Читать книгу Josi und ihre Freunde - Lise Gast - Страница 5
ОглавлениеJosi stand am Fenster des D-Zuges, der soeben zu bremsen begann. Sie trug ein Kostüm, ihr erstes, und mußte sich beständig in den Fensterscheiben spiegeln, während ihr dunkles Haar im Zugwind flatterte. Ob Ulrich an der Bahn sein würde? Kein Mensch auf der Welt konnte ermessen, wie wichtig das war. Wie jeden Tag mit Ulrich und Leo und Helga zusammenzusein...
Josi zog, ohne es zu wissen, wie stets ihre Himmelfahrtsnase ein wenig kraus, wenn sie an Helga dachte. Helga war die Tochter vom Gut, etwas älter als Josi, und hatte ungefähr alles, was man sich wünschen konnte, nur keine Geschwister. Dafür hatte sie, Josi, sieben, und war Nummer acht. Als Helga ein gutes Abitur machte – sie waren alle vier zusammen in die Kreisstadt zur höheren Schule geradelt –, war es für Josi klar, daß sie das auch schaffen müßte. Sie schaffte es dann auch. Und jetzt hatte es die kleine Josi Fischer tatsächlich durchgesetzt, daß sie auch studieren durfte. Sport wollte sie studieren, und dazu – sie mußte noch mit Ulrich reden. Nun würden sie sich wieder jeden Tag sehen. So war es damals gewesen; da verging kein Tag, an dem sie nicht in der Revierförsterei auftauchte. Frau Gieseking, Ulrichs Mutter, pflegte zu sagen, wenn man sie fragte, wieviel Kinder sie habe: „Drei. Zwei Jungen und ein Mädchen.“ Das Mädchen war Josi. Sie gehörte in die Försterei mehr als ins Inspektorhaus. Und deshalb waren die Jahre, in denen Ulrich und Leo fort waren, ein bißchen einsam gewesen. Jetzt aber fing das Leben wieder richtig an. Ob Ulrich...
Aber es war ein anderes Gesicht, das auftauchte, als Josi aus dem Zug gesprungen war, und nicht Ulrichs, sondern eine andere Stimme rief: „Ja, Josi, da bist du ja. Wunderbar!“
Sie war nicht enttäuscht. Sie kam gar nicht dazu, es zu sein – Leo sah großartig aus, und er hakte sich sofort bei ihr ein.
„Bist du noch größer geworden?“ Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter. „Nein, ein Taxi, du bist ja verrückt!“
„Nur heute, dir zu Ehren. Komm, ich traute mich gar nicht, dich hier heil über die Straße zu bringen zu Fuß!“
Das Gewühl vor dem Hauptbahnhof war freilich verwirrend. München – Großstadt – Universitätsstadt – sie schnurrten dem Stachus zu.
„Du mußt gleich alles kennenlernen. Ich hab’ zu Ulrich gesagt...“
„Wo ist er denn?“ fragte Josi und versuchte zu kapieren, was er ihr zeigte. Da hielt der Wagen schon wieder.
„Ulrich? Kommt gleich. Helga hat noch Kolleg“, berichtete Leo beim Aussteigen. „Sie sind sicherlich gleich da.“
Er bugsierte Josi durch ein gemütliches kleines Lokal zu einem Fenstertisch. Draußen flutete der Verkehr vorbei, gegenüber lag das Rathaus. Und dann kamen Ulrich und Helga.
Ulrich war größer als sein Bruder, wirkte aber zarter. Er hatte ein etwas unregelmäßiges Gesicht mit gescheiten dunklen Augen und auch dunkles Haar. Leos Haar krauste sich, hellbraun, in kurzen eigensinnigen Locken über der breiten Stirn.
Josi war glücklich. Die andern fragten nach zu Hause, und sie erzählte. Sie hatte natürlich ein Päckchen für sie alle mit, von Frau Gieseking – „sicherlich Waffeln“ –, und viele, viele Grüße. Und die Lotte hatte gekalbt, ein Kuhkalb, braun mit winziger Blesse.
