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Die Jagd

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Kaum war die alte Auguste hinaus, da zerrten Imme und Ute den großen Waschzuber dicht an den Kessel heran. Das ging gar nicht leicht. Sie waren ja erst zehn Jahre alt, die Erlenhof-Zwillinge, und Ute sogar ein bißchen dünn und piepsig, Imme jedoch sehnig und gesund; aber so ein Ding wiegt schon was! Ein paarmal schwappte das Wasser auch gewaltig über den Rand, und die beiden quietschten laut. Der Fußboden hier in der Waschküche war glatt, so gelang ihnen schließlich ihr Vorhaben. Zum Glück floß alles, was über den Rand ging, von selbst wieder ab, man konnte also spritzen, soviel man wollte. Das war das Schöne hier.

Imme stopfte noch ein Bündel Reisig ins Feuer, daß das losprasselte, ließ die Ofentür halb offen und drehte das Licht aus. Dann hopste sie im Schein des Feuers schnell wieder in die Wanne, in der Ute schon saß.

„Fein, was? Richtig gruselig; und wie heiß es ist! Ich bleib mindestens zwei Stunden drin.“

Auguste hatte ihnen die Haare schon eingeseift, und Ute sah mit ihrer weißen Schaummütze so ganz anders aus, daß Imme lachen mußte, so oft sie die Schwester ansah.

„Auguste hat aber gesagt, wir dürften bloß –“

„Ach die! Die kommt so bald nicht wieder, wetten? Die hat doch heute alle Hände voll zu tun. Achtung!“

Imme ließ den Schwamm in den Zuber klatschen. Das Wasser spritzte, daß es auf der kleinen schwarzen Ofentür zischte und der Dampf aufstieg. Imme fand das großartig und spritzte gleich nochmal dran. Die Waschküche füllte sich mehr und mehr mit Dampf.

„Das ist gesund! Dampfbäder sind gesund!“ sagte Imme eifrig, „in einer Sauna ...; weißt du, was eine Sauna ist?“

„Natürlich“, brummte Ute.

„Ach du! Natürlich weißt du es nicht!“ spottete Imme. „Du denkst, das ist was mit einer Sau. Stimmt’s? Schwindle nicht!“

„Ist doch auch“, sagte Ute unsicher.

„Haha! Sowas! Die Ute – du bist noch dümmer als der Gustel, sooo dumm!“

„Selber dumm!“ Ute war immer im Nachteil gegenüber der Schwester. Sie war das zwar gewöhnt und wagte auch nie eine regelrechte Verteidigung, aber gefallen lassen wollte sie sich auch nicht alles. So blieb ihr weiter nichts übrig als zurückzugeben, was Imme ihr an den Kopf warf, wenn sie nicht einfach schwieg. Schweigen war entschieden das Beste, aber es gelang nicht immer.

Übrigens war Imme heute viel zu vergnügt, um dauernd zu streiten; sie ärgerte Ute eigentlich nur so nebenbei und aus Gewohnheit.

Sonst badeten die beiden Mädchen stets im Badezimmer neben ihrer Schlafstube, und meist kümmerte sich dann auch Sigrid um sie, ihre zwanzigjährige Schwester, überprüfte Hals und Ohren auf Sauberkeit und kämmte die kleinen Schöpfe durch. Aber morgen war Jagd, das große Fest des Jahres, das sogar Schweineschlachten überstrahlte und selbst Weihnachten ein wenig in den Schatten stellte, so großartig war es. Und da waren alle Badezimmer des großen Gutshauses schon bis ins kleinste blitzblank geputzt, und die Fremdenstuben warteten mit frischbezogenen Betten und bereits heute angeheizten Öfen auf die Gäste.

Jagd! Man wurde ganz verrückt vor Freude, wenn man daran dachte: An die vorfahrenden Schlitten der Gutsnachbarn, die vielen fremden Pferde im Stall, die Hunde, die unter dem Spritzleder saßen und lautlos in den Schnee sprangen, wenn ihre Herren die Pelzdecken zurückschlugen; an Kaminfeuer in der Diele und Zigarrenrauch und heiße Fleischbrühe, an das Murren der Treiber, die im Schnee warteten, und an die vielen Gewehre.

