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Reiterpension Heidehof

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„Wir sollen doch nicht Anhalter fahren, Gisela! Du weißt doch, Brigge hat es ganz streng verboten“, jammerte Schimmel halblaut und versuchte, die Schwester zu bremsen. Die aber riß sie mit sich fort.

„Das ist doch nicht Anhalter! Der hält von selbst, der steht da schon, ich hab’s doch gesehen. Und doch bloß bis Bergen! Dort erwischen wir den Bus! Wie willst du denn sonst nach Hause kommen!“

Die beiden Schwestern hatten ihren Schulbus mal wieder verpaßt, durch Trödelei, durch Schwätzen mit Freundinnen, durch Schaufenstergucken. Jetzt konnten sie sehen, wie sie von Celle nach Hermannsburg kamen, möglichst auch noch rechtzeitig, um Mutter nicht zu vergewittern. Gisela zerrte die Jüngere an der Hand mit sich.

Am Straßenrand, Kühlerhaube Richtung Norden, hielt ein Wagen mit einem einzelnen Herrn drin. Es war ein Herr, Gisela hatte es sofort erkannt, sie verstand mit ihren siebzehn Jahren schon sehr gut zwischen Herrn, Mann und Kerl zu unterscheiden. Er schnippte sich eben die Spitze einer Zigarre ab, um sie dann genußvoll anzurauchen. Gisela bremste in Höhe des Wagens ihren Sturmschritt ab und beugte sich zum rechten Wagenfenster herunter.

„Entschuldigen Sie – könnten Sie uns mitnehmen? Wir haben leider unsern Bus verpaßt –“

Der Herr sah nett aus, nicht sehr groß, ein klein bißchen rund, aber behaglich, und erinnerte sie an jemanden. Als er den Kopf zu ihr wandte, ging es wie ein Schlag durch sie hin. Vati! Nein, so ein Zufall!

Sie wollte rufen und schloß dann den Mund. Ganz sicher war sie ihrer Sache eben doch nicht. Ihr Griff um Schimmels Handgelenk wurde eng wie ein Schraubstock. „Halt den Mund!“ Schimmel hatte noch gar nicht begriffen, geschweige denn etwas gesagt.

„Bis wohin? Bis Hamburg?“ fragte der Herr ein wenig spöttisch und lachte. Gisela sah ihn nachsichtig an.

„Natürlich nicht. Bis Bergen. Dort kriegen wir den Bus.“

„Wohin wollt ihr denn?“

„Nach Hermannsburg.“

„Aha. Da fahre ich nämlich sowieso hin. Das heißt, ich weiß noch nicht –“

Wenn jemand sowieso dorthin fährt, wohin man will, so ist das immer verdächtig. Gisela kannte sich im Anhalterfahren aus. Immerhin, wenn es Vati war …

Wenn. Sie hatte ihn schon so lange nicht gesehen, und Fotos sind eine unzuverlässige Sache. Immerhin, der Kopf im Profil mit dem vollen Kinn – bei jemandem anderen hätte sie es als Kehlbraten bezeichnet –, die feste Nase und die ein wenig gelichtete Stirn – ganz ähnlich sah er auf Brigges gerahmtem Foto aus. Gisela überlegte das Tausendstel einer Sekunde lang, dann schoß ein Blitz durch ihr Gehirn: Der Finger! Vati hatte an der rechten Hand das letzte Glied des kleinen Fingers verloren, sie wußte das noch, und Brigge hatte manchmal davon gesprochen. Wenn das stimmte …

Es stimmte. Sie sah es mit einem ganz kurzen Blick, und da hatte sie auch schon die Tür geöffnet. Es war Vati, sie konnte einsteigen. Und daß er nichts dagegen hatte, darüber war sie sich längst klar. Mit dem schmelzendsten Lächeln, das ihr zu Gebote stand, nahm sie neben ihm Platz, Schimmel mit einer Schulterbewegung auf den hinteren Sitz verweisend.

„Haaaalt! Kinder sollen hinten sitzen –“

„Ich bin siebzehn, nächstes Jahr volljährig“, sagte Gisela hoheitsvoll und angelte schon nach dem Sicherheitsgurt, „als Kind gilt man nur bis zehn.“

„Ach! Kiekindiewelt! Da muß ich wohl Sie sagen?“

„Sie können ruhig. In der Schule werden wir auch gesiezt, das heißt, Schi – äh, meine Schwester noch nicht –“, er brauchte ja nicht gleich zu merken, wen er da aufgeladen hatte. Der Name ,Schimmel‘, ihres weißblonden Haares wegen, war ja nicht direkt häufig. Um ein Haar hätte sie sich verplappert. Er sagte nichts, sondern fuhr an.

„Na schön, also Sie. Und Sie sind in Hermannsburg zu Hause?“

„Ja. Sie nicht?“ Das war natürlich eine Frechheit. Damals hatten sie woanders gewohnt, das Haus in Hermannsburg gehörte Großmutter.

„Ich wünschte – – – ach was“, unterbrach er sich und sah geradeaus. Gisela schwieg, sie hatte den Ton gut gehört. Jetzt nichts sagen, abwarten, bis er wieder anfing. Schweigend saß sie neben ihm, hatte vorsichtshalber den linken Arm über die Rücklehne gehängt. Auf diese Weise konnte sie notfalls Schimmel ein Signal geben, wenn diese ihr etwa das Programm stören sollte. Meist ließ sie ihr ja Vortritt, schon weil Gisela nicht nur älter, sondern auch gescheiter und wendiger war, andererseits, weil es sich als bequem erwies, nicht entscheiden zu müssen. Ob Schimmel Vati erkannt hatte, war Gisela nicht klar.

„Wir gehen in Celle ins Gymnasium. Es ist weit zu fahren, aber eine sehr gute Schule“, begann Gisela nach einer Weile harmlos zu plaudern. Schule war immer ein gutes Thema, es zeigte dem Fahrer, daß sie erstens noch jung, zweitens sozusagen aus guter Familie waren. „Beide humanistisch, mit Latein angefangen – –“, hoffentlich sprach er sie jetzt nicht lateinisch an. Vati war ein ausgezeichneter Lateiner, Brigge hatte das oft geseufzt, wenn eine von ihnen eine Fünf brachte. ,Vati könnte euch helfen‘– Gottlob, er tat es nicht.

„Ich habe – – Bekannte in Hermannsburg“, sagte er jetzt langsam, seinem eigenen Gedankengang folgend, „eine Familie mit zwei Töchtern, das heißt, eine Mutter. Und eine Großmutter – –. Sie wohnen im Haus der Großmutter, etwas außerhalb –“ Gisela biß sich auf die Lippen. „Die Töchter sind ungefähr in eurem – Verzeihung, in Ihrem Alter.“

„Und die Mutter?“

„Na, entsprechend. Sie hat eine Fremdenpension im Haus der Großmutter eingerichtet, nimmt Feriengäste und betreut sie, lebt davon, einen Beruf hat sie nicht gelernt –“, er schwieg wieder. Gisela schwieg auch, aufs Höchste gespannt, „Und Pferde hat sie auch. Das Haus nennt sich Reiterpension Heidehof, kennen Sie es?“ fragte er jetzt geradezu. „Hermannsburg ist ja nicht groß.“

Wie gut, daß ihr Arm über der Rücklehne hing. Gisela krallte ihre Hand in Schimmels Arm, daß diese stöhnte.

„Ja, kennen wir. Wie man sich halt kennt, jedenfalls flüchtig. Die Töchter gehen in unsere Schule“, sagte Gisela obenhin. Der Fahrer drehte ihr sein Gesicht zu.

„Gisela!“ sagte er, und es war wie ein Schuß. „Und Schimmel! Ich hab’ es sofort gewußt.“

„Vati!“ Zweistimmig, aber genau im selben Augenblick.

Er fuhr rechts an den Rand der Straße, hielt, wandte sich ihnen voll zu. „Ihr freches Gelichter, Anhalter zu fahren! Das dürft ihr doch bestimmt nicht! Und dann das Blaue vom Himmel herunter zu schwindeln –“

„Ich hab’ nicht geschwindelt! Kein Wort! Ich hab’ nur –“, sie lachten alle drei, lachten und lachten. Der Vater sah seine Töchter an, die eine und die andere, und schüttelte immer wieder den Kopf. „Nein, seid ihr groß geworden! So was! Gable ich euch hier auf! Ich war übrigens noch nicht entschlossen, zu euch zu fahren, knobelte und knobelte, ob ich es tun sollte.“

„Du kommst doch aber? O Vati, wird Brigge sich freuen!“

„Das weiß ich eben nicht.“ Er betrachtete seine Zigarre. „Das weiß ich wirklich nicht. Sie hat mich damals – – nun, also sagen wir so: Ganz im Guten sind wir nicht auseinandergegangen. Das wißt ihr sicher. Und ich will nicht wieder hinausgeschmissen werden, kurz gesagt.“

„Brigge schmeißt dich doch nicht hinaus!“ riefen beide wie aus einem Mund. „Und sie sagt, du wärst ein hervorragender Reiter. Wir haben doch Pferde – o Vati, du mußt kommen! Eins heißt Mausi, hellgrau, eine Stute, noch jung – – und eins Prinz. Die Mausi geht ein bißchen schwer an den Zügel, weißt du, sie ist noch steif in den Ganaschen, aber …“, und nun schütteten sie ihre ganze Reitbegeisterung über ihn aus. Der Vater, zurückgelehnt in seinen Sitz, sah von einem der jungen Gesichter ins andere.

Er hatte sie fast zehn Jahre nicht gesehen. Unvorstellbar, Töchter zu besitzen und sie nicht um sich zu haben, in diesem entzückenden Alter – – –. O Brigge, du Dickkopf, du Rechthaber, du …

Es gelang ihm im Augenblick recht gut, sich schlecht behandelt und bedauernswert zu fühlen, so etwas konnte er hervorragend. Daß in Wirklichkeit damals er es gewesen war, der von seiner Frau weggegangen war, daran zu denken vermied er geflissentlich. Sie hatte ihn hinausgeworfen, sie hatte ihm vorenthalten, was ihm zustand: eine Familie, zwei entzückende Töchter – – –

„Was hast du denn, Vati?“ fragte Schimmel jetzt leise. „Ist dir nicht gut?“ Sie sah ihn mit einem ängstlichen und sehr liebevollen Blick an. So konnte auch Brigge schauen, selten, aber manchmal … der Vater bemühte sich um ein Lächeln.

„Doch. Ich bin nur traurig. – – Ich lebe so allein, wißt ihr – –“

„Jetzt nicht mehr! Jetzt bist du nicht mehr allein! Du kommst mit zu uns“, sagte Schimmel schnell und drängend in tröstlichem Ton, „Brigge wird sich wahnsinnig freuen, und die-“

„Die Großmutter auch!“ fiel Gisela ein und schoß einen Löwenbändigerblick auf die Schwester ab, „ja, die auch. Das meinst du doch auch, Schimmel, nicht wahr?“

„Ja, die Großmutter auch.“ Schimmel hatte verstanden. Brigge hatte es ihnen oft und oft gesagt. Nie sollte der Vater es wissen, nie – – und dann war ihre ganze, stämmige kleine Person eine einzige Drohung gewesen: Warte nur, du wirst dich wundern! Nein, das mußte man ihr nun überlassen, dieser Mutter, die ihnen nun mal gegeben worden war. Manchmal hatte sie über sie geseufzt, wie es Heranwachsende immer und überall über die Altvorderen tun, obwohl sie sie im Grunde schon mochten, jedenfalls mit anderen Müttern nicht hätten tauschen mögen. Mit Müttern: ,Es gehört sich‘ und ,Das hätte ich nie zu meiner Mutter gesagt‘ und solchem Zeug. Brigge war im Grunde schon recht, jetzt aber hatten sie auch einen Vater, wie wunderbar. Jetzt wurde alles anders.

„Also du kommst mit, und wir sagen Brigge nichts, und – nein, wir sagen es doch! Wir sagen, wir bringen jemanden mit, und ob sie ihn erkennen würde – oder wir gehen einfach ins Haus, und du schleichst dich hintenherum rein – nein, das geht nicht, aber vielleicht – –“ Sie sprachen durcheinander, prusteten vor Lachen, hatten immer neue Ideen, während der Vater seine inzwischen ausgegangene Zigarre anstarrte und immerzu dachte: Fast zehn Jahre. Fast ein Jahrzehnt deines Lebens. War das nötig gewesen? War das richtig? Konnte man da überhaupt noch kommen, ohne zu gewärtigen, daß man hinausflog, diesmal aber im wahrsten Sinne des Wortes?‘

„Reiterpension Heidehof …“

Das Wort ,Reiter‘ brachte ihn in die Gegenwart zurück. ,Du müßtest die Mausi mal reiten, ganz zuverlässig ist sie nämlich nicht‘, hatte Schimmel vor ein paar Augenblicken gesagt.

Brigge war soweit eine ganz gute Reiterin, keine hervorragende, aber immerhin. Und die Mädchen, nun, die waren bestimmt nach ihm, dem Vater, geraten, aber sie waren noch jung. Wenn also eins der Pferde jemanden brauchte, der es – nun, sagen wir mal: korrigierte …

Er richtete sich auf.

„Ihr meint also, die Mausi ist nicht zuverlässig? Nun, da muß ich, glaub’ ich, schon mal nach dem Rechten sehen kommen“, sagte er und fühlte sich verantwortlich und pflichtbewußt, uneingedenk dessen, daß er sich zehn Jahre lang nicht gekümmert hatte, „also ich komme mit, wenigstens für kurz. Es geht ja nicht, daß ihr ein Pferd reitet, das – –“

„Wenn der wüßte, daß die Jungen sie schon reiten“, flüsterte Schimmel Gisela zu, die kichernd in sich zusammensackte. Der Vater war soeben ausgestiegen und um den Wagen herumgegangen, weshalb, ahnten sie nicht. „Sag bloß nichts von den Jungen – –“

„Mensch, wo werd’ ich denn! Weiß ich doch längst …“

*

Brigge radelte heim. Sie war im Nachbardorf gewesen und hatte frische Eier gekauft, Eier von „Herumlauf-Hennen“. Andere konnte man den Gästen ja nicht vorsetzen. Das Eierkörbchen hing an der Lenkstange. Brigge war friedlicher Laune.

Sie besaß einen kleinen Wagen, einen winzigen, alt gekauft, an dem häufig etwas zu reparieren war, manchmal aber fuhr er auch. Aber sie radelte. Erstens machte es schlank und erhielt fit, zweitens sparte man Benzin, und drittens sollten die Kinder zur Bescheidenheit erzogen werden. Die taten überhaupt, als hätte sie, Brigge, ein Dukatenmännchen in ihrem Sekretär, das Tagund Nachtschicht machte. Jetzt wünschte sich Gisela einen Kassettenrecorder! So was! Sie, Brigge, hätte das nie gewagt, mit siebzehn Jahren!

Daß es damals noch gar keine gab, überlegte sie nicht. Und ihre Empörung war auch nicht allzu groß, dazu war der Tag zu schön. Sie pfiff vor sich hin, selbstvergessen und vergnügt.

Der Weg, schwarz mit weißen Sandstreifen durchsetzt, führte hier am Wald entlang, bald würde sie die Oerze queren. Brigge sprang ab, als sie soeben erblühte Heide entdeckte, pflückte ein paar Stengel davon. Jetzt kamen bald die hohen, kühlen, blitzenden Morgen des Herbstes, der die Krone aller Jahreszeiten ist, unumstritten, vor allem hier in dieser Gegend. „Es stehn drei Birken auf der Heide, vallerie und vallera …“

Sie befestigte die kleinen holzigen Stengel vorn an ihrem Kleid. Dann stieg sie wieder auf, dabei summte sie dieses alte Lönslied vor sich hin, nach der Jödeschen Melodie, die den leichten Sinn der Worte so gut traf. Währenddessen überholte sie einen ziemlich zerlumpt gekleideten Mann, der am Wald entlangging und nach der anderen Seite sah, als sie an ihm vorbeifuhr, so, als wollte er sein Gesicht nicht sehen lassen. Merkwürdig, warum wollte er das nicht? Sein Rücken war ein wenig gebeugt, die Schultern zusammengezogen, seine ganze Haltung machte einen gedrückten und geduckten Eindruck. Brigge hatte aufgehört zu summen und fuhr schneller weiter. Nach einer Weile merkte sie, daß sie nicht mehr vergnügt und zufrieden war.

Als sie die Oerze überquert hatte, unterhalb der Badestelle, die sie gern mit den Kindern benützte, weil sie so versteckt lag, daß man auch ohne alles ins Wasser gehen konnte, wußte sie plötzlich den Grund ihrer Verstimmung. Sie hatte neulich in Celle, als sie nach dem Einkaufen einen Kaffee trank, in Illustrierten geblättert und dabei einen Artikel gelesen über einen Mann, der sich in der Heide herumtreiben sollte und Kinder, insbesondere kleine Jungen, an sich lockte, um sie umzubringen. Schauerlich, zum Grausen.