Auch für Helga brachte sie Grüße mit. Die saß am Fenster in der blassen Herbstsonne, vornehm, still und schön. Ein bißchen blaß, fand Leo, als sein Blick von den strahlenden Farben Josis zu ihr hinüberging. Wahrscheinlich arbeitete sie zuviel.
„Wo wohnen wir denn?“ fragte Josi.
„In der Leopoldstraße, ziemlich weit draußen, aber trotzdem enorm günstig. Die Uni zu Fuß zu erreichen, ringsumher Schwabing, für dich haben wir ein Zimmer erwischt.“ Die Zugehfrau, die alle betreute, sei ganz groß, erzählte er. Früh machte sie Waldlauf im Englischen Garten, und abends braute sie Schnäpse; und dichten tat sie auch. Wie Ulrich.
„Ach, laß doch den Unsinn!“ sagte der ärgerlich.
„Na, natürlich, du dichtest ganz anders...“
„Hast du was Neues fertig?“ fragte Josi begierig.
Ulrich winkte ab. Er konnte es nicht leiden, wenn man darüber sprach, obwohl sie alle nicht spotteten. Alle – ob auch Helga glaubte, daß etwas Großes aus ihm werden würde? Nie wurde man aus ihr klug, und sie sollte, gerade sie sollte doch...
„Ich hab’ noch zu arbeiten“, sagte er plötzlich in Leos Pläne für den Abend hinein, „geht doch allein. Ich...“
„Aber Ulrich! Du hattest doch gesagt... Helga, sag du mal...“
„Ich möchte auch noch was tun“, sagte Helga. Leo wütete.
„Dann geh’ ich mit Josi allein. Sie hat das Recht drauf, daß wir ihr die Stadt zeigen, an ihrem ersten Tag hier!“
Die andern gaben nach. Man beschloß: Theater.
„Kann ich denn so gehen?“ fragte Josi schüchtern. Ihr herrliches Kostüm kam ihr gegen die Eleganz der Großstadt und Helgas Pelzjacke plötzlich sehr simpel vor. Sie dachte an ausgeschnittene Abendkleider und blitzende Diamanten im Foyer.
„Klar, wir gehen doch Galerie“, sagte Leo beruhigend. Er brachte Josis Koffer heim, und die andern gingen voran ins „Kleine Theater“. Es war ein modernes Stück und schwer zu verstehen, und schon im zweiten Akt sank Josis Kopf nach vorn. Immerhin war sie nach einer vor Vorfreude fast schlaflosen Nacht seit dem Morgen unterwegs. Leo lachte. Mochte sie schlafen.
Als sie heimkamen, war Josi wieder munter, so munter, daß ihr unmöglich schien, schlafen zu können. Ihr Zimmer war kalt, die Koffer standen noch so, wie Leo sie hingeboxt hatte. Helgas Zimmer lag nebenan, das der Jungen einen Stock tiefer.
Auf dem Tisch türmten sich bald Bücher, Taschenbücher, von Mutter liebevoll zusammengebunden, und sonst allerlei. Endlich fand Josi die Waffeln, auf die die Jungen lauerten.
„So, nun brausen wir ab; wenn was ist, klopfst du auf den Fußboden, dann komme ich als rettender Engel heraufgeschwebt.“
„Was soll denn schon sein? Aber es beruhigt mich kolossal!“ Josi lachte. Die Jungen schoben ab, auch Helga, die sich erst geweigert hatte, ihren Anteil Waffeln anzunehmen. Josi ging umher, räumte ein, setzte sich schließlich auf die Bettkante und zündete sich eine Zigarette an. Sie rauchte sonst nie, fand nichts daran, aber wie oft hatte sie sich ausgemalt: Wenn ich erst Studentin bin und eine Bude hab’, dann rauche ich vor dem Schlafengehen eine Zigarette. Es war also eine symbolische Handlung. So tat sie es mit Genuß.