„Wenn ich groß bin, geh ich auch mit. Sigrid geht jedes Jahr mit“, sagte Imme, „aber Hasen, puh, Hasenschießen ist gar nichts. Ich werde alle Füchse schießen und alle Keiler, und die andern kriegen gar nichts ...“

„Das Feuer geht aus, leg doch noch was hinein!“ mahnte Ute. Sie hockte bis an die Schultern im Wasser, bereits wohlig müde und ein bißchen schlapp von der feuchten Hitze ringsum.

„Ja, warte!“ Imme sprang aus dem Zuber und lief in die Ecke, wo das Holz lag. Dabei rutschte sie aus und saß – platsch! – auf dem nassen Steinboden. Ute lachte.

„Aua, wirst du gleich aufhören zu lachen! Ich werd dich –“

Sie stand einen Augenblick und überlegte, was sie Ute antun könnte. Spritzen hatte keinen Zweck, schimpfen oder hauen war nicht neu. Da fiel ihr der viele Schnee ein, der draußen lag. Schnee! Sie riß die Tür auf, während sich Ute mit einem kreischenden: „Du bist verrückt!“ ins Wasser duckte.

Imme stand einen Augenblick wie benommen in der offnen Tür. Der Unterschied zwischen der heißen, dampfgefüllten Waschküche und der eiskalten Novemberluft war zu überraschend. Aber dann hatte sie alle Rachegelüste jäh vergessen und schrie leise auf vor Entzücken. „Ute, komm! Du, das ist großartig!“

Dann war sie verschwunden. Ute reckte den Hals und guckte. Was fiel der denn ein? Nackt hinauszulaufen in Schnee und Kälte!

Die Tür stand offen, und die Dampfschwaden wehten hinaus. Es wurde kalt. Ute fing an zu rufen.

„Imme! Imme! Wo steckst du?“

„Puh!“ Da stand Imme wieder in der Tür, lachend und hopsend. Sie war krebsrot und voller Schnee.

„Du mußt das auch mal machen!“

„Was denn?“

„Im Schnee wälzen. Das ist herrlich. Wie eisgekühlte Schlagsahne auf heißer Schokolade. Das haben wir doch mal gekriegt.“

„Bei der Kälte!“ wehrte sich Ute, aber Imme riß sie mit sich.

„Gerade! Wir spielen Sauna, das ist gesund.“

„Wenn aber Sigrid ...“

„Die kommt nicht!“ –

Sigrid kam aber doch. Das wäre vielleicht nicht so schlimm gewesen, wenn sie allein gekommen wäre, aber Vater war dabei.

Das war eine ganz üble Geschichte. Vater konnte gar keine lustigen Dummheiten leiden, und am Tage vor der Jagd war er sowieso immer sehr reizbar und nervös. Da rutschte ihm die Hand noch leichter aus als sonst, und man ging ihm am besten aus dem Weg. Ihm aber splitterfasernackt bei dieser Kälte im Schnee zu begegnen, war schon mehr als Pech, besonders für Imme, die Anstifterin. So erschraken die beiden Mädchen sehr, als er plötzlich dastand, sie sahen ihn erst im letzten Augenblick, weil es fast schon dunkel war.

„Ihr seid wohl vollkommen wahnsinnig!“ donnerte er los, „was in aller Welt fällt euch denn ein!“

„Wir –“ stammelte Imme, aber er unterbrach sie sofort wieder.

„Wir? Sag lieber: ich. Denn daß du das angestellt hast und nicht Ute, das ist mir klar. Ihr wollt euch wohl den Tod holen?“

„Nein, Vater, wir wollten –“

„Was denn?“

„Sauna spielen, das ist doch so gesund. Die Finnen machen das auch so, Sigrid hat es uns erst letzte Woche vorgelesen.“

„Ach, du Unglückswurm, los, los, hinein ins Warme, aber bissel hopp!“ rief Sigrid schnell. Daß es nun glücklich auf sie hinauslief! Imme hätte wirklich den Schnabel halten können.

