu heraus Richard nichts erzählte. Sie hatte Frau Zapkeni kurz entschlossen in den Wagen gepackt und zum Kinderarzt gefahren, womöglich ging die Griechin sonst nicht hin. Zudem gab es in der Kreisstadt eigentlich immer etwas zu besorgen. Bess tat das in jener Hochstimmung, in der Dorfbewohner die »Stadt« genießen, sah Schaufenster an und kaufte Mitbringsel. Danach lenkte sie den pastörlichen Wagen heimwärts, den sie wieder einmal ungefragt genommen hatte, und hielt an, als ein Mann am Straßenrand winkte. Richard hatte sie oft gewarnt, jemanden mitzunehmen, brachte es aber selbst nicht fertig, an einem armen Tramper vorbeizufahren. Außerdem war die Straße hier belebt, und innerhalb von zehn Kilometern würde schon kein Raubmord an ihr verübt werden, dachte Bess, als sie sich ihren Mitfahrer näher besah. Er war – Gesetz der Serie – offensichtlich ein Gastarbeiter, Italiener, wie sich alsbald herausstellte. Etwas Deutsch verstand er, und das nützte er sogleich, um Bess nach drei Minuten Fahrzeit zu fragen, ob er sie küssen dürfe. Bess verneinte entrüstet. So weit, meinte sie, gehe die Verbrüderung denn doch nicht.

»Na, man wird ja wohl mal fragen dürfen«, antwortete er friedlich und überraschend flüssig. Da mußte sie wieder lachen.

Und dann kam Eves Anruf: Sie seien auf der Rückfahrt, ob sie tatsächlich kommen sollten? Bess sagte vergnügt und sehr dringlich zu. Dann lief sie hinauf in Richards Reich, klopfte an der »Wartburg«, seinem Zimmerchen unterm Dach, und steckte den Kopf durch den Türspalt. »Sie kommen, sie kommen doch! Du hast richtig geweissagt – oder heißt das: weisgesagt? Egal, sie kommen. Freust du dich?«

»Hennings? Eve?« fragte Richard.

»Ja, sag ich doch. Ist doch meine Rede Tag und Nacht . . .« Tür zu und wieder hinunter. Hier in seinem Studierzimmer durfte sie ihn eigentlich nicht stören, und wenn, dann nur ganz kurz. Mit manchem aber mußte sie zu ihm, sofort, mit sehr guten und – natürlich – auch sehr schlimmen Nachrichten.

Hennings kamen spät in der Nacht, sie waren braun gebrannt und schienen von ihrem Urlaub höchst befriedigt zu sein. Eve saß noch eine Weile mit Richard und Bess wach, die Kinder trollten sich eher.

»Wir bleiben ja noch einen Abend! Ihr habt uns versprochen, daß wir bleiben dürfen«, sagte Eve, als sie sie schlafen geschickt hatte.

»Eine tolle Unternehmung«, sagte Richard bewundernd, als er hörte, wo überall sie gewesen waren. »Und du bist alles selbst gefahren? In Italien, wo Stoppschilder überbraust und Kurven geschnitten werden, daß es nur so raucht?«

»Nicht alles«, gestand Eve. »Christiane hat mich oft abgelöst, aber eine Strapaze war’s schon manchmal. Immerhin, solch eine Familienunternehmung hat es noch nie gegeben, und wer weiß, wann es wieder einmal dazu kommt. Ich bin froh, daß ich es riskiert habe. Zu Hause wartet allerlei Mißliches auf mich, da ist es gut, wenn man vorher Sonne und Abwechslung genossen hat. Wir sind länger weggeblieben, als wir eigentlich wollten.«

Am andern Morgen war sie zeitiger auf als erwartet. Sie frühstückte mit Bess allein. Richard war noch nicht wach. Sie schwatzten. Die Sonne schien. Es war ein Morgen mit Seidenwölkchen.

»Ihr hattet es also schön? Wie ich dir das gönne!« sagte Bess herzlich.