Es war natürlich dumm, sich nun sofort die eigenen Kinder vorzustellen. Gefahr ist überall, wo man einsam wohnt, und wo nicht, ist auch welche. In der Großstadt gibt es den Moloch Verkehr, war der nicht noch größer? Übrigens mochte es auch da solche schrecklichen Menschen geben, vielleicht sogar noch häufiger. Es war gar zu schauerlich, was sie da gelesen hatte, und sie mußte noch heute ganz eindringlich mit den Jungen reden. Mit den beiden Mädchen übrigens auch, denn wer wußte! Ach ja, selbst Mütter von ihrem Schlag, die manches durchgemacht hatten und optimistisch und zuversichtlich dachten: „Es wird nicht gerade uns treffen“, hatten mitunter dunkle Stunden, wenn sie an die Fährnisse der Welt dachten. Der Welt, in die die Kinder hineinwuchsen, jung, dumm, ahnungslos und lebensgierig.

Die Kinder trieben sich viel zuviel herum, stundenlang oft. Aber sie waren ja immer jeweils zu zweit, die Töchter wie die Söhne. Das war bestimmt ein gewisser Schutz. Trotzdem würde sie ihnen die Hölle heiß machen, wenn sie heimkam, und zwar gründlich.

Brigge fuhr schneller, als könnten die wenigen Minuten, die sie dadurch gewann, etwas ausmachen. Sie folgte einem mit Birken gesäumten Weg, der außen an der Ortschaft entlangführte, dann sah sie ihrer Mutter Haus, ihr Zuhause. Und wie immer ging ein warmer Strom durch ihr Herz: Welche Kinder hatten wohl so eine Heimat wie die ihren!

Der Hof lag außerhalb des Städtchens, zwischen. Stadt und Heide, und war so richtig echt. Das riesenhohe, reetgedeckte Dach, der Garten an der Giebelseite, den ein winziger Zaun umschloß und der jetzt in allen Farben strahlte. Es war ja die Zeit der ersten Dahlien.

Brigge führte ihr Rad den schmalen Mittelweg entlang, der zwischen den Beeten auf die Haustür zulief, da stürzten ihr auch Peter und Anselm schon entgegen. Sie hatten immer allerlei erlebt, was sie sofort erzählen mußten, wobei einer dem andern das Wort vom Munde nahm. Brigge hatte für jeden einen dicken, gelblichen Apfel mit, die auf den Eiern gelegen hatten, ohne daß ein einziges Ei Schaden genommen hatte.

„Da, der Bauer läßt euch grüßen. Und zur Pflaumenernte sollt ihr kommen, hat er gesagt. Lauft mir aber jetzt nicht fort, ich mach’ gleich Feuer in der Waschküche. Ihr badet schon nachmittags, sonst ist wieder ewig kein Fertigwerden. Verstanden? Daß ihr mir da seid!“

Sie konnte ihnen dann einiges von dem sagen, was sie sich vorgenommen hatte, mit ihnen zu besprechen. Beim Baden und Kopfwaschen konnten sie nicht mit „jaja, wir wissen schon –“ entfleuchen.

Die Großmutter, ihre Mutter, „Omme“ genannt, schien nicht da zu sein. In ihrer weitherzigen und gar nicht gluckenhaften Art hatte sie für Brigge kein Mittagessen, sondern nur ein Schälchen Kompott hingestellt, Brigge war dessen froh. Man mußte für die Linie sorgen. Sie aß ein paar Löffel, trank einen Schluck Kaffee und freute sich ihres Alleinseins.

Man war so selten allein. Immer Gäste – gewiß, auch das hatte seine netten Seiten, ganz abgesehen davon, daß man von ihnen lebte. Aber manchmal wurde es lästig. Heute waren alle fort. Brigge beschloß, das auszunützen und rief durch das geöffnete Fenster nach den Jungen.

„Ihr könnt mir die Mausi fertigmachen. Oder war sie heute schon draußen?“

„Nachmittags nicht. Vielleicht am Vormittag, als wir in der Schule waren“, sagte Anselm. Peter aber zog den Bruder wortlos und eilig mit sich. Er war ein echter Pferdenarr, jeder Handgriff an der geliebten Kreatur war für ihn ein Vergnügen.

Brigge ging in ihr Zimmer hinauf und zog sich um. Die Sonne schien herein und ließ die gescheuerten Dielen fast weiß erscheinen. Brigge nahm, ehe sie es weghängte, von ihrem Kleid die Heidekrautstengel und steckte sie hinter das Bild der Kinder, das über ihrem Bett hing. Es war eine vergrößerte Liebhaberaufnahme, die Mädchen etwa zwölf, dreizehn Jahre alt, die Jungen entsprechend jünger. Brigge liebte dieses Bild, erinnerte es sie doch auch an den Vater ihrer Kinder.

Sie quälte sich, behaglich knurrend, in die Reitstiefel, trat dann vor den Spiegel. Weiße Bluse, schwarze Hose – es stand ihr gut. Breit war sie, aber mehr in den Schultern als in den Hüften. Die Mädchen hatten kritische Augen, aber an Mutters Reitanzug konnten sie nichts meckern.

Welch wunderschönes Gefühl, so durch den Garten zu schlendern, das goldene Nachmittagslicht zu atmen, das ringsum leuchtete, die Samstagsstille zu genießen. Richtig, jetzt fiel ihr auch ein, warum es so still war. Heute begann ja das Treffen der evangelischen Akademie, da waren vermutlich alle zu dem einleitenden Vortrag gegangen, auch Omme und die Gäste. Nun, um so besser.

Peter hatte tadellos gesattelt, dabei reichte er der Mausi kaum bis auf den Rücken. Er war mindestens einen halben Kopf kleiner als sein Bruder, aber sehr blond, während Anselm schon stark nachdunkelte. Schade, früher waren beide solche Flachsköpfe gewesen. Wie Schimmel – Schimmel würde wohl ihr ganzes Leben lang so weißblond bleiben, wenn sie ein klein wenig achtgab und ihr Haar pflegte. Wenn man mit fünfzehn noch nicht nachgedunkelt war, blieb man blond. Aber Blondheit erforderte viel Mühe, Brigge wußte das.

„Danke, ihr könnt abbrausen“, sagte sie, als sie aufgesessen war. Sie hatte es nicht gern, wenn die Jungen ihr neidisch-kritisch nachstarrten, besonders auf der Mausi nicht. Aber Brigge ritt sie nun mal lieber als den Prinz, sie hatte solch einen schönen, weiten Schritt und war im Galopp kaum zu halten vor Übermut und Lebenslust.

Es war doch schön, daß sie wieder zwei Pferde hatten. Omme war natürlich bedenklich gewesen.

„Sie werden uns die Haare vom Kopf fressen, und draufsitzen werdet ihr, Schimmel und du und die Jungen“, hatte sie prophezeit, während Brigge mit den rosigsten Aussichten wirtschaftlicher Ait lockte. Nach der ersten Anzeige in einer nicht mal sehr viel gelesenen Frauenzeitschrift kamen die Anfragen nur so geflattert, und die Mund-zu-Mund-Reklame tat später das übrige. Gäste hatten sie immer.

Brigge hatte die Bahn erreicht und ließ die Mausi antraben. Es war alles einfach hier, aber so freundlich, die Natur war gleichsam liebenswürdig und entgegenkommend. Eine Reithalle besaß man natürlich nicht, aber die Heide lieferte gratis den schönsten, weichsten Sand für die Bahn, den man sonst teuer hätte bezahlen müssen. Und wieviel schöne Spazierritte gab es! Peter konnte man schon gut einem etwas zaghaften Reitgast auf dem andern Pferd mitgeben, wenn Schimmel oder sie selbst einmal keine Zeit hatten. Vielleicht schaffte man eines Tages noch ein Pferd oder zwei an. Der Stall war groß genug.

„Brigge, hallo!“ rief es vom Haus her. Es war Anselms Stimme. Was war denn schon wieder los? Konnte man nicht einmal eine Viertelstunde in Ruhe reiten? Brigge, ärgerlich, verhielt die Mausi und lauschte. Vom Pferd zurückrufen mochte sie nicht, Anselm sollte nur kommen, wenn es etwas Wichtiges war.

„Da ist ein Mann, Mutter“, verkündete er, zwischen den Sträuchern auftauchend und gleich wieder verschwindend. Brigge ärgerte sich. ,Da ist ein Mann –‘, das war doch keine Art. Dieser trat jetzt, sich etwas bückend, auf den Reitplatz heraus. Er kam vom Westen, hatte also die Sonne im Rücken und wurde überstrahlt, so daß man nur seine Silhouette sah. Trotzdem gab es Brigge einen Stoß am Herzen. Der Mann war Henner.

Henner! Und sie hier allein! Sie hatte oft gedacht, wie es sein würde, wenn ihr Mann eines Tages hier erschien, jetzt aber war sie doch im Augenblick hilflos. So ritt sie einfach weiter, bis sie an die Stelle kam, wo er im Hufschlag stand, und streckte ihm dann die Hand entgegen. Ihr Ring funkelte in der Sonne.

„Henner!“

„Brigge!“ sagte er leise. Er war auch befangen, und das gab ihr wieder Oberwasser. Trotzdem saß sie sogleich ab.

„Wie lange bist du denn schon da? Mein Gott, Henner, das ist aber nett!“

Sie standen, sahen sich an und senkten dann beide gleichzeitig den Blick. So also war dieser Moment, auf den Brigge jahrelang gewartet hatte. Sie hob den Kopf, um sich zu überzeugen, daß es Wahrheit war – und dabei vergaß sie alles andere über dem Gesicht des Mannes, der einmal ihr Mann gewesen war. Er war gealtert, kein Zweifel, grau, ein wenig gedunsen. Aber die Augen waren noch die gleichen, hell, fast farblos, wie Schimmels Augen. Henner!

„Die Mädchen haben mich hergeschleppt, Gisela und Schimmel“, sagte er, gleichsam erklärend. „Ich hab’ sie natürlich sofort erkannt. – Nein, aber Brigge, Anhalterfahren darfst du sie nicht lassen. Das ist so gefährlich – – –“

„Das dürfen sie auch nicht“, sagte Brigge schnell. „Haben sie gewinkt? Diese Rasselbrut –“

„Nein, eigentlich gewinkt haben sie nicht –“, er setzte dazu an, ihr die Situation zu erklären, und fing, wie es seine Art war, bei Adam und Eva an. „Also ich war in Celle und wollte – das heißt, ich wollte eigentlich nicht – oder doch, eventuell wollte ich schon –“

Brigge sah, wie Peter sich aus den Büschen schob, an derselben Stelle, an der Henner vorhin aufgetaucht war. Sie winkte ihm. Er war sofort da.

„Darf ich – bloß so zum Trockenreiten –“, fragte er, und sein ganzes, lachendes Gesicht war eine einzige Erwartung. Mutter war abgelenkt, vielleicht sagte sie ja?

„Als ob ich sie naßgeritten hätte! Mein Lieber! Meinetwegen. Aber nur hier in der Bahn, und im Schritt anreiten, verstanden?“

Peter angelte bereits mit dem nackten Fuß nach dem Steigbügel. Die Mausi war viel zu hoch für ihn, ein wahrer Eiffelturm. Brigge fuhr mit dem linken Arm durch den Zügel und hielt dem Jungen die verschlungenen Hände hin. Der Kleine schwang sich behend, etwas zu hastig, in den Sattel, nahm die Zügel auf. Brigge gab der Mausi noch einen zärtlichen Klaps auf die Kruppe.

„Daß du mir vernünftig bist, Madame“, ermahnte sie sie. Aber das war mehr Rederei als Besorgnis. Brigge war nicht ängstlich. Peter ritt an. Die Mutter folgte ihm mit den Augen, ihr Gesicht strahlte vor Stolz.

„Sitzt er nicht wie ein alter Kavallerist? Der wird mal ein Reiter. Er springt schon, ich weiß das. Neulich hab’ ich ihn heimlich beobachtet –“, sie rief sich zurück. „Alles Nebensache. Woher kommst du?“

„Heute von Hannover. Ich habe dort manchmal zu tun. Und ich weiß ja, daß ihr hier wohnt. Immer wollte ich dich mal besuchen“, sagte Henner und ging neben ihr her, dem Hause zu. Er bohrte bei jedem Schritt die Absätze nachdenklich in den Sand und sah auf seine Schuhe. „Aber jetzt –“

„Jetzt?“

„Das wußte ich nicht, und die Mädchen haben auch nichts davon gesagt“, sagte er leise, und es klang so, daß es ihr Herz schlagen ließ. Sie wußte genau, was er meinte. Trotzdem fragte sie natürlich:

„Was denn, Henner?“

„Daß du – daß du wieder geheiratet hast. Der andere ist doch auch deiner, der andere Junge, nicht wahr? Der dunklere? Er sagte vorhin: ,Mutter reitet.‘ Als er nach dir rief, rief er allerdings ,Brigge‘.

„Ja, die Bande! Sie nennen mich fast immer so, eine zuchtlose Jugend, aber da kannst du nichts machen, heutzutage. Fast alle Kinder nennen ihre Eltern jetzt beim Vornamen – oder bei Spitznamen, die manchmal auch nicht schmeichelhaft sind. Zu meiner Mutter sagen sie ,Omme‘, und ich hab’ mir das wahrhaftig auch schon angewöhnt. Und die Mädchen haben dich gleich erkannt?“

„Ich hab’ sie erkannt.“ Er glaubte, sich das schuldig zu sein. „Dein Mann, Brigge? Wo ist er? Ist er hier?“ Er fragte es mit Überwindung, sie merkte es genau. Und da packte sie der Einfall, ließ sie nicht wieder los. So ging es ihr manchmal. Sie konnte dann nicht anders und mußte ihm folgen, so verrückt er war. Heute war er sehr verrückt.

„Mein Mann braucht dich nicht zu kümmern“, sagte sie und schwieg dann. Auf diese Weise mußte er weitersprechen, und sie gewann Zeit, sich ihre Rolle zurechtzulegen.

„Dann fahre ich lieber wieder“, sagte er verhalten, „ich wußte das nicht, und ich verstehe nicht, daß der Rechtsanwalt mir das nicht mitgeteilt hat. Aber sei dem, wie ihm sei –“

„Du wirst ihm nicht begegnen“, sagte Brigge schnell, „nein, Henner, jetzt wieder ausrücken, das kommt nicht in Frage. Du mußt doch Omme begrüßen – sie ist noch ganz die alte mit ihren Zitaten und Aussprüchen –, nun, und die Mädchen sind sicherlich auch selig, daß du da bist. Du warst lange im Ausland, habe ich gehört? Hast du denn ein bißchen Zeit?“

„Ich habe mir welche genommen. Leicht war es nicht, eingespannt wie ich bin –“, das mußte er sagen, er war immer ein Wichtigmacher gewesen. „Aber einmal muß jeder Mensch ausspannen.“

„Sehr vernünftig.“ Brigge brachte es fertig, nicht zu lächeln.

„Und da erholst du dich in der Reiterpension Heidehof. Wunderbar. Ein Zimmer ist bestimmt für dich frei, wenn nicht, wird eins frei gemacht. Und du kannst reiten, deshalb kommst du vermutlich auch, jedenfalls mit deshalb? Zwei Pferde ist ja vorderhand nicht viel, aber vielleicht kannst du mir sogar raten; ob ich das dritte kaufen soll, ich hab’ eins in Aussicht, bin mir nur noch nicht darüber klar, soll ich oder soll ich nicht. Sag nur den Kindern nichts, die würden natürlich Hurra schreien. Es ist eine Stute, tragend – wir kaufen damit also praktisch zwei Pferde. Nur – ja, es wäre schon gut, einen Fachmann dabei zu haben – weil –“, sie fing an, sich in Einzelheiten zu verlieren, eifrig und lebhaft. So war sie immer gewesen.

Sie war überhaupt ganz die alte, fand er, völlig, – unsachlich, spontan, von Nebensachen erfüllt, wenn es um Hauptsachen ging. Da verbreitete sie sich über die Fesseln und die möglicherweise zu wenig schräge Schulter eines Pferdes, das sie vielleicht nie kaufen würde, und er ging neben ihr her, völlig erschlagen von dem , was er soeben erfahren hatte: daß sie wieder verheiratet war. Längst. Und zwei Söhne besaß.

„Entschuldige, Brigge, aber ich hab’ es mir überlegt, aber ich kann nicht hierbleiben, es geht nicht. Ich habe mich gefreut, dich und die Mädchen wiederzusehen, darum kam ich. Vielleicht paßt es ein andermal“, sagte er, als sie am Haus angekommen waren. Er sagte es rasch und wenig überzeugend. Brigge wischte es weg.