Sie quetschte sich hinter den Zwillingen in die Waschküche und zog die Tür zu. „Laß, ich bring schon alles in Ordnung!“ rief sie zu Vater hinaus. Er brummte, sie horchten alle drei, aber dann ging er doch weiter. Gott sei Dank!

Sigrid sah großartig aus, fand Imme, wie sie so dastand, mit vor Aufregung und Ärger roten Backen. Sie hatte ihr Lodenkostüm an und die hohen Stiefel, und ihre dunklen, krausen Haare hingen voller Schnee. „Was fällt euch nur ein!“

Sie hatte das Licht angedreht und kam jetzt an die Wanne heran, in die die beiden schnell gestiegen waren. „Seid ihr wenigstens sauber?“

„Du lachst ja, Sigrid“, sagte Imme und lachte auch.

„Gar nicht lach ich, du freches Stück!“ antwortete die große Schwester und wollte schimpfen, aber es lachte doch aus ihr heraus, jung und froh. Sigrid lachte in letzter Zeit so viel, ganz ohne Anlaß.

Sie war ja selbst noch jung, aber von Zeit zu Zeit versuchte sie doch, streng zu sein. Die Zwillinge trieben es manchmal auch zu arg. Imme war ein Ausbund, und Ute machte mit, ob sie wollte oder nicht.

„Dir schadet es ja nichts“, schalt Sigrid jetzt und fischte nach dem Waschlappen, „mit nassen Haaren! Ihr könnt euch zu Tode erkälten. Wollt ihr morgen im Bett liegen? Los, Haare abspülen und raus aus dem Wasser! Warum läßt euch Auguste auch allein!“

Beim Abendbrot, zu dem die Mädchen allein im Kinderzimmer saßen, hustete Ute natürlich bereits.

„Da habt ihrs. Jetzt sofort ins Bett und heißen Tee trinken! Verstanden? So heiß wie es geht!“ befahl Sigrid.

Ute jammerte und heulte, weil sie sich die Zunge verbrannte. Ihr war scheußlich zumute, und sie hatte doch gar nicht mittun wollen.

Imme saß in ihrem Bett und betrachtete die Schwester ziemlich ungerührt. Sie kannte es nicht anders, als daß Ute leicht krank wurde. Ihrer Meinung nach kam das nur davon, daß man sie viel zu sehr verhätschelte. Und daß sie krank sein wollte. Imme spürte genau, daß Ute in einer Art glücklich war, wenn sie wieder einmal im Bett bleiben mußte, wenn Sigrid bei ihr saß und ihr vorlas und wenn sie, Imme, sie nicht ärgern konnte.

Sigrid kam, um Gutenacht zu sagen, obwohl es noch ziemlich zeitig war. Als sie das Licht gelöscht hatte, lag Imme noch eine Weile wach und dachte, wie sie es morgen anstellen könnte, mit zur Jagd zu gehen. Wenn sie doch ein Junge wäre! Jungen durften in ihrem Alter immer mit, auch solche, die sie glatt untergekriegt hätte. Ach, sie wollte so gern, so gern morgen dabei sein!

Sonnabends hatten sie nur zwei Stunden Schule, aber diese zwei Stunden zerrissen ihr den ganzen Vormittag. Sie mußte –; während ihr allerhand Pläne durch den Kopf gingen, schlief sie ein.

Am Morgen hatte Ute wirklich Fieber und mußte im Bett bleiben. Imme lief mit der Entschuldigung, die Sigrid geschrieben hatte, geradenwegs zu Herrn Störmer, noch ehe die Schule begann. Die ersten Schlitten mit den Jagdgästen begegneten ihr, und sie wußte auf einmal, wie sie unbedingt um die Schule herumkommen würde. Herr Störmer saß beim Frühstück. „Na, was bringst du?“

Imme knickste und lächelte ihn an, so freundlich sie konnte.

