Читать книгу Christiane und die großen Brüder - Lise Gast - Страница 5

Vater greift ein

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Es war wirklich ein bißchen viel für Christiane, auch wenn sie gerade Pfingstferien hatte. An diesem Samstagabend mußte sie noch bis elf Uhr aufbleiben, bis sie alle Strümpfe und Söckchen der Kleinen gestopft hatte. Natürlich hätte sie sich, wie die Nanna sagte, eher darum kümmern können, aber dafür war sie eben erst vierzehn Jahre. Da übersieht man einen Haushalt, aus dem die Mutter für Wochen herausgerissen war und in dem Hedi schon ein Vierteljahr fehlte, nicht so leicht. Das hätte die Nanna eigentlich wissen müssen; aber die Nanna ärgerte sich nur. Sie ärgerte sich übrigens, wie Vater lachend behauptete, von Herzen gern, mit Genuß und aus Prinzip. ,Ick will mir ja janich wohl fühlen, ick fühle mir ja so viel wöhler‘, sagte der Berliner im „Weißen Rössl“, und solche Berliner gibt es wahrscheinlich auf der ganzen Welt.

„Mach dir nichts daraus, Mädel“, tröstete der Doktor seine Älteste an diesem Abend und ging mit ihr in die Küche, um ihr flink noch beim Abtrocknen zu helfen. Er machte das so selbstverständlich und reizend, daß Christiane ihn dankbar und zärtlich anstrahlte. Nur hatte sie ein recht blasses Gesicht, fand der Vater, und er machte sich seine Gedanken.

So bald würde die Mutter nicht wiederkommen, und dann würde sie noch schonungsbedürftig sein. Und Christiane war noch ein Schulkind. Daß sie sich nebenbei so viel um die Kleinen kümmerte, war lieb von ihr und schadete nichts, große Schwestern müssen das tun, es kommt gleich nach den Schularbeiten, mitunter sogar davor. Solche Zeiten gehen vorbei, versuchte der Vater sie zu trösten, und doch sagte er seiner Frau nichts davon. Er grübelte nach einem Ausweg. Als er keinen fand, rief er seine Mutter an. Sie versprach, darüber nachzudenken, tröstete ihn aber, solche Zeiten der Überbeanspruchung machten einen jungen und gesunden Menschen nur stärker. Sicher, die Arbeit wohl, aber die seelische Scheuerei, die Christiane wund rieb? Die Großmutter lachte über diesen Vergleich, aber sie lachte nur, um ihren Sohn zu trösten. Niemand konnte so gut mit Christiane fühlen wie sie. Und nach einer Woche kam ein langer Brief von ihr, der ihrem Sohn zu denken gab. Gut, gut, sie hatte recht.

Kurz vor den großen Ferien war es endlich soweit, daß Mutter wiederkommen konnte. Alle freuten sich schrecklich. Nanna und Christiane hatten Kuchen gebacken und Gardinen gewaschen, überall standen Blumen in den Vasen, und die Kleinen hatten ihre Sonntagssachen an, waren frisch gekämmt und auf neu poliert. Als dann alle behaglich um den Kaffeetisch auf dem Sitzplatz vor dem Wohnzimmer saßen, rückte Vater mit seinem Plan heraus.

Er hatte, von Großmutter beraten, folgendes ausgebrütet: Mutter sollte noch so viel Ruhe und Schonung genießen als irgend möglich. Wann aber hatte sie Ruhe, solange es um sie her kribbelte und wimmelte? Fortfahren wollte sie nicht, das hatte er sich schon gedacht, sie sagte es auch sofort. „Ich war doch lange genug weg, denke ich!“

