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Es geht um Wienhagen

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„Nun gebt schon Ruhe und schlaft gut!“ sagte Ingrid. Es klang ein bißchen ungeduldig. Die beiden Fünfjährigen merkten es sofort. Sie hatten überhaupt eine unglaubliche Fähigkeit, Dinge zu begreifen, die noch nicht für sie bestimmt waren. Nichts entging ihnen. Ingrid beugte sich heuchlerisch zärtlich über Lianes Bett.

„Nun müßt ihr einschlafen, es ist schon schrecklich spät und ganz dunkel.“

„Ist ja gar nicht wahr! Hell ist es“, verkündete Gerd, der in seinem Bett am Fenster stand und unter dem Vorhang hinaussah. Ingrid zog die Gardine schnell wieder glatt und legte den kleinen Bruder zum — sie wußte nicht zum wievielten Male — wieder im Bettchen zurecht.

„Das ist doch der Mond. Die Sonne ist längst hinter den sieben Bergen. Dann müssen alle Kinder schlafen.“ Sie nahm auch die kleine Schwester noch einmal heraus, setzte sie auf die Wickelkommode, die noch von früher her hier stand, und brachte Lianes Bett von neuem in Ordnung. „So, aber jetzt wird wirklich still gelegen, oder es setzt was. Verstanden?“

„Erzähl noch von den prima Stadtmusikanten!“ verlangte Liane. „Wovon?“ fragte Ingrid.

„Von den prima Stadtmusikanten!“ wiederholte Liane gebieterisch in Lautstärke zwölf. „Es war einmal ein Esel, der war alt geworden, und sein Herr —“

„Ach, von den Bremer — Bremer Stadtmusikanten heißt das“, sagte Ingrid und lachte, „aus Bremen waren die, oder vielmehr: in Bremen gaben sie ihre Konzerte. Darum hießen sie so.“

„Egal. Erzähl!“ verlangte nun auch Gerd. Ingrid setzte sich neben sein Bett. Sie merkte, daß sie nicht davonkam, ehe sie den Kindern den Willen getan hatte.

Dabei wollten sie heute nacht krebsen gehen, Detlev, Elisabeth, Barbara und sie. Früher, als Vater noch lebte, hatten sie zu Pfingsten immer ein großes Krebsessen veranstaltet. In den letzten Jahren hatte niemand daran gedacht. Dies Jahr sollte aber etwas besonders Schönes veranstaltet werden, wenn Heiner und Rüdi das erste Mal zu den Ferien heimkamen. Da hatte Detlev dies ausgedacht.

Mutter durfte nichts ahnen. Sie sollte es erst erfahren, wenn sie genug Krebse gefangen hatten. Es war immer so lustig, wenn man mit seiner krabbelnden Beute kam, und alle Küchenmädel flohen kreischend. Ingrid lachte.

„— und sie blieben im Haus der Räuber wohnen und zogen nur manchmal noch nach Bremen, wenn sie gerade Lust hatten, um dort ihre Konzerte zu geben. Denn die Räuber hatten viel Gold und Edelsteine aufgehäuft, so daß sie ihr Lebtag keine Not mehr litten. Aber es war von Zeit zu Zeit hübsch, wieder einmal zu musizieren, I-a und Wauwau und Miau und Kickericki — alles auf einmal. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

„Ingrid, kommst du endlich?“ Das war Detlevs Stimme.

„Ja. Ich bin eben fertig.“

„Erst nochmal Konzert machen“, verlangte Gerd, der Unersättliche. Ingrid blieb in der halboffenen Tür stehen.

„Was noch?“

„Prima Stadtmusikanten-Konzert!“ Er blieb dabei.

„Dann los. Detlev, komm, mach den Esel“, sagte Ingrid ergeben. Detlev trat ein.

„Den Esel machen? Wieso denn?“

„Nur I-a schreien. Das andere ergibt sich von selbst“, bestimmte Ingrid. „Ich bin die Katze, Gerd ist der Hund, Liane macht den Hahn. Aber feste, hört ihr? So: eins — zwei — drei!“

Sie brüllten alle vier los, so laut sie konnten, jeder seine Tierstimme. Es klang wunderbar und ohrenzerreißend.

