Читать книгу Gusti zwischen Hüh und Hott - Lise Gast - Страница 6

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Ich saß an Deck des Schiffes, das schnurgerade durch ein geradezu aufreizend ruhiges Meer zog – und das nennt sich Ärmelkanal, wo bleiben, bitte sehr, die Stürme? –, und hatte mir soeben einen Kaffee bestellt. Nur einen solchen, kein komplettes Frühstück, nach dem es mich verlangte, aber Sparen hat uns das Schloßgespenst mit glühenden Eisen eingebrannt, Sparen gehört bei Mutter zum Leben wie Atmen. Ich sparte also. Am Nebentisch hatte sich soeben ein Herr eingenistet, der Deutscher sein mußte, zweifellos. Ich war in den letzten Jahren so ausschließlich mit Engländern zusammen gewesen, daß ich das spürte, und zwar erfreut spürte, so etwa, als wenn man heimkommt und wittert: „Was gibt es heute? Apfelstrudel? Wie schön.“

Nicht, daß das Mittagessen etwa die Hauptsache des Tages wäre, aber immerhin eine angenehme Nebensache.

Ich lächelte die angenehme Nebensache nicht etwa an, o nein. Das erste, was man in dieser Richtung tat, war ein geistesabwesender Blick, der sozusagen durch den anderen hindurchging. Das läßt kein Mann auf sich sitzen, er macht sich bemerkbar, Ehrensache. Und dann ist das zerstreute, aber doch freundlich-höfliche Lächeln am Platz, auf das er zu reagieren hat. Er tat es.

„Sie sind sicher eine Landsmännin. Darf ich ...?“ Er deutete zart entschuldigend zu meinem Tisch herüber. „Man frühstückt besser zu zweit, meinen Sie nicht?“

„Doch, doch.“

So kam ich zu dem ersehnten und nicht zu verachtenden Morgenimbiß, und so kam es, daß ich mich in Ostende um keinen Zuganschluß kümmern mußte. Er fuhr Richtung Köln – nun, es war nicht direkt meine Richtung, aber doch so ungefähr. Sollte er allein in einem Wagen sitzen, der Platz für zwei und viel Gepäck hatte?

Wir fuhren. Ich hörte von ihm, daß er geschäftlich in England gewesen war und einen größeren Abschluß getätigt hatte, er nannte – schlicht, aber groß – die fünfstellige Summe, um die es sich handelte, und er wiederum erfuhr von mir, daß ich vor einer Verlobung auswich, und ich ließ in ähnlicher Bescheidenheit die außerordentlich guten Verhältnisse durchblicken, in denen mein Beinah-Bräutigam lebte.

Als wir uns dieserart einander vorgestellt hatten, ohne daß einer dem andern glaubte – man tat nur so, das gehört zu den Spielregeln –, konnten wir auf ein anderes Thema übergehen. Und was lag näher als die Liebe? Erstens lassen sich darüber unendlich viele Variationen finden, so daß die Fahrt nicht langweilig wurde, und zweitens ist es mit der Liebe wie mit einer bayerischen Rauferei: Zuerst wird nur mit Worten gerauft. Vorm zweiten würde ich mich hüten.

Er ist ja viel zu alt für mich, dachte ich, und: Ob ich heute oder morgen aus England zurückkomme, ist gleichgültig, dann habe ich eben das Schiff nicht erreicht, mit dem ich rechnete, dachte er. Auf diese Weise erreichten wir in angenehmster Weise Köln, und da fiel mir Tante Abelchen ein. Wundervoll! Daß ich bisher nicht an sie gedacht hatte. Sie erwartete mich doch heute abend. Das durfte ich nicht vergessen.

Ganz wohl war mir bei diesem Gedanken nicht, denn diese an sich durchaus existente Tante reiste viel, seit sie sich im Ruhestand befand – im Unruhestand, sagen wir gern. Sie ist dem Leben sehr zugetan, und wenn sie nächstens ihren ersten Dreitausender besteigt, würde niemand aus unserer Familie sich wundern. Immerhin, man muß auch einmal auf seinen guten Stern vertrauen.