Also mußten die anderen fort. Rainer und Brüdi sollten in ein Kinderheim auf der Schwäbischen Alp. Dort hatten sie gute Luft, die vor allem Brüdi guttun würde. Für ihn war Luftveränderung sicher das beste, und mit Rainer zusammen würde er sich dort wohl fühlen. Vater hatte schon an die Heimleiterin geschrieben. Regine sollte ein Weilchen bei einer befreundeten Familie in der Stadt untergebracht werden, die auch ein Kind in diesem Alter hatte, einen kleinen Dietmar. Seine beiden Schwestern gingen mit Christiane in eine Klasse, sie waren sehr kinderlieb und freuten sich schon mächtig auf die kleine Einquartierung. Sie sagten, es würde Dietmar sehr guttun, einmal nicht der einzige zu sein. Er wäre schrecklich verwöhnt und sollte ruhig einmal merken, wie es ist, wenn man ein kleines Schwesterchen hat. Rolf dagegen …

„Rolf bleibt hier! Wollt ihr mir denn alle nehmen?“ rief die Mutter beinahe angstvoll. Der Vater lachte laut über diesen Entsetzensschrei, den er schon erwartet hatte.

„Das hab‘ ich mir gedacht. Jawohl, Rolf bleibt, Hedi kommt in einer Woche wieder, um ihn zu betreuen. Hedi soll ihn dann aber ganz übernehmen, verstehst du, das kann sie doch, wenn ihr, die Nanna und du, uns andere allesamt los seid!“

„Euch allesamt?“ fragte Mutter.

„Ja, denn ich will mal Urlaub machen, so ungern ich jetzt wegfahre. Aber es ist besser für dich, glaub mir, Liebes. Wenn ich Praxis halte, ist nie Ruhe. Bei Tag nicht, und nachts auch nicht. Ich dachte, Christiane und ich fahren ein bißchen an die See. Christiane ist jetzt ein solcher Blaßschnabel, der wird die Seeluft guttun. Wenn ihr hier allein seid, drei Frauen und Rolfi, ohne Telefon und Sprechstunde, dann erholt ihr euch allesamt. Und länger als vierzehn Tage bleiben Christiane und ich nicht, wenn du nicht willst. Einverstanden?“

So schnell aber war Mutter doch mit ihrem Ja nicht zur Hand. Sie war wiedergekommen, ausgeruht und mit vor Schaffenslust blitzenden Augen, aber schon die Wagenfahrt vom Krankenhaus hierher hatte sie sehr angestrengt. Sie behauptete zwar, das käme daher, daß sie wochenlang krumm gelegen habe, da gewöhne man sich die Faulheit an, aber Vater sah sie nur bittend an. Da wurde sie nachgiebig.

Es hatte ja auch etwas Verlockendes, daheim zu sein und doch Ruhe zu haben — und schließlich würde die Zeit auch herumgehen. Dann aber wollte sie wieder auf dem Posten sein, da gab es keinen Zweifel!

„Bestimmt. Daran zweifle ich nicht“, lächelte ihr der Vater zärtlich in die Augen, „nun tu mir den Gefallen und sag ja! Christiane und ich, wir wollen doch auch mal zusammen verreisen. Ich habe noch so wenig von meiner Tochter gehabt. Weißt du noch, wie wir uns auf sie freuten und du gern einen Jungen haben wolltest? Ich wollte immer als erstes ein Mädel, um später mit meiner Tochter einmal nach Italien fahren zu können. Wenn‘s auch diesmal noch nicht Italien ist — —“

Die Eltern lachten beide mit einem seltsam zärtlichen Unterton. Christiane war sehr verlegen — ach, schrecklich verlegen. Es erschien ihr das Unmöglichste von der Welt zu sein, dem Vater jetzt um den Hals zu fallen und »Danke!“ oder „Ich freu‘ mich so!“ zu sagen. Sie hätte es so gern getan — warum nur kann man das mit vierzehn Jahren nicht?