„Nochmal!“ seufzte Gerd, als sie ausgeschrien hatten.

„Dann ist aber wirklich Schluß“, sagte Detlev streng. Sie schrien noch einmal. Und dann gingen die beiden Großen, nachdem sie das Licht ausgedreht hatten.

„Du verwöhnst die zwei“, sagte Detlev, während sie eilig durch den Flur liefen. „Elisabeth und Barbara werden schon wütend sein.“

„Und wenn schon. Sie sind doch lieb, unsere Hasen! — So, jetzt geht’s los. Hast du die Krebsteller?“

Barbara trug sie in ihrem Henkelkorb. Sie stand mit Elisabeth an der Haustür. Detlev inspizierte das Jagdzeug.

Die Krebsteller hatten sie sich selbst hergestellt. Dicker Draht wird zu einem etwas übertellergroßen Ring zusammengebogen und mit einem Netz überzogen. Die Mädel hatten dazu ein uraltes Pferdefliegennetz zerschnitten, das Barbara irgendwo auf dem Dachboden aufgestöbert hatte, ein weitmaschiges Geflecht, das locker über die Drahtringe gezogen wurde. Nun brauchte man nur noch an drei Seiten Bindfäden anzuknoten, die oben zusammenliefen und einen Korken bekamen, einen Griff, wie Barbara es nannte. Mit ihm, der immer an der Oberfläche des Wassers blieb, konnte man den Krebsteller leicht wiederfinden und herausheben. Mitten auf das Maschengeflecht kam ein Stück Blei oder eine alte dicke Schraube, irgend etwas Schweres, was den Teller untenhielt, und dazu ein Stück schlechtgewordenes Fleisch. Krebse lieben Aas und lassen sich davon anlocken. Aber verdorbenes Fleisch zu bekommen, war manchmal nicht einfach. Rüdi hatte einmal eine Ohrfeige geerntet, als er in einem Metzgerladen „ein halbes Pfund stinkiges Fleisch“ verlangt hatte.

Wenn man diesen Krebsteller in den Bach stellte, brauchte man nur ein wenig zu warten, dann konnte man ihn am Korken herausheben und ins Gras setzen. Die Krebse, durch das Fleisch angelockt, konnten mit ihren acht Beinen nicht so schnell aus dem lockeren Geflecht des Netzes entkommen, und man griff sie an ihren Rückenpanzern und setzte sie in den Korb, den man vorher mit Brennesseln ausgepolstert hatte. Warum damit? Keiner wußte es zu erklären, es hieß, die Krebse „hielten“ sich besser darin.

Detlev hatte die Taschenlampe mit, Barbara trug ein Petroleumlämpchen. Mit der Taschenlampe leuchtete man die Teller an, ob schon etwas daraufsaß, mit dem Lämpchen lockte man noch zusätzlich Krebse heran. Die schienen diesen milden, rötlichen Schein mehr zu lieben als den grellen Kegel des elektrischen Lichtes.

Während die Geschwister dem Bach zuwanderten, unterhielten sie sich darüber, wo es wohl die meisten Krebse gebe. Sie hatten in den letzten Sommern keine weggefangen, vielleicht hatten die Krebse sich da tüchtig vermehrt.

Die Nacht war sehr hell. Der Weg führte durch die Felder dem Wald zu, der schwarz von ihnen lag. Die Saaten standen gut. Das Frühjahr war warm gewesen, im Mai hatte es genügend geregnet. Das Heu war schon alles in den Scheunen. — Jetzt legte sich eine schwere Wolke vor den Mond. Aber die Geschwister kannten den Weg gut. Der nahe Wald war das Spielgebiet der Jungen seit den Tagen der frühen Kindheit gewesen, und jetzt ging der eine oder andere mal mit der Mutter nach dem Abendessen diesen Weg, wenn man etwas ausspannen wollte oder wenn eine wichtige Angelegenheit unter vier Augen besprochen werden sollte.

