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2. Kapitel

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„Die dritte ist es, die auf dem Schecken. Siehst du nicht ...”

Vater und Mutter standen in dem kleinen Reiterstübchen der Halle am Fenster und sahen auf die Abteilung hinunter, die in der Halle rundum ritt. Lauter Zehn- bis Zwölfjährige, alle mit Kappen, manche in Stiefeln, andere wieder in langen Hosen und Turnschuhen. Der Besitzer des Stalles stand in der Mitte, gab halblaute Anweisungen, die man von hier aus nicht verstand, und folgte mit den Augen seinen kleinen Reiterlein. Vater und Mutter waren gekommen, um Ronny abzuholen, heute war ihr letzter Tag hier in der Reitschule.

„Sie sehen alle ähnlich aus”, sagte Mutter und drückte das Gesicht an die Scheibe. „Die Kappen verdecken das Gesicht zur Hälfte. Nein, wie man sich täuschen kann! Ich dachte zuerst, sie wäre die Kleine auf dem Schimmel.”

Vater war es ähnlich gegangen. Ohne Verabredung – oder vielleicht doch nach einer Absprache – hatten alle Kinder, die hier ritten, sich schwarze Pullis angezogen, um recht zünftig auszusehen, mit weißen Kragen oder Rollis. Das gab ein hübsches, einheitliches Bild. Bei manchen guckten natürlich helle Haare unter der Kappe heraus und bei manchen dunkle, ein Mädchen trug einen Pferdeschwanz.

„Süß sehen sie aus”, flüsterte Mutter.

Das fand Vater auch. Und nun wurde getrabt und galoppiert, die Pferde, anscheinend gut zugeritten, machten keine Schwierigkeiten, und so ging die Stunde gut zu Ende. Außer Ronnys Eltern hatten sich auch noch ein paar andere Väter und Mütter eingefunden, die ihre Sprößlinge abholten, und so gab es nach der Reitstunde ein fröhliches Durcheinander.

„Aber daß du ausgerechnet dieses alte Hemd angezogen hast.”

„Du mußt zum Haarschneiden, sonst lernst du noch das Schielen, so lang sind deine Zotteln.”

„Nie abgeschmiert? Na, da gratuliere ich ja.”

„Hast du auch ordentlich geholfen? Ja? Wir werden uns erkundigen.”

„Und warum hast du uns das nicht am Telefon gesagt? Du sagtest doch, alles wäre in Ordnung, und nun kommst du mit so einem blauen Auge an!”

Der Reitlehrer stand lächelnd dabei, antwortete auf Fragen, gab Bescheid, versprach, wenn es ginge, das Kind im nächsten Kurs wieder aufzunehmen, und beruhigte besorgte Mütter. Nein, alles wäre gutgegangen, ein paar blaue Flecken und Schrammen hätten nichts zu sagen. Friede hätte auch geherrscht, eins der Kinder hätte einmal mit einer Erkältung einen Tag im Bett gelegen, sonst wären alle putzmunter gewesen. Er kannte das, diese Elternversammlung am Schluß des Kurses, und war, genau wie die Abholenden, aufgeräumt und erleichtert. Betrübt waren die Kinder, aber auch eifrig dabei, Adressen zu tauschen.

„Du schreibst mir aber bestimmt?”

„Und wenn ihr in die Nähe kommt, besucht ihr uns!”

„Ich schick’ dir das Reitbuch, von dem ich dir erzählt habe!”

„Nächstes Mal sagen wir gleich vorher, daß wir im selben Zimmer wohnen wollen!”

„Vielleicht darf ich daheim jetzt in den Reitverein?”

Endlich hatte Ronny ihren Kram beisammen. Vater und Mutter gingen mit ihr zum Wagen. Ronnys Mund stand nicht still. Immer wieder fielen ihr neue Begebenheiten ein, die sie erzählen mußte. Die Eltern hatten sie noch nie so lebhaft gesehen. Ach ja, sie war ein Einzelkind, und unter Gleichaltrigen taute sie erst richtig auf.

„Susanne will mich besuchen, sie wohnt nicht weit von uns.”

„Von uns? Oder von Birkenheide?” fragte Vater behutsam. „Denn jetzt geht’s zu Großvater, das hast du hoffentlich nicht vergessen. Oder?”

„Nein.”