Sie war ja so dankbar für Vaters Worte, und sie freute sich ganz unglaublich auf die Reise. An die See! Allein mit Vater! Es tat so gut, einmal als vollwertig genommen zu werden. Vater hatte nicht gesagt: Da nehm‘ ich eben Christiane mit! sondern: Christiane und ich, wir wollen auch mal zusammen verreisen.

Viele Gedanken stürmten zugleich auf sie ein. Ob Mutter daran dachte, daß sie noch ein neues Sommerkleid brauchte, nachdem ihr altes vom vorigen Sommer so kurz geworden war? Und …

Mutter dachte daran! Und es blieb nicht bei diesem Kleid, sondern es kam noch mehr dazu. Ein schöner kornblumenblauer Bademantel, ein neuer Badeanzug — der alte wäre noch gegangen, aber Christiane strahlte erst recht über den neuen —, ein Paar schneeweiße Strandschuhe und — ja, das war das schönste: ein eigener kleiner, krapproter Koffer mit einem Schild in einem kleinen Lederanhänger, auf dem „Christiane Drebschütz“ stand, wie bei einer erwachsenen Dame.

Der Koffer stand aufgeschlagen auf der Couch, und sie ging hin und her, suchte unter den Büchern, welche unbedingt mit müßten — ganz ohne Bücher konnte man diese vierzehn Tage nicht sein — und kramte im Wäschefach, als es klopfte. Sie erschrak ein bißchen. Wer konnte jetzt wohl kommen?

Zaghaft sagte sie: „Herein!“

Aber es waren nur Gisela und Sabine, und die kamen ihr gerade recht. Sie mußten den Koffer und alles, was sonst noch neu war, bewundern, und sie taten es aufgeregt.

„Wir wollen uns das Regele holen“, verkündeten sie. Und dann lachten sie, als Christiane ganz erschrocken fragte: „Heute schon?“

„Ach geh, doch nur zur Probe! Wir wollen‘s mal mitnehme, damit‘s nachher net so fremdelt. Sonst holt es uns deine Mutter am End‘ wieder weg.“

„Ja, das ist gut“, sagte Christiane. Sie setzten sich alle drei auf die Couch, und Christiane holte ihre bunte Blechbüchse mit den Knusperle hervor, die sie immer für Besuch bereithielt. Eifrig knabberten sie los.

„Na, du freust dich, was? Aber wir erst! Denk doch mal, zwei fast gleich große Geschwister zu haben — also wir sagen allen Leuten, es wären Zwillinge. Und wir ziehen sie auch immer gleich an, das geht, glaubst du? Dietmar hat von Spielhöschen und Luftanzügen fast immer zwei, weil er so ein Schmutzbartel ist und immerfort umgezogen werden muß, da bekommt jetzt das Regele immer das eine davon. Und wir gehen mit ihnen spazieren. Denk nur, wenn wir zwei gleich angezogen sind und die beiden Kleinen auch!“

Ja, das konnte sich auch Christiane überwältigend schön vorstellen!

„Das müßt ihr knipsen, damit wir es aufheben können — aber sehen will ich‘s auch in Wirklichkeit. Habt ihr nicht heute schon das zweite Lufthöschen mit?“

„Nein, daran hätten wir denken sollen!“ bedauerte Sabine. Gisela aber wußte Rat.

„Hast du noch viel zu schaffe, oder kannst glei mitkomme? Da bringst du uns das Regele mit hin, und wir tun‘s dort glei einpuppe —“

„O ja, das tun wir!“

Christiane packte in Eile weg, was umherstand, während die beiden Schwestern ans Fenster traten.