„Das Schwierige ist nur: Wie komme ich zu ihr hin?“ fragte ich sorgenvoll. „Kleinbahn oder Bus ist das einzige, was in diesen kleinen Ort führt, aber ob das heute abend noch klappt?“

Er fuhr mich hin. Und – ich mußte mein Aufatmen mit ziemlicher Gewalt unterdrücken – Tante Abelchen war da. Große, rührende Familienszene. Dem Fahrer blieb nichts übrig, als höflich bedauernd allein abzubrausen.

„Du bist mir eine Schlange, du!“ drohte die Tante und nahm mich noch einmal in den Arm, als wir allein waren. „Da geht er hin und singt nicht mehr!“

„Er hat lange genug gesungen in Dur und Moll, die ganze Fahrt über“, sagte ich vergnügt, „und natürlich gehofft, du wärst nicht da. Vergessen wir ihn auf der Stelle. Jetzt bin ich bei dir, alles andere ist zweitrangig.“

„Das lob ich mir“, erwiderte die Tante und schob mich ins Wohnzimmer. Sie ist keine gern gemiedene Familientante, die numerierte Weihnachtsgrüße verschickt und streng auf Dankesbriefen besteht, sondern rundum ein Juwel. Rundum – denn rund ist sie, mit warmen braunen Augen und einem strahlenden Gesicht unter kurzgeschnittenem grauweißem Gefieder und mit einer herrlichen Baßstimme. Daß sie aus Bunzlau stammt, sieht man ihr sozusagen an: Auch Bunzlauer Geschirr ist braun, warm und rund.

„Und jetzt trinken wir noch einen“, schlug sie vor, nachdem wir reichlich und gut gegessen hatten, „und du erzählst mir von deinem ‚Derzeitigen‘. Holger ist es, wie ich vermute, also nicht, aber einen ‚Derzeitigen‘ hast du doch wohl, so wie du aussiehst.“

„Danke, Tantchen, für das Kompliment. Sehe ich wirklich noch einigermaßen aus? Aber mit den Engländern, ich weiß nicht. Der eine oder andere gefiel mir schon, aber Koteletten, Schirm, Charme und Melone allein tun’s auch nicht. Immer mißfiel mir irgend etwas. Kannst du mir nicht das Horoskop stellen? Ich glaube, mein Neptun ist zur Zeit etwas verwirrt.“

„Erstens ist der Neptun nicht verwirrt, sondern er macht verwirrt“, berichtigte die Tante sanft, so sanft jedenfalls, wie ihr Baß es vermochte, „und zweitens hat der Neptun mit der Liebe nichts zu tun, rein gar nichts. Zuständig für die Liebe ist die Venus, leicht zu merken. Und die steht bei dir ...“

Sie dozierte, und ich lauschte. Tante Abelchen war so eifrig, als handele es sich um ihre eigene erste oder auch letzte Liebe, wobei dahingestellt sei, welche die intensivere ist. Schließlich kamen wir gemeinsam zu dem Schluß, daß man zwar abwarten müsse, aber das beste hoffen dürfe, ein Resümee, das ohne Horoskop auch hätte gezogen werden können. Dies aber störte uns nicht.

„Nun schlaf schön, schön und ungestört“, meinte Tante Abelchen noch, nachdem sie mich ins Gastzimmer geführt und mit allem versorgt hatte, was bei ihr dazugehört: mit Nachttischlampe, Knabbergebäck, Obst, Zigaretten, einem lustigen und einem ernsten Buch zum Einschlafen, einer Wärmflasche und einem Schlaftier. Bei Tante bekommt man zu allem anderen Überfluß noch ein Kuscheltier, wenn man ins Bett geht. Sie besitzt eine Anzahl von Plüschaffen, -elefanten, -bären, -hundchen und -goldhamstern, unter denen man die Wahl treffen darf. Wahrhaftig eine Gastlichkeit, die ihresgleichen sucht. Ich küßte sie und ließ mich küssen, streckte mich schließlich, ungeheuer behaglich aufseufzend, im Gastbett aus. Von dem durch die Autofahrt gesparten Geld kann ich das Hochzeitsgeschenk kaufen, dachte ich noch. Und dann dachte ich geschwind noch an Evelyn, nahm sie sozusagen mit in meinen Traum. Sie jedenfalls war mein letzter Gedanke.