„Meine Schwester schickt mich, Ute ist krank, und weil wir doch heute Jagd haben –“

„Hm! Ute ist wieder mal krank ...“, er besah die Entschuldigung und blickte dann wieder auf. „Und du?“

„Ja. Ob ich nicht auch – es ist doch so viel zu tun“, sagte Imme eifrig. „Sigrid kann natürlich nicht bei Ute bleiben, und Auguste ist in der Küche. Ob ich da nicht –“

„Sie brauchen dich wohl?“ fragte Herr Störmer.

„Mein Vater –“

„Na da lauf halt! Wenn ohne dich die Jagd nicht möglich ist.“

Imme knickste wieder. Daß es so leicht ging! Sie hatte nicht einmal geschwindelt, hatte nur gefragt, und alles was sie gesagt hatte, war wahr.

Zu Hause warf sie den Ranzen in die Ecke bei der Garderobe, dort fand ihn niemand. Dann lief sie in die Küche.

„Sind sie schon fort, Auguste?“

„Ja, jetzt eben. Willst du nach?“

„Ja, ich muß. Gib mir bitte noch ein Brot!“

Es lagen noch einige von den eingepackten da, von denen die Jagdherren sich welche für unterwegs einzustecken pflegten. Imme roch hinein, ha, Schinken! Sie stopfte zwei Packen in die Taschen ihrer Trainingshose.

Der Weg, den die Treiber genommen hatten, war nicht zu verfehlen. Man sah die Spuren im frischgefallenen Schnee. Sehr bald hörte Imme auch das Klappern der Stöcke, das „Hoh!“ und „Heh!“ und „Alleh!“, mit denen sie das Wild scheuchten. Imme kroch durch das Gebüsch und war bald mitten zwischen ihnen.

Der alte Herfurt leitete das Treiben.

Imme war stets ein paar Schritte voran, sie zappelte vor Aufregung und Begeisterung.

„Bleib zurück, zum Donnerwetter! In der Reihe bleiben!“ schimpfte der Alte. „Du kriegst sonst noch was ab.“

„Ach wo.“

Imme drückte sich etwas beiseite, um aus dem Bereich des Alten zu kommen. Die andern hatten ihr nichts zu sagen. Plötzlich sah sie etwas ...

Es huschte über den Schnee, ganz anders, als Hasen hoppeln, niedrig, rot – ein Fuchs. Gerade hier öffnete sich der Wald, aber der Fuchs wollte nicht hinaus, er wollte zurück, zwischen den Treibern durch – er war ein alter und kluger Fuchs.

Imme schnitt ihm den Weg ab. Das Knallen der Gewehre war jetzt ganz nah. Sie rannte – der Fuchs drehte wirklich um, und sie schoß hinter ihm her aus dem Dickicht heraus. Im nächsten Augenblick knallte es ganz nah, wie ihr schien, und sie fühlte, wie ihr die Beine unterm Leib wegrutschten. Sie saß im Schnee, und irgend etwas brannte ganz verteufelt in ihrer Sitzgelegenheit.

Langsam stand sie auf und tastete. Als sie die Hand aus der Hose zog, sah sie Blut daran. Ach du Himmel! Sie wußte, daß es manchmal vorkommt, daß Treiber angeschossen werden und daß das weiter nicht schlimm ist. Nur erfahren durfte es natürlich keiner, die Schmerzen waren Nebensache.

Sie überlegte. Es ging schon auf Mittag zu, allzu lange dauerte das Treiben nicht mehr. Wenn sie sich ins Jagdhäuschen verzog? Dort gab es „Zusammengekochtes“, einen „Eintopf“ für die Schützen. Auguste brachte es immer in zwei großen Töpfen mit dem Pferdeschlitten hin. Sie mußte zu Auguste, ehe die Männer kamen, Auguste würde ihr helfen.

Es lief sich scheußlich, aber das half nun nichts. Imme stöhnte und kletterte über vereiste Baumstämme und durch niedriges Gesträuch. Endlich sah sie das Jagdhäuschen durch die Bäume schimmern.

