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Reni, wo sie wohnt, und wo sie herstammt

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Ganz am Ende der Stadt, dort, wo Anlagen und Park in Wald und Berge übergehen, lag das Haus, in dem Reni wohnte. Das Haus ist übrigens nicht ganz richtig gesagt: eigentlich waren es zwei Häuser, die einander gegenüber lagen, breite, helle Häuser mit schokoladenbraunen Fensterläden und nachgedunkelten, roten Dächern, die weit vorsprangen und wie zu tief gezogene Mützen aussahen. Nicht wie gebaut lagen die Häuser da, sondern wie gewachsen, und damit sie nicht allein waren und sich fürchteten, war es, als gäben sie sich die Hand: hinten, den Raum, der zwischen ihnen lag, wie einen Hof abschließend, lief ein niedriges, breites kleines Gebäude entlang, so wie bei manchen Gasthöfen die Kegelbahn. Dies hier aber war keine Kegelbahn und auch kein Wintergarten, wie man es manchmal hat, es war etwas viel, viel Schöneres. Große, breite, fast bis auf die Erde reichende Fenster hatte es nach beiden Seiten hin, und unter den Fenstern liefen Heizkörper entlang, so daß es auch im Winter warm und zu benutzen war. Das war sehr wichtig, denn nicht nur Reni, sondern auch alle andern Kinder, die hier im Heim am Berge für längere oder kürzere Zeit zu Hause waren, liebten diese Gebäude noch mehr als die hellen Schlafsäle, den großen, getäfelten Wohnraum oder die gemütliche Küche. Wer kann raten, was es war? Niemand. Es war eine Turnhalle.

Dort, wo keine Fenster waren, gingen Leitern an den Wänden hoch, Leitern mit glatten, hellgelben Sprossen, an denen man bis an die Decke klettern und auch sonst die schönsten Übungen machen konnte. In der Mitte gab es einen Rundlauf, viermal Ringe zum Schaukeln und in einer Ecke auch Kletterstangen, schräge und gerade. Auch Sprungmatten waren da, Böcke, Pferde, Hochsprungholme, kurz, alles, was ein zehnjähriges Herz sich erträumt. Hinter der Turnhalle lag eine leichtansteigende Liegewiese, auf der im Sommer die Liegestühle mit den gestreiften Bezügen standen, und dann schloß sich gleich der Bergwald an, mit Bächen und Blaubeerkraut, mit Pilzen und Nadelholz und der herrlichsten, kräftigsten, wunderbarsten Bergluft.

Ja, und vorn, vor der Turnhalle, da war es auch so gemütlich wie in einer Stube. Da standen an dem einen Haus entlang eingerammte Tische mit Bänken davor und dahinter, und darüber wölbten sich alte, dicke Kastanienbäume, die im Frühling ganz weihnachtlich voller Kerzen gesteckt waren, manche mit weißen, manche mit roten Lichtern, — und im Herbst bescherten sie das allerschönste Kinderspielzeug, blank und glatt, rotbraun oder gescheckt, das aus stachlichen Hüllen platzte, jedes Jahr wieder, umsonst und ohne Bestellung. Es waren richtige liebe, vertraute, lebendige Bäume, und sie hatten auch Namen. Der eine hieß Alma, der andere Meta, und der dritte, der fast in der Mitte des Hofes stand und eigentlich schon viel zu alt war, denn er hatte einen ganz, ganz dicken Stamm, der schon hohl war, so daß man sich darin verstecken konnte, der hieß von alters her Henriette. Er sollte eigentlich längst gefällt sein, aber alle, von Tante Mumme angefangen bis zum kleinsten Küchenmädel herunter, erhoben ein lautes Gejammer, wenn der Doktor mit diesem mörderischen Vorschlag kam, und so blieb er von Jahr zu Jahr stehen. „Er wird euch noch auf die Köpfe fallen!“ drohte der Doktor, aber da lachten sie nur, denn sie wußten, daß der Doktor seinen Freund, den Förster, stets fragte, ob Gefahr bestünde. Und dann lachte der alte Rauschebart und sagte, solange das Haus hielte, hielte auch die Henriette.

