Читать книгу Nina oder kleines Licht im Dunkeln - Lise Gast - Страница 4

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„Großmama? Ach je, ich störe wohl sehr?“

Die alte Dame mit dem mageren, braunen, faltendurchzogenen Gesicht unter eisengrauem Haar, das wie ein Gefieder um den Kopf stand, blickte auf und lachte.

„Du störst enorm, Nina.“ Der Tisch vor ihr war übersät mit unzähligen Papieren und Zetteln aller Größen, und durch das stürmische Aufreißen der Tür war ein Luftzug entstanden, der einige dieser Papiere emporflattern ließ. Die alte Dame hielt sie mit gespreizten Fingern an ihrem Standort fest. „Mach die Tür zu, ich bitte dich, schnell! Danke. Nein, du störst nicht. Du hast mich im Gegenteil erlöst. Etwas Besseres hätte mir im Moment nicht passieren können. Jetzt habe ich einen Grund aufzuhören.“

„Du bist …“

„An der Steuerklärung von Onkel Hans. Das Zweitunangenehmste, was man sich vorstellen kann. Es mag noch Unangenehmeres geben. Und damit Schluß. Wie schön daß du da bist, Kind!“

„O Großmama, willst du wirklich …“

„Jawohl. Hier alles stehen und liegen lassen, mit dir nach nebenan gehen, uns einen Kaffee kochen und gemütlich sein. Hier kann man kein einziges persönliches Wort sprechen, so gräßlich ist es — ich hasse Zahlen, du weißt es ja! — na, und draußen ist es auch nicht gerade anheimelnd. Du bist naß wie eine Wassermaus.“

Sie strich der Enkelin übers Gesicht. „Es regnet nicht nur? Halb Schnee, halb Regen? Also richtig November, so richtig — herrlich, daß du da bist!“

Das Stübchen nebenan war klein, mollig warm und eigentlich nur ein Eckchen, zwei Sessel mit einem winzigen Tisch davor. Auf den stellte die alte Dame Tassen und ein Stövchen, dessen Licht sie entzündete. Wie Nina diese Bewegung kannte und liebte! Und in einer Zeitspanne von Null-Komma-nichts stand eine weiße, blaugemusterte Kaffeekanne darauf, roch es bitter und herrlich nach Kaffee und saßen die beiden Frauen, die alte und die junge, einander gegenüber, beide mit einem genußvollen „Ah!“ die Tassen abstellend, aus denen sie den ersten Schluck getrunken hatten.

„Wundervoll, Großmutter“, sagte Nina und lehnte sich zurück, „aber denke nicht, daß ich dir deine kostbare Zeit stehlen will. Ich bleibe wirklich, wirklich nur …“

„Nur ein Viertelstündchen, stand früher auf Sofakissen gestickt“, lachte die alte Dame, „dann werfe ich dich wieder hinaus, denn ich muß tatsächlich heute noch weiterkommen. Jetzt aber habe ich Zeit für dich. Was gibt’s, Nina? Du siehst aus wie eine Katze, die Sahne geleckt hat und sich nun dafür entschuldigen will.“

„Hast du das bei einer Katze schon mal erlebt?“ fragte Nina. Sie wollte damit ihre Betroffenheit verdekken, denn so ähnlich war ihr tatsächlich zumute. Die Großmutter lachte wieder.