„Kommt nicht in Frage. Jetzt trinken wir erstmal einen ordentlichen Brummer, der wird dir guttun und Kopf und Herz freimachen.“

,Brummer‘, so hatte sie immer gesagt, wenn sie sich einen heimlichen Kaffee außer der Zeit gebraut hatten und ihren damals recht anspruchsvollen Töchtern entronnen waren. Die besaßen entschieden das Temperament der Mutter, und Henner entsann sich noch leicht schaudernd ihrer drei- und vierjährigen Lebhaftigkeit. Trotzdem ging ganz leicht und schnell ein Lächeln über sein Gesicht und machte es jung, weich und zärtlich.

Brigge wußte, daß sie gewonnen hatte.

„So, grüß Gott, tritt ein, bring Vorschuß rein“, sagte sie, ihn ins Haus ziehend. „Oder denkst du, in unserer erstklassigen Pension wird hinterher bezahlt? Nein, vorher und bar auf den Tisch des Hauses, wie in England. Nur du nicht, nein, du nicht“, sagte sie und lachte leise mit einem zärtlichen Unterton, der sein Herz anrührte … „Ich werde doch meinen – früheren – Mann nicht ungeatzt und ungetränkt wieder davongehen lassen. Kennst du mich denn gar nicht mehr?“

„Ich habe mir eingebildet, dich sehr gut zu kennen“, sagte er. Es klang ein wenig theatralisch, er merkte es selbst. Deshalb fügte er schnell hinzu:

„Du hast dich gar nicht verändert, Brigge.“

„Danke. Zehn Jahre jünger geworden, meine Gnädigste, würde ein Wiener jetzt sagen. Meintest du doch auch.“ Sie hatte ihn in die kleine Küche dirigiert, die ein wenig dunkel, aber sehr behaglich war, und schob den Kessel auf die Feuerstelle. Wahrhaftig, einen Herd gab es hier noch, der mit Holz – vielleicht auch mit Briketts – jedenfalls aber geheizt wurde, der eine richtige Feuerstelle hatte, aus der es rauchig roch, unsagbar anheimelnd, nach Holzrauch, und zwischen dessen Herdringen es rot hervorglühte. Der Kessel begann sogleich zu singen. Henner sah hin und erkannte ihn wieder – wahrhaftig, es war noch der alte! Der alte Kessel voller Erinnerungen.

„Ja, der Kater Murr! Der ist uns treu geblieben“, sagte Brigge, die seinen Blick sofort verstanden hatte, „er hat alle Veränderungen mit uns überlebt. Und nun sag du: wie geht’s dir? Du hast noch gar nichts erzählt.“

„Gut soweit.“ Das klang einsilbig. „Ich bin halt viel allein.“ Wieder eine Pause. Und dann, wie widerwillig hervorgestoßen, ganz etwas anderes: „Vertragen sich denn die beiden, ich meine, Gisela und Schimmel, mit ihren kleinen – nun, Stiefbrüdern? Ich möchte nicht, daß meine Töchter etwa auf Kosten dieser Söhne zu kurz kommen.“

„Ach, keine Sorge. Die Mädchen setzen sich durch, sind ja auch einiges älter. Manchmal kabbeln sie sich natürlich“, sagte Brigge und nahm zwei blaue Tassen vom Bord, stellte sie auf das weißgescheuerte Brett, schnitt ein paar Streifen Sonntagskuchen, der noch frisch auf dem Blech lag, herunter und gab Henner die Kaffekanne zu tragen.

„Wir setzen uns in den Garten, komm. Wenn wir Glück haben, sind wir noch ein Weilchen unter uns.“

Während der Kaffee zog, lief sie noch einmal ins Haus zurück und kam mit einem Stapel Fotos zurück.

„Die können wir uns inzwischen begucken. Da, das ist Gisela mit zwölf, süß, nicht? Eine richtige kleine Eva. Sie wird größer als ich, schlägt nach dir. Nur, daß sie dunkle Augen hat.“

„Und was für schöne Haare!“ sagte er schwach. Brigge lachte stolz. „Die pflegen wir auch. Nur das Offentragen ist doch sehr unpraktisch. Lang bis zum Gürtel und dann offen –“

„Ich finde, mit siebzehn sollte ein Mädchen die Frisur tragen dürfen, die ihm selbst gefällt“, sagte Henner heftig. „Gewiß gibt es praktische Gesichtspunkte, aber –“

„Na, findest du es etwa schön, wenn die Haare das halbe Gesicht verdecken?“ Sie selbst trug noch die alte Frisur, eine höchst unzeitgemäße Zopfschnecke im Nacken. Es paßte zu ihrem Typ, aber sie fühlte sich kritisiert.

„Die jungen Mädchen tragen es aber heute so. Du machst ihr da hoffentlich keine Schwierigkeiten!“

„Doch. Ich verlange wenigstens, daß es nicht in die Suppe hängt – und daß es immer gepflegt aussieht. Außerdem sollte sie lieber –“

„Was denn?“ fragte er streitlustig.

„– – in der Schule anständig sein und nicht nur an Schönaussehen und Frisuren denken“, sagte Brigge aufgebracht, „nichts als Ärger hab’ ich mit ihr. Wenn sie ihre Lehrer nicht kurz vor der Versetzung so unschuldig und schmelzend anlächeln würde, wäre sie längst sitzengeblieben.“

„Sie ist aber nicht“, sagte er trotzig. Brigge mußte lachen. Sie lachte, daß ihr die Tränen kamen. Er war ganz erstaunt über diesen Ausbruch.

„Laß nur“, wehrte sie ab, „ich sehe, du wirst dich nie ändern. Hier ist übrigens ein hübsches Bild von Schimmel, guck.“

Henner griff nach der Aufnahme und hielt sie neben Giselas Bild. Schimmel, ja, das war noch das Gesicht von früher. Sie sah seiner Schwester Hildegard auf diesem Bild sehr ähnlich, nach der sie hieß. Er sagte das, halblaut. Brigge legte ihre Hand auf seine.

„Sie hat auch ihre Augen – oder deine“, sagte sie leise und herzlich. Sie schauten zusammen das Foto an, ganz still. Man hörte das Summen des Spätsommers im Garten. „Was macht übrigens ihr Kind?“

„Es geht ihm gut. Der Vater hat wieder geheiratet, aber die neue Frau liebt den Kleinen. Sobald es mal klappt, hol’ ich mir den Jungen und fahr’ mit ihm an die See, oder sonst irgendwohin, wo es schön ist für das Kind.“

„Zu uns“, sagte Brigge sofort, „die Jungens werden ihn überall mit herumschleppen und auf die Pferde setzen, und Gisela und Schimmel erst recht. Gisela vor allem ist vernarrt in kleine Kinder. Schon mit den Jungen damals hat sie sich abgeschleppt, klein wie sie noch war, daß man es manchmal nicht mit ansehen konnte. Wie findest du die beiden überhaupt? Sind sie nicht ein Staat? Peter ist ja etwas klein, er schlägt nach mir, aber Anselm –“

„Wie alt ist er?“ fragte Henner etwas übereilt. Brigge nahm die Haube von der Kaffeekanne und sah angelegentlich hinein.

„Ob er genug gezogen hat? Damit wir nicht den ganzen Satz in die Tassen bekommen. So, gibt mir deine. Wie alt Anselm ist? Acht. Sieht älter aus, ja? Nimmst du Zucker?“

Er nahm keinen und hatte nie welchen genommen. Brigge füllte ihre eigene Tasse, Henner schwieg. Es war nicht einfach für ihn. Acht, Brigge mußte sehr schnell wieder geheiratet haben. Und nichts davon hatte er erfahren. Keine persönliche Nachricht, nur über den Rechtsanwalt manchmal etwas. Daß sie, obwohl er die Schuld auf sich genommen hatte, keinerlei Ansprüche stellte. Aus Dickköpfigkeit, so meinte er damals, jetzt aber dämmerte es ihm, daß es vielleicht auch Anständigkeit und Fairneß gewesen war – es ging ihm wirklich wirtschaftlich sehr schlecht. Er war dann ein paar Jahre in Amerika gewesen. Seit er zurück war und es ihm besser zu gehen begann, hatte er sich angewöhnt, monatlich etwas für die Töchter zu überweisen, auch durch den Anwalt. Von Gisela und Schimmel kamen, als sie älter wurden, kleine freundliche Dankschreiben, daran ein immer wiederkehrender, wenn auch kurzer Gruß von der Mutter, als Schlußformel, von den Kindern treuherzig hingemalt. Nie ein Wort von einem neuen Vater, nie eins von kleinen Brüdern. Und nun war er hergekommen, um einmal nachzusehen, wie es eigentlich um die Seinen stand. Das hatte er nicht erwartet, im ganzen Leben nicht.

„Bist du glücklich?“ fragte er aus diesem Zusammenhang heraus, und sie verstand ihn genau. Trotzdem tat sie, als meine er etwas anderes.

„Sehr. Sie sind famos, die Bengel. Und – siehst du, nun habe ich ihn doch Anselm nennen können, ätsch! Weißt du noch, unsere erbitterten Namensgefechte damals vor Giselas und Schimmels Geburt? Beide Male waren wir schließlich froh, daß es ein Mädchen war, also keiner von uns seinen Kopf durchsetzen konnte.“

Er lächelte etwas säuerlich.

„Jaja. Jetzt hast du es besser. Jetzt wirst du nicht mehr unterdrückt. – – Aber Anselm ist verrückt, ich meine: der Name.“

„Gar nicht. Das ist Geschmackssache. In seine Klasse geht zum Beispiel ein Eike, wie findest du das?“

„Eike ist ein nordischer Name, ganz bekannt.“

„Meinetwegen, aber bestimmt verrückter als Anselm. Außerdem gibt es dort noch einen Oki. Der heißt eigentlich Oskar Kilian, aber –«

„Na also, dann ist es eben eine Abkürzung.“

„Aber Anselm klingt schöner!“

„Finde ich nicht.“

„Aber ich!“

„Ich jedenfalls nicht.“

Sie sahen sich an, wütend, Brigge rot, mit blitzenden Augen, er mühsam beherrscht und, wie immer in solchen Augenblicken, blaß, fast weiß. Er war zehn Jahre älter als sie und ihr gewiß überlegen, dennoch hatte er es nie ertragen, wenn sie so stritt. Obwohl es ihr, zugegeben, gut stand.

„Außerdem finde ich es vor allem wichtig, daß der Vorname zum Nachnamen paßt“, trumpfte sie schließlich etwas unüberlegt auf.

„Und der ist?“ fragte er nach einer kurzen Stille. Brigge war im Augenblick verdutzt.

„Rate mal“, sagte sie dann frech.

„Raten. Du bist ein Kindskopf“, murrte er verärgert. „Wer kann einen Nachnamen raten! Lehmann – Schultze – Müller – soll ich dir das Adreßbuch aufsagen?“

„Ach, bitte, ja tu das doch!“ lachte Brigge, schon wieder obenauf, „wenn du Glück hast, komm’ ich in der ersten Hälfte dran, und du hast mal wieder gewonnen.“

Er schwieg verdrossen. Sie zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche ihrer Reithose.

„Da, nimm und vergiß. Rauch und vergiß. Und reit und vergiß. Heute – morgen – wann du willst. Wir können auch miteinander reiten, wie damals, in Sankt Peter.“

„Das ist übrigens Peter“, sagte sie gleich darauf ein wenig hastig und legte eine andere Fotografie neben die der beiden Mädchen, „du hast ihn dir vielleicht vorhin nicht so genau angesehen. Er ist ziemlich anders als Anselm, aber doch auch ein hübscher Kerl, oder findest du nicht? Eine so gescheite Stirn hat der Bengel.“

„Hm“, sagte Henner.

,Peter‘ hatte er damals gewollt. Eben weil sie sich in Sankt Peter kennengelernt hatten. Das aber konnte bei der nunmehrigen Wahl des Namens kaum bei ihr den Ausschlag gegeben haben. ,Peter‘, war zu Zeiten solch ein Modename gewesen und gerade deshalb hatte sie sich so dagegen gesträubt. Er mochte nicht fragen …

„Ich glaube, ich fahre doch wieder“, sagte er unbehaglich, „an die See – oder sonst irgendwohin –“

„Komm, trink noch eine Tasse. Immer noch übelnehmisch wie die Stricktante auf dem Sofa. Ach ja, Männer in diesem Alter ändern sich wohl nicht mehr.“

„Für einen Mann bin ich wohl noch nicht so alt“, sagte er beleidigt. „Und übelnehmisch – erlaube mal, wer hat schließlich angefangen?“

„Du!“

„Entschuldige: du!“

„Da lachen ja alle Hühner!“

„Also Brigge, ich möchte in aller Ruhe und Freundschaft doch feststellen, daß –“

„Da kommt Omme. Gottlob noch ohne den Kometenschweif der Gäste, Mutter, Henner ist da! Und er sagt, ich sollte das Haar tragen wie Gisela, stell dir vor! Kaum ist er hier, da mekkert er an mir herum, und ich habe ihn so nett empfangen, nett und liebevoll!“

„Brigge, ich habe lediglich gesagt –“

„Du hast gesagt –“

„Aber wir sprachen doch –“

„Kinder, Kinder, zankt ihr euch schon wieder!“

Omme, groß, gewaltig in ihren Ausmaßen, dabei aber durchaus behend, mit jetzt weißem Haar über dem frischen Gesicht, schloß Henner kurzerhand in die Arme.

„Großartig, Junge, daß du mal wieder nach uns siehst. Aber meinst du nicht, Brigge soll bei ihrer Frisur bleiben? Ich meine, jeder hat seinen Stil. Und gegen das lange offne Haar habe ich einiges, muß ich gestehen.“

„Ich ja auch. Wir sprachen von Gisela!“ erklärte er heftig. „Aber Brigge dreht einem ja das Wort im Munde herum! Immer hat sie das getan, jawohl, ich habe mich so oft darüber geärgert –“

„Seit ihrem zehnten Jahre hat sie nichts getaugt. Faust, Zeile eintausendeinhundertundelf. Nun laß es gut sein und gib Ruhe, wir freuen uns doch, daß du da bist. Schlecht siehst du übrigens aus, wir werden dich herausfüttern. Und ausruhen sollst du dich –“

„Ich will –“

„Er hat sich Urlaub genommen und kann eine Weile bleiben. Schön, Mutter, ja? Komm, wir machen ihm gleich das Zimmer zurecht. Dein Gepäck? Anselm kann es hinauftragen, wenn du es aus dem Wagen holst.“ Sie pfiff durch die Finger, konnte das noch wie früher. Anselm erschien mit einer erschreckenden Plötzlichkeit.

„Ja, meine Söhne parieren. Wär’ schlimm, wenn’s nicht so wäre. Trag die Koffer rauf, Junge, der Herr – Onkel Henner könnt ihr zu ihm sagen, du hast doch nichts dagegen, Henner? – gibt sie dir. Ich geh’ inzwischen –“

Es gelang ihr, Omme ins Haus zu ziehen, ohne daß Henner mitkam. Brigge drängte sie in die Küche und zog die Tür hinter sich zu. „Mutter, du mußt –“

Es gab ein langes Hin und Her. Aber Brigge siegte. Wenn sie wirklich etwas wollte, siegte sie immer, ob die Töchter, die Söhne, die Mutter gegen sie standen. Sie sprach und sprach, lachte und weinte. Ja, sie weinte auch ein bißchen. Nachher ging sie strahlend vergnügt hinaus und feuerte den Waschkessel an. Nun hieß es nur noch, die Mädchen und die Gäste zu informieren – es waren lauter herzlich befreundete, andere gab es im Hause nicht – und sich dann auf sein gutes Glück zu verlassen.

Es gelang. Die Mädchen freuten sich diebisch an dem Spaß, den ihre Mutter sich da ausgedacht hatte, und versprachen, eisern dicht zu halten. Brigge ging erleichtert und im Vollgefühl ihres Sieges zu Bett. Hauptsache, Henner blieb. Sie streckte sich genüßlich aus.

Bis ihr kurz vor dem Einschlafen einfiel, daß sie ja vergessen hatte, mit den Jungen über diese schreckliche Geschichte zu sprechen, die sie in der Illustrierten gelesen hatte. Und von diesem Mann, den sie an der Oerze getroffen hatte und der sein Gesicht so auffallend verbarg. Sie mußte es morgen sofort nachholen, durfte es nicht vergessen. Sonst aber – ach ja, das Leben war doch schön. Und Henner trotz seiner Widerborstigkeit und Streitsucht ein wirklich netter Kerl, ein wirklich – netter – Sie schlief.

Gisela und Schimmel hingegen schliefen noch nicht. Allzu aufregend war, was sie heute erlebt hatten: endlich einen Vater zu haben, der da war und mit dessen Person man sich auseinandersetzen konnte. Brigge hatte sie zwar zu Bett geschickt, aber schlafen konnten sie nicht.