„Weißt du noch, Christiane, wie wir das erste Mal bei euch waren und Rainer uns hier vollspritzte? Und deine Mutter kam herauf!“

„Ja, ich weiß noch.“

Wann würde Christiane das je vergessen! Dieser Wasserstrahl durchs Fenster, der sie alle drei und noch vielerlei im Zimmer eingeweicht hatte, der hatte erst Schlimmes, dann Gutes im Gefolge gehabt. Christiane hatte damals zum ersten Male in ihrem jungen Leben erfahren, daß manches, was zuerst sehr schlimm und schrecklich aussieht, der Anfang von etwas sehr Gutem sein kann. Freilich, weh tut‘s oft, und wer weiß denn, was nachher kommt …

Sie packte nachdenklich und dadurch ein wenig trödelnd weg, was umherstand, bis Gisela mahnte:

„Tu net einschlafe, Christiane, sonst laufe wer ohne dich davon!“

Gisela war ein Quecksilber und konnte nie warten. Mit Sabine, die besinnlicher war, verstand sich Christiane eigentlich besser, da aber die Schwestern immer und ständig beisammen waren, blieb es beim Dreibund, schon seit Jahren.

Dietmar, der ein halbes Jahr älter als Regine war, hatte heute seine Lederhose an, eine richtige, krachneue, hellgraue Lederhose mit einem pompösen Brustgeschirr. Darauf war ein in Leder gepreßter Hirsch zu sehen, ein „Hilsch“, wie Dietmar sagte. Er sprach zwar sonst alles ordentlich, konnte aber absolut kein R aussprechen. Die großen Schwestern unterdrückten ihr Lachen, als er Christiane den „Hilsch“ zeigte.

„Mutter, ich bring‘ Gisela und Sabine noch ein Stück, schon damit Regine gutwillig mitgeht“, sagte Christiane. Sie bummelten durch den Garten und die mittagsheiße Straße hinauf, an der Gartenmauer entlang. Regine und Dietmar liefen vorneweg.

„Wenn er aber die Lederbux anhat, könnt ihr sie doch nicht gleich anziehen“, sagte Christiane bedauernd und blieb plötzlich stehen.

„Ich weiß was. Wartet mal einen Augenblick!“ Und schon rannte sie zurück und war hinter der Gartenmauer verschwunden. Die Schwestern sahen ihr lachend nach. Ja, rennen konnte Christiane! Richtig, da bog sie wieder um die Ecke, noch im selben Tempo und dabei kaum außer Atem.

„Ich hab‘ das Geld geholt, das noch übrig war und für das ich mir eigentlich eine Badetasche kaufen wollte. Aber eine Badetasche ist nicht unbedingt nötig. Man kann den Badeanzug auch gleich unterziehen und so an den Strand laufen, das ist sogar viel praktischer. Und da — wißt ihr, wo ihr den Stoff von Dietmars Hemd herhabt?“

„Doch, ja, von der Frau Gugele.“ Es war eigentlich müßig, zu fragen, denn Frau Gugele führte das einzige Textilgeschäft des Städtchens.

„Ob es da noch solchen gibt?“

„Wir müssen halt mal frage!“

„Los. Jetzt gleich!“ sagte Christiane entschlossen.

„Was willst du denn damit?“

„Der Regine ein Dirndlkleid nähen. Dann könnt ihr die beiden auch als Zwillinge ausgeben, wenn Dietmar Lederhosen anhat“, sagte Christiane eifrig. „Wißt ihr, wieviel Stoff man braucht?“

Nein, das wußten die beiden nicht. Aber Sabine meinte beruhigend, das würde Frau Gugele schon wissen. Sie nahmen die Kleinen an der Hand und strebten zum Markt, wo das Geschäft der kleinen dicken Frau unter einer rotweiß gestreiften Markise seinen Nachmittagsschlaf hielt. Als sie alle fünf hereinkamen, war der kleine Laden voll.

Sie bekamen tatsächlich denselben Stoff. Und Frau Gugele wußte auch, wieviel man brauchte.

„Aber wer näht es?“ fragte Christiane ein wenig bedenklich, als sie wieder auf dem Marktplatz standen.