„Oft. Und bei Menschen noch öfter. Wo fehlt’s, Ninakind? Kann ich helfen?“

„Vielleicht kannst du wirklich“, sagte Nina heftig. Sie beugte sich vor und sah die Großmutter fordernd an. „Ich brauche jemanden, der zuhört. Mutter ist so beschäftigt, seit sie wieder unterrichtet, mit der Schule gibt es ja heute Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Ja ja, später‘, heißt es, wenn ich mit ihr reden will, ,ich habe so vielerlei im Kopf‘, und das hat sie auch wirklich, ich weiß es. Trotzdem …

Und Vater? Ich sehe ihn kaum. Er kommt mittags nicht nach Hause und abends spät, meist so spät, daß ich ihn gar nicht mehr sehe, und dann ist er todmüde, wie du dir vorstellen kannst, und nicht mehr ansprechbar. Auch nicht, wenn es sich um etwas Wichtiges handelt. Aber es genügt doch nicht, daß Vater und Mutter sich abschuften, damit alles Äußere bei uns in Ordnung geht. Für das Innere haben sie keine Zeit. Da wird man abgespeist mit ,zu unserer Zeit war das anders‘ und ,ihr habt ja keine Ahnung, wie das Leben eigentlich ist. Wir schuften für euch, und der Dank …‘ stundenlang könnte ich noch weiter zitieren. Natürlich war früher alles anders, aber das nützt uns doch heute nichts und hilft uns nicht weiter. Wir …“

„Wer ist denn das, dieses ,Wir‘?“ fragte die Großmutter.

„Volker und ich. Wir wollen nun endlich zusammenziehen, und das paßt den Eltern nicht.“

„Heiraten?“ fragte die Großmutter. Nina schüttelte den Kopf, daß die Locken flogen.

„Muß man denn gleich heiraten? Kann man nicht auch so zusammenziehen? Wir finden, man kann. Man kann sich doch erst prüfen, ehe man sich für immer entscheidet, ist das nicht viel vernünftiger? ,Bis daß der Tod uns scheidet‘, meist ist es das Leben, das die Menschen scheidet, wenn sie zu zeitig heiraten oder zu unbedacht, weil sie sich nicht kennen. Wir finden, es ist ehrlicher, man zieht vor aller Welt zusammen, und wenn man feststellt, daß man doch nicht zueinander paßt, geht man wieder auseinander, vor aller Welt.“

„Hm“, Großmutter schwieg. Dann sagte sie: „Das alles hat, mit Vernunft betrachtet, Hand und Fuß. Aber mit dem Herzen betrachtet — und zum Zusammenleben gehört auch oder besser vor allem Herz, auch heute noch, meine ich — da muß ich doch ein bißchen zwischenfragen. Darf ich? Also: Meinst du, es ist die richtige Liebe von beiden Seiten, wenn man vorher schon erwägt, ob man nicht doch wieder auseinandergeht?“

„So ist das doch nicht gemeint, Großmutter“, erklärte Nina eifrig. „Wir wollen …“

„Und wenn Kinder kommen?“

„Erst einmal wollen wir keine. Wir müssen ja beide erst fertig werden, ich auch, denn es kann ja sein, daß Volker einmal als Verdiener ausfällt. Später, ja, vielleicht, dann ein Kind, wenn wir beide wollen. Dann kann ja auch, meinetwegen, geheiratet werden. So machen es viele heutzutage, und ich finde das gar nicht dumm. Sieh mal, Großmutter, nur weil … dabei ist es doch viel praktischer, man zieht zusammen, dadurch spart manMiete und wohnt billiger, und …“ „Und die Mark ist nur noch fünfzig Pfennig wert, weil sie geteilt wird“, lachte die Großmutter. „Kennst du die Geschichte von der Milchmädchenrechnung? Natürlich kennst du sie. Und ich soll dir raten? Nina, Kind, ihr seid großjährig, ihr müßt selbst entscheiden. Und Eltern, die euch deswegen herauswerfen, gibt es wohl heute nicht mehr. Sie haben sich tatsächlich ein halbes Leben lang gemüht, euch aus dem Chaos, das damals herrschte, wieder ein vernünftiges Leben zusammenzubauen, und das haben sie auch erreicht. Dadurch konnten sie wenig Zeit für euch aufbringen, ich gebe das zu. Warum aber versuchst du nicht, sie zu verstehen? Sprich mit ihnen, zu mir kommst du ja auch.“

„Wann denn?“ Nina sah die alte Dame um Verständnis bittend an. „Wann denn bitte? Ich habe es ja versucht. Glaube nicht, daß ich es nicht versucht habe, viele Male, immer wieder. Man braucht ja manchmal eine Antwort auf die vielen Fragen, die an einen herantreten.