„Auguste, hast du was da? Sie haben mich –“, platzte sie herein.

„Was denn?“

„Hier!“ Imme zog die Trainingshose herunter, und Auguste schlug entsetzt die Hände zusammen. „Angeschossen?“

„Ja, aber nicht schlimm.“

Es war wirklich nicht schlimm, wie es sich herausstellte, nur drei oder vier Schrotkörner, die nicht tief saßen. Nur blutete es sehr. Auguste hatte schon manchen angeschossenen Treiber verarztet, sie griff schnell und geschickt zu. Es tat scheußlich weh, als sie die kleinen Kugeln herauspuhlte. Imme biß die Zähne zusammen. Auguste verpflasterte die blutenden Stellen mit Hansaplast, und als es überstanden war, kam sich Imme ganz großartig vor. Sie hatte da doch wiedermal was erlebt. Was würde Ute sagen!

„Aber du erzählst es niemandem, liebste, beste Auguste, nein? Bitte nicht!“ bettelte sie.

„Fräulein Sigrid muß es wissen“, sagte die Alte zögernd, „der sag ich’s; nein, auf jeden Fall. Sie kommt ja eher als die Herren.“

„Aber nicht jetzt! Ich sag es ihr bestimmt heute abend“, bat Imme. „Ich helf dir auch schön, liebe, gute Auguste!“

Sie hatte die Arme um Augustes Hals gelegt und bettelte und schmeichelte. Auguste schmolz dahin. „Wenn du versprichst –“

„Alles, alles!“ Imme war schon wieder obenauf und half, die Teller auf den Holztischen zu verteilen. Gerade kamen die ersten Schützen.

„Was machst du denn hier?“ wunderte sich Vater. Sigrid war noch nicht da.

„Ich helf. Herr Störmer hat mich nach Hause geschickt.“

„So? Na dann –“ sagte Vater zerstreut. Er mußte sich seinen Jagdgästen widmen. Imme flitzte hin und her und strahlte die Männer an. Sie aßen und tranken Grog, und die ersten Zigarren begannen zu qualmen. Endlich kam auch Sigrid. Sie lachte nur, als Imme ihr den Teller brachte.

„Du Unnütz, bist du auch da?“

Neben Sigrid saß der junge Landrat, der öfter aus der Kreisstadt kam. Sie hatten beide rote Backen und lachten sich an, während sie ihren Eintopf löffelten. Imme war sehr froh und erleichtert. Sigrid würde bestimmt nicht schimpfen, so vergnügt wie sie heute war.

Zu Hause gab es dann noch Kaffee und Kuchen für alle Gäste. Und abends sollte getanzt werden. Ein paar Freundinnen von Sigrid blieben über Nacht, einige Gäste fuhren eher ab. Imme lief zu Ute hinauf, der es wieder recht gut ging. Sie aßen Bienenstich und Zuckerkuchen. Einmal kam Sigrid zu ihnen hereingehuscht. Sie freute sich, wie es Ute schmeckte.

„Du mußt heute allein ins Bett gehen, Immelein“, sagte sie, „ich weiß nicht, ob ich nochmal fortkann von unten.“ Sie nahm Immes Kopf zwischen die Hände und lachte ihr in die Augen. Dann war sie wieder hinaus.

„Du, ich glaube, die verlobt sich heute“, sagte Imme zu Ute. Ja, das mußte es sein. So strahlte nur eine Braut. Am Ende war sie es schon? Das mußte sie wissen.

„Wir gehen mit hinunter“, sagte sie mit blinkernden Augen. Ute sah sie mitleidig an und zeigte nach der Stirn.

„Die schicken uns doch gleich wieder fort!“

„Ach du! Die merken das gar nicht – paß auf!“

Sie flüsterten eifrig. Ute sah bedenklich drein, aber auch wieder begehrlich. Imme schlüpfte jedenfalls in den Schlafanzug, und sie lagen brav in den Betten, als Auguste das Abendbrot brachte. Sie hatte auch tausenderlei zu tun, so daß sie an Immes Schußwunden gar nicht mehr dachte.