„Früher soll es lästig viele Krebse gegeben haben“, erzählte Detlev, „so viele, daß in einem Gesetz stand, den Knechten dürfte nicht öfter als zweimal wöchentlich ein Krebsessen zugemutet werden. Dann aber wütete in unseren Gewässern eine Krebspest, und da sind sie nahezu ausgestorben.“

„Zugemutet!“ sagte Elisabeth und schüttelte den Kopf. „Jetzt gelten die Krebse als eine Delikatesse.“

Ingrid erzählte: „Wir waren noch keine acht Tage hier, da ging ich mit Heiner krebsen. Aber am Tage. Er lockte die Biester mit Regenwürmern unter den Steinen hervor. Damals hat mir Vater eine Wachspuppe geschenkt, und ich ließ sie in der Sonne liegen. Als wir vom Krebsbach zurückkamen, war ihr Gesicht zerschmolzen.“

„Ja ich weiß noch, wie unglücklich du darüber warst. Ist Vater eigentlich jemals dahintergekommen? Er liebte doch diese Puppe sehr.“

„Er hätte es nie zu erfahren brauchen. Aber ich habe es ihm doch eines Tages gesagt. Es ließ mir keine Ruhe. Und er war so unbeschreiblich lieb und schalt gar nicht, sondern tröstete mich nur.“ —

„So war Vater“, schloß Ingrid leise. Elisabeth schob ihren Arm in den der jüngeren Schwester. Sie wußte, wie sehr Ingrid um den Vater trauerte.

„Trotzdem wollen wir diese Pfingsten einmal wieder richtig lustig sein, gerade Vaters wegen“, sagte sie. „Vater hatte es immer so gern, wenn wir zum Krebsessen einluden. Und Fräulein Honigmann soll auch dabei sein.“

„Ja, die muß auch kommen“, rief Barbara vergnügt. Fräulein Honigmann durfte nichts davon erfahren, daß sie Heiner in aller Unschuld beim Schwindeln geholfen hatte. Sie sprachen darüber, wie es damals in Wienhagen gewesen war. Es erschien ihnen, als sei dies alles schon lange her — —

Sie waren am Bach angekommen.

„Los, Bäbbs, laß dein Licht leuchten, wenns auch schwerfällt“, brummte Detlev, während er die Bindfäden, an denen die einzelnen Krebsteller hingen, zu entwirren versuchte. Barbara machte sich nichts aus seinem halblauten und nicht sehr zarten Schimpfen. Als Elisabeth einmal etwas dagegen sagte, meinte Barbara achselzuckend: „Laß doch. Männer müssen so sein.“

Da mußte auch Detlev lachen. „Du Kiekindiewelt. Noch nicht trocken hinter den Ohren —“ er hatte soeben die Fäden auseinanderbekommen und setzte aufatmend den ersten Teller in den Bach, daneben den zweiten und den dritten. „Kommt, wir lassen ihnen erst mal Zeit, den Leckerbissen zu wittern.“

Sie setzten sich ein wenig abseits vom Bach ins Gras, das schon feucht vom Tau war.

Detlev gähnte.

„In einem Jahr bin ich schon auf der Uni. Leicht machen sie es einem wahrhaftig nicht, aber schaffen werden wir es wohl. Ich bin ja gespannt, wie Rüdi und Heiner sich in ihrer neuen Schule zurechtfinden.“

„Mir hat es dort gut gefallen.“ Elisabeth war mitgefahren, als Mutter die beiden Jungen nach Neunkirchen gebracht hatte. „Die Schule ist eine uralte Bude. Aber der Ton, der darin herrscht, ist anders als in unseren Schulen. Und es roch —“ sie lachte.

„Wonach roch es denn?“ erkundigte sich Ingrid.

„Ich finde es wichtiger, daß es nach manchem nicht roch. Nach Fußbodenöl zum Beispiel oder nach ungelüfteten Sachen und eingepackten Broten. Ihr braucht mich gar nicht auszulachen.“

Es war in der Familie bekannt, daß Elisabeth ein ausgesprochener Nasenmensch war. Sie wurde oft damit geneckt.