Und weißt du, was die stereotype Antwort ist? ,Kind, du siehst doch, daß ich keine Zeit habe. In unserer Jugend war das anders, da tat man, was die Eltern sagten. — Ich muß fort, Nina, kannst du nicht zu einem geeigneteren Zeitpunkt kommen?‘ Wann aber ist der? Genau wie man zu Bekannten sagt: Besuchen Sie uns doch mal.‘ Solange man nicht vorschlägt: ,Den und den Tag, um acht, wie freuen uns auf Sie!‘, solange ist dies nicht ernst gemeint. Und solange die Eltern sagen: Andermal, wir mußten auch warten‘, solange kommt man nicht durch. Du hast doch auch zu tun, Großmutter“, sagte Nina heftig, „drüben liegt die Steuererklärung, und so grün und dumm sind wir nun auch nicht mehr, daß wir nicht wissen, dies ist etwas Wichtiges. Aber du läßt sie liegen und sagst: ,Komm, Nina, ich nehme mir einfach die Zeit für dich.‘ Das haben meine Eltern nie getan, nie.“

„Dann haben sie es falsch gemacht, Kind“, sagte die Großmutter leise, aber fest. „Auch Eltern machen Fehler. Und du hast schon recht, Steuererklärungen sind wichtig, Kinder aber wichtiger. Vielleicht hättest du es mal zu einem wirklich geeigneten Zeitpunkt versuchen sollen, an einem Sonntag, oder am Buß- und Bettag, der ja ein zusätzlicher Feiertag ist in diesem Monat. Wenn deine Mutter gerade auf dem Sprung ist, zur Schule zu hetzen, ich weiß, wie sie sich die Zeit stehlen muß, denn sie hat ja auch noch den ganzen Haushalt zu versorgen, dann kann sie sich natürlich nicht gemütlich mit dir hinsetzen und dir zuhören. Und dein Vater, du sagst ja selbst, er ist überfordert und abends todmüde.“

„Kann sein“, sagte Nina störrisch, „oder besser: so ist es. Ich habe es immer wieder versucht, und immer wieder war es der falsche Augenblick. Da steckt man es eines Tages auf, Großmutter. Immer bekommt man zu hören, daß früher alles ganz anders war. Wie es aber war, sagt uns keiner.“

Die alte Dame schwieg. Sie schwieg so lange, daß Nina allmählich ein wenig bange wurde. Hatte sie etwas sehr Dummes oder Falsches gesagt, oder etwas, das Großmama verletzte? Aber es war doch so. Volker und sie wollten zusammenleben, warum sollten sie nicht, und die Eltern waren nicht einverstanden damit, einfach, weil sie meinten, zu ihrer Zeit hätte man das auch nicht getan. Einen anderen Grund gaben sie nicht an.

„Wie war es denn bei euch?“ fragte sie also nochmal, leise, aber dringlich bittend. Die alte Dame lachte ein kleines, murmelndes Lachen und sah zur Wand hinüber, wo das Bild eines Mannes hing, silbergerahmt, eines Mannes mit einem klugen und freundlichen Gesicht. Darunter hing, altmodisch, aber entzückend in den Farben, in denen goldbraun, gelb und dunkelrot vorherrschten, ein Immortellenkranz.