Sie besaßen zwei winzige Dachkämmerchen im Giebel des Hauses, nebeneinander gelegen, in der Mitte die Trennwand senkrecht, die seitlichen Wände schräg. Eine Verbindungstür gab es nicht, so hatten sie sich in die Trennwand, die aus einer Preßplatte bestand, ein etwa zwei Hände großes Loch herausgesägt, in der Höhe ihrer Gesichter, wenn sie in ihren Betten lagen. Durch das konnten sie sich unterhalten, wenn sie schlafengegangen waren. Wollten sie nichts voneinander wissen, so zogen sie die Vorhänge zu, die sie sich aus demselben Stoff aus dem ihr Bettzeug bestand, zurechtgemacht hatten; Giselas war rotkariert, Schimmels blau. Heute waren beide Vorhänge zurückgezogen.

„Ich finde Vati prima, für sein Alter jedenfalls, bin nur gespannt, wie er reitet“, sagte Schimmel und angelte nach einem Kaugummi, den sie unter ihr Beistelltischen geklebt hatte, „jedenfalls gegen die Väter von denen aus meiner Klasse kann er sich sehen lassen.“

„Gegen die ja,“ sagte Gisela von drüben. Sie hatte sich schon mit ihrem Einschlafbuch auf die Seite gerollt und blätterte. „Übrigens – ich hab’ morgen keine Schule. Das heißt, ich hab’, aber nur Zeichnen, die andern Stunden fallen aus, weil die Meyern krank ist. Wegen Zeichnen fahr’ ich nicht. Brigge schreibt mir sicher eine Entschuldigung.“

„Du bist gemein“, rief Schimmel empört. „Nur wegen Vati. Ich weiß schon. Damit du dich bei ihm lieb Kind machen kannst, und ich bin nicht da.“

„Lieb Kind nicht, aber – natürlich wegen Vati. Ich bin gespannt –“

„Ich will auch – immer willst du –“, Schimmel kam gegen die Schwester nicht auf. Sie wußte nicht, ob deren Klassenlehrerin, also die Meyern, wirklich krank war, jedenfalls aber konnte sie nicht auch schwänzen. Hätte sie doch eher drangedacht!

„Brigge schreibt dir keine Entschuldigung. Letztesmal, als das Turnier in Bispingen war und wir hin wollten –“

„Da hat sie auch“, sagte Gisela, und man hörte richtig, wie sie grinste.

„Eben! Aber sie hat auch gesagt: Das ist das letztemal!“

„Das hat sie schon oft gesagt.“ Gisela lachte jetzt richtig schadenfroh und laut. Schimmel riß wütend den Vorhang vor. Aber was nützte das. Gisela würde morgen einen ganzen wunderbaren langen Tag mit Vati haben, und sie, Schimmel, mußte in die Schule. Es war so ungerecht auf der Welt und Gisela so gemein! Schimmel tastete sich lautlos aus dem Bett, schlich in den Bodenraum hinaus, wo hinter einem durchsichtigen Vorhang eine primitive Duschgelegenheit eingebaut war, und suchte. Einen Lappen, richtig naßgemacht, damit an Giselas Tür –

Aber als sie die aufmachen wollte, war sie verschlossen. Gisela hatte vorgesorgt. Schimmel bewegte die Klinke wütend auf und ab, und Gisela drin lachte triumphierend. Schimmel schmiß, klatsch, den Lappen auf die Erde und kroch in ihr Bett, zerfallen mit der Welt. Gegen ältere Schwestern ist nun einmal kein Kraut gewachsen.

*

Brigge, Frühaufsteher von Natur und auch durch lebenslanges Training, war zeitig am Morgen schon putzmunter. Henner war ein Langschläfer, der bis Mittag liegen bleiben konnte, was ihr unmöglich gewesen wäre, und seine Leistungsspitze erst nachmittags erreichte. Dann allerdings wurde er unternehmend und hielt lange durch. Das wußte sie natürlich alles noch genau.

Sie wußte auch, daß Henner, sobald er wach wurde, ans Weiterfahren denken würde. Dem mußte man zuvorkommen, und das tat man am besten mit einem solchen Frühstück.

So werkelte sie also in der Küche und war ganz einverstanden, als Gisela hereinschlenderte und verkündete, sie habe heute keine Schule.

„Gut, dann geh und deck den Tisch für die Gäste“, sagte Brigge zerstreut. „Jaja, ist schon gut, bekommst du. Nein, für Vati nicht mit, er frühstückt im Bett.“

„Ätsch! Ich krieg’ die Entschuldigung!“ rief Gisela Schimmel noch zu, die gerade das Haus verließ, um zum Schulbus zu rennen. Schimmel tat, als habe sie es nicht gehört. Das aber war ein schwacher Trost.

In der Küche sprühte Brigge sozusagen Funken vor Eifer. Es mußte ein Frühstück werden, wie es Henner seit Jahren nicht bekommen haben mochte, einfach unwiderstehlich, und so reichhaltig, daß es alle Lust aufzustehen einfach niederschlug. Ein internationales Frühstück – Grapefruitsaft, das war amerikanisch, und er war doch drüben gewesen. Dann Tee, Spiegeleier auf Speck und Toast, das war englisch, und schließlich zur Auswahl auch Kaffee wie in Deutschland, Schwarzbrot, Landbutter, weiches Ei. Vorzüglich. Niemand konnte nach solch einem Frühstück im Bett aufstehen, zumal die Zeitung dabeilag, was Henner sehr schätzte, vom Wegfahren sprechen. Es wäre stillos gewesen, und Henner hielt auf Stil.

„Du wirst sehen, Vati bleibt!“ sagte Brigge, während sie alles zurechtstellte. „Wir bringen es ihm gemeinsam, du und ich, müssen nur lauern, wann er aufwacht. Wecken tun wir ihn nicht. Seid nur nett zu ihm, verstanden?“

„Klar sind wir nett.“ Gisela lachte. Daß Erwachsene es doch nicht lassen konnten, einem immer wieder zu sagen, was sich von selbst verstand. Na ja, wahrscheinlich hing das mit der Verkalkung des Alters zusammen.

Nun hieß es, den Zeitpunkt zu erwischen, an dem Henner erwachte. Es gelang Brigge. Auf ihren Wink hin ergriff Gisela das beladene Tablett und sie selbst die beiden Kannen, Kaffee und Tee. Zwei schöne Frauen, schweres Geschütz für einen noch verschlafenen Mann. Henner blinzelte, vermochte aber nicht zu knurren.

„Wir gehen gleich wieder. Du kannst ganz in Ruhe frühstükken“, verhieß Brigge und stellte alles gefällig zurecht. Henner war ein Morgenschweiger (,Morgenmuffel’, hatte sie oft gedacht, es aber nicht ausgesprochen). „So, alles da? Gut, gut. Komm Gisela –“

Sie entschwanden. Henner seufzte behaglich, während er sich zurechtrückte. Er verschmähte den Tee und hielt sich an den Kaffee, der hervorragend schmeckte, und ließ seine Gedanken ein wenig kreisen. Die Töchter! Wie Gisela da eben zu ihm hereingelugt hatte, zärtlich und gespannt – einfach entzückend. Töchter zu haben ist doch wunderschön …

Freilich, solche wie seine mußten es sein. Hatte es jemals auf der Welt schon zwei solche Mädchen gegeben wie die seinen? Gisela schon ein bißchen Dame, das hatte sie von seiner Seite, Brigge war großartig, aber eine Dame würde sie nie werden. Und Schimmel noch so eine reizende Mischung aus Pferdejungen, Kind und erwachender Eva.

Nein, diesen Tag gab er zu, um der Töchter willen. Wenn es auch mit Brigge nicht ging – er hatte sich das Wiedersehen eben doch anders ausgemalt gehabt –, wenn es mit ihr auch immer Streit gab und geben würde: Da waren die Töchter. Vielleicht mußte man älter werden, um Töchter richtig würdigen zu können; er war damals doch enttäuscht gewesen, daß es keine Söhne waren. Brigge hatte jetzt Söhne, aber nun, ganz nette Bengels waren sie vielleicht, aber doch, ehrlich, gegen seine Töchter fielen sie ab. Henner lehnte sich im Bett zurück und schloß die Augen, merkte nicht, daß der Kaffee auf dem Tablett überschwappte, während er seinen Töchtern nachträumte.

Es gab eben doch eine Stimme des Blutes. Er hatte es oft abgeleugnet, wenn jemand davon sprach. Wo bitte blieb die Stimme des Blutes bei unehelichen Kindern? Sie schwieg in allen Sprachen der Welt. Und waren nicht nach dem Krieg viele Männer aus jahrelanger Gefangenschaft zurückgekommen und hatten ihren Kindern hilflos und fremd gegenübergestanden? Dennoch –

Man mußte es nur selbst erleben. Nie, nie im Leben war solch ein süßer und zärtlicher Strom durch sein Herz geflutet wie beim Anblick dieser beiden Mädchen, die ein anderer Mann vielleicht „recht niedlich, aber doch im ganzen recht durchschnittlich“ gefunden hätte. Durchschnittlich! Henner war auf den andern Mann, den er sich vorstellte, rechtschaffen wütend und hätte nichts dagegen gehabt, ihn heftig zur Rede zu stellen. Wie konnte jemand seine Töchter durchschnittlich finden!

Er lag und atmete tief. Er war so müde, dabei schmeckte der Kaffee stark und gut und hätte eigentlich munter machen müssen. Nun ja, gestern abend war er lange nicht eingeschlafen, zu vieles war ihm durch den Kopf gegangen. Er wollte auch jetzt nicht wieder schlafen, sondern weiter an die Mädchen denken, an Giselas schönes, weiches Haar, aber Schimmels blanke braune Beine – –

„Na also! Genau wie ich voraussagte: Kaffee Hag schont dein Herz und deinen Schlaf. Zumal wenn man sowieso abgehetzt ist wie ein Droschkengaul. Und gematscht hat er auch. Vorsicht, Gisela! Halt das Tablett gerade, sonst läuft es über den Rand und doch noch aufs Bett. Igitt, die Männer! Schlafen ein mit dem Frühstück auf der Heldenbrust statt im Magen!“

Gisela lachte, während sie den Vater vorsichtig von seiner Last befreite.

„Wollen wir ihn nicht wecken?“

„Kein Gedanke, im Gegenteil, gut, wenn er weiterschläft. Er kann nachessen, um so besser. Er ist Privatgast und braucht nicht am allgemeinen Tisch mitzuessen.“

Gisela fand das schade. Sie verstand ihre Mutter in diesem Punkt nicht. Vater war endlich da, nun sollte er auch vorgeführt werden, den Gästen, den Leuten in der Stadt, allen. Nicht, daß sie ihn bildschön fand, aber er hatte solch zärtlichen und verschmitzten Zug um die Augen, wenn er einen ansah. Und erzählen konnte er, das wußte sie noch von früher. Niemand konnte so erzählen wie er. Und alles hatte er selbst erlebt.

Gestern hatte er natürlich vor allem mit Mutter sprechen wollen. Aber heute gehörte er ihr, deshalb hatte sie ja auch Schule geschwänzt. Und nun verschlief er bereits die erste Hälfte des Tages. Er verschlief sie wirklich. Erst am Nachmittag erschien er unten, ein bißchen gekränkt, daß sich keiner um ihn gekümmert hätte, aber doch bald versöhnt, als Gisela ihm ein wunderbares Essen servierte. Schimmel, die ja nun auch wieder da war, saß leider daneben, Gisela hatte also keinen Vorsprung von ihrer Mogelei gehabt, ätsch! In einem aber waren sie einig: Jetzt mußte Vati mit zur Reitbahn. Brigge hatte doch erzählt, wie gut er ritt.

„Brigge?!“

Ja, sie sei fort, mit den Jungen. Zum Baden, hätte sie gesagt. Und sie hätte auch gesagt, Vati bliebe ja noch. Sie sollten schön grüßen.

„Danke“, sagte Henner, ein wenig verärgert. Immerhin, nun hatte er Zeit für die Töchter. Sie sahen mit Spannung zu, wie er aß, und kaum hatte er die letzte Mirabelle des vorzüglichen Kompotts verschluckt, als sie schon Teller und Bestecke an sich rissen und in Eile fortbrachten, um ihn dann in ihre Mitte und zum Stall mitzunehmen. Heute ritten keine Gäste, gottlob! Überhaupt, die Gäste!

„Ich wünschte, wir hätten keine!“ murrte Schimmel unter dem Pferdebauch hervor, wo sie nach dem Gurt fischte, „immerfort wollen sie rauf. Und wir?“

„Ich denke, dazu habt ihr die Pferde? Für die Gäste?“ fragte Henner und streichelte die Nase von Prinz.

„Ja, leider. Wenn ich später mal ein Pferd hab’, laß ich keinen andern rauf“, sagte Gisela. Henner sah sie an.

„Auch mich nicht?“

„Doch, dich ja!“ sage Gisela schnell und verschämt. Schimmel dagegen wiegte den Kopf.

„Kommt drauf an, wie du reitest“, sagte sie sachlich, „jemand kann furchtbar nett sein und im Sattel unmöglich. Man will sein goldiges Pferd doch nicht verderben lassen, das ist doch klar.“

„Erlaube, verderben!“ sagte der Vater. Er war tatsächlich etwas gekränkt. Schimmel merkte es.

„Na, ich meinte ja nur so im allgemeinen“, sagte sie und sah ihn von unten her an, „übrigens sagte Brigge ja, du rittest fabelhaft“, setzte sie erleichtert hinzu.

„Hat sie das gesagt?“

„Ja, und was für ein Jäger du wärst! Und vielleicht könntest du hier auch auf die Jagd. Sicher sogar. Wir kennen den Forstmeister.

Henners Gesicht hellte sichtlich auf. Vergnügt folgte er den Töchtern, die, rechts und links vom Pferdekopf, die Box verließen. Die Mausi prustete und schüttelte den Kopf. Er ging noch rasch zu ihr hin und liebkoste sie. Ach, was tat es wohl, wieder Pferde zu fühlen, Pferdestall zu riechen, Sattelzeug in der Hand zu spüren. In geborgten Reithosen – die Mädchen hatten sie ihm übereifrig gebracht, Stiefel hatte er selbst mit – ging er den dreien nach. Er war sich darüber klar, daß er jetzt eine Prüfung zu bestehen haben würde, und obwohl es ihm ein wenig lächerlich vorkam, saß doch etwas Lampenfieber darunter. Kennt man ein neues Pferd? Jedes ist ein neues Abenteuer, eine neue Aufgabe. Und blamieren wollte er sich auf keinen Fall.

Aufgesessen. Im Schritt angeritten. Ach, alles fiel im Nu von einem ab. Das Pferd versammelt, immer mehr, jetzt hatte der Prinz schon einen schönen Kragen, trug die Nase ein wenig vor der Senkrechten, und jetzt trabte er an. Wie weich, wie weich er warf und fing, warf und fing! Wie er die Beine zu strecken begann, die Ohren aufstellte, als wollte er auf Zuruf oder Flüsterwort oder Zungenschlag lauschen – oh, es war eine Wonne! Schimmel und Gisela standen still beiseite und sahen andächtig zu. Erst als Henner nach einem schönen, weichen Galopp durchparierte, den Prinz im Schritt gehen ließ und ihm am langen Zügel den Hals klopfte, kamen sie heran.

„Wunderbar, Vati, und jetzt ich!“ jubelte Schimmel. Aber Gisela machte vom Vorrecht ihrer Erstgeburt Gebrauch und siegte nach kurzem Schwesternkampf. War es zu glauben, daß diese beiden Pferdemädchen noch etwas lernen konnten? Oh, viel, viel, kein Reiter lernt je aus. Henners Gemüt badete in einem See von Vater- und Lehrergefühlen.

Zuletzt wurde ihm sogar noch vergönnt, was er sich heimlich die ganze Zeit über gewünscht hatte: Er saß gerade zu Pferde, als Brigge mit den Jungen erschien. Nun konnten sie ihn bewundern. Stolz bescheiden saß er schließlich ab und begrüßte sie.

„Na also!“ strahlte Brigge. Peter jedoch, Prinz am Zügel haltend, sagte im Abgehen trocken:

„Gut, daß du so ein Gewichtsträger bist, Prinz. Leute mit Bauch sollten eigentlich nicht reiten, finde ich.“

Brigge war sich nicht ganz klar darüber, ob Henner es gehört hatte. Sie bummelten ein Stück in die Heide hinein. Keiner sagte etwas. Die Mädchen folgten im Abstand.

„Ihr dürft euch verziehen, habt heute genug von Vati gehabt“, winkte Brigge. Ihr war ein wenig unheimlich zumute. Gestern war alles glatt gegangen, ja, tadellos, aber das konnte man nicht jeden Tag erwarten. Sie ahnte sozusagen die schlagenden Wetter voraus. Als sie sich ins Gras setzten, sah sie, daß es um Henners Mund bebte.

„Aber Henner. Hast du dich geärgert, über Peter?“ fragte sie erschrocken.