Das klang einsilbig. Und dann, mit weit aufgerissenen Augen, fragte Ronny so eindringlich, als handelte es sich um die ewige Seligkeit: „Vater, darf ich nächstes Jahr wieder hierher? Susanne will es auch versuchen, ihre Eltern dazu zu bringen, sie hat noch Geschwister, und da bleibt für jedes nicht so viel Geld, aber ...”

„Wer weiß, was nächstes Jahr ist”, sagte Mutter leise, der der bevorstehende Abschied von ihrer Tochter schwer auf der Seele lag. Vater gab ihr einen kleinen Wink mit den Augen.

„Hoffen wir, daß wir nächstes Jahr wieder hier sein können, mit einer vergnügten, rotbackigen Ronny, die ein Jahr Landleben hinter sich hat und sich auf ihre Eltern und die neue Schule freut”, sagte er herzlich und schob Ronny in den Wagen. „Nein, was hast du für eine Unmenge Gepäck! Auf dem Hinweg war es doch höchstens halb soviel. Hast du so viel abgestaubt oder heimlich einen Sack Hafer eingesteckt?”

„Nein, aber Kläri hat mir zwei Bücher geborgt, und von Susanne hab’ ich einen Pullover gekriegt.”

„Ja, kann denn Susanne einfach etwas von ihren Sachen verschenken?” wunderte sich Mutter.

„Ach, bei der Menge Geschwister merkt die Mutter das gar nicht, sagt sie.”

„Trotzdem!”

Ronnys Mutter war im Begriff, wieder aus dem Auto zu steigen, Vater hielt sie zurück.

„Laß doch. Es wird schon klargehen. Und wenn Susannes Mutter es merkt und schreibt, sie möchte den Pulli wiederhaben, schickt ihn Ronny einfach hin, mit einem netten Brief und einer Tafel Schokolade für die Geschwister – oder zwei oder drei Tafeln. Tust du das, Ronny?”

„Klar, wenn sie schreibt!”

„Du kriegst natürlich Taschengeld, aber gib nicht alles auf einmal aus.”

Diese Ermahnungen immer! Jetzt hatte man mal vierzehn Tage keine gehört oder höchstens solche: „Hacken runter! Aufrecht sitzen! Nicht nach vorn fallen!” Die ließ man sich ja wenigstens gefallen. Aber die von Mutter ...

Ob es den anderen eigentlich auch so ging, Susanne zum Beispiel? Die erzählte von zu Hause eigentlich nur Lustiges. Ja, mit vielen Geschwistern! Da passierte jeden Tag etwas zum Lachen. In Birkenheide war sie auch wieder allein. Immerhin, Großvater hatte ja den Murkel, den Dackel! Ob der sich noch umgewöhnen und ihr Dackel würde?

Ronny war still geworden und sah vor sich hin. Mutter drehte sich ein paarmal nach ihr um, fragte dies und jenes, schwieg aber dann auf einen kleinen Augenwink Vaters hin. Abwarten, in Ruhe lassen. Ach ja, leicht war das nicht ...

Und nun war Birkenheide nahe, sie hatten das Schild an der Straße schon gesehen. Ronny, in vielem neu ausgestattet – sie hatte eine längst ersehnte Jacke bekommen, Mutter hatte ihr neue Schuhe gekauft, im Ranzen herrschte eine vorbildliche Ordnung mit lauter neuen Heften –, blickte neugierig umher. Der Abschied von zu Hause war vorbei, Ronny hatte ja keine richtige Freundin, Susemarie wohnte ziemlich weit weg von ihnen, und sie sahen sich eigentlich nur in der Schule. Und die Schule begann erst in drei Tagen. Die neue Schule ...

Ja, da lag sie, links von der Straße, die jetzt ein wenig bergab führte, Ronny wußte das noch von früher. Vor ihnen öffnete sich jetzt der Gutshof, breit, großzügig, einladend. Auf der rechten Seite ein langgestrecktes Gebäude, der Schafstall, dann mitten im Hof ein paar kleinere, eingezäunte Koppeln, dann die alte Mühle, niedrig, einstöckig, mit Walmdach, schon lange nicht mehr als Mühle benützt. Früher wurde Öl dort gepreßt. Gegenüber das Kornhaus, der Speicher, drei Stockwerke übereinander. Darin befand sich die Gutsschmiede, dort wurden die Pferde beschlagen. Ronny hatte noch den Geruch in der Nase, der entsteht, wenn das glühende Eisen auf das Horn des Hufes gepaßt wird. Ihr war auf einmal sonderbar beklommen zumute. Das letzte Mal, als sie hier war – drei Jahre war das her –, mußte sie doch noch sehr klein und dumm gewesen sein. Sie hatte dies alles zwar gesehen, wahrgenommen, sich auch vieles gemerkt, heute aber schien jedes Haus, jeder Baum, alles ringsumher ihr entgegenzusehen und sie zu fragen: „Wieso kommst du zu uns? Gehörst du hierher? Wirst du einmal hierher gehören?”