„Tu doch nicht, als ob unser Heim eine alte, wacklige Bruchbude wäre, Onkel Oberförster“, sagte Reni einmal ganz wütend, als er so geantwortet hatte, und da lachte er noch mehr.

„Euer Heim — bewahre! Ich sage doch nichts gegen euer geliebtes Heim am Berge — wo werd’ ich denn, kleine Reni!“

Heute nun war dieses wunderschöne, lebendige und heißgeliebte Heim übrigens leer, jedenfalls fast leer, nur Tante Mumme war da, als Reni vom Bahnhof kam — sie hatte den letzten Schub Erholungskinder, wie sie das stets tat, zur Bahn gebracht. Es war immer ein bißchen traurig, wenn die andern abfuhren, obwohl die meisten versprachen, zu schreiben oder im nächsten Jahr wiederzukommen — aber sie taten in der Regel weder das eine noch das andere.

Dafür kamen neue Kinder, lustige und stille, Jungen und Mädel, große und kleine ...

Reni kannte das nun schon, so lange sie lebte — sie war das einzige Kind, das blieb. Wenn sie von der Bahn heimkam, war ihr immer zum Heulen zumute, und dann suchte sie schleunigst nach Tante Mumme. Wo? In der Küche. Die war dann immer tipptopp aufgeräumt, denn die Küchenmädel hatten in der Zeit, in der keine Kinder da waren, auch frei — ein einziger Herd von den vier großen, die in der Mitte der Küche wie ein Festungsblock lagen, brannte, und dort fand Reni Tante Mumme. Sie kochte sich Kaffee.

„Damit ich die Ruhe genießen kann“, sagte sie entschuldigend, aber Reni lachte nur. Andere Leute tranken Kaffee, um munter zu werden — jedenfalls sagte der Onkel Doktor so — Tante Mumme aber trank welchen, um schlafen zu können. Komische, kugelrunde, geliebte alte Tante Mumme!

„Was backen wir uns denn diesmal für einen Pausenkuchen?“ fragte Reni auch heute; es war die Frage, die ihr schon während des ganzen, einsamen Heimwegs auf dem Herzen gelegen hatte. Immer, wenn Pause war, wenn die ersehnten und gefürchteten drei Tage zwischen den Sechswochen-Erholungskindern eintraten, durfte sich Reni einen Kuchen ausdenken. Und das war um diese Zeit ein bißchen schwer: Kirschen gab es nicht mehr und Äpfel noch nicht. Blieb Quark oder Streusel — den konnte man aber auch im Winter haben.

„Ich weiß! Hobelspäne! Wenn auch weder Fastnacht noch Sylvester ist! Ich hab’ solchen Appetit auf Hobelspäne“, sagte Tante Mumme. Reni guckte vorwurfsvoll.

„Aber, Tante Mumme! Der Onkel Doktor mag doch keine — oder vielmehr, er mag sie zu sehr. Und er soll doch nicht!“

„Er ist doch nicht da, Kinding, die nächsten Wochen. Er verreist doch“, sagte Tante Mumme. Sie mußte ja schließlich einmal damit herausrücken, Reni mußte es erfahren. Sie hatte es ihr bisher nicht gesagt — hatte immer gehofft, er würde wenigstens so lange bleiben, bis der nächste Kindertransport da wäre. Aber es hatte sich nun doch nicht so gemacht ... Reni guckte entgeistert. „Der Onkel Doktor fährt weg? Heute schon?“

„Aber Kinding, du hast doch mich“, tröstete Tante Mumme. Sie wußte, wie ungeheuer zärtlich Reni an ihrem Bruder hing und daß ihr nichts die Pause so versüßte wie die Tatsache, daß ihr nun der liebe, gute, lustige, dicke Onkel Doktor allein gehörte. Er verwöhnte das Mädel, das war keine Frage, aber es war ja verständlich — er hatte doch sonst nichts vom Leben. Arbeit, Arbeit, Arbeit — er war so sehr beliebt in der Stadt und wurde überlaufen von Patienten, und am liebsten hätte er sich doch einzig und allein dem Kinderheim gewidmet. Das ging ja nun nicht, wie eben vieles auf der Welt nicht so geht, wie man gern möchte ...