„Nein, über dich. Entschuldige. Du hättest ihm eine langen sollen, ganz abgesehen davon, daß ich doch wahrhaftig keinen Bauch habe. Aber eine solche Frechheit einem fremden Herrn gegenüber – –“, er war ernstlich erbittert. „Meine Töchter hätten das nie fertiggebracht. Das verstößt gegen den Takt, den Herzenstakt. Meine Töchter sind –“

Brigge mußte lachen und fälschte das im letzten Augenblick in ein Niesen um. Es gelang. Sie hörte Henners Erziehungstheorien geduldig und demütig an. Jedenfalls, solange sie noch ihre Lachgrübchen beherrschen mußte. Als sie sie wieder an der Kandare hatte, wurde es ihr zu bunt.

„Nun laß schon. Jungens sind nun mal so. Flegeljahre. Das kann man nicht ändern.“

„Erstens“, dozierte Henner, „kommen die Flegeljahre erst später, so zwischen dreizehn und fünfzehn, und zweitens ist das zwar ein bedauerliches Alter, aber es muß von den Erwachsenen nicht hingenommen, sondern pariert werden.“

„Ach ja. Ich werde es von jetzt an also tun“ sagte Brigge, so friedlich wie möglich, und lehnte sich zurück, „sieh doch den Himmel! Mein Gott, was ist das heute wieder für ein Tag!“

Sie lag dicht neben ihm, er fühlte ihren Arm an seiner Hand. Ihre Haut brannte vom Baden in der kalten Oerze und war gleichmäßig braun, so braun wie Samt.

Henner fühlte eine unbestimmte Traurigkeit in sich aufsteigen. Der strahlende Tag unterstrich dieses Gefühl noch. Strahlend, ja, aber nicht mehr für ihn. Nicht für ihn.

„Du, ich bin so froh, daß du gekommen bist, na, und die Mädchen strahlen nur so. Wir wollen es uns schön machen“, sagte sie leise. „Du wirst viel schlafen, und reiten kannst du, so oft du willst. Und sonst gar nichts, gar nichts tun – sollst mal sehen, wie dir das bekommt.“

,Sonst nichts?‘ dachte Henner. Natürlich, sonst nichts. Aber war das nichts, hier in der stillen Heide mit Brigge zu liegen, ganz allein, ganz still, und ihre braune Haut anzusehen, ihre dunkle Stimme zu hören, sich, wie ehemals, darüber zu wundern, wie das Haar hellblond neben dem Ohr ansetzte und sich dann, etwas verdunkelt, in Honigfarbe verwandelte, ganz sanft im Übergang –

„Brigge?“ fragte er leise. Sie hatte die Augen geschlossen.

„Mhm?“

„Hast du denn Zeit für mich?“

„Natürlich.“

„Brigge –“

„Ja –“.

Da fuhr es aus den Büschen, indianerhaft angetan und mit bunten Federn im Schopf, die Gesichter mit Tuschfarbe angemalt.

„Hurra hurra! Ihr seid gefangen und kommt jetzt an den Marterpfahl!“

„Erstens –“, setzte Henner an, „schreien Indianer nicht hurra, und zweitens –“, aber er kam nicht weiter mit seinen Belehrungen. Mit der Ruhe war es jedenfalls vorbei.

Vorbei? Immerhin, ein noch junger Mann – nun. gerade, dachte Henner und reckte sich, – ein noch junger Mann braucht nicht pausenlos Ruhe. Und mit Kindern wird man am ehesten fertig, wenn man sich gut mit ihnen stellt, sich bei ihnen beliebt macht. Dann gehen sie für einen durchs Feuer. Auch fremde; mit seinen Töchtern war das natürlich ganz etwas anderes. Die hatte er sowieso und sofort gewonnen, das fühlte er. So stand er elastisch auf – Bauch, kein Gedanke, und außerdem kann man ja etwas dagegen tun – rief die beiden Siouxe mit heuchlerisch freundlicher Stimme an seine Seite und begann ihnen zu erzählen. Was er in Amerika gesehen und erlebt hatte, wie er in der Tatra auf Gemsen gegangen war, und daß er seine allererste Kindheit in Afrika verlebte.

Das war etwas! Peter und Anselm spitzten die Ohren und drängten sich rechts und links neben ihn, Brigge ging hinterher – der Pfad war schmal – und hörte mit halbem Ohr zu. Sie hatte einen Grashalm im Mund und lächelte, ihr ganzes Gesicht war ein einziges Lächeln. Alles in Ordnung, alles in allerschönster Ordnung – – –

*

So ganz in Ordnung blieb es nicht. Nicht alles – Brigge entwikkelte zwar eine bewundernswerte Fertigkeit, die Kinder immer wieder anderweitig zu interessieren, denn so ohne weiteres wegschicken ließen sich weder Jungen noch Mädchen. Am besten, man stellte Henner sicher, brachte ihn möglichst außer Sichtweite, das war weniger anstrengend.

„Wir setzen uns ein bißchen zu mir“, sagte sie also, als sie das Haus erreichten, „die Gäste kann die Omme übernehmen. Komm, ich habe einen Winkel für mich, den ich sehr liebe und auch verteidige, das sogenannte Schreibzimmer. Dort darf man mich nur stören, wenn das Haus abbrennt.“

Sie traten ein. Das Zimmer war winzig, aber von einer Gemütlichkeit, die jeden sofort umfing. Ein Sofa hinter einem ovalen Tisch, auf dem ein Strauß Dahlien in Rosa, Dunkelrot und Orange glühte, schräg am Fenster ein alter Sekretär. Brigge schloß die heruntergeklappte Platte ein wenig hastig und war sichtlich verlegen. Henner tat, als habe er nichts gesehen. In der mittleren Vertiefung des altmodischen Kirschbaum-Möbels hatten seine scharfen Jägeraugen ein Bild entdeckt, handhoch, silbergerahmt. Wahrscheinlich Brigges Mann. Nun ja. Henner suchte nach seiner Zigarettentasche.

Brigge nötigte ihn aufs Sofa, was er erst ablehnte, dann aber nicht bereute. Es saß sich wunderbar darin, weit besser als auf einer modernen Couch, zumal Brigge sich auf die Seitenlehne gesetzt hatte, während sie, ein wenig zurückgebeugt, aus einer kleinen Eckvitrine nach Gläsern und einer Flasche angelte. Es war sehr eng hier, aber keineswegs unangenehm.

„Herein?“

,Sicherlich die Jungen!‘ dachte Henner erbittert, obwohl er sich hätte sagen müssen, daß diese bestimmt nicht geklopft hätten. Sie waren es auch nicht. Es war ein sehr großer, schlanker Herr mit schneeweißem, sorgfältig gescheiteltem Haar, das dem schmalen Schädel gut stand. Brigge stellte vor, Henner verstand den Namen nicht, nur daß ein ,von‘ davorstand, hörte er, und das hätte er auch so gemerkt. Brigge nannte den Besucher, Baron’. Sie erzählte einiges von ihm, daß er aus Ostpreußen stammte und hier mit dem Forstmeister gute Freundschaft hielte, so daß er immer ins Revier dürfte.

„Er wird dich mitnehmen, nicht wahr, Baron?“ fragte sie freundlich. „Henner ist ein großer Nimrod vor dem Herrn, Sie werden sich herrlich mit ihm verstehen –“, sie unterbrach sich und fischte umständlich nach etwas, was seitlich hinter dem Sofa stehen mußte. „Henner kam ganz überraschend, denken Sie, Baron. Ja wir kennen uns von früher, ein alter Freund unseres Hauses.“

Sie rückte den Strauß ein wenig weg, damit sich alle drei sehen konnten während der Unterhaltung. Dabei plauderte sie weiter. „Meine Mutter ist ganz außer sich vor Freude, daß er kam und daß sie ihn verwöhnen darf. Zehn Jahre ungefähr nicht gesehen, ein Wunder eigentlich, daß man einander noch erkannte –“, sie kniff Henner ein Auge und lachte. Er lachte nicht. Freund des Hauses – diese Art paßte ihm nicht. Hatte er das verdient?

Brigge füllte die Gläser, und man trank. Erst waren beide etwas reserviert, dann kamen sie auf Jagdliches, und da tauten sie auf. Brigge schwieg. Sie hatte kleine Funken in den Augen.

„Prost, meine sehr verehrte Schönste!“ sagte der Baron plötzlich, sich unterbrechend, und trank ihr zu, „liebe Frau Brigge –“

„Kommt jetzt eine Rede?“ fragte Brigge belustigt.

„Ach nein. Ich kann nicht reden. Ich kann nur handeln. Wir Ostpreußen sind so. Wenn ich mir vorstelle –“

„Tun Sie es nicht, Baron. Keine Vorstellung, bitte! Ich habe übrigens einen Jägermeister da, einen viel besseren Tropfen als diesen Wacholder.“ Sie ging um den Tisch, öffnete den Sekretär und nahm eine Flasche heraus.

„Den Jägern zu Ehren angeschafft“, lächelte sie und goß ein. „Prost, Jägermeister.“

„Gehorsamsten Dank! Ich weiß die Huldigung zu würdigen. Frau Brigge hat eine entzückende Art, jedem das seine zuzuteilen“, sagte der Baron und sah Henner ein wenig mitleidig an. Der fühlte einen unverhältnismäßigen Zorn in sich aufsteigen. Jetzt sagen können: ,Ich bin zwar Minister für Land- und Forst-Wirtschaft in Niedersachsen, möchte aber, lieber Baron, hier inkognito bleiben, das werden Sie verstehen –‘

„Ich meinte allerdings die Jäger, Baron“, lachte Brigge, „Henner ist ein sehr großer Waidmann mit viel Erfahrung und noch mehr Passion –“

„Bitte entschuldige mich für eine Weile. Ich habe Gisela und Schimmel noch nicht gute Nacht gesagt“, sagte Henner nach einer kleinen Zeit und stand auf. Mochte der andere nur merken, daß er kein Fremdling war. Er ging. Brigge sah ihm nach. Wußte er, wo die Mädchen noch wohnten?

Er wußte es nicht, traf aber Omme. Sie sagte ihm gutmütig Bescheid.

„Vati!“ schrie Schimmel selig, als er, nach kurzem Klopfen, den Kopf durch den Türspalt steckte. Sie lag schon im Bett, Gisela auch. Die aber kam sofort herübergerannt, im bunten, kurzhosigen Schlafanzug, und kroch zu Schimmel hinein. Henner zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

„Na, ihr beiden?“ fragte er zärtlich.

„Das ist aber lieb, daß du noch kommst, Vati. Wir haben nur von dir gesprochen.“

„Und ich nur an euch gedacht. Unten ist Besuch, ein Baron –“, er verzog ein wenig das Gesicht, das sah so komisch aus, daß beide lachen mußten. „Da hab’ ich mich lieber verzogen. Zu euch.“

„Fein, Vati. Der Baron – ja, der ist ganz nett. Sonst sitzt er meistens bei Omme. Er hat einen Dunkelfuchs, führt ihn im Dogcart. Reiten tut er nicht mehr. Blöd, nicht mehr zu reiten. Aber – – er wohnt beim Forstmeister, der hat einen Stall am Haus …“

„Den Fuchs möchte ich mal reiten“, sagte Schimmel verträumt, „er ist zu schade für den Wagen. Hoch im Blut, Araber drin, bestimmt, aber keine Papiere. Ich finde, wenn man fährt, braucht man keine Papiere. Aber wenn man reitet –“

„Hat die Mausi Papiere?“ fragte Henner etwas unüberlegt. Beide sahen ihn mitleidig an.

„Klar. Denkst du, Brigge kauft ein Zufallspferd? Und wir wollen sie ja auch decken lassen, nur müssen wir da erst ein drittes haben, weil sie doch dann eine Weile ausfällt und nicht geritten werden kann. Brigge hat schon eins in Aussicht – – –“

Sie nahmen einander das Wort vom Mund vor Eifer. Henner saß dabei, hörte zu und dachte an anderes. Schließlich stand er auf.

„Nun schlaft schön. Morgen reiten wir wieder –“

„Vati ist klasse“, seufzte Schimmel, als er gegangen war, „nun schieb ab, los! Ich will schlafen –“

,Ja, klasse‘, dachte auch Gisela, während sie aus Schimmels Bett kroch und hinüber in ihr Zimmer ging. ,Morgen abend muß er aber zu mir kommen. Er müßte immer hier sein …‘

Der Baron verabschiedete sich gerade, als Henner herunterkam. Brigge ging mit ihm bis zur Haustür. Es dauerte reichlich lange, bis sie wiederkam, fand Henner.

„Na?“ fragte sie lächelnd. Dieses ,Na‘ brachte Henner um den Rest seiner erzwungenen Fassung.

„Brigge, erlaube. Meine Meinung ist zwar für dich nicht maßgebend, aber als – nun, als alter Freund des Hauses, wie du mich zu betiteln beliebtest, kann ich nur sagen, ich finde dein Benehmen doch sehr – merkwürdig. Läßt dir hier den Hof machen von solch einem alten Knacker – milde gesprochen –“

„Er ist nicht viel älter als du“, sagte Brigge und gähnte, „Aussehen kann sehr täuschen. Ich habe ihn nie nach seinem Geburtsschein gefragt. Ich mag ihn eben, eigentlich kommt er Ommes wegen. Wie ich mich benommen habe? Gar nicht. Geredet habt ihr.“

„Bitte nenne mich nicht mit diesem – diesem Herrn in einem Atemzug. Was sagt übrigens dein Mann dazu?“

„Wozu?“

„Daß solche – solche Existenzen, will ich mal sagen, dir hier den Hof machen und um dich balzen –“

„Mein Mann? Der sitzt dabei“, sagte Brigge lakonisch. Sie hatte die Stehlampe ein wenig gedreht, so daß ihr Gesicht außerhalb des Lichtkreises war. „Trink noch einen, Henner, komm.“

„Aber keinen Jägermeister“, sagte er grantig.

Sie lachte. „Ich habe auch Vollblut da. Erinnerst du dich?“

Sie hatte eine Flasche geholt und goß ein. Blutrot floß es in die Gläser. Henner schwieg.

Sein aggressiver Ärger war einer plötzlichen Schwermut gewichen. Vollblut hatten sie getrunken, damals, in Sankt Peter, am ersten Abend ihrer Bekanntschaft, Es war nett von ihr, das nicht vergessen zu haben, aber es tat doch weh.

„Geh schlafen, Henner“, sagte Brigge sanft und ganz ohne Ironie, „du mußt viel nachholen – an Schlaf. Ich werde dafür sorgen, daß niemand dich stört.“

*

Sie sorgte dafür. Henners Zimmer lag abseits der anderen, er konnte seinen Morgenschlaf genießen, so lange er wollte. Und da man ihm am ersten Morgen seines Hierseins das Frühstück ans Bett gebracht hatte, war es logisch und zu verantworten, daß er nicht abschloß. Wozu auch – nein, er versperrte seine Tür nicht. Es war doch möglich – –

Es war nicht möglich, sondern wurde Tatsache. Henner, früh erwacht, hatte sich gewaschen und rasiert und dann noch für einen kleinen Nachschlaf – oder auch nicht dafür – ins Bett gelegt. Das Fenster stand offen, und die schönste Morgenluft, schon herbstlich herb und hellgolden, strömte herein. Henner hatte seinen besten, mattblauen Schlafanzug an und wachte auf, als Brigge am späten Vormittag zu ihm hereinschlüpfte, heute ohne Gisela.

Sie lächelte ihm zu, frisch wie der junge Morgen, und setzte sich auf seinen Bettrand. Und sie war warm und gut und kein bißchen spitz und streitbar, sondern in einer weichen und freundlichen, man konne fast sagen: zärtlichen Laune. Henner fühlte ihre kräftige, breite kleine Hand in der seinen und schloß die Augen.

Gerade da brüllte es „Brigge!“ draußen auf dem Flur. Sie seufzte resigniert und übersah seine ägerlichen Stirnfalten.

„Die Jungen“, sagte sie, „einen Augenblick.“

Peter hatte sich den Fuß aufgerissen. Ja, an einem rostigen Nagel, und da mußte man wohl –

Man mußte, leider. Brigge brachte Henner zwar noch das Frühstückstablett, war aber mit ihren Gedanken schon beim Doktor und der nun fälligen Tetanusspritze.

„Obwohl du nicht zu denken brauchst, der Junge machte Theater. O nein, da kennst du meine Söhne nicht. Sind ja lausefrech, aber bei so was tadellos, sag’ ich dir. Er muckt nicht, darauf kannst du dich verlassen.“

Henner widersprach nicht, aber seine Teilnahme an dem Unfall blieb lau. Mußte der Bengel gerade diese Morgenstunde so blutig unterbrechen? Selbstverständlich hatte er das nicht mit Absicht getan, aber der Zeitpunkt war wenig erfreulich gewählt.

„Nun bin ich mittags nicht da“, sagte Brigge, „aber das macht nichts.“

Das macht nichts. Immer hatte sie so gesagt, bei tausend Gelegenheiten. Wenn statt eines Jungen ein Mädchen kam, wenn Henner geschäftlich Pech hatte, wenn sie selbst eine nötige Adresse verbummelte und dafür das Rezept eines englischen Kuchens eingesteckt hatte, der ihnen beiden nicht schmeckte und den sie nie backen würde. Das macht nichts. Ändern Frauen sich denn nie?