Eve nickte ihr zu. »Ja, wirklich. Die Kinder waren nett und aufgeschlossen. Es ist doch heute so«, sie lachte ein wenig trübe, »daß die Eltern erleichtert sind, wenn die Kinder nur gute Laune haben. Als wir Kinder waren, war es genau umgekehrt. Da hatten wir uns nach der Stimmung der Altvorderen zu richten. Jetzt tanzt man Eiertänze, damit man die holde Nachkommenschaft nicht verärgert.«

»Sollte man aber nicht«, sagte Bess und wußte, daß es tatsächlich so war, mehr oder weniger ausgeprägt natürlich, aber doch fast überall. »Ich tu es auch, mitunter jedenfalls. Was meinst du, wie es mir den Tag verdirbt, wenn Martin mit seinem Brummgesicht auftaucht und sich kaum herabläßt zu antworten, wenn ich ihn was frage! Er ist das, was man einen Morgenmuffel nennt. Freilich fall ich ihm wiederum auf die Nerven, wenn ich früh gesprächig und munter bin . . .«

»Und vielleicht nicht ganz leise?« fragte Eve ein wenig hinterhältig.

Bess mußte das leicht beschämt zugeben. »Kann sein. Aber Richard stört es ja auch nicht. Doch um noch einmal darauf zurückzukommen: Da wird immer von Partnerschaft zwischen jung und alt geredet, aber da müßten sich doch beide Partner bemühen, meine ich. Früher, als die Eltern einfach verlangten, die Kinder hätten so zu sein, wie sie es sich wünschten, war es auch verkehrt. Nein, beide sollten aufeinander Rücksicht nehmen und den andern respektieren.«

»Sollten, ja.« Eve seufzte. »Aber man ist goldfroh und dankbar, wenn. Unterwegs ging es ja ganz gut, wie gesagt. Meistens wenigstens. Ich habe mich sehr bemüht und die Kinder wohl auch. Es war sehr schön – wer kann das schon sagen am letzten Urlaubstag!«

Ich glaube, ich würde es immer sagen können, dachte Bess. Wir haben es nur noch nicht ausprobiert. Immer kam was dazwischen, wenn wir einmal fortwollten, aber ich denke es mir sehr schön. Und Eve hat vielleicht ein bißchen ein negatives Talent. Wenn sie von ihren »vielen« Kindern spricht, seufzt sie. Dabei kann sie mit ihnen wahrhaftig zufrieden sein. Früher hatte Eve, meine ich, mehr Humor, aber zur Ängstlichkeit neigte sie wohl von jeher.

Zu Eve aber sagte sie: »Du hast es wohl verdient, daß es so schön und ohne Trübung war.«

»Ich weiß nicht. Hoffentlich bleibt es nun auch daheim erträglich zwischen uns. Du glaubst nicht, welche Schwierigkeiten Töchter oft machen, du hast keine, da ahnst du es nicht. Söhne, ja, mit denen auszukommen ist für eine Mutter viel leichter. Auf Daniel kann ich mich am meisten verlassen.«

»Söhne können auch schwierig sein, wenn sie größer werden.« Bess dachte an Krister, der mit achtzehn, neunzehn Jahren plötzlich Nacht für Nacht wegblieb, der . . . Nein, sie sagte nichts davon.

Eve tat ihren Einwand auch sofort ab. »Vielleicht. Aber mit Töchtern ist es zweifellos schwieriger. Wenn sie anfangen sich zu verlieben und man ahnt nicht, in wen. Du machst dir keinen Begriff. Sei froh!«

Es klang betrüblich. Bess wollte widersprechen, ließ es dann aber sein. Eve mußte sich wohl einfach einmal aussprechen.