„Mutter. Mutter macht so was in zwei Stunde“, erklärte Gisela und trippelte ungeduldig, „nun kommt schon, los, damit wir nicht die ganze Zeit vertrödele!“

„Eure Mutter wird gerade darauf warten, daß sie für anderer Leute Kinder Kleider nähen darf“, sagte Christiane bedenklich.

Gisela aber meinte: „Warum net? Sie freut sich doch bereits auf ihre kleine Tochter. Ein Bett habe wir auch schon geliehe. Paß auf, sie schneidert sofort los!“

Tatsächlich, Frau Schönherr war von der Idee der Mädel so entzückt, daß sie alles andere stehen und liegen ließ und an Regine Maß nahm. Sie war wie ihre Tochter Gisela: Was geschehen sollte, mußte am besten sofort geschehen.

Christiane wäre fürs Leben gern geblieben, bis das Kleidchen fertig war, aber sie sagte dann doch vernünftig: „Ich muß heim. Bringt ihr mich noch ein Stück?“

Es war sonst nicht ihre Art, sich schwatzend ohne Ende hin und her zu begleiten. Heute aber hatte Christiane noch etwas auf dem Herzen.

„Hört mal“, sagte sie zögernd, als sie ein Stück gegangen waren, „wir fahren ja zu Vaters Bekannten, die ein kleines Haus an der See haben, das sie den Sommer über vermieten, die jetzt aber selbst ein paar Wochen darin hausen. — Wir fahren aber nicht in einem durch dorthin. Das ist zu weit von hier aus, und wir wollen uns ja auch nicht hetzen, sagt Vater. Aber wenn wir da — unterwegs —“

„Was denn?“

„Wenn wir da im Hotel übernachten — ich war noch nie in einem Hotel“, sagte Christiane ein wenig zögernd. „Ich weiß nicht, wie man das macht.“

„Was denn macht?“

„Nun, alles. Muß man da dem Kellner die Hand geben, und muß man früh die Betten machen? Und —“

Ja, das wußten Gisela und Sabine auch nicht. Gisela allerdings fand schnell einen Ausweg.

„Du machst eben alles wie dein Vater! Wenn er die Hand gibt, gibst du sie auch! Fertig.“

„Ja, aber Betten machen? Das muß doch die Frau!“

Ich kann Vater das nicht fragen, dachte sie mutlos, überhaupt — ach, alles war so schwierig. Erst hatte sie sich schrecklich gefreut, aber jetzt bekam sie immer mehr Angst. Nicht vor Vater, aber vor dem ausschließlichen Zusammensein mit ihm. Wenn sie ihn nun enttäuschte?

Mit seiner Tochter nach Italien fahren, wollte er einmal — sicher mit einer sehr schönen und eleganten Tochter, auf die er stolz sein konnte. Mit einer jungen Dame. Oh, sie wünschte so sehr, Vater könnte stolz auf sie sein! Aber — schön war sie bestimmt nicht, vielleicht sogar nicht einmal hübsch? Rainer versicherte ihr ja täglich, daß sie abscheulich aussähe, wie eine Kuh. Mutter tröstete sie immer, Brüder wären nicht anders, man dürfe nicht darauf hören. Aber ob sie hübsch war oder häßlich, das wagte sie selbst nicht zu entscheiden. Man kannte das eigene Gesicht aus dem Spiegel so gut, daß man es gar nicht mehr beurteilen konnte.

Nachdem Gisela und Sabine sich von ihr verabschiedet hatten, wanderte sie langsam und nachdenklich nach Hause. Zum Glück gab es dort so viel zu tun, daß sie nicht weiter grübeln konnte.

Vor allem anderen mußten jetzt die beiden Jungen fürs Kinderheim fertiggemacht werden. Da gab es Söckchen zu stopfen und Hemden zu plätten. Im letzten Augenblick mußten noch Schuhe zum Schuster, auf die man gleich warten sollte — nein, nicht warten, sondern unterdes dies und jenes und das besorgen, und tausenderlei sonst noch! Nanna meinte, wenn das immer so ginge, wäre sie schon längst in einer Irrenanstalt gelandet; und Hedi, die nun auch schon vier Jahre hier im Haushalt und also nicht mehr ganz neu und verschüchtert war, lachte hinter ihr her und blinzelte Christiane zu.