Der erste nach dem Erwachen, das aber nicht am Morgen, sondern in noch früher Nacht erfolgte, war nicht süß, sondern hieß ungefähr: Was ist jetzt das? Unter meinem so gepriesenen Gastbett rührte sich etwas, kratzte, ächzte, rollerte, schmatzte. Ich rollte mich auf die andere Seite, entschlossen, das störende Geräusch zu überhören. Tantes Rotwein war schön und schwer gewesen, ein Genuß, ebenso schön und schwer wollte ich jetzt schlafen, ebenfalls mit Genuß.

Aber das Krabbsen unter dem Bett ließ nicht nach. Es wurde intensiver, sozusagen penetrant, und ich entschloß mich, nachzuschauen. Lieber ein Ende mit Schrecken ...

Es war eine Katze. Na also. Ich fischte sie unter dem Bett hervor, setzte sie vor die Tür und kroch wieder in die Federn, schlief ein, mich behaglich ausstreckend, und erwachte von einem Kratzen, Rollern und Schmatzen unter meinem Bett. Diesmal erwachte ich etwas ärgerlich.

„Das ist doch ...“, ich überlegte, beschloß, lieber sogleich tiefzutauchen, als mich lange zu ärgern, und beförderte eine zweite Katze ans Licht. Schwarzweiß gefleckt, nicht sehr groß, wahrscheinlich noch jung. Raus vor die Tür! Daß Tante eine Katze hatte, wunderte mich nicht, es paßt zu ihr. Wozu aber zwei?

Ich schlief ein, mich jetzt mehr sehnsüchtig als behaglich ausstreckend, und erwachte von einem Schmatzen, Rollern und Schlecken.

Nein, das war doch unerhört. Drei Katzen! Soviel Mäuse kann sich eine alleinstehende alte Dame ja gar nicht leisten, ohne allzuviel zuzufüttern. Diesmal fuhr ich wie der Teufel unter das Bett, haschte mit nun schon geübtem Griff nach dem Tier, fluchte wenig weiblich und warf die dritte Katze, diesmal ohne sie groß anzusehen, vor die Tür. Kaum war ich wieder im Bett gelandet, noch vor dem Einschlafen diesmal, ging das Gekratze schon wieder los.

Ja, gab es denn das? Eine vierte Katze fuhrwerkte da unter meiner Lagerstatt herum, und damit war noch immer nicht Schluß. Bis neun zählte ich, dann gab ich es auf. Zuletzt schlief ich trotz Schmatzerei, erschöpft und verzweifelt und mit Gott und aller Welt zerfallen, ein und träumte merkwürdigerweise von England, wo es auf die Dauer doch etwas ermüdend war, aber niemals Katzen unter Betten kratzten.

„Hast du schlecht geschlafen, mein Herzchen?“ fragte Tante am nächsten Morgen am Frühstückstisch. Ich sah wahrscheinlich nicht ganz so frisch und munter aus wie am Abend nach der langen Reise.

„Ach, Tante, miserabel. Wozu hast du auch neun – nein, noch mehr Katzen? Eine nach der anderen habe ich aus dem Zimmer geworfen, sie krabbsten unter meinem Bett herum.“

Tante Abelchen wunderte sich höflichst. Dabei wurden ihre Augen ganz rund und glänzten wie belutschte Malzbonbons.

„Neun Katzen! Aber ich habe doch nur eine einzige, mein schwarzweißes Linchen!“

Sie lief in die Küche und kam mit einer Katze auf dem Arm zurück, einer schwarzweiß gefleckten. Ich erkannte sie wieder.

