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Ein toller Plan

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„Anja? Grüß dich, hier ist Petra. Hör zu, du mußt unbedingt – ach so, Verzeihung! Ja, hier ist Petra Hartwig. Kann ich Anja sprechen? Oder ist sie nicht da?“

„Doch doch, sie ist da. Ich hol’ sie.«

Mutter seufzte und legte den Hörer hin. Seit ein Telefon in der Wohnung war – Vater hatte es ihr zu Weihnachten geschenkt –, klingelte es zu jeder Tageszeit, und wenn man alles aus den Händen warf, was man gerade vorhatte – entweder eins der Babys wickelte oder die Hände im Kuchenteig stecken hatte –, dann war es meistens Petra.

„Ist Anja da?“

„Ich muß Anja sprechen –“

„Kann Anja zurückrufen, wenn sie kommt?“

„Ich ruf noch mal an –“ Es war kaum zu ertragen. Mutter versuchte sich mit dem einsichtigen Gesangbuchvers zu trösten, der da heißt: „Alles Ding hat seine Zeit ...“, und sich zu sagen, daß auch die aufregendsten technischen Dinge eines Tages den Reiz verlieren und alltäglich uninteressant werden. Aber noch befand sich das Telefon nicht darunter. Sie ging, die Tochter zu suchen.

Anja saß in ihrem Zimmer, das heißt, sie lag über das Bett hingeworfen, das Mutter vorhin so schön gemacht hatte, ihre Stiefel bildeten ein Stilleben auf der Erde, und der Anorak hing schief auf der Stuhllehne. Mutter holte Atem, um etwas zu sagen, hielt dann aber inne. Es war so zwecklos ...

„Anja?“

„Hm?“

„Könntest du nicht –“ setzte Mutter nun doch an, ließ es aber dann lieber bleiben.

„Petra ist am Telefon.“

„Petra?“

Sofort war Anja munter. Sie warf das Buch weg, in dem sie gelesen hatte, sprang auf und rannte los, an Mutter vorbei und durch den Flur ins Wohnzimmer.

„Ja?“ fragte sie atemlos in den Hörer.

Mutter war in Anjas Zimmer zurückgeblieben. Mechanisch hob sie die Stiefel auf, stellte sie nebeneinander an die Heizung und angelte nach der Gerte, die halb unter dem Bett hervorsah. Mit dem Ordnunghalten soll es ja nach den neuesten Erkenntnissen der Erziehung ähnlich sein wie mit der Sauberkeit des Kleinkindes: Hat man genug Geduld, so stellt sie sich eines Tages von selbst ein. Dieser Tag erschien Mutter weltenfern ...

Sie ging hinüber. Anja hockte auf dem Schreibtisch ihres Vaters, baumelte mit den bestrumpften Beinen und sprach und lachte ins Telefon. Sie sah bezaubernd aus, fand Mutter: das Gesicht unter den kurzen Haaren munter und lebendig, die Haut glatt und ganz leicht bräunlich, die Augen blitzend. Mutter erinnerte sich nicht, sie je so gesehen zu haben, wenn sie sich mit ihr oder Vater unterhielt. Nun ja, es war Petra, ihre Freundin, ihre angebetete, zwei Jahre ältere, großartig reitende und auch sonst in jeder Beziehung nachahmenswerte Freundin, mit der sie sprach. Freundinnen sind wichtig, gerade in diesem schwierigen Alter.

„Na sicher! Aber klar! Denkst du, ich möchte nicht?“

Endlich legte sie auf.

„Mutter, ich muß unbedingt – –“

„Was mußt du denn wieder unbedingt?“ fragte Mutter und ärgerte sich, obwohl sie es nicht wollte. „Immer mußt du unbedingt etwas, wenn Petra anruft. Immerzu –“

„Aber das ist ein wirklicher Notstand! Das ist was ganz Wichtiges! Das ist –“

„Was um Himmels willen ist denn nicht wichtig, wenn es von Petra kommt“, sagte Mutter. Ihr Ton war jetzt so, daß Anja erschrocken zu ihr herübersah.

Das wiederum tat Mutter leid.