„Eigentlich schade. In solch einem Institut haben es die Insassen doch wunderschön“, sagte sie, „niemand widerspricht ihnen, sie können sagen, was sie wollen. Das heißt, hier widerspricht der Nanna ja auch niemand. Wollen wir sie nicht in einem Kinderheim für Fortgeschrittene anmelden? Das wäre eine Erholung — für uns!“

Sie entwetzte. Christiane hörte ihr Lachen noch aus dem Kellergang.

Hedi hatte eine glückliche Natur. Hedi war immer vergnügt, ob die Nanna schalt oder nicht, oder ob sie für Vater dreimal wieder abdecken und das Essen aufwärmen mußte. Hedi sang schon am frühen Morgen, nicht nur an solchen Sommermorgen, wie sie jetzt übers Land segelten, blaugolden und frisch, sondern auch im November, wenn kein Mensch gern aus den Federn schlüpft. Christiane hatte Hedi singen hören, als sie in der Heizung hockte und Koks aufschüttete, so herzensfroh und unbekümmert um alles. Wenn man doch auch so sein könnte!

Christiane erwog kurz, ob sie nicht Hedi fragen sollte, wie man das unterwegs am besten hinbekam, sagte sich dann aber, daß auch Hedi wahrscheinlich in ihrem Leben noch in keinem Hotel übernachtet hatte. Sonst aber wußte sie niemanden, den sie hätte fragen können. Großmutter, ja, aber ihr zu schreiben, konnte sie sich auch nicht entschließen.

Schließlich gingen auch die unruhigen Tage der Vorbereitungen vorüber. Eines Spätnachmittags saßen Rainer und Roland wohlverstaut im Wagen — Rainer hinten bei den Koffern, Brüdi vorn neben Vater — und streckten wie auf Kommando Christiane die Zunge heraus, als sie, um sich zu verabschieden, noch einmal an den Wagen trat. Vater sah es und schüttelte den Kopf.

„Was seid ihr doch für unangenehme Zeitgenossen. Die Tanten, die euch droben auf der Alp bemuttern werden, können mir jetzt schon leid tun.“

„Die sind auch nicht so wie Christiane“, versicherte Rainer, als kennte er sie schon ganz genau.

Der Vater aber sagte prompt: „Hoffentlich nicht. Hoffentlich bekommt ihr jeden Morgen Prügelsuppe und abends dasselbe. Das kann euch nur gut bekommen, Übrigens, Christiane, wenn du Lust hast, fahr doch mit, dir kann eine kleine Autotour nur guttun. Ich bin heute abend wieder da. Magst du?“

Christiane zögerte. „Ob Mutter …“

„Mutter sagt doch nicht nein, das weißt du doch. Mutter gönnt es dir bestimmt“, drängte Vater.

„Aber die Nanna?“

„Die fragen wir erst gar nicht, Dummes!“

„Gut!“ Christiane lief noch rasch ins Haus, um sich eine Jacke zu holen. Als sie wiederkam, hatte Vater Roland trotz seines Protestes nach hinten verbannt und den schönsten Platz für Christiane freigemacht. Roland wütete, aber es half ihm nichts.

„Ihr werdet euch anständig benehmen dahinten, hört ihr?“ sagte Vater, und er sagte es so, daß Brüdis Schimpfen sogleich verstummte.

Der Wagen brummte den blauen Bergen entgegen, die, je näher man kam, desto deutlicher sich in bewaldete Höhenrücken verwandelten. Einmal fuhren sie unter der Autobahn hindurch, und Christiane, die noch nie darauf gefahren war, reckte den Hals.