„Ja, die war auch dabei. Aber außerdem ...“, und ich erzählte. Tante Abelchen konnte es nicht fassen. Schließlich meinte sie nachdenklich: „Freilich haben bei mir alle Türen ein Katzenloch mit Hängetürchen, verstehst du, damit Linchen überall heraus und herein kann. Warum aber sollte sie zu dir gekommen sein?“

Wir gingen miteinander ins Gästezimmer. Und da fanden wir die Lösung. Unter dem Gastbett lag eine Flasche, ausgelaufen. Tante nahm sie und roch daran. Baldrian! Ihr letzter Gast vor mir, richtiger: ihre letzte Gästin, hatte über unruhigen Schlaf geklagt und deshalb wahrscheinlich Baldrian mit sich geführt. Und die Flasche, die unter das Bett gerollt sein mußte, hatte sie vergessen. Katzen sind bekanntlich wild auf Baldrian, sie riechen auch die verschwindend kleinsten Mengen.

Ich hatte also, so ging mir jetzt auf, neunmal dieselbe Katze, dasselbe schwarzweiße Linchen, vor die Tür gesetzt.

Wir lachten sehr. Tante Abelchen guckte ein wenig betreten drein. In ihrer Weltanschauung wird die Gastlichkeit wie bei allen Menschen aus östlichen Gefilden nicht nur groß, sondern sozusagen mit goldenen Lettern geschrieben, und jetzt plagte sie das Gefühl, ich müßte mindestens drei weitere und diesmal katzenungestörte Nächte bei ihr schlafen, um diese Scharte auf ihrem Ehrenschild auszuwetzen. Nur der Hinweis auf die nun baldigst über die Bühne gehende Hochzeit konnte sie überzeugen, daß dies im Augenblick nicht zu machen sei.

„Komm mit! Feiere mit, Tante Abelchen!“ bat ich, und in Tantes Malzbonbonaugen glänzte es auf. Eine Hochzeit mitfeiern, endlich einmal wieder, vorher schuften und backen und Kleider abstecken, bei der Trauung gerührt das Taschentuch an die Augen drücken ...

„Ich komme mit!“ erklärte sie wie immer rasch von Entschluß und fing sogleich an zu packen. Mir war es ein Fest. Nun brauchte ich nicht allein weiterzufahren und brachte daheim eine schöne Überraschung (und eine Ablenkung von meiner eigenen Person) mit ins Haus. Tante Abelchen würde mit Freudengeschrei empfangen werden, dessen war ich sicher.

„Hast du einen Fahrplan?“ fragte ich. Tante nickte eifrig. Sie hat immer alles, was man braucht.

„Es ist allerdings einer vom vor-vorigen Jahr. Aber die Hauptzüge ändern sich ja höchstens um Minuten.“

„Wenn man wüßte, ob diese Minuten vor- oder nachher gelten“, bekundete ich etwas nachdenklich.

Gleich darauf aber fragte Tante Abelchen: „Weißt du was? Wir fahren mit dem Auto. Hast du einen Führerschein?“

„Ja, nur kein Auto.“

„Ich auch nicht. Aber der Hagestolz.“ Tante lächelte verschmitzt, drückte ihre Tasche zu – ihre Taschen sind immer bis zum Platzen vollgestopft – und warf sie auf die Couch.

Ans Telefon! Sie wählte eine Nummer, die ihr flott von den Fingern ging, wie ich verstehend lächelnd feststellte. Gleich darauf wurde mir jenes amüsante Halbgespräch geboten, das soviel Vergnügen bereitet, weil man die zweite Hälfte dazukombinieren muß, also sozusagen schöpferisch beteiligt ist.