Nein, es war nicht leicht. Von einer Mutter wurde wahrhaftig einiges verlangt: der Tochter gerecht zu werden, während man zwei winzige Söhne zu versorgen hatte, die genug Arbeit machten, den Mann nicht zu vernachlässigen und dabei freundlich, geduldig und immer fröhlich zu sein, allezeit, in allen Situationen. Auch, wenn die Tochter überhaupt nichts mehr von einem wissen wollte und nur noch an Petra und den Reitverein dachte, und das mit zehn Jahren ...

„Im Reitverein? Gar nichts“, sagte Anja jetzt gerade patzig, „und du erlaubst es ja doch nicht. Nie erlaubst du was. Petra darf, sie darf immer. Petras Mutter reitet selber und weiß deshalb –“

„Eine Mutter, die nicht reitet, gilt ja überhaupt nichts“, sagte Mutter, nun doch zornig geworden. „Immer nur Hartwigs, und wie schön es dort ist, und der Reitverein und –“

„Ist aber nicht im Reitverein –“ Anja schrie es beinahe, und so konnte es Vater, der gerade durch den Flur kam, sehr deutlich hören. Die Türen standen sowieso alle offen. Jetzt kam er herein, blieb vor seinen beiden Frauen stehen und sah sie an, die eine und die andere.

„Na?“ fragte er sachte, freundlich und belustigt, wie das meist seine Art war. „Ein Wintergewitter? Wie schön, das reinigt die Atmosphäre kurz vor dem Jahreswechsel.“

„Ach, Anja will –“

„Aber Mutter will nicht –“

„Ich habe überhaupt noch nicht –“

„Du hast gesagt –“

„Was denn?“ fragte Vater freundlich. Seine Art zu fragen war so, daß beide, Anja und Mutter, einen Augenblick innehielten und dabei, wie aus einem Mund, aufschnupften. Das klang so komisch, daß alle drei lachen mußten.

„Na, das war wenigstens ein Wort“, sagte Vater, obwohl keine eins gesagt hatte. „Nun kommt, ich mach’ uns einen schönen Silvesterpunsch! Warum sollen wir damit bis abends warten? Ein Glas trinken wir jetzt schon. Und dabei unterhalten wir uns sehr gemütlich und ganz ohne Aufregung. Nein, ich will jetzt nichts hören, erst gibt’s ein Glas heißen Roten, ich hab’ nämlich auch eins verdient. Draußen ist es ganz schön kalt.“

Er wandte sich um und ging zur Küche. Mutter und Anja folgten ihm. Beide waren tatsächlich schon wieder den Tränen nahe gewesen, Anja aus Wut und Mutter aus aufgestautem Kummer.

Wie gut, daß es Vater gab!

In der Küche war es warm und eigentlich sehr gemütlich, jedenfalls jetzt, da die Zwillinge nicht da waren. Sie schliefen, dick eingemummelt, in ihrem breiten Wagen im Gärtchen unten hinterm Haus, sorglich unter das schützende Dach der Veranda geschoben. Diese Stunden der „Winterfrische“ waren die einzigen des Tages, in denen man sozusagen Mensch war, meinte Anja. Sie hatte sich früher, als sie noch die einzige war, immer Geschwister gewünscht gehabt, aber jetzt kam sie sich manchmal vor wie der dumme Mann im Märchen, der sich tausend Taler gewünscht hatte, die nun auf ihn niederprasselten, so daß er stöhnte: „Es ist auch nicht das Richtige, wenn der Segen so knüppeldicke kommt.“ Zwei kleine Brüder auf einmal – was das bedeutete, konnte nur jemand nachfühlen, der ähnliches erlebte.

Ja, auch das Wünschen will gelernt sein!

„So, und jetzt raus mit der Sprache!“ sagte Vater und stellte drei Gläser auf den Tisch, vor jeden eins. In Mutters und seinem befand sich ein kräftiger Glühwein, in Anjas hatte er einen guten Schuß Apfelsinensaft dazugegossen, aber etwas Rotwein war auch dabei.

„Jetzt ist die Zeit der heißen Getränke, jetzt, zum Jahreswechsel“, sagte er behaglich, „vor allem diesmal, da wir ein programmäßiges Wetter bekommen haben. Prost, große Tochter, versuch mal, ob es schmeckt.“

O ja, es schmeckte. Anja fand zwar, daß der bitterliche Rotweingeschmack gut hätte fehlen können, aber dafür war es eben fast ein Erwachsenentrunk. Sie leckte sich die Lippen, nachdem sie das Glas abgesetzt hatte. Und jetzt fiel es ihr viel leichter, zu antworten, als Mutter nun erneut fragte – es war, als hätte Vaters Freundlichkeit zusammen mit dem heißen Getränk ihre Zunge gelöst.