„Der Direktor ist noch gar nicht alt, er hat einen Arm im Krieg verloren. Sein Bruder den anderen. Wir saßen bei Tisch neben ihm, Mutter auf einer Seite, ich auf der anderen. Mutter legte ihm vor und half ihm ein bißchen. Dabei erzählte er, ganz unbefangen. Er sagte, alles habe seine Vorteile. Seine Mutter schenkte ihm und seinem Bruder Weihnachten immer ein Paar Handschuhe.“

„Das nenne ich Humor“, sagte Detlev. Sie saßen alle nebeneinander. Barbara rutschte und rückte, ehe sie einen bequemen Platz gefunden hatte. „Nun sitz doch endlich still“, brummte Detlev. — „Wenn jemand Humor hat, kommt er vielleicht sogar mit Rüdi aus. Trotz Rüdis Sommersprossen.“

„Die stehen ihm doch gut“, sagte Barbara. Wenn Barbara so etwas sagte, konnte man nur schwer anderer Meinung sein. Sie traf den Nagel fast immer genau auf den Kopf.

Elisabeth bewunderte die kleine Schwester, ohne je darüber gesprochen zu haben. Barbara war unbefangen wie ein Kleinkind, das noch nie jemand gerügt oder eingeschüchtert hat. Sie sagte alles, was ihr durch den Kopf ging, und das war stets ihre wirkliche Meinung und nie etwas Nachgeplappertes. Nie war sie verlegen — Elisabeth, die immer gleich rot wurde, beneidete sie darum. Außerdem würde Barbara einmal hübsch werden, meinte Elisabeth. Sie hatte einen großen, geschwungenen Mund, kirschrot, mit klar abgesetzten Lippen. Sonst war ihr Gesicht noch unfertig und kindlich. Die Haut schimmerte matt, ein ganz klein wenig bräunlich, auch im Winter, wie leicht angerauchtes Porzellan. Elisabeth, die weder sich selbst noch Ingrid hübsch fand, erwartete sozusagen etwas von der jüngeren.

Barbara ahnte von solchen Überlegungen nichts. Sie hatte die Eitelkeit noch nicht entdeckt, lief in Hosen herum und ließ die Haare wachsen, wie sie wollten. Neulich hatte Elisabeth sie dabei erwischt, wie sie sich selbst vor dem Spiegel die Haare zurechtschnitt, weil sie allzu lang geworden waren, und zwar mit Vaters Papierschere.

„Bist du wahnsinnig geworden?“ hatte sie gefragt und ihr das Mordinstrument entrissen.

„Warum denn? Krakelig ist jetzt Mode“, war Barbaras Antwort gewesen. Etwas von Mode schien sie also doch schon zu ahnen.

Elisabeth seufzte, während sie diesen Gedanken nachhing. Was würde aus den Geschwistern einmal werden?

„Wißt ihr eigentlich, daß Humke ein kleiner Hund fehlt? Irgend jemand muß ihm einen geklaut haben. Er war wütend, sage ich euch“, erzählte Barbara. Humke, der Verwalter, besaß eine sehr schöne, echte Schäferhündin, die kurz nach Ostern sechs Junge geworfen hatte. Humke war außerordentlich stolz auf die Kleinen und rühmte sich damit, keinen unter vierhundert Mark zu verkaufen.

„Au backe, das gönn ich ihm“, sagte Ingrid. „Wann denn?“

„Ist schon eine Weile her. Noch dazu den schönsten, einen Rüden.“ „Wollen wir nach unseren Tellern sehen?“

Sie hatten Petriheil, wenn man beim Krebsen so sagen konnte.

„Sicher gibt es so viele, weil wir ihnen jahrelang Ruhe gelassen haben“, sagte Ingrid träumerisch, als sie den Korb dreiviertelvoll hatten. „So, jetzt keine mehr, sie krabbeln nur raus.“

Der Himmel war tintenschwarz, als sie heimwanderten, mit Sternen, die wie hingeritzte Löcher aussahen. Barbara hatte sich bei Elisabeth eingehakt, um nach oben sehen zu können. Detlev brummte:

„Hineingeritzte Löcher!“ Es klang wegwerfend. Barbara lachte nur. —

Schweigend gingen sie durch die Nacht. Die Dunkelheit umschloß die Geschwister und sonderte sie von der Welt ab. Die Tritte klangen dumpf auf dem Waldboden, ab und zu das Knikken eines Zweiges, ein Rascheln im Unterholz, Rauschen in den Wipfeln. In der Ferne hörte man den Ruf eines Käuzchens.