„Aber warum hast du mir das denn nicht gesagt?“ fragte Reni nach einer Weile, in der sie stumm neben Tante Mumme am Herd gelehnt hatte. „Ich wollte dir das Herz nicht unnütz schwer machen“, sagte Tante Mumme leise. „Es geht dem Onkel Doktor nicht gut, weißt du. Er fährt nicht zum Vergnügen. Er soll sich endlich mal ganz auskurieren und erholen!“

„Aber das könnte er doch hier!“ rief Reni, den Tränen nahe. „Hierher kommen doch alle, um sich zu erholen — es steht doch in allen Zeitschriften und überall: Kinderheim für Erholungsbedürftige.“

„Ja, Kinder heim, für erholungsbedürftige Kinder, natürlich“, sagte Tante Mumme. „Aber sieh mal, der Onkel Doktor kommt doch hier zu keiner Erholung. Immerfort kommen Leute, auch wenn er das Telefon abstellt ...“

„Ist er etwa schon fort?“ fragte Reni. Ihr ahnte das Schlimmste. Aber Tante Mumme beruhigte sie.

„Nein, nein, Reni, er ißt heute nochmal mit uns, nachher gleich.“

Gottlob. Das wenigstens blieb ihr noch — es war immer so hübsch, wenn sie einmal allein zu dritt aßen, unten im Hof, am Ende eines der langen Tische, mit einem weißen Tischtuch und dem guten Geschirr. Und Tante Mumme kochte dann immer etwas besonders Gutes.

Aber über die schreckliche, vielleicht wochenlange Trennung konnte nicht mal ein Fischfilet mit grünem Salat hinwegtrösten, — Reni verließ die Küche leise und trat hinaus in den Hof. Wie stumm alles war — kein Gekribbel von kleinen Kindern am Sandkasten unter der Henriette, kein Gespritze und Geschrei von den größeren am Planschbecken. Dabei war es so herrlich heiß heute ...

Reni trug ein weißes Kleid mit roten Tupfen, einem roten Gürtel und rotem Kragen. Sie hatte, als sie zur Stadt hinuntergefahren war, ihre Halbschuhe angehabt, sie aber jetzt ausgezogen und im Flur stehen gelassen. Barfußlaufen gehörte hier zum guten Ton, der Onkel Doktor sagte immer, daß viele, viele Krankheiten einfach nicht da wären, wenn die Menschen mehr barfuß liefen. Besonders früh auf der Wiese, wenn sie noch taunaß war — Tautreten nannte man das. Reni war immer sehr dahinter her, daß alles befolgt wurde, was der Onkel Doktor sagte.

Er war so gut und so lustig — und bestimmt ganz einzigartig. Schon oft hatte sie beobachtet, daß Kinder, die neu hier waren und ihren Onkel Doktor nicht kannten, sich fürchteten, wenn es hieß: der Arzt kommt. Sie konnte das nicht verstehen. Niemand war so lieb, so sanft und zärtlich und feinfühlig wie dieser große, dicke Mann mit dem kleinen schwarzen Bärtchen auf der Oberlippe und der schwarzgeränderten Hornbrille. Niemand konnte so herzlich lachen, so wunderbar erzählen, so munter und muntermachend zum Spielen anregen — niemand vermochte so entzückend zu zeichnen, wenn man einmal im Bett lag und sich langweilte. Gewiß, Tante Mumme war auch lieb, wenn sie abends kam, nachsah, ob auch alle Kinder gut zugedeckt waren und keins weinte, weil es nun doch ein bißchen Heimweh bekommen hatte. Aber sie war eben ein bißchen wie das tägliche Brot — man kam nicht ohne sie aus, aber man hatte sie schließlich immer. Der Onkel Doktor dagegen ... Er war wohl noch gar nicht so alt, wie Reni glaubte — jedenfalls viel jünger als Tante Mumme. Tante Mumme hatte schon graue Haare, er nicht ein einziges. Er war ihr „kleiner“ Bruder, wie er manchmal aus Spaß sagte.