„Petra will – eine Bekannte aus dem Reitverein, Dagmar, du kennst sie noch nicht, sie ist etwas älter als wir –“ setzte sie an. „Ja, sie haben zu Hause auch Pferde, und ihre Eltern sind verreist, und sie hütet das Haus und die Hunde und alles – die hat sich also die Hand gebrochen oder jedenfalls angebrochen, und jetzt war sie beim Röntgen und ist in Gips gekommen und kann gar nichts mehr tun, es ist auch noch die rechte –“

„Aha. Und was hat das alles mit dir zu tun?“ fragte Vater in seiner behutsamen Art, als Anja stockte. Sie sah ihn flehend an.

„Petra hat versprochen, dorthin zu gehen und ihr zu helfen, und da wollte sie – da will sie – es wäre doch besser, wir wären zu zweit –“

„Wo wohnt diese Dagmar denn?“ fragte Vater nach einer kleinen Weile. Anja gestand, daß sie das nicht wüßte. Vater meinte, das wäre dann wohl das erste, was man feststellen müßte.

„Irgendwo auf dem Land hier in der Nähe. Sie haben außer den Pferden auch Hunde –“

„Solche wie Onkel Kurt?“

Vater lachte. Kurt, sein jüngerer Bruder, der Tierarzt war, besaß eine große Menge winziger Hündchen, die Anja vor einiger Zeit kennengelernt hatte. Anja mußte auch lachen.

„Nein, solche nicht. Solche sind bestimmt sehr selten. Sie haben große. Eine Dogge, soviel ich weiß, und einen Windhund, aber einen anderen, wie man denkt – er ist nicht gefleckt –“

„Und was noch?“

„Mehr weiß ich nicht. Aber –“ Anja verstummte. „Vater“, sagte sie dann, und es klang auf einmal ganz erwachsen und vernünftig, „wir haben doch noch Ferien. Und wenn ich dorthin ginge, könnte ich vieles lernen beim Helfen. Ihr habt mir erlaubt, daß ich in den Reitverein gehen darf, ab Januar im nächsten Jahr, aber ich versteh’ doch gar, gar nichts von Pferden. Und dort sind welche, und ich könnte lernen, wie man mit ihnen umgeht, wie man sie putzt und was sie zu fressen bekommen und das alles. Petra kann das, ihre Eltern hatten immer Pferde, sie weiß alles, was ich noch nicht weiß. Ich könnte dort vielleicht auch ein Tagebuch schreiben. Nach den Ferien kriegt man in der Schule meistens einen Aufsatz auf: Mein schönster Ferientag oder so ähnlich. Da könnte ich alles genau beschreiben, einen Bericht, nicht nur so in der Phantasie, bei der alles nur ausgedacht ist, sondern wirkliche Tatsachen –“ sie verstummte. Vater lächelte ihr zu.

„Und damit du einen recht schönen, selbst erlebten Aufsatz schreiben kannst, willst du also mit Petra zu Dagmar? Nur deswegen?“ fragte er.

„Aber Vater! Natürlich nicht! Ich möchte halt gern hin, und Dagmar braucht wirklich Hilfe, das siehst du doch ein –“

„Und Mutter? Mutter bleibt ohne Hilfe?“

Anja schwieg. Was war dazu zu sagen? Hilfeflehend sah sie zu Vater hin. Der guckte verschmitzt.

„Hör zu, große Tochter“, sagte er. „Erst erkundigen wir uns mal bei Dagmar, ob sie wirklich Hilfe braucht. Vielleicht fahren wir einfach mal hin und sehen uns dort um. Ich habe ja auch noch Ferien, genau wie du. Wenn ich auch einiges tun muß, was ihr Schüler nicht braucht ... Lehrer haben es ja nicht so leicht wie ihr – ja, da könnte ich Mutter ja solange helfen, bis du wieder da bist. Solange ich keine Schule habe, könntest du Anja vielleicht entbehren, Mutter?“ fragte er vorsichtig.