Dann traten sie aus dem Wald heraus. Vom Dorf her leuchteten zwei helle Fenster zu ihnen herüber. Aber sie hätten den Weg auch so gefunden. Der Mond trat aus den Wolken hervor und legte einen hellen Schimmer über das ganze Land.

Als sie ins Dorf einbogen, schlug es Viertel eins. So spät! Dabei hatten sie sich gar nicht bemüht, sondern nur immer wieder die Teller abgeleert und in den Bach zurückgestellt. Zwischendurch hatten sie gesessen und geschwatzt und geschwiegen. Detlev hatte eine Zigarette nach der anderen geraucht.

Das Dorf lag still; nur ab und zu bellte ein Hund. Die Fenster waren jetzt alle dunkel. Der Turm der Kirche ragte wuchtig über die Häuser hinaus, viereckig und gedrungen. Die Kirche war alt. Im Dreißigjährigen Kriege hatten sich die Bauern hineingeflüchtet, wenn die Horde der Soldateska kam. Wehrkirche — das Wort gefiel Elisabeth. Es klang aufrecht und streitbar.

„Horch, ein Auto“, sagte Ingrid, als sie in den Hof traten.

„Und?“ fragte Detlev spöttisch.

„Natürlich: und!“ sagte Barbara. „Was will denn, bitte schön, jetzt ein Auto in unserem Hof?“

„Wer sagt denn, daß es hierher will?“

„Ich“, meinte Barbara. Und sie hatte recht. Das Auto bog ein. Detlev wunderte sich vor allem darüber, daß die Mädel recht behalten hatten. Der Wagen fuhr tatsächlich in den Gutshof und hielt vor dem Wirtschaftsgebäude an, jetzt in tiefer Nacht.

Die Geschwister hatten sich wie auf Verabredung dicht an die Mauer gestellt, eins nahe an das andere. Es war unmöglich, daß man sie hier sah, der Scheinwerfer des Wagens strich mindestens zwei Meter vor ihnen vorbei.

„Bumke“, sagte Detlev leise.

Ja, es war Verwalter Humke, der ausstieg. Sie erkannten es alle vier. Der Fahrer des Wagens hatte auf kleines Licht geschaltet, aber dafür das Innenlicht angedreht. In seinem Schein sah man deutlich, wie Humke, der hinten gesessen hatte, etwas mühsam — er war ein großer und schon ein wenig in die Breite gehender Mann — die Beine erst anzog und dann zur Tür hinausstreckte, die der Fahrer aufriß. Dann stand er und suchte in seinen Taschen. Humke schien nicht gesonnen zu sein, dem Fahrer einfach einen großen Schein zu geben und auf das Herausgeben zu verzichten. Er knöpfte seinen hellen Mantel auf, um besser in die Taschen seines Anzugs gelangen zu können. Dabei sahen die Geschwister, die im Schatten standen, daß er einen dunklen Gesellschaftsanzug trug.

„Angeber. Wo mag er gewesen sein?“ Detlev sprach ganz leise durch die Zähne, trotzdem faßte Elisabeth nach seinem Handgelenk.

„Das hört er nicht“, antwortete Detlev ebenso. Detlev zog Elisabeth, die ihm am nächsten stand, am Ärmel mit sich, und sie gingen alle vier nicht über den Hof, sondern hinten herum durch die Veranda ins Haus.

„Merkwürdig. Das war doch eine Taxe“, sagte Elisabeth nachdenklich. Sie setzten die Krebse in eine der großen Waschwannen in der Speisekammer. Ingrid und Barbara gingen gleich schlafen. Detlev suchte in den Regalen nach etwas Eßbarem, er hatte Hunger.