Reni war hier im Kinderheim aufgewachsen und ging von hier aus in die Schule in der Stadt, vormittags. Aber die Schule spielte keine allzu große Rolle in ihrem Leben; sie kam ohne Mühe mit, und Schulfreundinnen hatte sie eigentlich keine. Dazu war ihr Leben im Heim viel zu bunt und lebendig — im Heim war sie zu Hause, wie andere Kinder bei ihren Eltern. Warum — sie hatte nie danach gefragt, bis es ihr der Onkel Doktor einmal in einer Pause erzählt hatte—im Winter, als draußen der Schnee stöberte und das Heim so unglaublich still dalag. Da hatte er in seinem Zimmer ein Kaminfeuer gemacht und sie dazu eingeladen, sie ganz allein, denn Tante Mumme war müde und ging lieber ins Bett — „weil Kaminabende ja doch nie ein Ende nehmen!“ Da hatte er ihr erzählt, warum sie immer hier blieb, während die andern Kinder doch stets zu ihren Eltern zurückfuhren, wenn sie sich erholt und rote Backen angefuttert hatten.

Reni hatte auch Eltern, aber ihr Vater war gestorben, als sie noch ganz kleinwinzig gewesen war. Er war sehr jung, als er Renis Mutter heiratete, und er hatte noch keinen richtigen Beruf. Vielmehr, einen hatte er schon, er war Lehrer gewesen, aber er wollte so sehr gern ein Onkel Doktor werden, weil er da vielen Menschen helfen und sie gesund machen könnte, genau so wie er selbst es tat. Die Mutter hatte auch ja dazu gesagt, sie war einverstanden, auch damit, daß sie trotzdem mit dem Heiraten nicht warten wollten, bis der Vater fertig mit dem Studieren war. Ihre Eltern aber, Renis Großeltern also, waren durchaus nicht einverstanden gewesen...

„Verstehst du das, Reni, ja? Sie sorgten sich um deine Mutter“, sagte der Onkel Doktor und sah in die großaufgerissenen, ernsten Kinderaugen hinein, in denen sich das Feuer spiegelte und Funken darin weckte wie ein Abendhimmel in einem Gebirgssee, „und sie wollten, daß deine Eltern noch warten sollten mit dem Heiraten. Dein Vater sollte erst so viel verdienen, daß er deiner Mutter ein Haus bauen könnte und Möbel kaufen, und eine ganze Herde Kinder satt machen — denn deine Eltern wollten nicht, daß sie nur ein einziges Kind hätten, eins ohne Geschwister, verstehst du. Aber deine Mutter meinte, warten wollte sie nicht, sie wollte lieber mitverdienen und deinem Vater helfen und gleich seine Frau werden.

Viele tapfere Frauen denken und handeln so, aber viele Eltern in ihrer Liebe und Güte sind zu ängstlich dazu, es zu erlauben, denn sie denken, es wird ein zu schweres Leben für ihr Kind. Deine Mutter bekam es auch wirklich schwer, siehst du, denn dein Vater starb, ehe er fertig mit Studieren war, und du warst nun schon auf der Welt und deine Mutter mußte dich ganz allein großziehen.