Am meisten schien das Gutshaus das zu fragen, auf das sie jetzt zufuhren. Dort wohnte Großvater mit Amalie, der alten Haushälterin. Großmutter lebte schon lange nicht mehr. Das Gut wurde von einem angeheirateten Neffen des Großvaters geführt, der einen Aussiedlerhof auf dem Strohberg bewohnte. Großvater und Amalie lebten allein in dem alten Gutshaus, das unter Denkmalschutz stand. Die beiden Portale, aus Stein gehauen, sahen ernst und würdig aus. Der Wagen umfuhr den runden Grasplatz, der mit niedrigen Rosenbüschen umsäumt war, und hielt vor der linken Pforte.

Irgendwie war Ronny feierlich zumute, als sie ausstieg, sie konnte nicht erklären, warum. Das alte, mit wildem Wein bewachsene Haus wirkte ehrwürdig, ehrfurchtgebietend, trotzdem nicht unfreundlich. Aber es war nicht wie ein Haus in der Stadt, in das man eben hineingeht, das man auch ansieht, das aber nichts galt. Dieses Haus hier war wie eine Persönlichkeit, man hatte es zu begrüßen und abzuwarten, wie es einen empfing. Ronny hatte eigentlich das Gefühl, als müsse sie einen Knicks machen, was sie immer gehaßt hatte, als Mutter es noch verlangte. Schon lange tat man das nicht mehr, es paßte auch nicht zu Jeans oder Shorts, die jetzt so gut wie alle Mädchen trugen. Knickse machen, längst vorbei, hier aber ...

Da kam Großvater. Er hatte wohl den Wagen kommen hören und trat jetzt aus dem Haus, und Ronny spürte eine seltsame Regung in sich. Großvater – auf einmal wußte sie, daß sie ihn immer sehr gemocht hatte, wenn auch etwas scheu, wie aus der Ferne. Selten mochte man Erwachsene in dieser Art, Erwachsene waren eine andere Welt. Manchmal ganz nett, manchmal bedrohlich, nie ganz verläßlich in ihren Meinungen. Großvater aber –

Er sah gut aus, hatte ein ruhiges, straffes Gesicht, gesund, rotbraun, dichtes Haar, ziemlich kurz geschnitten, und einen gescheiten Mund, um den kein Bart wuchs. Hinter der Brille blickten graublaue Augen einen freundlich prüfend an, gütig, manchmal auch streng, aber nie böse, mitunter auch verschmitzt, so daß sich an ihren äußeren Winkeln lauter kleine Fältchen bildeten. Er pflegte diese Augen, wenn er etwas genauer betrachten wollte, halb zuzukneifen, und mit einem solchen Blick sah er Ronny jetzt an, als sie ihre Hand in seine legte.

„Das also ist das Kind. Grüß dich, Ronny, ich freue mich, daß du zu uns kommst. Nicht heulen, Elisabeth, Ronny heult ja auch nicht.” Er hatte sich Mutter zugewandt und sie in den Arm genommen, die seinen Hals umschlang und ihr Gesicht an seiner Wange verbarg.

„Vater”, flüsterte sie erstickt. Er klopfte ihr den Rücken.

„Na na! Wird schon alles gutgehen. Und ein Jahr ist schnell vorbei. Kommt herein, wir haben auf euch gewartet. Das alte Haus freut sich.”

Sie folgten. Es ging eine Treppe hinauf, durch einen Flur, und dann standen sie im Eßzimmer, auf das Ronny sich noch dunkel besann. Hohe Fenster, ein langer Tisch, an der Wand ein großes Bild von Großmutter. In Großvaters Zimmer nebenan, zu dem die Tür offenstand, hingen Hirschgeweihe an den Wänden und über dem Kamin.

„Der Nachtwächter! Den kenn’ ich noch!” rief Ronny halblaut, beglückt, „nur – früher war er größer!”