Mutter schwieg.

„Wenn sie verspricht, später –“ sagte sie dann. Es klang zögernd, ein wenig mutlos. Anja hörte genau heraus, was sie jetzt dachte. Sie wurde dunkelrot.

„Versprechungen verlangen, sich auf später vertrösten zu lassen, das ist eine Sache, die ich eigentlich gar nicht gern habe“, sagte Vater, ehe Anja antworten konnte, und wiegte den Kopf. „Ich bin weniger für Versprechen als für Halten. Wollen wir es nicht Anja überlassen, ob sie nicht nur jetzt bei Dagmar, sondern später auch Mutter hilft, von sich aus? Auch, wenn wir keine Pferde und Doggen und keine Windhunde haben, sondern nur –“ er betonte dieses Wörtchen lustig und so, daß es wirklich keinem weh tun konnte – „ein paar süße kleine Buben, die eine große Schwester sehr nötig brauchen, neben der Mutter, wenn der Vater wieder Stunden halten und Hefte korrigieren muß? Na, wie wäre das?“

„O Vater! Ich verspre – – nein, du wirst es aber erleben! Darf ich? Darf ich Petra anrufen und ihr sagen –“

„Anrufen darfst du sie, sollst du sogar. Sie muß ja wissen, woran sie ist. Am besten, du sagst ihr, sie soll ganz schnell mal herkommen. Sie hat doch ein Fahrrad, oder? Na siehst du. Und da unterhalten wir uns erstmal ein bißchen mit ihr. Das weitere findet sich.“

„Danke! Danke! Ich ruf’ gleich an!“ Anja stürzte aus der Küche, gleich darauf hörten Vater und Mutter das leise „Kling“ des abgenommenen Hörers. Sie sahen einander an.

„Wir kennen doch die Leute gar nicht. Und Anja war noch nie allein weg von uns“, sagte Mutter. Es klang verzagt.

Vater lachte.

„Erstens kann man Leute, die man bisher noch nicht kannte, kennenlernen. Das heißt, wenigstens diese Dagmar mit der verknacksten Pfote. Das hab’ ich ja gesagt. Und allein fort? Sie geht ja mit Petra dorthin, und Petra und ihre Eltern kennen wir ja nun schon eine ganze Weile. Und“, er zog das Wort in die Länge und sah Mutter an, jetzt ernst, ein bißchen mahnend.

„Und?“ fragte sie, als er innehielt.

„Und? Auch kleine und bisher einzige Töchter werden eines Tages groß und wollen sich in der Welt bewähren, nicht nur immerzu zu Hause bleiben und Muttern helfen“, sagte Vater leise. „Hast du dir das schon mal überlegt? Diesmal ist es das erstemal, und alles, was das erstemal ist, ist eine große Sache. Besinnst du dich noch darauf, wie es war, als Anja das erstemal allein in den Kindergarten ging? Und das erstemal allein in die Schule ...“

Er sah Mutter an. Um ihren Mund zuckte es, aber sie versuchte zu lächeln. Er legte den Arm um ihre Schulter.

„Es wird ihr guttun, keine Frage“, sagte er herzlich, „und dir auch. Eine Trennung ist manchmal sehr heilsam, denn gar zu einig seid ihr ja wohl in letzter Zeit nicht gewesen, Anja und du, oder? Na also. Und dann hast du etwas, worauf du dich freuen kannst, wenn sie wiederkommt. Ist das nicht hübsch?“

Drüben telefonierte Anja, daß man denken konnte, der Telefondraht müßte ins Glühen kommen.

„Sicherlich erlauben sie es – aber wissen wollen sie natürlich, wo es ist – wir müßten jemanden finden, der uns hinfährt, meine Mutter ist nun mal so, immer hat sie Angst um mich. Ob deine Mutter es nicht täte? Die ist doch immer so toll – fragst du sie mal? O Petra, bis zum Schluß der Ferien sind es noch zehn Tage. Zehn Tage Pferde und Hunde und wir beide zusammen, und –“

Das alles in Lautstärke zwölf, als könnte Petra sie sonst nicht verstehen.

„Und – und – und –“

Vater und Mutter sahen einander an und mußten lachen.

Ja, es war wirklich ein toller Plan!

Aufgesessen, Anja!

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