„Tanzen sie schon?“ fragte Imme.

„Nein. Sie sitzen noch im blauen Zimmer. Aber im Saal ist schon alles fertig.“

Das war es, was Imme wissen mußte. Als Auguste hinuntergegangen war, zogen sie beide Socken an und schlichen in den Flur. Es war sehr aufregend. Unten an der Treppe wären sie um ein Haar dem Vater in die Arme gelaufen. Imme riß Ute zurück, sie standen mit lautklopfenden Herzen hinter dem Windfang der Wirtschaftstür. Endlich entfernten sich Vaters Schritte.

„Komm!“ flüsterte Imme. Sie erreichten den Saal, spähten umher, ob jemand sie sah, und huschten hinein. Schnell über das blanke Parkett, auf dem man herrlich hätte schlittern können, wenn Zeit dazu gewesen wäre, die Vorhänge des mittleren Fensters auseinandergeschoben und hinauf auf das breite Fensterbrett. Imme war zuerst oben und zog Ute an der Hand nach. Dann ließen sie den Vorhang wieder zusammenfallen und standen nun aufatmend zwischen Fenster und Vorhängen auf dem Fensterbrett.

„Von hier aus können wir alles mit ansehen und anhören“, sagte Imme erwartungsvoll. Nach wenigen Minuten kamen die ersten Gäste, und das Radio, das gerade unter ihrem Fenster stand, wurde angedreht.

Jetzt hieß es ganz stillstehen. Zuerst war das auch nicht so schwer. Imme und Ute horchten, spähten durch den Vorhang und unterdrückten wilde Lachanfälle. Aber allmählich merkten sie, daß sie sich das Ganze doch abwechslungsreicher vorgestellt hatten. Die Musik war so laut, daß man von der Unterhaltung der Gäste fast gar nichts verstand; und das Tanzen, nun, das war schließlich auch immer dasselbe, wenn auch die Paare wechselten. Imme hatte schon wieder genug, aber sie waren ja nun gefangen. Sie mußten aushalten, bis – ja, bis wann denn? Vielleicht bis Mitternacht oder gar noch weiter darüber hinaus? Das war keine angenehme Aussicht.

Ute flüsterte es Imme zu. Aber die, die das Ganze sich ja ausgedacht hatte, sagte leichtsinnig:

„Ach wo! Irgendwas passiert schon, daß sie mal rausgehen. Guck, da ist Sigrid mit dem Landrat.“

Sigrid sah wunderbar aus. Ihr Kleid war am Rücken weit ausgeschnitten und ging fast bis auf die Füße. Man sah beim Tanzen die silbernen Schuhe.

„Fein, nicht? Aber ich, ich will später kein solches Kleid“, sagte Imme mit großen, nachdenklichen Augen. „Ich will einen Anzug aus Leder mit einem Gürtel, in dem man ein Buschmesser tragen kann, und überall Reißverschlüsse. Und solche Hosentaschen!“

„Damit kannst du doch nicht tanzen“, sagte Ute verächtlich.

„Will ich ja gar nicht. Aber den Bulldog fahren, reiten und ein Motorrad haben, noch schwerer, als der Schweizer eins hat, mit zwei Auspüffen und einem Rückspiegel.“

Immer wieder ärgerte sich Imme, daß sie kein Junge war. Vater hatte sich damals sehr einen Jungen gewünscht, da bekam er zwei Mädchen und mußte seine Frau hergeben. Aber ein bißchen hatte sein Wunsch wohl auf Imme abgefärbt, das ahnte er nur nicht; aber sie war wirklich ein halber Junge.

Auf einmal war die Musik aus, und Imme platzte fast vor Lachen hinter dem Vorhang. Die Paare blieben mitten im Tanzen stehen.

„Nanu?“ Alles guckte erstaunt nach dem Radio. Kurzschluß? Aber die Lampen brannten doch noch.