„Wir essen dann zusammen nach, du und ich, schlaf noch mal rum, das ist das beste für dich.“

Hinaus war sie. Was blieb ihm übrig, als seufzend zu tun, was sie sagte?

Es wurde kein guter Schlaf. Und es wurde kein guter Tag. Obwohl Omme ihn fürstlich bewirtete, obwohl eine wundervolle, klare Herbstsonne über dem Garten lag, obwohl am Nachmittag die Mädchen auftauchten, schlank und braun und mit blanken Augen. Brigge hatte so wenig Zeit.

Das war verständlich, sie war ja Hausherr und zur Hälfte auch noch Hausfrau hier. Zwar dachte sie wohl an Henner, brachte ihm einen Stapel Jagdzeitschriften, bedachte ihn mit einem extra guten Kaffee und sorgte noch mit anderen Kleinigkeiten immer wieder für sein Wohlbefinden. Aber er war eben Gast hier, und das tat weh. Gast in dem Hause, in dem er Hausherr und Vater hätte sein können.

,Ich reise ab‘, dachte er zum soundsovielten Male. Aber er dachte es mißmutig und vorwurfsvoll und ohne Entschlußkraft. Nachmittags ging er in den Ort, um zu telefonieren. Das mochte er nicht von hier aus tun, da alle Wände hier Ohren zu haben schienen. Dabei ärgerte er sich, daß es nichts zu ärgern gab; sein junger Mitarbeiter und Kompagnon schien sich gut zu bewähren. Also keinerlei Anlaß, als vielbeschäftigter Gechäftsmann mit bedauerndem Achselzucken abreisen zu müssen. Manchmal war es doch verteufelt dumm, daß das Leben einem freie Bahn gab, statt einen in eine neue Richtung zu zwingen.

Er ging ein bißchen verloren umher und landete an der Reitbahn, wie zufällig, im Grunde natürlich, weil es ihn zu den Pferden zog, wenn ihn die Menschen enttäuschten. Zwei der weiblichen Gäste ritten. Er kannte sie noch nicht. Schimmel war dabei, sie hing sich sofort zutraulich bei Vati ein und fragte ihn aus. Henner antwortete. Wie von selbst ergab es sich, daß er den beiden Reitenden kleine Ratschläge und Anweisungen gab. Er fühlte, wie Schimmel vor Stolz glühte, als er das ruhig und sachgemäß tat. Die eine der Reiterinnen, eine schlanke, auf die Entfernung recht ansehnlich wirkende Person, ließ sich von ihm nach einer Weile die Bügel kürzer schnallen. Sie hatte dunkle Augen und ein bräunliches, gutgeschnittenes Gesicht. Nach einer Weile saß sie ab und ließ Schimmel reiten, die nur darauf gelauert hatte. Dann aber wollte sie den Prinz wiederhaben und springen, weil die andere Reiterin auch sprang. Das sah leicht und selbstverständlich aus, und sie sagte, sie wäre als Kind auch gesprungen, sogar ohne Sattel und Bügel.

Schimmel saß gehorsam ab und legte das Rick niedriger. Es war klar, daß man dies sozusagen als ersten Versuch werten mußte, was hieß schon ,als Kind‘. Die andere Reiterin brachte die Mausi gut und flüssig hinüber. Fräulein Wiegand, wie Schimmel sie nannte, brannte darauf, es ihr auf Prinz nachzutun. Schimmel umspannte Vatis Handgelenk.

„Er tut es manchmal nicht“, flüsterte sie, „er merkt genau, bei wem er es sich leisten kann, zu verweigern. Die kann doch nicht reiten, das sieht man doch!“

„Wollen Sie wirklich? Vielleicht kennen Sie das Pferd noch nicht gut genug?“ fragte Henner vorsichtig.

„Ach was, ich stamme aus Westfalen. Da kommt man sozusagen zu Pferd auf die Welt“, sagte sie, sich selbst überredend. „Und was liegt daran, wenn ich mir den Hals breche, um mich weint niemand, Angst jedenfalls hab’ ich nicht“, lächelte sie zu Henner hin, „heißt es nicht: Wirf dein Herz voran und spring nach?“

Sie galoppierte an. Henner hatte ihr genau gesagt, daß sie erst treiben und kurz vor dem Sprung Luft geben und wie sie es nach dem Sprung wieder aufnehmen solle. Der Prinz kam gut aus und sprang. Fräulein Wiegand strahlte. Und Henner fiel ein Stein vom Herzen, denn er hatte sich ernstlich Sorgen gemacht.

„Jetzt ich, Vati!“ bettelte Schimmel. Henner fühlte ein wenig Angst um sie, mochte es sich aber nicht anmerken lassen. ,Wenn sie ein Junge wäre, würde ich es auch erlauben. Außerdem tut sie es zweifellos auch, wenn keiner zusieht‘, dachte er. Ein Vater darf nicht ängstlich sein.

Schimmel sprang. Sie sprang ganz anders als Fräulein Wiegand, das war natürlich nicht verwunderlich. Sie kannte das Pferd und saß nicht drauf, sondern war mit ihm verbunden, man sah das vor allem nach dem Sprung, als sie wie angesaugt in den Sitz glitt.

„Darf ich mal ohne Sattel?“ fragte sie mit blinkenden Augen. Henner nickte. Sie nahmen den Sattel herunter, und Schimmel sprang, ohne seine Hilfe zu benötigen, auf den Pferderücken. Ihre nackten Beine schmiegten sich an das Fell.

„Los, Prinz, nun wollen wir mal!“

Es war eine Wonne, das zu sehen. Federleicht, mit kurzem Oberkörper und langen Beinen, das werden die besten Reiter. Henners Mund zog sich von einem Ohr zum andern vor Stolz. Und nun wollte er auch springen.

Er sattelte wieder, ließ Prinz ein paar Runden im Schritt gehen, sprach mit ihm, bekam ihn gut an den Zügel. Dann rief er: „Leg auf! Einen Meter.“

Schimmel und Fräulein Wiegand liefen und gehorchten. Sie blieben neben dem Rick stehen. Henner ließ den Prinz darübergehen. Der tat, als wären es höchstens siebzig. Aus den Augenwinkeln sah Henner, daß die Jungen auch, von irgendeinem Instikt angezogen, dastanden und ihn bewunderten. Sein Herz dehnte sich. Ach ja, das höchste Glück der Erde!

Der Tag war doch nicht so schlecht. Während Schimmel und Peter die Pferde noch ein wenig im Schritt ritten, spazierte er mit Fräulein Wiegand ein Stück in den lockeren Wald. Sie machten einen kleinen Umweg und trafen gemeinsam hinter dem Haus auf Brigge. Henner erzählte, wie gut Fräulein Wiegand gesprungen sei, und Brigge freute sich und gratulierte. Trotzdem sagte sie noch: „Der Prinz verweigert manchmal ohne Grund. Er ist nicht zuverlässig. Kein Wunder, immerzu sitzen andere Leute auf ihm und oft Anfänger. Er denkt, dann kann er es sich leisten.“

„Bei mir nicht“, strahlte Fräulein Wiegand, und Henner sekundierte ihr.

An diesem Abend kam es nicht dazu, daß Henner und Brigge sich ins Schreibzimmer setzten. Es war einfach nicht möglich, mitunter ist das so. Fräulein Wiegand hatte ihr Schifferklavier dabei und spielte, auf der Bank vor dem Haus. Sie trug einen langhosigen, bunten Strandanzug, der über und über voller Blumen war, und es war, als blühte sie daraus auf, schmal und ein wenig fremd. Das Haar trug sie in halblangen Locken, die sich im Nacken teilten, wenn sie sich vorbeugte, während die große Ziehharmonika auf ihren schmalen Knien auseinander- und zusammenging. Sie spielte erst ein paar Volkslieder, bei denen auch die Kinder mitsangen, und dann andere, und plötzlich war sie in dem uralten, geheimnisvoll sentimentalen Walzer, der unter ihren braunen Fingern einen neuen, erregenden Charme bekam: Parlez moi d’amour.

„Sie spielen wunderbar“, sagte Henner, als sie geendet hatte.

Gisela sagte:

„Fräulein Wiegand komponiert selbst. Und macht auch die Texte. Bitte, singen Sie doch mal eins von Ihren eigenen Liedern!“ Ihre Stimme klang klar und hell und jung neben der ein wenig verbrauchten, aber trotzdem oder gerade deshalb so reizvollen der älteren. Henner sah einen Augenblick zu ihr hin, dann blickte er wieder Fräulein Wiegand an.

Sie lächelte. „Ach –“

„Doch, bitte! Das Sie neulich in der Laube sangen!“

Schimmel sekundierte. Fräulein Wiegand spielte eine kurze Einleitung und setzte dann ein, nebenbei und wie ungewollt, beim Kehrreim:

„Drum denke und träume und bilde dir ein – –

doch so, wie es war, wird es nie wieder sein – –“

Sie sang drei Verse. Beim dritten hatten alle den Refrain begriffen und sangen ihn mit. Es war ein halb spöttisches, halb wehmütiges Lied.

„Schön“, sagte Henner, aber weiter nichts. Der Text hatte ihn getroffen. War es Zufall, daß sie dies sang?

„Und jetzt das lustige von dem Mann, der sich nie entscheiden kann!“ verlangte Schimmel stürmisch. „Bitte, Fräulein Wiegand!“

Es wurde ein langer Abend. Längst war es dunkel, Sterne standen über dem Garten. Als sie aufbrachen, merkten sie, daß Brigge schon fort war. Henner bedauerte das.

„Sie hat die Jungen vorhin abserviert“, sagte Gisela und legte die Decke des kleinen Tischchens zusammen, um sie mit hineinzunehmen. „Sicher ist sie noch wach.“

Aber das Schreibzimmer war leer.

„Mutter muß frühzeitig raus“, sagte Schimmel und gähnte herzerfrischend lang und laut. „Nacht, Vati.“

Er fühlte einen weichen und frischen Kuß auf seiner Wange. Der Kuß und die junge Stimme gingen mit ihm in sein Zimmer und ließen sein Herz ein wenig zittern, zärtlich und weich. ,Die Töchter‘, dachte er, ,Schimmel, Gisela.‘ Ach nein, er blieb. Wann würde er wohl wieder einmal Gelegenheit haben, diese jungen Menschen ein wenig um sich zu haben? Schade, daß Brigge – aber diese Dame hatte doch eine sehr schöne und eigenartige Art zu singen. Was hier für Gäste herkamen! Drum denke und träume und bilde dir ein – –

Er schloß rasch das Fenster.

*

„Wenn du mir schwörst, daß du es niemandem sagst, niemandem, dann zeige ich dir was!“

„Ich halte doch den Mund, das weißt du!“

„Nein, schwören. Bei?“

„Bei wem du willst.“

Gisela stand und überlegte. Dann sagte sie:

„Du mußt sagen: ,Ich will so dick werden wie das Wirtschaftswunder und bis in alle Ewigkeit so dick bleiben, wenn ich auch nur eine Silbe weitererzähle.‘“ Das ,Wirtschaftswunder‘ war der Spitzname für eine Mitschülerin, ein bedauernswertes Geschöpf, das man früher als reizend und blühend, jetzt als fett wie eine Schnecke bezeichnete. Sie wog schätzungsweise fünfzehn Pfund mehr als Gisela oder Irmgard, und diese fünfzehn Pfund lasteten auf ihrer Seele wie der Amboß auf der Schulter des Diebes. Irmgard sah Gisela auch dementsprechend zögernd an. Einen solchen Schwur mußte man halten, und was nützte einem das Wissen um eine aufregende Neuigkeit, wenn man sie nicht weitererzählen konnte?

„Vielleicht ist es gar nicht so etwas Tolles“, murrte sie also und versuchte, sich gleichgültig zu stellen. Daß es was war, sah man schon daran, daß Gisela wie ein Derwisch hopste und tanzte. Sie konnte nicht eine Sekunde Stillstehen. Irmgard seufzte.

„Nein, gar nichts! Gar nichts von Bedeutung!“ jubelte Gisela unterdrückt. „Es ist so was, was noch nie – nie – so was war. überhaupt noch nie da.“

„Ein Brief?“ fragte Irmgard. Man konnte sich vielleicht langsam an die Sache herantasten und den Schwur damit umgehen.

„Ja!“ Gisela funkelte.

„Von Benno?“

Sie gingen hier ins Gymnasium, Jungen und Mädchen, und wer mit wem „ging“, das wußten die Banknachbarn und Freundinnen meist, mitunter sogar eher als die Betreffenden selbst.

„Benno.“

Gisela sprach diesen, ihr sonst nicht direkt unlieben Namen so mitleidig, so überaus geringschätzig und herablassend aus, als wäre Benno ein Neandertaler und schon seit einigen tausend Jahren außer Konkurrenz. Dabei – das wußte nun wieder Irmgard – war es noch nicht allzu lange hergewesen, da wurde Benno in Giselas Seelenheft gar nicht allzu klein geschrieben. Ach ja, Menschen ändern sich, und Frauen –

Irmgard verstand.

„Aber jemand aus der Klasse?“

„Ja und nein.“ Gisela hüpfte. Sie hatten sich in eine Ecke des Schulhofes verzogen, wo es einigermaßen still war. Nur ab und zu schusselten ein paar von den Kleinen heran, die Fangen spielten, oder andere suchten Kastanien, die hier, braunglänzend oder scheckig, aus ihrer stachligen Schale sprangen.

„Was heißt das, ja und nein“, sagte Irmgard ärgerlich, „gleich wird es klingeln, und wir müssen rein. Nun sag doch schon – –“

„Wer ist denn in der Klasse und doch nicht immer?“ fragte Gisela, brennend vor Mitteilungsdrang, „heute jedenfalls eine Stunde, morgen zwei –“

Sie sah Irmgard beschwörend an. Irmgard schaltete diesmal blitzschnell. Heute eine Stunde, morgen zwei …

„Der Jo!“ stieß sie hervor. „Der Jo! Sag, hat er wirklich – aber du lügst ja.“ Ungläubig, ja, verächtlich wandte sie sich ab. Gisela war mit einem Sprung neben ihr.

„Wenn du es nicht glauben willst – –“, sie vergaß, was sie vorher verlangt hatte – „hier –“ und zerrte aus der engen Tasche ihrer Hose einen Brief, versuchte, ihn mit fahrigen Fingern auseinanderzufalten, was nicht gleich gelang – da schellte es. Pause vorbei.

„So ein Schiet“, sagte Irmgard enttäuscht. Sie war so nahe dran gewesen, das Geheimnis zu erfahren. Gisela entfaltete den Zettel wenigstens soweit, daß man die Unterschrift lesen konnte.

„Ihr Jo. Na, glaubst du es jetzt? Nicht: Ihr Dr. J. Reinhardt, sondern: Ihr Jo. Bitte, da steht es, siehst du’s? Na? Was sagst du nun?

„Toll!“ mußte Irmgard zugeben, „unglaublich. Immerhin weiß ich ja nicht, was er schreibt. Jo ist sein Spitzname in allen Klassen, das weiß jeder, jeder Lehrer kennt seinen Spitznamen. Also so toll ist das auch wieder nicht. Ein vernünftiger Lehrer unterschreibt eben nicht mit allen Ehren- und anderen Doktoren, die er gemacht hat. Das fände ich sehr affig. Er weiß doch ganz genau, daß er überall, wahrscheinlich auch im Kollegium, Jo genanntwird.“

„Na, wenn schon. Trotzdem –“, Gisela ging auf den Leim und war von dieser Rede enttäuscht. „Immerhin unterschreibt er an mich ,Ihr Jo‘. Bitte. Hast du etwa schon mal einen Brief von einem Lehrer –“, sie waren jetzt im Gedränge der ins Haus strömenden Schülerinnen und Schüler und konnten nicht weiterreden, Überhaupt war die Schule recht störend. Immer, wenn man etwas Wichtiges vorhatte, kam sie mit ihren Forderungen dazwischen. Gisela drängte sich ärgerlich durch das Gewühle und lief ins Klassenzimmer hinauf. Irmgard kam viel später. Gleich darauf begann die englische Stunde, und es war keine Rede mehr davon, das angefangene Gespräch fortsetzen zu können.

Dr. Joachim Reinhardt gab Deutsch in Giselas Klasse. Noch nicht lange im Lehramt und fanatisch interessiert an Stoff und Schülern, tat er des Guten oft zuviel. Er versuchte, Debatten, die von den Schülern vor allem mit der Absicht, die Zeit hinzubringen, entfesselt wurden, ernsthaft und ohne auszuweichen zu führen – und merkte nicht, daß sich die Schüler ins Fäustchen lachten: „Wieder keine Hausaufgaben abgehört.“ Er stand manchmal noch die ganze Pause durch mit Jungen und Mädchen zusammen und sprach und ließ sie sprechen, bis der nächste Lehrer hereinkam. Er knüpfte am anderen Tag an derselben Stelle wieder an und bemühte sich heiß, jung und eifrig. Manche wurden von seiner Art angesteckt und mitgerissen. Manche aber – bedauerlicherweise muß gesagt werden, daß Gisela zu ihnen gehörte – machten sich hinter seinem Rücken lustig, ihn „wieder soweit“ zu haben und freuten sich diebisch, um einen Aufsatz herumzukommen. O Schlange Weib, in welch zartem Kindesalter regierst du schon und verwirrst Köpfe und Herzen der bedauernswerten Adämer!