„Ja, jetzt gleich. Natürlich. Eine Nichte von mir. Wir haben schon gepackt. Also.“

„Er kommt“, sagte sie, als sie aufgelegt hatte. „Wir können aber noch einmal frühstücken.“

„Wo wohnt er denn?“ fragte ich und dachte an den morgendlichen Rush-hour-Andrang auf den Straßen. Da konnte es natürlich sein, daß die Entfernung von einigen Kilometern ziemlich viel Zeit in Anspruch nahm. Zu meiner Verblüffung aber sagte die Tante: „In der Röhn. Ist doch deine Richtung, oder?“

„Na, Tantchen, nicht ganz. Wir müssen ungefähr nach Göttingen zu, und die Röhn ist ...“

„Macht nichts. Er fährt uns, wohin wir wollen. Ist ja im Ruhestand, warum sollte er nicht?“

Der Hagestolz hieß eigentlich Richard Hagemann und war ein pensionierter Oberst, dazu Maler, und liebte Tante Abelchen seit ein paar Jahrzehnten vergeblich, wie sie mir mit einem stolzen Lächeln mitteilte.

„Daß du ihn nicht erhört hast“, staunte ich.

Sie erwiderte fröhlich: „Dann liebte er mich vermutlich nicht mehr. Und es ist so angenehm, geliebt zu werden. Man sollte das nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen. Ich jedenfalls hab es gern.“

Ich schwieg. Eine gewisse Logik lag in dieser Antwort, aber nur eine gewisse.

Der Hagestolz kam. Er kam so prompt, als habe er im Tiefstart auf Tante Abelchens Anruf gewartet und sich danach sofort ins Auto geworfen. Ich mußte einräumen, daß diese Art, geliebt zu werden, ihre Vorteile hat. Wir stiegen ein, und er wendete vergnügt den Wagen.

„Jetzt fahren wir erst zu mir. Es liegt ja am Weg“, sagte er. „Ich muß dir doch meine neuen Bilder zeigen.“

Tante fand, daß eine Liebe die andere wert sei, und stimmte zu. Ich saß auf dem hinteren Polster und nahm den dort liegenden Straßenatlas vor. Schließlich hatte ich mich einige Jahre fern von Deutschland aufgehalten und mußte mich neu orientieren. Meiner Erinnerung nach ...

Meine Erinnerung hatte recht. Freilich, allzu groß war der Umweg auch wieder nicht, und die Hochzeit fand ja auch noch nicht morgen statt. So lehnte ich mich zurück und sah hinaus, während ich mich bemühte, nicht auf das Gespräch zu hören, das die beiden andern führten. Es ist schon so eine Sache, mit einem Liebespaar unterwegs zu sein, auch wenn es nicht mehr ganz in Knospe steht.

Das Ziel aber, das vorläufige, das wir ansteuerten, das lohnte. Richard Hagemann bewohnte ein Haus, das sehr einsam lag, einsam und hoch.

„Wie im Riesengebirge“, betonte Tante Abelchen, als wir ausstiegen und ein kalter, reiner Wind uns empfing. „So war es im Riesengebirge, so oder ganz ähnlich. Die Kuppen kahl oberhalb der Baumgrenze – hier liegt es nur daran, daß keiner auf den Gedanken kam, Bäume anzupflanzen – und Wind, immer Wind. Herrlich!“

Der Eingang des Hauses war mit Holz verkleidet, auch das „wie im ...“ Kam man schneeüberkrustet von draußen herein, so mußte man sich erst mit einem groben Schneebesen reinigen in diesem kleinen, windgeschützten Verschlag. „Schnee runter!“ riefen die Drinsitzenden, wenn jemand herein wollte, der diesen Ritus nicht befolgt hatte, durch Tabaksqualm und Wärme, durch Gelächter und Zitherspiel zur Tür. „Und die Schier steckte man in den Schnee.“

Jetzt war kein Winter und kein Schnee. Trotzdem trat man wohlig schaudernd ins Warme, in die große, niedrige holzgetäfelte Stube, die Wohn-, Schlaf- und Eßzimmer sowie Atelier war und die, wie man sogleich spürte, geheizt war. Ich sah mich neugierig um. So was gefällt mir.

„Ja, wunderschön hast du es, ich finde das immer wieder“, sagte Tante Abelchen und glänzte den Mann an, der groß, ein wenig vornübergeneigt, mit zerklüftetem Gesicht und fast weißem Haar auf sie herunterlächelte. Er sah gut aus in seiner Art, nicht hübsch, aber irgendwie gepflegt, was bei Männern ja viel wichtiger als Schönheit ist.