„Der Stecker ist raus, wahrscheinlich war er nicht richtig hineingesteckt“, sagte einer der Tänzer, kam heran und steckte ihn wieder fest. Weil die Musik sofort wieder einsetzte, hörte man Immes Prusten nicht. Sie hatte den Stecker gelockert gehabt. Der Vorhang wackelte, weil die beiden Mädchen vor Lachen nicht stillstehen konnten.

„Nochmal!“ flüsterte Ute. Imme hockte schon auf dem Sprung. Sie ließ die Paare erst mal richtig in Schwung kommen, dann griff sie wieder zu. Aus.

„Das ist doch blöd! Steckt das Ding doch richtig fest!“ rief Sigrid und kam heran.

„Hab ich ja. Vielleicht ist was am Kontakt?“

Man besah den Stecker, die Dose, die dicht neben dem Vorhang war, probierte – die Musik ging. „Na also!“

Imme wollte sofort wieder herausziehen, aber Ute hielt sie am Ärmel fest. „Nicht doch! Wenn sie uns finden!“

Imme jedoch fand es zu großartig, den Tanzenden mitten im Drehen die Musik abzuschneiden. „Wie bei der Stuhlpolonaise“, kicherte sie. Ute mußte auch lachen, Stuhlpolonaise spielten sie immer am Geburtstag, es war eins ihrer schönsten Gesellschaftsspiele. Immerhin wartete Imme diesmal ein Weilchen, damit es nicht zu sehr auffiel. Da war auf einmal die Musik sowieso zu Ende, und Nachrichten kamen. Die wollte niemand hören, und das Radio wurde mit einem Knacks ausgedreht. Die Gäste wandten sich dem Tischchen mit Bowlengläsern und belegten Brötchen zu. Imme und Ute guckten sehnsüchtig. „Ich hab Hunger!“

„Ich auch!“

Und kalt war es auch. Die Winterluft zog durch die Doppelfenster, man merkte das, wenn man, wie sie, im dünnen Schlafanzug hier still stehen mußte. Den Gästen beim Essen und Trinken zuzusehen, machte wenig Spaß. Was tun?

Dazu kam, daß Ute immer wieder mal husten mußte. Vorhin bei der Musik hatte man das nicht gehört, aber jetzt war es gefährlich. Sie unterdrückte es, so gut es ging, und preßte beide Hände vor den Mund. Imme kriegte Angst und machte ihr wilde Zeichen. Der Vorhang wackelte.

„Wenn sie uns finden, bist du schuld!“ knurrte sie. Aber Ute flüsterte kläglich:

„Ich kann doch nichts dafür. Du hast gesagt ...“

„Ich? Aber ich huste ja auch gar nicht.“

Sie stritten. Viel hätte nicht gefehlt, da wäre Imme handgreiflich geworden, aber sie ließ es doch lieber sein. In diesem Augenblick trat der alte Herfurt ein, der heute auf der Jagd die Treiber geführt hatte. Imme sah es. Er winkte Sigrid. Sie verließ ihren Platz neben dem Tischchen mit der Bowle und folgte ihm. Imme wurde es unheimlich.

Sie konnten ja schließlich jeden Augenblick entdeckt werden, und wenn dann Sigrid nicht da war, um sich helfend und schützend zwischen sie und den Vater zu stellen, konnte das ganz entsetzlich dumm auslaufen.

„Du“, flüsterte Ute jetzt erschrocken. Imme drehte sich um, und Ute wies nach draußen in den Hof, der im kalten Mondlicht dalag. Dort sah man zwei Menschen, Herfurt und Sigrid.

„Ach du Donnerwetter!“

Man hatte sie gesehen, da war kein Zweifel. Man mußte sie ja sehen, wie sie als lange, bewegliche Schatten vor den hellen Fenstern herumgeisterten.

Und Herfurt hatte Sigrid geholt ...

„Olle Petze!“ knirschte Imme, und Ute fing vorsichtshalber gleich an zu weinen. Wenn man weinte, bekam man erfahrungsgemäß viel weniger ab.

„Du hast es aufgebracht, du hast gesagt – ich wollte gar nicht.“

Die alte Geschichte. Imme stand betreten da und guckte auf Sigrid hinunter, die mit der Faust heraufdrohte. Was würde nun werden?