»Du hast es gut. Mit dir würde ich tauschen. Dieses geräumige Haus« – du würdest dich schön bedanken, wenn du hier treppauf treppab laufen müßtest, dachte Bess – »und dieser Mann! Zu zweit sein, beschützt zu werden, ja, wer das noch hat, schätzt es nicht oder doch zu wenig. Ich bliebe am liebsten hier, weißt du das? Verzeih, Bess, wenn ich das sage. Aber es ist schwer, ohne Mann durchzukommen, die Sorgen um die Kinder allein zu tragen, jedem Vorwurf der jüngeren Generation allein gegenüberstehen zu müssen, als Witwe immer nur halb zu zählen – ja, das ist so. Als Witwe ist man abgewertet in der Gesellschaft. Man wird geradezu bestraft dafür, daß einem der Mann genommen wurde. Gerecht ist das nicht und schön auch nicht, kann ich dir sagen.« Sie schwieg.

Bess schwieg ebenfalls. Was sollte sie auch sagen. Natürlich war es leichter zu zweit. Aber ein bißchen ärgerlich war sie doch, daß Eve dachte, sie selbst trüge alle Last der Welt und Bess habe es wie ein Königskind. Drei Söhne großzuziehen, war das gar nichts? Und Eve war sicherlich der Meinung, alle Verantwortung für die Erziehung trage Richard. Freilich, er gehörte nicht zu der Art von Vätern, die der Mutter die ganze Erziehung überlassen und nur schelten, wenn es einmal nicht geradeläuft, sondern schief. Dennoch: der Mann mußte ja auch umsorgt und vor vielem abgeschirmt und gesundheitlich überwacht werden, aber davon wußten die Frauen wiederum nichts, die keinen mehr hatten, obwohl sie sich eigentlich erinnern müßten. Daß man ihm vieles nicht sagen konnte, weil man ihn nicht aufregen oder verstören wollte, daß man ausglich und zum Guten wendete und damit oft den Kindern gegenüber falsch handelte oder sich entscheiden mußte: Hier Mann, hier Kinder . . . Trotzdem!

»Hauptsache, ihr hattet es schön, das ist doch unverlierbar«, sagte Bess sozusagen als Resümee. »Und heute nachmittag singen wir, nachmittags und abends. Ich habe viele Liederbücher herausgesucht und zurechtgelegt. Ich freu mich, daß ihr euch Zeit mitgebracht habt.«

»Ja, ich freu mich auch. Ich möchte aber erst noch einmal in die Stadt, einiges besorgen, ehe die Kinder aufwachen«, sagte Eve. »Deshalb bin ich so zeitig aufgestanden. Vielleicht fährst du mit?« Es klang sehr herzlich.

Bess bedauerte, nein sagen zu müssen. »Heute nicht, Eve, schade. Aber könntest du mir ein paar Kleinigkeiten besorgen? Damit tätst du mir einen großen Gefallen. Soll ich es dir aufschreiben?«

»Ja, bitte. Aber schreib groß, damit ich die Brille nicht brauche.« Eve zog die Mundwinkel herab. »Jetzt ist man ja schon in dem Alter, in dem man bei allem, was man lesen will, nach der Brille greift. Freilich . . .«

»Du könntest bald Großmutter sein«, sagte Bess. Es klang belustigt und gleichzeitig ein wenig neidvoll.

»Mädchen beeilen sich mehr als Jungen. In Christianes Alter haben manche Töchter längst mit der nächsten Generation angefangen.«

»Wahrhaftig. Ist das nun ein Vor- oder ein Nachteil?« fragte Eve lachend.

Bess erinnerte sich später, daß sie eigentlich nie so nett und jungmädchenhaft gelacht hatte wie in diesem Augenblick. Der Urlaub hatte sie erfrischt. Das Haar, ein wenig verwildert, sträubte sich um das gebräunte Gesicht, jung sah sie aus, absolut nicht nach Großmutter. Bess hatte nur sekundenlang aufgesehen und schrieb dann weiter. Als sie den Blick erneut hob, stand Eve am Fenster.

»Es wird ein schöner Tag. Heute möchte ich nochmal richtig im Urlaub sein, faul und glücklich. Nur noch die Besorgungen. Ich bin bald zurück.«

Sie nahm Bess um den Hals und küßte sie, rasch, ein wenig verlegen. Das hatte sie noch nie getan. Dann ging sie schnell hinaus.