Draußen war Mondschein. Unten, im selben Haus, schlief Ulrich. Sie war glücklich. Als die Zigarette zu Ende war, konnte sie getrost ins Bett schlüpfen. Sie drehte das Nachttischlämpchen an: Da lag ihr Waffelanteil, auf ein Stück Papier geschichtet. Es duftete herrlich nach Butter und Zimt. Sie kuschelte sich ins Bett und griff nach der obersten Waffel, ließ sie genießerisch auf der Zunge zergehen. Dabei dachte sie an die Küche im Forsthaus von Frau Gieseking...
Zu gern war sie dort immer gewesen. An einen Nachmittag erinnerte sie sich besonders genau, im letzten oder vorletzten Jahr, als die Jungen noch zu Hause waren. Es war entsetzlich heiß, ein Gewitter im Anzug. Josi sah die Wolkenbank vom Westen her aufziehen, während sie um die Hutung bog. Frau Gieseking rettete die Putküken vor dem Regen, die keinen vertrugen. Josi half – kaum waren sie in der Küche, da fuhren die Blitze schon über den Himmel, zischgelb und tausendfach verästelt. Die Jungen waren im Wald.
„Wo sie nur bleiben!“ sagte Frau Gieseking und sah hinaus.
Josi schnupperte. „Backen Sie Waffeln?“
„Ich wollte gerade anfangen.“ Frau Gieseking trocknete sich die Arme mit der Schürze ab. Josi sah zu, wie sie den Teig zähflüssig ins schwarze Waffeleisen rinnen ließ. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. „Darf ich mitessen?“ fragte sie blinzelnd.
„Als ob wir jemals Waffeln ohne dich gegessen hätten“, sagte Frau Gieseking lachend, „aber trockne dich ab, Kind!“ Sie warf ihr ein Handtuch zu, das am Herd gehangen hatte. Es roch nach Rauch und Sommerwind und kratzte auf der Haut, so grobkörnig war es. Josi hatte einen Fuß auf die Ofenbank gestellt und rieb das Bein ab.
„Jetzt kommen sie“, sagte sie, ohne aufzublicken, „hören Sie?“
„Ich höre nur den Regen...“
Sie gingen zusammen zum Fenster und sahen hinaus. Der Hof war jetzt ein See, aus dem die Tropfen spritzend emporsprangen. Hinterm Wald wurde es schon wieder hell. „Du mußt Ohren haben wie ein Luchs“, sagte Frau Gieseking, „hören kann man doch nichts.“
Die beiden Jungen kamen um die Hutung. Sie sprangen in weiten Sätzen, Leo vornweg, Ulrich etwas vorsichtiger hinterher. Ihre Hemden klatschten auf der Haut. Josi hielt ihnen die Tür auf.
„Waffeln fertig?“ war das erste, was Leo rief. Die Mutter legte eben ein paar Scheite auf.
„Gleich geht’s los. Könnt ihr nicht eher kommen? Naß wie die Wassermäuse seid ihr...“
Ulrich zog sein Hemd über den Kopf und warf es, klatsch, auf die Ofenbank. Der Schein des Feuers tanzte auf seinem nackten Oberkörper und malte ihn rot an. Leo hockte sich vor die Glut. Er sah wie ein Waldschrat aus mit dem hellbraunen Haar, das sich in der Nässe ringelte und drehte.
„Na, ihr seid ja reichlich ungeniert, dabei habt ihr doch Damenbesuch“, schalt die Mutter.
„Ach, Damen!“ meinte Ulrich wegwerfend. Josi am Fenster lachte. Sie hatte ihr Haar glatt nach hinten gestrichen und fühlte es um den Kopf liegen wie einen kühlen Helm.
„Wenn ich schon keine bin, aber draußen ist eine“, sagte sie.
„Wo?“
Sie deutete mit dem Daumen hinter sich. Leo kam neugierig herüber. Eine Dame im regennassen Wald?