„Nehmen Sie mein Haus für das Ihre“, sagte er und verbeugte sich parodistisch.

„Danke. Ich tu es nicht, das weißt du“, sagte sie, „es grenzt mir zu sehr an die Sterne. Für mich ist die Erde wichtig, die Berührung der Erde, der Kontakt mit ihr und mit dem, was darauf wimmelt. Auf deutsch: Wenn ich nicht heute oder morgen, spätestens aber in zwei Minuten Frau Marthe Schwerdtlein oder eine andere Nachbarin von ihrem Kochtopf scheuchen und ihr mitteilen kann, was mir soeben durch den Kopf blitzte ...“

„Bei dir blitzt es eben immerzu“, sagte er milde bedauernd, „immerhin habe ich jetzt Telefon. Du könntest ...“

„Ich kann nicht, Ich bin nicht die Prinzessin, die Rübezahl sich aus einer Runkelrübe schnitzte und bei sich behalten wollte ...“

„Er schnitzte nicht die Prinzessin, sondern ...“

„Ja, ja, ja. Geschenkt! Jetzt wollen wir Bilder ansehen.“

Wir sahen Bilder an. Der Hagestolz malt Landschaften, das heißt eine. Das Riesengebirge. Die Koppe, die Schneegruben, den Kamm, die Wiesenbaude. Und Kinderporträts.

Diese malte er völlig konservativ in den richtigen Farben und Formen, so daß zärtliche Eltern seufzten: „Genau wie Daniel – Uwe – Bärbel oder Martin.“ Der Hintergrund dieser Bilder aber war kein starkes, einheitliches Blau oder Gelb, sondern ein Durcheinander von lauter Kindergesichtern und -gestalten, die dasselbe Modell, das Kind also, das gemalt wurde, in unendlichen Variationen zeigte, klein, den Kopf etwa wie ein Daumennagel. Lachend, schreiend, weinend, verschmitzt und verbockt, nachdenklich oder übermütig – man konnte sich hineinverlieren. Ich tat es, stand und guckte und vermochte nicht, mich loszureißen, und der Hagestolz hatte sich hinter mir aufgebaut und sah sozusagen mit meinen Augen mit, ebenso verzückt und ohne müde zu werden. Tante Abelchen war an der Wiesenbaude hängengeblieben.

„Dort kehrten wir immer ein, wenn wir von Krummhübel kamen.“

Später gab es Kaffee, in Schlesien, also auch hier, wurde dies Wort auf der ersten Silbe betont und die beiden e am Ende fallen gelassen. Kaffä – so etwa müßte man es schreiben, wenn man Dialekt überhaupt schreiben könnte – und Streuselkuchen.

„Das wundert mich ja nun“, sagte Tante Abelchen und setzte sich zu allem entschlossen an den gedeckten Tisch, „den hast du doch unmöglich noch schnell vor unserem Besuch backen können.“

„Hab ich auch nicht. Aber seit einigen Wochen besitze ich eine Kühltruhe. Da hab ich ihn eingefroren – in Hinblick auf schlesischen Besuch. Unter solchem verstehe ich natürlich einzig und allein dich!“

Es saß sich wunderbar behaglich in diesem hölzernen Raum. Ich blies weiche Rauchwölkchen in die Luft, und Tante Abelchen hatte die Flasche mit Kroazbeerenschnaps vor sich stehen. Richard Hagemann ging ein wenig hin und her, hantierte mit dem Plattenspieler, und gleich darauf erklang, sanft ansetzend, das Fünfte Brandenburgische durch den Raum, mit dem zarten Holzbläsermotiv, hinter dem das Cembalo klingelt. Wir lauschten alle drei, sahen einander an manchen Stellen an, lächelten bestätigend und fühlten alle gleichermaßen deutlich, wie anders es hier klang in der reinen Luft der Höhe. So, wie es wahrscheinlich gemeint war.