Bess sah ihr nach, wie sie ins Auto stieg und anfuhr, erst ein Stückchen rückwärts, nach rechts ausscherend, dann vorwärts. Sie fuhr den Gartenzaun entlang und bog auf den Weg ins Dorf ein. Bess trat vom Fenster zurück an den Tisch. Da lag der Zettel mit den Notizen.

Sie überlegte, nahm das Papier und lief damit in den Flur. Gerade kam Richard die Treppe herunter, schon im Mantel.

»Fährst du etwa in die Stadt, Löwe? Jetzt gleich? Eve ist eben fort und hat meinen Besorgungszettel vergessen. Wenn du sowieso hinein mußt . . .«

»Ich muß, ganz rasch.« Er nahm ihr das Papier aus der Hand und steckte es ein. »Du bist nicht böse, wenn ich nicht frühstücke, nein? Vielleicht treffe ich sie. In unserer City ist das ja nicht schwierig. Jedenfalls sehe ich mich nach ihr um.«

»Vielleicht erreichst du sie sogar schon unterwegs, sie ist ja gerade erst weg. Es kann ja auch sein, daß sie es merkt und umkehrt.«

»Ich denke, man soll nicht umkehren? Unter gar keinen Umständen?« fragte er und gab ihr im Vorbeigehen einen Kuß auf die Nasenspitze. Er neckte sie manchmal damit.

»Soll man auch nicht. Aber sie ist vielleicht gescheiter als deine Frau – und nicht so abergläubisch.«

Als sie aus der Haustür trat, saß er schon im Wagen, winkte und schaltete. Bess winkte auch. Dann lief sie ins Haus zurück. Ihr war es recht, wenn sie jetzt allein war; da konnte sie die Zeit gut nützen, um nachher für den Besuch welche zu haben.

Richard fuhr durchs Dorf, während er über die Reihenfolge seiner Besorgungen nachdachte. Wenn man zeitig in die Stadt kam, konnte man noch einen günstigen Parkplatz bekommen, von dem aus sich eins nach dem andern erledigen ließ. Erst Amtsgericht – hoffentlich hatte das schon auf. Und dann . . .

Dort fuhr Eve. Er erkannte ihren Wagen und war froh, sie noch vor der Stadt erreichen zu können. Da brauchte er nicht nach ihr zu suchen. Hier auf der geraden Strecke fuhr er sonst schneller, jetzt aber blieb er im Abstand von etwa fünfzig Meter hinter ihr. Wie gut! Eben überholte ihn im kleinen Sportflitzer einer jener rasenden jungen Rolande, die jede auch nur einigermaßen kurvenlose Strecke als Rennbahn benützen. Hui, war er vorüber und blieb gleich auf der linken Fahrbahn, um an Eves Wagen vorbeizukommen. Die schien ihn nicht zu bemerken, jedenfalls fuhr sie nach links, um die nächste Kurve etwas zu schneiden. Da aber mußte sie doch in den Rückspiegel gesehen haben . . .

Richard fühlte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Er starrte vorwärts, während er automatisch das Gas wegnahm, sah Eves Wagen unmittelbar vor dem kleinen silbernen Sportwagen, der noch mehr nach links ging, um nicht aufzufahren, da zog Eve im letzten Moment nach rechts. Sie mußte sehr erschrocken sein, denn sie verriß das Steuer und kam ins Schleudern. So geschah das Unglück.

Richard war sofort an der Unfallstelle, allein. Der andere hatte nicht gehalten, doch das fiel Richard erst später auf. Jetzt war es nur Eve, an die er denken konnte. Er sah sofort, daß hier jede Hilfe zu spät kam. Der Wagen hatte einen Heckmotor, so daß vor dem Fahrer unter der Kühlerhaube nichts als Luft war, es sei denn ein Reservetank. Wie oft wird das bei Heckmotor Wagen beanstandet! Der Baum, auf den der Wagen frontal geprallt war, hatte die Achse zusammengebogen und war durch die Windschutzscheibe direkt in den Führersitz hineingeschlagen. Eve mußte auf der Stelle tot gewesen sein.