Immerhin hatte diese heutige Englisch-Stunde den Vorteil, daß Gisela überlegen konnte und auch überlegte, und dabei wurde ihr bewußt, daß sie Irmgard nun doch eingeweiht hatte in ihr Geheimnis, in diese Neuigkeit, die alles bisher Dagewesene weit überstrahlte, ohne daß diese diesen schrecklichen Eid hatte ablegen müssen. Verrat! Wie war das wieder gutzumachen? Klar, kein Erfolg bei Männern macht Spaß, wenn niemand davon weiß, ebenso klar aber auch, daß hier äußerste Vorsicht geboten war. Wenn Irmgard quatschte – – –

Freilich, die Hauptsache wußte sie noch nicht. Ein Glück! Welche Sensation, daß ein Lehrer eine Schülerin zum Stelldichein bat! Er hatte zwar nur geschrieben, es wäre ihm lieb, wenn sie einmal in Ruhe über den „Prinzen von Homburg“ sprechen könnten, den Gisela in der letzten Deutschstunde so heruntergemacht hatte, nichts läge ihm, Jo, so am Herzen, wie Gisela für Kleist zu erwärmen (mußte es Kleist sein?), und das klang natürlich unverfänglich und mochte es auch sein.

Immerhin, der Brief ging weiter, sie könnten sich doch einmal mit den Rädern treffen. Er gab ein ländliches Lokal außerhalb Celles an, von wo aus man schöne Touren machen konnte. Vielleicht brachte Gisela auch noch eine Freundin mit, die am gleichen Thema interessiert war?

„Ich werd’ mich kratzen“, sagte Gisela vor sich hin und lachte in sich hinein. „Am gleichen Thema interessiert schon, aber mitbringen? Kommt nicht in Frage.“ Dieser letzte Satz machte natürlich unmöglich, den Brief jemanden ganz lesen zu lassen, Irmgard schon gar nicht, die sich sofort für Kleist erwärmt hätte. Nach der Stunde rückte sie prompt zu Gisela heran.

„Nun zeig schon!“

„Nichts für kleine Kinder, Finger weg!“ Irmgard versuchte es noch ein Weilchen mit Schmeicheln und Bitten, mit Sich-gleichgültig-Stellen und schließlich mit Gemaule. „Immer bist du so gemein, und ich erzähl’ dir alles.“

Gisela indes wußte, daß Irmgard nie im Ernst maulte. So machte sie sich nicht die geringsten Sorgen um ihre Freundschaft.

Nach der Schule – der Omnibus ging erst später – schlenderte Gisela durch die Innenstadt. Es war ein schöner, hoher, heller Herbsttag, der den alten Straßen gut stand. Als Gisela merkte, daß ein Herr in grauem, sportlichem Übergangsmantel, ohne Hut, den Fotoapparat am Lederriemen um den Hals gehängt, ihr nachsah, lehnte sie sich malerisch ans Brückengeländer und sah verträumt vor sich hin. Richtig, es machte „Knips“ und noch mal „Knips“, und nun konnte sie die Haltung ändern und sich halb umdrehen. Nur im Profil wollte sie ja auch nicht für die Ewigkeit festgehalten werden und in Fotoläden ausliegen.

„Danke schön, darf ich noch mal –“, er sah so vergnügt und eifrig aus, daß sie es nicht fertigbrachte, kühl erstaunt oder schnippisch zu tun und sich davonzumachen.

„Sind Sie vom Film?“ fragte sie schließlich, als er mindestens ein dutzendmal geknipst hatte. Er schüttelte den Kopf.

„Leider nein. Aber ich arbeite für eine bekannte Zeitschrift, die Sie sicherlich auch schon oft gelesen haben –“, er nannte den Titel, und Gisela strahlte auf.

„Komm ich da rein?“

„Moment mal.“ Er hatte den Apparat schon wieder im Anschlag. Es war einer von denen, die man in Augenhöhe hält und deshalb seine eigene Haltung dauernd vom Kniebeugen bis zum Zehengang wechseln muß, ein äußerst gesunder Apparat also, wenn man ihn vom Standpunkt der Leibesübung aus betrachtete. Diesmal wollte der Besitzer dieses Zauberkästleins Giselas Gesichtsausdruck festhalten, der zum erstenmal, seit er ihn ins Auge gefaßt hatte, unbefangen, mit rund aufgerissenen Augen, kindlich und zugleich sehr weiblich war, mit einem Wort, bezaubernd. Das Gesicht des Knipsenden strahlte auch entsprechend, als es diesmal wieder dahinter zum Vorschein kam.

„Tausend Dank, herrlich, das ist ein Aufhänger, so wahr ich Fred Instermann heiße.“

„Was heißt Aufhänger?“ fragte Gisela mißtrauisch. Es klang nicht gerade schmeichelhaft, fand sie. Er erklärte eifrig, und dann sagte er:

„Wollen wir – oder haben Sie keine Zeit? Ich muß unbedingt etwas essen. Kann man hier nicht irgendwo hübsch draußen sitzen, Sie kennen die Stadt doch?“

Oh, Gisela wußte schon, wo man hübsch sitzen konnte! Und sie hatte auch Lust dazu …

„Ich muß aber zum Bus“, sagte sie so wohlerzogen, daß er lachen mußte.

„Geht nicht auch ein späterer?“ fragte er und wartete auf keine Antwort. Gisela verstand es ausgezeichnet, Dinge zu sagen, ohne sie auszusprechen.

Sie aßen, nicht großartig, aber nett und gepflegt im Vorgarten eines kleinen Lokals, wo die einzelnen Tische von Efeuwänden abgeteilt waren und man Herbstsonne und Vorübergehende und das ganze, wunderschöne und junge Leben so richtig genießen konnte. Dabei erzählten sie. Gisela war sparsam mit Mitteilungen – so erwähnte sie beispielsweise nicht, daß sie drei Geschwister hatte. Hier machte es sich viel besser, man wirkte als einzige Tochter. Dagegen sprach sie von den eigenen Pferden und vom Reiten so nebenbei, wie das nur ganz vornehme Leute tun. In der Pferdestadt Celle konnte man von vornherein damit rechnen, daß dafür Antenne da war.

Es war.

„Ich möchte Sie sehr gern mal zu Pferde haben“, sagte er und vergaß vor lauter Eifer das Essen, „aber nicht in Lack und Claque, o nein. In Jeans, in denen, die Sie jetzt tragen, barfuß, ohne Bügel, Rollkragenpulli, dahinter große weiße Wolken. Wissen Sie, so halb nach oben gegen den Himmel aufgenommen, und Sie verträumt und versonnen –“, er stieß die Worchester-Sauce um, während er mit den Händen das Bild formte. „Hoppla, na – verstehen Sie? – Fühlen Sie, was ich meine?“

Gisela verstand und fühlte.

„Wir wohnen aber nicht hier. Wir wohnen – in Hermannsburg“, – so, heraus mußte es.

„Das ist doch nicht weit von hier?“ Er sah sie beschwörend an.

„Solch ein fotogenes Gesicht – Sie müssen wissen, ich bin eigentlich noch gar nicht, was ich sein möchte. Ich meine, ich soll Kaufmann werden, meines Vaters Geschäft übernehmen, aber ich möchte – ich will –“

,Er ist viel ehrlicher als ich‘, dachte Gisela und schämte sich drei Sekunden lang – und das war schon viel. ,Man müßte ebenso ehrlich sein –‘

„Oh, ich verstehe Sie“, hörte sie sich sagen, „mir geht es ja ähnlich. Ich soll – mein Vater ist auch Kaufmann – wie gut, daß man das wußte und daß es diesen Vater seit kurzem wieder sehr konkret gab – „ich soll auf die Handelsschule und sobald als möglich seine rechte Hand werden. Dabei möchte ich lieber in eine Schauspielschule –“, nicht zum Film, das wollten alle. Schauspielunterricht, das zeigte, wie heilig ernst einem die Sache war. „Wenn Sie ahnten, wie ich Kleist liebe –“, sie machte große, feuchte Augen. Das kann man. Jedenfalls konnte Gisela es.

Darüber läßt sich eine Weile reden, wenn man Kleist in der Schule durchgekaut hat. Alle Rollen sind einem gegenwärtig und Jos Auffassung des Stücks konnte man ja getrost als die eigene servieren. Er horchte lange und intensiv zu.

„Wie nahe man sich kommen kann, wenn man ein ähnliches Geschick trägt“, murmelte er, ehe er aufstand, um zu bezahlen. Dann setzte er sich wieder, faltete die Hände auf dem Tischtuch, während er die Arme weit ausgebreitet darauf liegen hatte, und beugte sich über den Tisch zu ihr hinüber. Sie sah, daß er wunderschöne, hellbraune Augen hatte mit goldenen Tupfen darin. Sein Gesicht war so aufgetan und gut, daß es ihr beinah leid tat, so geschwindelt zu haben.

„Darf ich Sie Wiedersehen?“ fragte er, gleichzeitig bescheiden und dringlich, „darf ich – es liegt mir so viel dran! Ich könnte Ihnen natürlich auch Abzüge schicken und meinen Namen draufschreiben nebst Adresse und Sie bitten, mir zu antworten, wie Ihnen die Bilder gefallen. Sie kennen ja die Masche. Aber ich möchte – ich möchte –“

Er schwieg eine Weile und sah auf das Tischtuch herunter. Dann fuhr er fort, hastig, als wollte er es schnell hinter sich haben: „Ich bin nicht mehr jung, ich meine – wenn Sie das nicht stören würde –“

„Wie alt denn?“ fragte Gisela kindlich. Sie fand, hier müßte man von vornherein klaren Wein einschenken.

Er murmelte beschämt: „Zweiunddreißig.“

Zweiunddreißig. Fünfzehn Jahre älter als sie. Fünfzehn – zwei Jahre älter als Jo. Und den fanden viele aus der Klasse schon verkalkt, besonders die Jungen. Aber er sah jung aus, der Mann ihr gegenüber, er hatte gar keine Falten in den Augenwinkeln und noch alle Haare, überhaupt keine Geheimratsecken. Vielleicht konnte er sogar noch schwimmen und skilaufen, von reiten und radeln gar nicht zu reden. Reiten taten manche bis sechzig, Dressur jedenfalls. Aber wenn er ritte, hätte er vorhin anders reagiert, das hatte sie sicher im Gefühl.

„Machen Sie sich nichts draus“, sagte sie deshalb rasch entschlossen und herzhaft, „es gibt auch nette ältere Leute. Ja, wirklich, wir haben einen Lehrer – er ist allerdings etwas jünger als Sie, aber soweit ganz prima –“

Um seinen Mund zuckte es, er verbarg es mit Mühe.

„Wie schön, daß Sie so denken“, sagte er erleichtert, „und wie ist es mit einem Wiedersehen? Wann? Und wo? Ich werde den Film sofort entwickeln und kann Ihnen die Bilder spätestens – spätestens –“, er rechnete. Sie wartete. Dann verabredeten sie das Nötige, und er brachte sie an den Bus. Darin traf sie tatsächlich Irmgard, die in Bergen, also auf halbem Wege, wohnte und mit der sie gewöhnlich fuhr. Wie kam es, daß diese heute auch den späteren Bus genommen hatte?

„Bin ich dir Rechenschaft schuldig?“ fragte Irmgard schnippisch, als sie losgefahren waren und Gisela sie darüber zur Rede stellte. „Wer war übrigens dieser Scheich, der dich da mit den Augen fraß?“

„Scheich? Ein sehr netter junger Mann.“ Ganz wenig hatte sie vor „junger“ gezögert, kaum merklich. Irmgard war das nicht ganz entgangen.

„Ja, jung“, sagte sie gedehnt und merklich geringschätzig, so daß Gisela rot vor Zorn wurde.

„Denk bloß nicht, daß – übrigens finde ich schon lange, daß dieses grüne Gemüse mir zum Hals heraushängt, Benno und Konsorten. Ist nichts, kann nichts, weiß nichts und hat die große Klappe. Übrigens ist dieser Fotograf, ätsch. Hat mindestens fünf Filme von mir geknipst, übermorgen krieg’ ich die Bilder. Und er arbeitet für ,Film und Frau‘ –“

So, da hatte es Irmgard. Sie zeigte sich auch beeindruckt, ja, kleinlaut. Ihre Antwort war nur ein schwaches Rückzugsgefecht. „Trotzdem, ich weiß nicht –“, murmelte sie. „Bei unseren Jungen weiß man doch, woran man ist.“

Gisela stieß verächtlich die Luft durch die Nase. Da kam schon Bergen, und Irmgard stieg aus. Gisela fühlte sich als Siegerin. Sie fuhr weiter, im Stehen, die Hand in eine der Lederschlaufen am Dach des Busses gehängt und den Kopf an den Arm geschmiegt. Dabei summte sie vor sich hin. Es war wieder ein Lönslied, aber ein anderes, als Brigge damals gesummt hatte. Die beiden Mädchen waren sozusagen mit Lönsliedern aufgewachsen, man lebte in der Heide, und Brigge sang gern.

„Was die grüne Heide weiß,

geht die Mutter gar nichts an,

niemand weiß es außer mir

und dem jungen Jägersmann …“

Jung. Zweiunddreißig oder dreißig – war das ein solcher Unterschied? Fred oder Jo – dieses Problem war wichtiger. Am besten, man entschied sich zunächst mal gar nicht und behielt beide im Auge – – –

*

Brigge hatte viel zu tun. Die Wäsche, die Einkäufe, laufende Schreibereien, die Pferde. Die sollten eigentlich die beiden Mädchen ganz allein versorgen, aber Brigge tat gerade diese Arbeit so gern, daß sie die Töchter meist etwas später weckte und sagte: „Lauft nur, daß ihr den Bus kriegt. Ich mach’ den Stall schon.“ Brigge stand gern früh auf. Henner hörte ihre Stimme durch den Garten klingen, sie war fröhlich und in sich ruhend, irgendwie in Ordnung, während er sich noch im Bett streckte. Wenn sie sich seinem Fenster näherte, wurde sie leiser – nun ja, man mußte auf seine Gäste Rücksicht nehmen. Ob der Betrieb hier auch im Winter weiterlief?

Henner hatte nicht viel mitgekriegt von den wirtschaftlichen Verhältnissen dieser kleinen „Reiterpension Heidehof“. Er mochte nicht fragen. Es kam ihm indiskret und ihm nicht zustehend vor. Dabei – Herrgott, man war einmal miteinander verheiratet gewesen, durfte man da nicht Interesse zeigen? Henner fand das empörend und bedauerte nur, keinen zu haben, gegen den sich diese Empörung richten könnte.

Außerdem fand er nach wie vor, daß die Jungen an einer viel zu langen Longe liefen. Der Mutter parierten sie ja soweit – was man hier Parieren nannte – aber … nun, es mußte wohl am Vater liegen, der zu selten da war. Einmal brachte Henner die Rede auf ihn, als er mit Omme allein war, irgendwie mußte doch etwas über den Vater der Buben zu erfahren sein.

Aber da erfuhr er nicht viel. Omme war eine vertrackte Person, die auch heute noch mit einem Mann machte, was sie wollte – wenn sie wollte. Sie hatte gleichzeitig Charme und Persönlichkeit, und dazu war sie verteufelt gescheit.

Eine nicht einfache Mischung, in der Tat. Henner war nachher so klug wie vorher.

Es hatte in der Nacht geregnet, nun war es wieder warm und sonnig.

„Pilzwetter“, sagte Schimmel und kam am Nachmittag mit ihrem bunten Halstüchlein voller Pfifferlinge heim. „Nur so, in zehn Minuten. Es gibt massig.“ Sie liebte vor allem Pfifferlinge, hatte als Kind ein Bilderbuch besessen, in dem es hieß:

„Die kleinen Pfifferlinge

sind immer guter Dinge,

sind immer froh und heiter,

und wachsen lustig weiter.“

„Danke dir, die kriegt Vati. Er ist ein großer Pilzfreund wie eigentlich alle Jäger“, sagte Brigge und nahm ihr den goldbraunen Segen ab. Gerade guckte Henner in die Küche.

„Wie schön – wir wollen eben ein Stück gehen, Fräulein Wiegand und ich. Sollen wir Pilze mitbringen?“

„Natürlich! Jede Menge!“

Henner erbat sich ein Netz. Brigge wollte ihm ein Körbchen geben, aber er wies es zurück.