Deine Großeltern hatten es ihr sogar verboten, hatten ihr gedroht, wenn sie nicht gehorchte, würden sie ihr gar nicht helfen, wenn sie einmal in Not käme. Nun war sie in Not — die Großeltern hätten ihr sicher geholfen, wenn sie zu ihnen gekommen wäre, aber nun wollte sie nicht. Sie ging auf ein Gut und wurde dort Sekretärin, und dich gab sie zu uns, zu Tante Mumme und mir. Sie hatte die Anzeige und das Bild von unserm Heim in einer Zeitschrift gesehen und kam nun und sprach mit Tante Mumme, und Tante Mumme hat dich gern hier aufgenommen, weil sie ja selbst nicht verheiratet ist und keine Kinder hat.“

„Und da gehöre ich nun euch“, sagte Reni befriedigt, als er so weit gekommen war. „Nicht wahr, ich gehöre euch — ich bin nicht so ein Kind wie die andern, die hier bloß für ein paar Wochen zur Erholung sind!“

Der Doktor lachte.

„Nein, so ein Durchgangskind bist du nicht“, bestätigte er und klopfte sie auf die Backen, lachend und vergnügt. Dann aber wurde er wieder ernster.

„Trotzdem gehörst du deiner Mutter, nicht uns“, sagte er freundlich, „wenn wir auch wünschen, du wärst unser Kind.“ Das letzte sagte er leiser und wie zu sich selbst. Reni sah das nicht ein.

„Aber wieso denn? Tante Mumme gibt mir zu essen und macht mir die Kleider, und ...“

„Aber deine Mutter bezahlt das alles“, hielt der Doktor dagegen. „Tante Mumme schreibt alles auf und —“

„Nein, Onkel Doktor“, sagte Reni unbefangen, aber durchaus ihrer Sache sicher, „das macht sie nicht. Sie hat mir neulich erst ein Kleid gemacht, das war aus einem alten von ihr selber.“

Der Doktor lachte, diesmal ein bißchen unsicher.

„Hat sie? Sie soll doch lieber neuen Stoff kaufen, die alte Morchel“, brummte er. „Aber sie denkt immer, sie muß sparen!“

„Und alle ihre alten Bilderbücher hat sie mir geschenkt und ihre Puppen, die sie selbst als Kind gehabt hat. Das macht sie doch mit den andern Kindern nicht — ich glaube, das weißt du nicht so. Ich gehöre doch viel mehr zu euch als zu meiner Mutter. Von ihr habe ich noch gar kein Kleid, und keine Puppe, und nicht mal ein Bilderbuch ...“

„Na, und das große Schaukelpferd zum Beispiel, das du bekamst, als du drei Jahre alt wurdest?“ fragte der Doktor, beinah ärgerlich. Er suchte in seinem Gedächtnis — mein Himmel, man hatte doch weiß Gott genug im Kopf zu behalten. Nun sollte er auch noch wissen, was Frau Jahnecke ihrer Tochter alles Gutes getan hatte ... „Und der Pferdestall mit den vier Boxen nebeneinander, war der nicht großartig? Also: Hat dir Tante Mumme oder ich jemals was so Schönes geschenkt?“

„Nein, der war schön. Schöner als Puppen“, sagte Reni nachgiebig, „aber er war doch nicht von Mutter, ich meine, von ihr von früher her!“

„Gewiß. Das kommt aber wahrscheinlich davon, daß deine Großeltern noch immer böse sind auf deine Mutter, so daß sie nicht zu ihrem alten Spielzeug kann“, erklärte der Doktor. „Du gehörst aber trotzdem deiner Mutter. Wir sind nur froh, solange wir dich geborgt bekommen, denn wir haben dich beide lieb — auch wenn du dumme Fragen stellst“, lachte er. Am nächsten Morgen berichtete er seiner Schwester von dieser Unterhaltung.