„Glaubst du? Es ist aber derselbe, deine Großmutter hat ihn mir geschenkt”, sagte Großvater, nahm Ronnys Hand und ging mit ihr hinüber, so daß sie die lustige bunte Figur, die Laterne und Hellebarde trug, von nahem betrachten konnte. „Er ist nicht kleiner geworden, sondern du größer. Zehn Jahre bist du jetzt? Einziges Glück, daß du noch nicht elf bist.”

„Warum?” Ronny schien es erstrebenswert und schön, älter zu sein als sie war. Der Großvater lachte.

„Weil du dann schon in der höheren Schule wärst und nicht zu uns kommen könntest. Wir haben doch nur eine Grundschule hier – aber eine sehr gute mit einem prächtigen Lehrer. Auf die Schule kannst du dich hier freuen.” Er ging wieder mit ihr hinüber, bat alle, Platz zu nehmen, und schon erschien Amalie mit der Kaffeekanne in der Hand. Auf dem Tisch standen ein runder Kuchen, mit Puderzucker bestäubt, und Großmutters Kaffeegedeck. Es war weiß mit blauem Muster, sah sehr gemütlich aus und paßte direkt zu Amalie, die ein blaues Kleid und eine weiße Schürze darüber trug. Ronny begrüßte sie schnell, ehe sie sich setzte. Sie besann sich noch gut auf Amalie und auf die vielen kleinen Süßigkeiten, die diese ihr zugesteckt hatte.

Amalie strahlte sie an. Sie hatte ein rundes, weiches Gesicht mit lauter weißen Löckchen drum herum, und ihre Hände waren ganz zart und behutsam, besonders wenn sie einen kämmte. Das tat Amalie mit Vorliebe. Ronny wußte das noch, besonders aus der Zeit, als sie Zöpfe getragen hatte – Zöpfe, die immer aussahen wie wirre Stricke und bei denen das Auskämmen besonders weh getan hatte. Jetzt stand ihr dunkles Haar kurz geschnitten und ein wenig struppig um ihren Kopf, so daß man es eigentlich nur zum Vergnügen zu kämmen brauchte. Aber sie wußte schon, daß Amalie die erste Gelegenheit ergreifen würde, sie zu striegeln.

„Und wo ist Murkel?” fragte Vater, nachdem er den ersten Schluck Kaffee getrunken hatte. Er wußte, wie sehr sich Ronny auf den Dackel freute.

Großvaters Gesicht verschattete sich.

„Ja, ich habe es euch am Telefon nicht sagen wollen, denn damals hofften wir noch, wir brächten ihn durch. Doch nun ist Murkel im Hundehimmel”, sagte er.

Einen Augenblick herrschte Stille, eine solche Stille, wie sie selten eintritt, wenn fünf Leute in einem Raum beisammen sind. Es war, als hielte das ganze Zimmer den Atem an. Vater und Mutter blickten auf Ronny.

Die saß wie erstarrt da, sah zu Großvater auf.

„O Großvater ...” sagte sie ganz leise.

Die Eltern schwiegen, auch Großvater. Eine ganze Weile später sagte er: „Ich habe ihn sehr liebgehabt. Er fehlt mir überall. Und du hattest dich auch auf ihn gefreut?”

Ronny nickte. Sie verbiß das Weinen, das aufsteigen wollte, so gut es ging. Und als es nicht mehr ging, sprang sie auf und lief hinaus. Mutter wollte ihr nach.

„Laß, Elisabeth”, sagte Großvater sanft. „Laß sie allein. Sie muß jetzt weinen dürfen.”

Er legte seine Hand auf die seiner Tochter.

„Das ist kein leichter Anfang”, sagte er und sah sie an. „Aber so ist halt das Leben. Für euch ist es auch nicht leicht.”

„Für uns ...” sagte Mutter und stockte, „wir können doch nicht ...”

„Deshalb werft ihr eure Pläne nicht um, verstanden?” sagte Großvater freundlich. „Ich bin ja auch noch da. Dasein muß man, mehr kann man nicht. Und da ist auch Amalie. Auf Regen folgt Sonnenschein, als alter Landwirt kann ich euch das mit Bestimmtheit versprechen. Also!”

Er stand auf, etwas mühsam – Vater und Mutter sahen es beide –, und ging zum Fenster, sah in den Hof hinaus. Seine Schultern hingen ein wenig herab.

Nein, ein leichter Anfang war das nicht.

Ein Dackel für Veronika

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