„Geben Sie es mir, ich will mit“, sagte Fräulein Wiegand.

Brigge lachte.

„Die Jungen können mitgehen, sie wissen die besten Plätze.“

Die Jungen – na, auch gut. Sie konnten ja die Beute dann tragen. Peter hopste mit seinem verbundenen Fuß aufgeregt vorneweg, Anselm folgte dem Kleineren. Henner ging neben Fräulein Wiegand.

„Hübsche Bengel, nicht?“ fragte sie und deutete mit dem Kinn auf die Jungen.

„Ja, besonders der ältere. Er erinnert mich an jemanden, ich komme nur nicht drauf, an wen. Kennen Sie das Gefühl? Es kann einen wahnsinnig machen.“ In diesem Augenblick erreichte Brigge ihn, um ihm ein zweites Netz mitzugeben. Das erste sei zu weitmaschig, kleine Pilze würden durchfallen.

„Hier! Nimm das. Ihr findet sicher viele. Aber nur die guten nehmen, verstanden?“

„Ja, danke. Du, Brigge, ich sagte eben zu Fräulein Wiegand, daß Anselm mich so stark an jemanden erinnert. Kannst du mir nicht helfen, an wen? Es liegt mir auf der Zunge.“

„Nein, da kann ich dir nicht helfen“, sagte Brigge und lachte. Sie lachte, daß ihre Augen zu schmalen Schlitzen wurden über den festen braunen Wangen. Henner fand, daß eigentlich kein Grund zur Heiterkeit vorhanden sei.

Sie merkte es und versuchte, ernsthaft auszusehen.

„Entschuldige. Aber nun los. Und viel Vergnügen!“

Sie stand und winkte ihnen nach, trocknete sich dann mit dem Zipfel ihres Kopftuchs die Augen. Henner fühlte sich durch ihren Lachausbruch etwas gestört. Ihm wäre wohler gewesen, wenn sie ihnen nicht nachgewinkt und nicht so unbändig – er dachte ,zügellos‘ – gelacht hätte. Na ja, Frauen, unberechenbar und schwer zu verstehen.

Mit Fräulein Wiegand war es leichter, auszukommen. Sie hatte eine merkwürdig lässige Art, das Leben zu nehmen oder wenigstens darüber zu sprechen. Nicht snobistisch, aber beinahe, nicht negierend, aber manchmal etwas wegwerfend. Nichts ernst zu nehmen, weder sich noch ihre Arbeit, weder die einzelnen noch die Ideale der Menschheit. So ähnlich waren auch die Texte der Lieder, die sie selbst schrieb und selbst vertonte. Henner, mit seiner zur Zeit so bedauerlich zwiegeteilten Seele, empfand das als angenehm, ja, als heilsam. So ähnlich, wie Jod auf einer offenen Wunde brennt, aber man fühlt, daß es gut tut. Warum war eigentlich seine Seele so halbiert?

Unsinn, darüber zu grübeln. Er gab sich einen Stoß und war zwanzig Minuten lang der bezauberndste Plauderer, den man sich denken konnte; das lag ihm, wenn er eine gute Zuhörerin hatte. Dann aber fanden sie Pilze, und er brauchte seine geistigen Reserven nicht weiter anzugreifen.

Fräulein Wiegand war übrigens hier, wie es schien, Kennerin. Sie schnitt jedenfalls ab, was ihr unters Messer kam und was ihm, der doch wahrhaftig den Wald und seine Erzeugnisse kannte, Abschaum und Teufelei dünkte. Perlpilze, Hallimasch, Totentrompete – sein Haar sträubte sich allein schon beim Anblick dieses Pilzes, vielmehr noch, als er den Namen hörte. Aber Fräulein Wiegand lachte nur und hatte so satanisch rote Lippen, freilich gemalte, aber gut gemalte, und solch eine Sicherheit, daß die seine zu wackeln begann. Wußte sie es wirklich besser? Die Jungen schwärmten vor und hinter ihnen durch den Wald, machten jeden Weg dreimal wie Hündchen und kündigten ihr Nahen immer durch aufgeregtes Schreien an. Radau im Wald geht jedoch jedem Waidmann auf die Nerven und ihm der Lärm der Bengel besonders. So war Henner, als das Netz gefüllt war, etwas erschöpft, teils von der Pilzernte, teils von den Jungen. Zu Hause ging der Kampf dann erst recht los. Brigge weigerte sich rundweg „das Zeug“ in die Küche zu nehmen, sie hielt sich an Rotkappen und feucht lackierte Butterpilze, die ihre Söhne brachten, und natürlich Stein- und Semmelpilze. Alles andere – „ohne mich!“, sagte sie.

Das fand Henner nun wieder übertrieben. Sicher, bis zu einem gewissen Grade war er ihrer Meinung, aber man brauchte ja das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Dazu hatte Brigge immer geneigt. Und Fräulein Wiegands verblüffende Sicherheit machte ihn stutzig. Er kam dazu, als sie ihre Beute selbst putzte und schmorte, und sie machte es trotz der roten Tigerkrallen äußerst appetitlich. Es wurde ein tüchtiges Pfännchen voll, und sie war Eva genug, Henner mit dem harmlosesten Gesicht der Welt einzuladen, ob er nicht mitessen wollte.

O Schlange! Vorhin hatte er ihr, Brigge gegenüber, beigestanden, konnte er nun kneifen? Ritterlichkeit gegen Vergiftungsangst, Rechthaberei, Schadenfreude und Rachegelüste – Herrgott, wer findet da noch durch! Kurz und schlecht, Henner aß, und schon am Abend war ihm hundsmiserabel.

„So, das kommt davon“, sagte Brigge, der er sich – ganz kleiner Junge mit Bauchweh – anvertraut hatte, und das mußte sie sagen, sonst wäre sie unweigerlich in Atome zersprungen. Sonst aber war sie freundlich und hilfsbereit, bezweifelte nun ihrerseits eine Vergiftung, zumal sie sah, wie fidel und munter Fräulein Wiegand herumspazierte, und die hatte doch den Löwenanteil verspeist, und tippte auf Gallenkollik. So sah man von Magenauspumpen und ähnlichen Scherzen ab, versuchte es mit heißen, nassen Kompressen, und siehe, Brigge, der alte Quacksalber, behielt recht. Henner war wieder da.

Am anderen Morgen war alles im Lot. Die Töchter, die vor seiner Zimmertür lauerten, durften kurz zu ihm hinein, und ihre Gegenwart tat ein übriges.

Brigge beobachtete die drei und fand voller Erstaunen und Hochachtung, die sie allerdings verbarg, daß Henner etwas konnte, was die wenigsten Männer vermögen: Er konnte verlieren, und zwar mit Haltung. Ja, mit Humor. Er machte sich über sich selbst lustig. Die Mädchen lachten Tränen, als der Vater ihnen seine Bockigkeit und die darauffolgende Angst schilderte. Brigge empfand ein deutlich schlechtes Gewissen. In dem dunklen Drange, ihm etwas Gutes anzutun – ach, er war doch in Wahrheit ein netter Kerl! –, ging sie in den Garten und schnitt einen großen Strauß Dahlien. Gerade kam der Pastor, bei dem Schimmel Konfirmandenstunde hatte, vorbei. Er bewunderte die Blumen so sehr, daß Brigge sich gedrängt fühlte, ihm den Strauß zu schenken. Sie sah ihm wehmütig nach, wie er mit der bunten Pracht verschwand.

Nun hätte sie ja einen zweiten Strauß schneiden, hätte zu Henner hineingehen, ihn beim Kopf nehmen und ihm sagen können …

Auf einmal erschien ihr das ganze dumm und gefährlich. Henner war ein Mann, ein richtiger, ganzer Kerl, trotz seiner kleinen Schwächen. Vielleicht verletzte sie ihn ernsthaft, ja, tödlich, vielleicht war diese törichte Spielerei das, was ihn endgültig von ihr schied? Sie lief in plötzlicher Hast ins Haus, die Treppe hinauf, erreichte atemlos die Tür, klopfte. Kein Herein. Als sie vorsichtig öffnete, sah das Zimmer ihr leer und höhnisch entgegen.

„Vati? Vati ist vorhin mit Fräulein Wiegand weggegangen. Nein, nicht reiten. Sie sagten etwas von einem langen Spaziergang“, berichtete Gisela von ihren Schularbeiten aus, die sie in der Laube hinterm Haus zu machen vorgab. In Wirklichkeit aß sie Birnen, die der alte Baum über ihr in verschwenderischer Fülle abgab, und bastelte an zwei Antwortbriefen. Der eine betraf Herrn Instermann, den sie in Gedanken längst Fred nannte und sich deshalb diesbezüglich immer wieder verschrieb, so daß der Brief sehr lange brauchte, bis er fertig war, der andere an Benno. Benno ganz abzuhängen, weil Fred aufgetaucht war, widerstrebte Giselas Gerechtigkeitsgefühl. Außerdem war Benno in ihrer Klasse, also in Celle, während Fred – nun, wer wußte, wann ein tyrannischer Vater ihn wieder zu sich und von dieser schönen kleinen Stadt fortbefahl? Ein Mitschüler in der Hand ist besser als ein „richtiger“ Mann mit Kamera und Beziehungen zu großen Zeitschriften auf dem Dach …

Gisela wußte, daß Benno sie liebte, und sie besaß den untrüglichen weiblichen Instinkt, daß man solche Männer, auch wenn man sie nicht widerliebt, gut behandeln muß. Natürlich nicht zu gut, aber beileibe nicht ruppig. Ein Quentchen Ironie, viel herablassende Freundlichkeit und ein Schuß Versprechen, das man nie halten würde. Gisela war siebzehn Jahre alt und völlig unerfahren, aber durchaus richtig ausgerichtet, was das Verhalten Männern gegenüber betraf. Kein Wunder, hübsch wie sie war.

Sie war also sehr mit ihren Angelegenheiten beschäftigt und merkte nicht, daß Brigge nach ihrer Antwort hin nachdenklich und in durchaus gemäßigtem Tempo den Garten durchquerte. Jeder Mensch ist von seinen eigenen Sorgen ausgefüllt.

Es war ein traumhaft schöner Tag. Der Himmel hoch und klar, wie er es nur im Herbst sein kann, die Luft durchsichtig und so leicht zu atmen, daß sich einem die Brust weitete. Brigge liebte den Herbst; immer erst lebte sie richtig auf, wenn diese kristallenen Tage kamen. Dennoch oder gerade deshalb war sie unruhig. Unruhig, sehnsüchtig und ein wenig schwach. Bisher war sie frechvergnügt und ihrer Sache sicher gewesen. Nein, sie konnte jetzt unmöglich in die Brombeeren gehen, am Ende traf sie die beiden, und das hätte nach Absicht ausgesehen. Kurzentschlossen nahm sie das Fahrrad und fuhr an die Oerze, also in genau entgegengesetzter Richtung. Gisela hatte ihr gesagt, wohin die beiden sich gewandt hatten.

Das kalte Wasser tat gut. Brigge tauchte und prustete und schwamm stromab, lief am Ufer zurück. Schließlich saß sie am Rande des kleinen Sandbruchs, der hier zwischen Kiefern lag und vor jeder Sicht so schön gedeckt war, die nackten Beine hineinhängend, das Haar, das natürlich naß geworden war, um die Schultern gebreitet. Es war doch recht lästig; es kurz zu tragen, hatte bestimmt viele Vorteile. So, wie Fräulein Wiegand es trug – ach, da war sie glücklich wieder in Gedanken dort, wo sie nicht sein wollte. Gut, daß jemand dazwischenkam, zwischen sie selbst und diese Gedanken, wenn es auch nur der Baron war.

Sein bewundernder Blick tat ihrem wunden Herzen wohl. Trotzdem war es ihr peinlich, wie er sie hier traf, barfuß und mit offenem Haar. Er setzte sich ihr gegenüber, sagte erst nichts, stopfte seine Pfeife. Und dann fragte er geradezu:

„Wer ist das eigentlich – ich meine, der Herr, mit dem wir neulich zusammensaßen? Er wohnt wohl auch bei Ihnen, so sagte man mir im Ort …“

„Mein früherer Mann“, sagte Brigge trotzig und sah ihn an. Der Baron warf auf, wie der Waidmann zu sagen pflegt.

„Ja. Er kam überraschend, er ist sehr nett zu den Mädchen. Sie hängen an ihm wie die Kletten. Natürlich wohnt er bei uns, warum denn nicht? Alle Gäste finden ihn nett.“ Sie schwieg. Dann, als auch er schwieg, setzte sie herausfordernd hinzu: „Und Sie? Finden Sie ihn nicht auch nett?“

„Das ist ein wenig viel verlangt“, sagte der Baron langsam. Er war mit seiner Pfeife fertig, zündete sie aber nicht an, sondern legte sie weg. Sah Brigge an – seine Zähne waren sehr weiß und die Augen dunkel. Brigge fühlte sich vor ihm seltsam schuldbewußt, wollte das aber nicht wahrhaben. Konnte sie nicht in ihrer Pension aufnehmen, wer ihr paßte?

Sie sagte das, aber es klang unsicher. Überhaupt hatte sie heute das Gefühl, immerzu alles falsch zu machen; es gibt solche Tage.

„Wir wollen lieber gehen“, sagte sie und stand auf – er schwieg und erhob sich auch. Als sie heimkam – der Baron hatte ihr Rad geschoben und sich an der Gartentür verabschiedet –, saß Henner vor dem Hause. Fräulein Wiegand war nicht zu sehen. Brigge schlenderte mit einem leicht beklommenen, aber möglichst freundlichen Gruß an ihm vorbei. Sie suchte die Mädchen. Erst mußte sie mit ihnen sprechen, ehe sie Henner sagen konnte, was endlich gesagt werden mußte –

Wie das meist ist, fand sie sie nicht. Gisela hatte Flötenstunde, wurde ihr später gesagt, und Schimmel war mit einem der Gäste ausgeritten. Bei Tisch – Henner aß heute an der allgemeinen Tafel mit – ließ sie wie von ungefähr fallen, sie habe noch im Schreibzimmer zu tun. So ging sie, nachdem sie alles Nötige erledigt hatte, dorthin. Mit den Töchtern zu sprechen hatte sich nicht ergeben – nun, so sprach sie eben erst mit Henner.

Sie wartete lange. Der frühe Abend war schon da, sie hatte kein Licht gemacht. Henner mußte ihren Wink verstanden haben, warum kam er nicht? Wie sie es ihm sagen würde, war ihr noch unklar, sie saß an ihrem Sekretär und dachte an ihn, versuchte, ihn mit aller Kraft ihres Herzens herzuzwingen. Gedanken sind magisch, Gedanken vermögen viel, Wünsche noch mehr.

Sie dachte auch an damals, als sie und Henner einander kennenlernten. Es war nun so viele Jahre her, achtzehn Jahre, fast zwei Jahrzehnte. Aber es war ihr alles wieder so lebendig und gegenwärtig, als wäre sie noch die Brigge von damals.

Sankt Peter, Geruch von Meer und Salz, Tang und Teer, und Pferde! Hufe, die lautlos im lockeren Sand aufsetzten oder platschend ins seichte Wasser tauchten. Weiche, schnuppernde Pferdenasen, die den Handteller nach Zucker abtasteten, blanke Hälse, die man tätschelte, Hufe, die ausgekratzt, Trensen, die ins Maul geschmeichelt wurden. Brigge saß mit geschlossenen Augen und fühlte die Atmosphäre jener Tage wieder erstehen, als seien nicht einmal achtzehn Tage seit damals vergangen.

Und dann war Henner gekommen. Sehr schneidig, sehr überlegen, sehr sicher – er saß schon damals zu Pferde wie gemalt. Sie hatte sich mächtig über ihn geärgert, wie er dastand und ihr zusah, während sie sich auf dem Zirkel abquälte. Sie hatte den „Wirbel“, ein Pferd, mit dem sie trotz unsäglicher Mühe einfach nicht einig wurde. Und das Schlimmste: Henner trug ein Einglas. Er sah wahrhaftig aus wie die lebendig gewordene Angabe.

„Sie stehen ja in den Bügeln“, sagte er einmal zu ihr, „wollen Sie Jockey werden? Man muß im Sattel kleben, den Sattel auswischen, auch im Galopp, gerade im Galopp. Mit dem Pferd gehen in der Bewegung, jeden Galoppsprung herausdrücken –“, Brigge war gerade auf dem Punkt angekommen, wo man das Pferd erschießen und sich selbst aufhängen möchte, nachdem man sich erst rechts und links gebackpfeift hatte.

„Bitte machen Sie es mir mal vor“, sagte sie, völlig erschöpft, und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Henner saß auf, in seiner eleganten Flanellhose und in Halbschuhen.

Soviel Kraft hatte Brigge ja immer noch gehabt, um sich auf seine Blamage zu freuen. Alle sahen herüber, vom Reitlehrer angefangen bis zum jüngsten Zuschauer, dessen Finger noch im Mund steckte, solange die Pferde gingen.

Pferdeglück

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