„Vater, wie breit ist sie? Geht sie durch ganz Deutschland? Und ganz glatt ist sie, gar nicht holperig und löcherig wie die Landstraßen.“

Vater antwortete nicht. Er ließ den Wagen ausrollen, schaute über die Schulter zurück und wendete, fuhr dann das letzte Stück zurück. Ein breites Schild: „Auffahrt Richtung Ulm — Augsburg — München.“ Die Jungen waren still geworden und guckten genauso erwartungsvoll und aufmerksam nach vorn wie Christiane.

Und dann lief der Wagen ganz glatt und ruhig auf der breiten, durch einen weißen Strich geteilten Bahn. Daneben der Grasstreifen, und drüben wieder zwei Bahnen.

„Wo fahren wir denn jetzt hin, Vater?“ fragte Christiane. Vater schmunzelte.

„Ich möchte euch nur eine der schönsten Strecken der Autobahn zeigen, die Alpauffahrt bei Wiesenstein. Eine ganze Schlucht ist hier überbrückt worden und viel Felsgestein weggesprengt, damit man durchkam. Die Brücke, über die wir eben fuhren, ist über fünfzehn Meter hoch. Ein tolles Ding, was? Seht, und da unten liegt das Dorf, wir sind viel höher als der Kirchturm. Wollen wir mal aussteigen?“

Sie wollten. Und Brüdi, der sonst so ablehnend und störrisch war, hängte sich ganz von selbst an Christianes Hand und ließ sich von ihr hinüberführen an die kleine, breite Mauer, von der aus man das Tal übersehen konnte. Das Dorf lag unten im Tal, eingezwängt in grüne Wände, und man stand hoch, hoch darüber. Die Wagen, die von oben kamen, krochen langsam und vorsichtig bergab, besonders die schweren Lastzüge.

Vater zündete sich eine Zigarette an und brachte aus der Brusttasche seiner hellen Jacke eine Tafel Schokolade zum Vorschein.

„Da, verteil mal, Christiane. Nein, wahrhaftig, es ist schön hier —“

Sie standen noch, als aus einem neben ihrem Wagen parkenden, knallblauen Zweisitzer mit hellen Schweinsledersitzen eine junge Dame ausstieg und neben sie trat. Sie schien selber gefahren zu sein, denn der kleine, schüchterne Begleiter dieser Dame sah nicht so aus, als traue er sich an das Steuer eines Wagens, dessen Kühler die Länge eines Heldengedichtes hatte, wie Vater leise lachend zu Christiane sagte.

Christiane lachte auch. Vater meinte mit seinem Lachen wohl nicht nur den übermäßig langen Kühler dieses Wagens, sondern verschiedenes andere mehr. Die Dame hatte korallenrote Lippen und ebensolche Fingernägel, und ihre Augenbrauen waren im „romanischen“ Stil gewölbt. Christiane hatte soeben in Kunstgeschichte gelernt, wie man die verschiedenen Bögen unterscheidet …

„Das ist aber auch das einzig Romanische an ihr“, flüsterte der Vater vergnügt zurück, als Christiane dies sagte, und dann zog er sie mit sich fort seinem biederen und braven Wagen zu. Die „Dame“ hatte soeben angefangen, in überschwenglichen Ausdrücken die Landschaft zu preisen.

„Ich will dich ja nicht eitel machen, Christiane“, sagte der Vater, während er sich am Steuer zurechtsetzte, „aber es ist richtig eine Erholung, dich anzusehen nach dieser Erscheinung.“

Als Christiane und der Vater spät in der Nacht heimkamen, war sie sehr müde, aber auch sehr glücklich. Vater war so lieb gewesen, ein richtiger, guter Kamerad! Sicher würde die Reise mit ihm ganz wunderschön werden. Sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, daß sie einmal Beklemmungen oder gar Angst davor gehabt hatte.

Christiane und die großen Brüder

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