„Hier ist noch Wurst, komm, ich mach’ dir eine Schnitte“, sagte Elisabeth. —

Detlev nahm sie und setzte sich damit aufs Fensterbrett in der Küche. Elisabeth stand rückwärts an den Tisch gelehnt und aß schweigend.

Detlev wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sagte:

„Weißt du eigentlich, wer den Hund gestohlen hat?“

„Nein, wieso?“ fragte Elisabeth und hielt im Kauen inne. Detlev lachte.

„Rüdi natürlich. Ich wette um hunderttausend Mark, und ich gewinne die Wette. Übrigens freut es mich.“

„Ja, aber —“ Elisabeth starrte ihn an. „Sag doch!“

„Paß auf. Du warst doch mit in Neunkirchen und hast erzählt, wie es dort zugeht: Daß der ‚Chef‘, wie sie den Direktor dort nennen, einen Hund hat und einer der Lehrer auch und sogar zwei Internatsschüler. Die Kleineren dürfen sich Goldhamster, Kaninchen und Meerschweinchen halten. Ein Garten ist auch da. Na also. Und ein paar Tage, nachdem ihr die Jungen hingebracht habt, war Rüdi heimlich mit dem Rad hier. Ja, ich habe ihn gesehen. Es war schon dunkel. Er hatte einen Rucksack mit, einen ziemlich großen. Dahinein geht solch kleiner Hund gut.“

„Und da denkst du —“

„Na klar! Die Asta würde sowieso keinen anderen Menschen heranlassen, Rüdi aber war immer bei ihr im Zwinger. Brauchst du noch mehr Beweise?“

„Und du sagst, du freust dich darüber?“ fragte Elisabeth. Ihr war das Ganze unheimlich, sie hatte das Gefühl, als hänge etwas über ihr. Sie sah Detlev erstaunt an.

„Natürlich. Jetzt haben die beiden doch ein lebendiges Stück Heimat bei sich. Gönnst du ihnen das nicht?“

Detlev verschwieg, daß er den Bruder lange beobachtet hatte. Rüdi hatte von der Ecke des Hofes aus zum Haus herübergestarrt, viertelstundenlang, versunken, während seine Hände wie streichelnd und liebkosend an dem alten Gitter entlangtasteten, das den Eingang des Futterkellers schützte. So etwas erzählt man nicht, aber man vergißt es auch nicht.

„Außerdem: der Vater dieses kleinen, geraubten Hundeviehs ist Itto, das weißt du so gut wie alle hier auf dem Hof. Unser Itto. Und dem, der den Rüden stellt, steht ein Welpe zu, einer nach Wahl. Humke tat, als wüßte er das nicht, dabei weiß es jeder Züchter. Nun, da hat Rüdi eben gehandelt und sich genommen, was uns vorenthalten wurde.“

Detlev grinste. Auch Elisabeth mußte lachen. Seit der Begegnung hatte sie ein ungemütliches Gefühl, als wenn ihr noch Unannehmlichkeiten bevorstünden, und sich davor gefürchtet. Wenn es also dies hier war und nichts anderes, dann wollte sie froh sein. Dies brachte im Höchstfall Ärger ...

Ärger konnte man verkraften. Mit Kummer wurde man fertig, früher oder später. Aber nein, da war noch etwas anderes.

Sie spürte es deutlich. Es war, als schöbe sich ein Unwetter über Wienhagen zusammen, langsam, drohend, unausweichlich, eine Gefahr für sie alle miteinander.

„Vielleicht stimmt es trotzdem nicht!“ sagte sie aus ihren Gedanken heraus.

„Was soll nicht stimmen?“ fragte Detlev. Elisabeth antwortete nicht. Und Detlev wußte auch so, was sie meinte.

„Übrigens, Detlev“, — Elisabeth gab sich einen Ruck; Gespensterangst, das wäre ja noch schöner, dagegen müßte man doch ankommen — „so viel zu rauchen brauchst du wahrhaftig nicht.“ Sie sagte das halblaut und sehr freundlich. Detlev zuckte die Achseln: „Geschenkte“, sagte er gleichgültig. Dann trennten sie sich.

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