„Bei uns … Nina, du hast mir eben ein Kompliment gemacht, indem du sagtest, ich schöbe die ganze Steuererklärung weg, um für dich da zu sein. Ich habe es getan, freilich nur für eine Viertelstunde. Diese Arbeit ist dringend, so etwas gibt es. Aber … Du hast doch Zeit, Kind, oder? Na wundervoll. Komm, trink noch eine zweite Tasse Kaffee, sie wird dir gut tun nach dem Schlackerwetter draußen, und rauch eine Zigarette dazu. Ich weiß, zum Kaffee schmecken sie am besten. Das sagte dein Großvater auch immer. Dein Großvater …

Ja, er wird mich vertreten. Mit ihm kannst du dich unterhalten. Er hat Zeit. Er …

Du guckst mich an, als wäre ich ein bißchen gestört. O Nina, glaube mir, ich unterhalte mich oft mit ihm, eigentlich täglich, und abends vor dem Einschlafen immer. Für dich klingt das ein bißchen spinnig, aber laß mal, es ist doch so, und in diesem Falle …

Ich weiß nicht, ob du weißt, daß dein Großvater neben seiner anderen Arbeit ein wenig schrieb. Nichts Großartiges, nichts, um den Nobelpreis zu bekommen, sondern eigentlich nur für sich und für mich. Vielleicht auch für ein paar Ähnlichgesinnte aus unserer Generation, die die gleiche Antenne haben.

Du bist jung, Nina, und ihr jungen Leute seid eine andere Generation.

Manchmal aber meine ich, du bist die Enkelin von mir, die am meisten nach dem Großvater schlägt. Du schreibst vielleicht auch“, sie sah, wie das junge Mädchen flüchtig errötete, tat aber, als merke sie es nicht, „auf jeden Fall liest du gern und viel. Bücher sind dir wichtig. Ich will dir eins geben, ein Büchlein, das du noch nicht kennst. Wenige kennen es, dein Großvater schenkte es mir, als wir die silberne Hochzeit feierten. Seitdem ist es in Abständen immer wieder einmal aufgelegt worden, in einem Verlag, der ein bißchen eigene Wege geht, nicht die üblichen von heute, verstehst du. Andere Wege, stillere, der keine Bestseller forciert und keine Millionenauflagen zu erzielen versucht. Hier ist es, Nina, nicht einmal hundert Seiten lang. Willst du es lesen? Du sagtest, du hättest Zeit.“

„Großmama …“

„Ja, mein Kind. Ich gebe es nicht jedem. Aber wenn man gefragt wird … Du sagtest, du wolltest wissen, wie es früher war, als wir so alt waren wie du jetzt, wie ihr beide seid, dein Volker und du. Als wir uns liebten.

Da drin steht es. Dein Großvater kann es besser erzählen als ich, er war ein Mann mit Herz, Klugheit und Charme, o ja. Manchmal erinnerst du mich an ihn …“ Sie lachte und drückte der Enkelin einen raschen Kuß auf die Wange. „Nun setze dich gemütlich her und lies. Da stehen die Zigaretten, und Kaffee ist auch noch in der Kanne. Willst du? Ich gehe nach nebenan und tue was.“

„Willst du es mir nicht lieber vorlesen?“ fragte Nina schüchtern. „Oder ist das — verzeih, Großmama, vielleicht macht dich das traurig?“

„Nein, Kind, nicht mehr. Es gibt einen Spruch: ,Nicht weinen, daß es vorbei, froh sein, daß es gewesen.‘ Siehst du, so weit bin ich jetzt. Glücklich, daß es gewesen. Aber lesen solltest du es selbst. Willst du?“

„Gern. Danke“, sagte Nina und nahm die alte Dame um den Hals. „Danke, daß ich darf, Großmama. Ich freue mich darauf. Mit dir und Großvater — immer habe ich gedacht, der November hat nur scheußliche Tage. Graue, nasse, trübe … Aber heute …“

„Das habe ich auch mal gedacht, Nina“, lachte die Großmutter. „Aber seit dem November neunzehnhundertdreiundzwanzig — aber das steht ja alles da drin. Lies wohl, mein Liebes!“

Nina oder kleines Licht im Dunkeln

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