„Aber komponiert hat er es, soviel ich weiß, in Leipzig. Damals trugen zwar die Städte noch nicht die Dunsthauben unseres mit Recht so gepriesenen Jahrhunderts, aber allzu gute Luft wird in Leipzig nicht gewesen sein. Damals gab es ja noch die ungeschriebene, aber eisern befolgte Sitte aller Hausfrauen, Schmutzwasser einfach auf die Straße zu schwappen. Und dazu die ungemütliche, ärmliche, wenn auch hoffentlich reinliche Kantorswohnung, um den Kantor herum Kinder jeden Alters, schreiend, plärrend, in die Hose machend, sich zankend, musizierend – und alle miteinander Sächsisch redend“, sagte Tante Abelchen verträumt, als der erste, freundlich getragene Satz in das muntere Scherzo übergegangen war. „Ein unwahrscheinlicher Mensch, dieser Johann Sebastian, nein, kein Mensch im üblichen Sinne mehr. Ein Wunder. Dieser geschundene, immerzu verwundete, in Armut lebende, sorgenbeladene, von verständnislosen Vorgesetzten abhängige – dieser Besessene, dieser Schöpfer. Wie wunderbar, ihn hier hören zu können.“

Sie lächelten einander an, Richard und sie, und beider Gesichter wurden durch dieses Lächeln plötzlich jung, klar, strahlend. Ich mußte mich wiederum und diesmal noch gründlicher wundern.

„Und nun erzähl vom Storch“, bat Tante Abelchen, als der letzte Ton verklungen war, und das befremdete mich, wenn ich ehrlich sein soll. Liebende, die sich über den Storch unterhalten – ich hatte vor kurzem einen gezeichneten Witz gesehen, an den mußte ich denken. Da geht ein junges Paar durch den Zoo, und sie stellt neckisch ein Bein in den Storchenzwinger. „Laß das, Karoline“, sagte er stirnrunzelnd ...

Dieses Bild mit Unterschrift kam mir in den Sinn, und da platzte ich heraus, obwohl die Gefahr für dieses Paar hier vielleicht nicht allzu aktuell war. Immerhin, wenn man vom Storch spricht, hört man ihn klappern.

„Ja, denk dir!“ sagte der Hagestolz. „Was alles passiert! Sein Nest ist heruntergefallen, wieso, weiß ich nicht, jedenfalls war kein besonderer Sturm. Wehen tut es hier oben immer, aber, wie gesagt, nicht außergewöhnlich. Das Nest aber lag am Boden zerstört, wie man so schön sagt, und ich dachte, nun kann ich meinem Storchenpaar nachweinen. Aber was denkst du? Kaum sind die beiden aus Afrika zurück, fangen sie wieder an zu bauen – auf der Erde. Habt ihr je so etwas erlebt? Der Rest des alten Nestes lag da zwar noch, ich hatte es zum großen Glück nicht abtransportiert, und da sehe ich, wie die Störchin anfängt, Äste und Ästchen hinzutragen und es schön auszustatten, so wie ehemals in luftiger Höhe. Sogar Papier trug sie hin, wie ich beobachten konnte, und dann setzte sie sich und legte Eier – es ist doch nicht zu fassen. In der Schule lernt man, daß der Storch auf Kirchtürmen, Hausdächern und ähnlichen hochgelegenen Punkten brütet. Neulich kam eine Schulklasse hier bei einem Ausflug vorbei, die staunte, kann ich euch sagen. ‚Stimmt ja gar nicht, was in unserem Bio-Buch steht‘, sagte einer, und ich fürchte, diese Klasse wird nun auch daran zu zweifeln beginnen, daß er die Kinder bringt.“

„Erzähl Gusti doch, wie du zu ihm kamst!“ verlangte Tante Abelchen.