Das war der einzige Trost überhaupt. Wenn sie noch etwas gespürt hätte – entsetzlich. Es war unmöglich, den Körper herauszuziehen. Richard sah das und versuchte es trotzdem. Dabei flüsterte er unentwegt: »Nein, nein, nein!« Schließlich ließ er es sein, wischte sich das Gesicht und sah sich um. Allein. Ganz allein. Er dachte an jenen Augenblick im Krieg, an dem er auch so gestanden hatte, völlig allein und ausgeliefert . . .

Letzten Endes ist jeder allein. Aber es ist grausam, das so stark zu wissen und zu fühlen.

Er riß sich zusammen, überlegte, ging dann zu seinem Wagen und holte die Wolldecke, die immer auf dem hinteren Polster lag. Er konnte Eve nicht so liegen lassen, der Sonne und dem Wind und jedem, der vorbeikam, preisgegeben. Vorsichtig und mühevoll breitete er die Decke so über den Trümmern des Wagens aus, daß man die Verunglückte nicht sogleich sah. Dann wendete er seinen Wagen.

Er mußte einen Trecker aus dem Dorf holen, besser: zwei. Die Trümmer des Autos mußten auseinandergezogen werden, damit man – damit man Eve . . .

Am besten wandte er sich an Hollmann. Der war vielleicht zu Hause, er trieb Grünlandwirtschaft und baute keine Rüben. Und als zweiter vielleicht der Schmied. Hollmann war zu Hause. Er sagte kein Wort, sondern setzte die Mütze auf, ging in den Hof und warf eine Kette auf den Trecker. Richard nickte ihm zu und fuhr die zweihundert Meter weiter zum Schmied. Dann wendete er seinen Wagen und wollte Hollmann nachfahren, besann sich aber und bog zur Post ein. Er mußte telefonieren. Unfall, Polizei, Krankenwagen. Krankenwagen? Wohl nicht. Hier war der andere am Platz.

Später, als er das alles erledigt hatte und wieder auf die Ausfallstraße zufuhr, begann er an nachher zu denken. Er mußte es den Kindern sagen. Keiner nahm ihm das ab. Er fürchtete sich nicht davor, aber es legte sich ihm sehr schwer auf die Seele. Drei Kinder, zwei davon jünger als seine eigenen, vaterlos, und nun hatten sie die Mutter verloren. Er wußte nicht, in welchem Verhältnis sie zur Mutter gestanden hatten, vielleicht war es nicht ungetrübt gewesen. Aber wie auch immer, in so jungen Jahren die Mutter zu verlieren gehört zum Schwersten, was es gibt.

Hollmann und der Schmied warteten schon. Ungewöhnlich schnell war auch die Polizei da. Die nächste halbe Stunde konnte Richard nichts denken. Als die verdeckte Bahre in den Unfallwagen geschoben wurde und die Türen geschlossen waren, setzte er sich an den Straßenrand und seufzte tief.

Hollmann, die Mütze wieder auf dem Kopf, beugte sich ein wenig herunter.

»Herr Pastor«, hier sprach man das Wort mit der Betonung auf der zweiten Silbe, »kann ich irgendwas tun? Ist Ihnen nicht gut?«

»Danke, Herr Hollmann, es geht schon wieder. Das ist fürchterlich.«

»Sie ist«, Hollmann warf einen Blick auf das Nummernschild des eingedrückten Wagens, »sie war nicht von hier?«

»Eine Bekannte von uns. Sie ist bei uns zu Besuch gewesen. Sie kam gerade aus dem Urlaub. Ihre Kinder sind bei uns.« Es tat gut zu sprechen. Richard hörte seine eigene Stimme, sie klang ruhig und vernünftig. Das gab ihm Halt. Denn ein paar Augenblicke lang hatte die Landschaft verdächtig vor ihm geschwankt, hatte sich zu drehen begonnen – er würde doch nicht schlapp machen? Nein, das durfte er nicht.