„Das Mädel macht sich Gedanken, ganz erwachsene Gedanken“, sagte er ärgerlich. „Schreib doch an Frau Jahnecke, daß sie verschiedenes herschickt. Dann wird Reni sich beruhigen. Und laß sie an die Mutter schreiben. Wir dürfen das Kind nicht verwirren, auch nicht aus Liebe ...“

Tante Mumme nickte. Er hatte recht. Von nun an ließ sie Reni an jedem Regentag, an dem alle Kinder nach Hause schrieben, auch einen Brief an die Mutter verfassen. Reni tat es mit der Sorgfalt, mit der sie ihre Schularbeiten erledigte — und vergaß, sobald sie fertig war, die Mutter wieder, so wie sie die Schule vergaß, wenn sie ihre Aufgaben gemacht hatte.

Tante Mumme sah das und machte sich ihre Gedanken darüber. Aber nicht lange — sie war nicht so geartet, sich viele Gedanken zu machen außer denen, die jeden Augenblick von allen Seiten auf sie einstürmten. Außerdem denkt man nicht allzugerne an Sachen, die man am liebsten vergessen möchte — sie hatte Reni herzlich lieb und wünschte nichts sehnlicher, als sie noch lange, lange behalten zu dürfen. So blieb es bei den Briefen, die Renis Mutter immer treulich beantwortete. Manchmal kam sie auch auf Besuch, aber immer nur kurz; sie hatte mit den ersten Dienststellen wohl etwas Pech, wechselte öfters und wagte nicht, um längeren Urlaub einzukommen.

In letzter Zeit schien sie sich auf dem Gut, auf dem sie war, besser eingerichtet zu haben, aber sie war wohl dort ganz unentbehrlich geworden, da der Gutsherr kränklich war und vieles nur mit ihr allein besprach. So konnte sie auch jetzt kaum fort. Außerdem gab es auf diesem Gut etwas, was der Mutter wichtig und schließlich ganz unentbehrlich geworden war: es gab Pferde — nicht nur die nötigsten Acker- oder Kutschpferde wie überall auf dem Lande, sondern auch eine Pferdezucht. Die war der Mutter fast ganz überlassen, und ihr warmes und liebevolles Herz hatte sich dieser Aufgabe weit geöffnet, weil es zwischen all den fremden Menschen etwas zum Pflegen suchte.

Reni konnte sich kaum mehr vorstellen, daß Mutter beispielsweise einen Brief schreiben könnte, in dem nicht drei von vier Seiten von Pferden handelten. Auf allen Fotos von Mutter waren Pferde mit darauf, zottige Fohlen, sanfte, schöngewachsene Stuten oder wilde Zweijährige. Mutter konnte auch großartig reiten. Reni freute sich immer, wenn die Mutter einmal kam, aber sie trennte sich nicht schwer nach den Besuchen. Ihr Zu-Hause war eben das Heim am Berge. Aber was war das geliebte Heim ohne Onkel Doktor, und nun sollte er so schrecklich lange wegbleiben!

Reni konnte sich das gar nicht vorstellen und lauerte unten am Hoftor, daß er endlich zum Essen käme. Ihr Gesicht war ganz unglücklich, als er endlich kam und ihr seine Fahrhandschuhe mit einem munteren: „Hunger, Kindel, Hunger, Hunger!“ zuwarf. „Nun, bewölkt? Regenfälle zu erwarten?“

„Du fährst weg, Onkel Doktor?“ fragte Reni kläglich. Er kam um den Wagen herum, nahm ihr Gesicht in seine beiden Hände und sah ihr in die Augen.

„Ja, Kind, ich muß. Und weißt du, worauf ich mich bei dieser Reise am meisten freu?“

„Na?“ fragte Reni, mehr aus Höflichkeit als aus Interesse. Er freute sich auch noch!

„Aufs Wiedersehen, Dummerle“, lachte er und gab ihr einen Klaps auf die Backe. „Nun aber kein Murrgesicht! Sonst freu’ ich mich nämlich nicht mehr!“

Geliebtes Heim am Berge

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