„Ja, das ist auch eine mehr als seltsame Geschichte. Er kam wie sonst die Babys, für die er zuständig ist oder doch jahrhundertelang war, durch den Schornstein gefallen. Durch meinen. Schwarz und ruhig stand er in meinem Kamingitter, und ich wußte nicht recht, wie ich ihn begrüßen sollte. Einen Frosch hatte ich nicht zur Hand, um ihm Zappelsalat anzubieten, so verbeugte ich mich nur tief und sagte ‚Herzlich willkommen!‘, da verbeugte er sich auch und hackte mir in die Fußspitze. Ich hopste vor Schmerzen umher, das getroffene hochgezogen und mit beiden Händen haltend.“

„Mach’s vor!“ rief Tante Abelchen, und er stand auf und mimte gehorsam seine damalige Schmerzensreaktion. Wir lachten, daß uns die Tränen kamen.

„Er hat dann lange bei mir gewohnt, wir sind gute Freunde geworden“, erzählte der Hagestolz weiter. „Ich fuhr damals täglich nach frischem Fisch und bot ihm welchen an. Manchmal nahm er ihn, manchmal verweigerte er ihn drei Tage hintereinander, und ich mußte mir ein paar Katzen anschaffen, um den Fisch nicht wegwerfen zu müssen. Mein Haus stank nach Fisch und nach Storch. Störche haben nämlich einen ziemlichen Eigengeruch.“

„Blieb er hier im Wohnraum?“ fragte ich neugierig.

„Ja. Und er wurde so zahm, daß ich ihn schließlich streicheln konnte. Und das war gut, er hatte nämlich ...“, der Hagestolz stockte. Tante Abelchen gab ihm einen aufmunternden Schubs. Los, weiter! hieß das.

„Er hatte – und daran erkannte ich, daß er eine Störchin war – eine typische Frauenkrankheit. Krampfadern, ja. Und die machten ihm – machten ihr – Beschwerden. Da habe ich sie mit einer entsprechenden Salbe massiert, und es hat auch geholfen. Nachdem sie erst tagelang auf einer Stelle stand, begann sie jetzt umherzuspazieren, durch die Durchreiche zu gucken“ – er zeigte dabei auf ein kleines Fenster, das vom Wohnraum aus in die Küche führte und durch das man Tassen, Teller und Schüsseln durchgeben kann –, „und ich konnte ihr von der Küche aus was in den Schnabel stecken, ohne immer herlaufen zu müssen. Schließlich versuchte ich, sie ins Freie zu locken. Ich ließ die Tür auf, und eines Tages spazierte sie draußen auf der Wiese umher und begann, das Gefieder zu schütteln, zu putzen und auch zu klappern. Da merkte ich, daß sie genesen war.“

„Das Storchennest auf der Erde muß ich sehen“, sagte ich begeistert, „und knipsen. Oder haben Sie ...“

„Natürlich habe ich.“ Er stand auf und holte einen Kasten mit Fotos. Sodann bewunderten wir schließlich seine Aufnahmen.

„Da könnte man sich ja mal ein Storchenei stibitzen“, sagte Tante Abelchen versonnen, „wie lange muß man das kochen, eh es weich ist?“

Wie gemein! Aber welche dazulegen, vielleicht Enteneier“, schlug ich vor. Der Hagestolz sah mich an.

„Auf diesen Gedanken sind schon andere Lausejungen gekommen, bei uns daheim“, erzählte er, „da haben sie einen Storch einmal wirklich Enteneier untergelegt. Da kam der Storch, der männliche, der Ehemann also – Störche leben in Einehe, Biber übrigens auch –, mit einer ganzen Anzahl anderer Störche, und sie hackten auf die arme, unschuldige Störchin ein, daß sie fliehen mußte, um am Leben zu bleiben. Die kleinen Störche hat dann der Papa aufgezogen – leicht war das nicht. Nein, solche Witze sollte man nicht machen.“

„Ich meinte ja nur“, murmelte ich beschämt. Und er antwortete tröstend: „Ich glaub’s. Das Nest zeige ich Ihnen nachher. Ja, ja, es gibt nichts, was es nicht gibt.“

Gusti zwischen Hüh und Hott

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