»Oh, da haben Herr Pastor aber was vor sich.« Hollmann stand ein wenig geneigt, als beuge ihn das Mitleid mit dem andern. »Jaja, wenn man sowas mit ansieht und dann noch die Hinterbliebenen benachrichtigen muß.«

»Sie haben das auch gemußt, Herr Hollmann, damals«, sagte Richard. Er nahm die Hand des Bauern, die ihm entgegengestreckt wurde, und ließ sich hochziehen.

»Danke, geht schon. Ja, Sie haben es auch gekonnt. Was man muß, das kann man auch.«

Der Bauer sah ihm nach, wie er zum Wagen ging. Schwankte er? Nein, er hielt sich gut, sah noch einmal zurück und winkte mit der Hand, ehe er startete. Hollmann winkte zurück.

»Jaja, unser Herr Pastor. Da geht er einen schweren Gang. Aber er ist ja ein s-tudierten Herrn, und . . .«

»Um Gottes willen, Richard!«

Bess hob beide Hände an den Mund, als sie ihren Mann sah. Sein Gesicht war eingefallen und grau, und seine Augen wirkten noch dunkler als sonst. Sie wußte sofort, daß etwas Entsetzliches passiert sein mußte.

»Was ist?«

»Du mußt jetzt sehr tapfer sein«, sagte er und legte den Arm um sie, »sehr tapfer. Ich brauch dich. Sind die Kinder wach? Noch nicht? Wollen wir sie schlafen lassen, oder was meinst du? Eve ist verunglückt. An der Kurve vor der Bahnunterführung. Ein anderer Wagen kam von hinten und überholte erst mich . . .« Er begann, den Unfall zu schildern, in sachlicher, ein wenig umständlicher Art. Auf diese Weise gelang es ihm, Bess sozusagen langsam an das furchtbare Geschehen heranzuführen. Es schien richtig zu sein.

Als er schwieg, schwieg sie zuerst auch. Nach einer kleinen Weile fragte sie vorsichtig, sehr leise: »Und sie? Ist sie . . .?«

»Ja, sie ist tot. Sie hat nichts mehr gemerkt, bestimmt nicht. Wir müssen es den Kindern sagen. Nein, nein, Bess, ich tu es.«

»Ich geh mit. Ich laß dich nicht allein. Aber nein, Richard, natürlich kann ich es.«

Bess brauchte die drei Hennings nicht einmal zu wecken, es war, als sollte es so sein. Sie waren wach und kamen auf seine Bitte ins Frühstückszimmer, wo Richard wartete. Er sprach mit ihnen ruhig und einfach.

»Aber wir – wir –«, stammelte Daniel als erster, »wir – wir –« Die beiden Worte steigerten sich im Ton, gleich würde er laut herausweinen.

Richard stand schon bei ihm und legte den Arm um seine Schulter. »Ruhig, mein Junge, ihr seid ja bei uns. Wir sind für euch da. Wenn ihr niemand habt, uns habt ihr. Ihr bleibt bei uns, alle drei, wir nehmen euch gern, Bess und ich.«

Er sagte das, ohne zu überlegen. Und er sah am Gesicht seiner Frau, daß es richtig war, daß sie das gleiche gedacht hatte. Er fühlte es wie einen Strom, der von ihm zu ihr floß und wieder zu ihm zurück, einen inbrünstig starken Strom. Er hielt den fremden Jungen im Arm und versuchte, den beiden Mädchen zuzulächeln.

»Natürlich bleibt ihr bei uns, seid ihr bei uns zu Hause«, sagte er, und seine Stimme klang wie eine Glocke, fand Bess, tief, voll, wie Bronze. »Solange ihr uns braucht, seid ihr unsere Kinder, und auch später noch, wenn ihr mögt. Wir haben uns immer noch welche gewünscht.«

»Immer!« sagte Bess sogleich. »Nun haben wir sechs . . .« Sie sah das neue Leben mit sechs Kindern vor sich wie einen Weg, der sich vor ihr öffnete, wie einen längst erträumten, plötzlich gefundenen Weg.

Und sie brachte es fertig, nicht zu weinen, so heiß es ihr auch in die Augen stieg. Sie lächelte. Richard vergaß dieses Lächeln nie.

Die unsichtbaren Fäden

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