Zunächst sahen sie nur, daß Herfurt ging. Sigrid kam ins Haus zurück; Imme und Ute schubsten sich gegenseitig vom Vorhangspalt weg, um zu gucken. Ging sie zum Vater? Sagte sie ihm ...

Es war furchtbar spannend, und sie hörten ihre Herzen klopfen. Aber Sigrid kehrte zu ihrem Platz zurück und tat, als ob gar nichts los wäre. Was hatte sie vor? Vielleicht sagte sie gar nichts und ließ sie beide nun hier stehen, zur Strafe, oder weil sie sich auch keinen Rat wußte? Imme und Ute hatten jetzt wieder das Gefühl, daß es herrlich sein müßte, im Bett zu liegen, warm, behaglich und ohne Gefahr. Hätten sie doch – aber man überlegt das ja immer zu spät.

Dann sahen sie plötzlich, wie ein paar von den Gästen den Saal verließen. Die jungen Mädchen untergehakt, die Männer hinterher, sogar von den älteren Herrschaften erhoben sich einige. War das Zufall, oder –?

Sigrid stand neben dem Stuhl ihres Vaters und sprach lebhaft auf ihn ein. Der Vater rührte sich aber nicht. Er lachte, schüttelte den Kopf und sog an seiner Zigarre. Neben ihm der alte Warnekower, ein unförmig dicker und stets lustiger Gutsnachbar, schien auch nicht zum Aufstehen zu bewegen zu sein. Imme wartete gespannt, sie merkte, daß Sigrid ganz zappelig vor Ungeduld war.

In diesem Augenblick ertönte wildes und zeterndes Hundegebell. Knurren, Blaffen, Quietschen – mit einem Ruck waren die beiden hoch.

„Wer hat denn ...?“

„Asta! Ich kenn doch meine Asta ... Der Saal war leer wie reingefegt.

Sigrid riß den Vorhang zur Seite und faßte mit der Rechten Ute und mit der Linken Imme bei der Hand. Sie sprangen herunter und rannten neben ihr der Tür zu.

„Ihr Haderlumpen“, sagte Sigrid atemlos, als sie im oberen Flur angekommen waren und in eine langsamere Gangart verfielen. „Müßt ihr denn immer – versohlen sollte ich euch.“

„Wie hast du sie denn rausgelockt?“ fragte Imme begeistert. Sie war, nun sie sich in Sicherheit wußte, schon wieder obenauf und kein bißchen reuig.

„Mit den Sternschnuppen. Jetzt im November fallen doch so viele Sternschnuppen. Da sagte ich, wir wollten uns das mal ansehn!“

„Und bei Vater und Onkel Dickus zog das nicht, gelt?“ fragte Imme mit glänzenden Augen.

„Nein, da mußten erst die Hunde dazukommen. Wer hat die nur aufeinander losgelassen? Es wußte doch niemand außer –“

„Außer –?“ drängte Imme gespannt, als Sigrid plötzlich abbrach.

„Außer Herfurt und mir, das weißt du ja“, sagte Sigrid ärgerlich. „Überhaupt, statt daß ihr mir auf den Knien dankt, daß ich euch gerettet hab, und Besserung gelobt.“

Sie ging und warf wütend die Tür hinter sich zu. Imme lachte vergnügt. Sie konnte sich gut denken, daß noch jemand außer Herfurt und Sigrid von ihrem Streich wußte.

Sie hatte recht vermutet. Zwischen Haustür und Diele lief Sigrid dem Landrat in die Arme. Er hielt sie fest und fragte: „Hab ichs gut gemacht?“

„Die Köter aufeinander zu hetzen? Das nennst du gut? Ist denn noch was übrig von ihnen?“

„Von jedem nur noch der Schwanz. Das andere haben sie gegenseitig aufgefressen.“ Sigrid lachte. Er auch. Und dann gingen sie, froh und erleichtert, in den Saal zurück.

Die Erlenhofzwillinge

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