Es war Helga. Josi hätte sie malen können, so genau besann sie sich, wie sie jetzt dastand, ein wenig hilflos, das Pferd am Zügel. Es war der hochbeinige Dunkelbraune, den sie damals ritt. Der Regen sprühte von dem blanken Sattel.
Ulrich rannte gleich hinaus, um ihr zu helfen. Helga fühlte sich wohl ein wenig fehl am Platz mit ihrer durchgeregneten Reitjacke zwischen den halbnackten Jungen und Josi, die hier wie zu Hause war. Josi fand, daß sie nicht so recht zu ihnen paßte, zu Ulrich, Leo und ihr. Damals schon – und auch noch heute. Obwohl die Jungen sehr nett zu ihr waren...
Josi hatte beim Schwelgen in Gedanken alle Waffeln aufgegessen. Jetzt tat ihr das leid. Eine hätte sie doch als Heimwehbrot aufheben sollen. Sie lachte: Heimweh? Wo die Jungen unten wohnten? Nein, Heimweh gab es nicht. Sie streckte sich aus und schob den Arm unter die Wange. Wo Ulrich war, war auch sie zu Hause. Schnell war sie eingeschlafen.
Helga stand am Waschtisch und ließ das Wasser über die Hände laufen, minutenlang, wie vor einer Operation. Draußen nieselte es – unerfreuliches Wetter, fast schon November. Helga fror und hatte zu nichts Lust. Es war noch Zeit bis zur Reitstunde. Ob Josi vielleicht...
Da kam sie schon draußen durch den Regen gesaust, Helga sah es durchs Fenster. Josi trug zu einem kurzen Rock ihre Skijacke, ihr Gesicht war naß vom Regen und munter – beneidenswert munter. Mit einem Satz sprang sie vom Rad und trug es, noch im Schwung, drüben zur Seitentür hinein. Helga fragte sie, warum sie denn so zeitig käme. Die Stunde finge noch nicht an.
Seit Josi da war, war alles anders, auch die Jungen – wacher, lebendiger. Sie unternahmen mehr, sie ließen sich mitreißen von ihrem Tempo, und Josi tat, als gehörten sie ihr. Das, fand Helga, war übertrieben.
Bisher hatten sie sich um sie. Helga, förmlich gerissen. Und sie hatte sich zwischen den beiden Knappen recht wohl gefühlt. Sie „standen“ ihr gut. Ulrich war bestimmt begabt und wurde sicherlich einmal etwas Großes, und Leo, einfacheren Gemütes, wäre sicher für sie durchs Feuer gegangen, bisher. Und nun war es auf einmal Josi, die den Ton angab. Wie kam das nur?
Sie dachte an ihre Mutter. Neben der war es auch schwer, sich zu behaupten, deswegen hatte sie, Helga, wohl angefangen Medizin zu studieren. Mutter hatte das als junger Mensch auch einmal gewollt, und so glaubte Helga, am ehesten vor ihren Augen bestehen zu können. Das Interesse für all die Wunder und Zusammenhänge des Lebens hatte sie in sich, und ein gutes Gedächtnis auch. So hatte sie das Physikum ohne Schwierigkeiten gut bestanden. Nun kam also das Klinische.
Ob Mutter sich gefreut hatte, als sie telegrafierte, sie habe bestanden? Ob Mutter – Herrgott, immerzu Mutter und Mutter. Lieber sollte sie sich jetzt um ihren Lord kümmern, den sie so gern ritt. Sie stand auf, ungeduldig über sich selbst, und ging zum Stall hinüber. Gerade kam Leo geschusselt.
„Helga? Willst du auch Stallbursche werden? Dort drin steht Josi und mistet aus. Für dich ist auch noch eine Gabel da!“
„Ist nicht wahr. Putzen tut sie“, sagte jetzt Ulrich herankommend. „finde ich übrigens ganz gut. Selbst putzen und satteln – wir sind doch keine Herrenreiter. Von jetzt an...“
Der Reitlehrer verteilte die Pferde. Ulrich bekam den Kardinal und saß auf, strahlend vor Stolz. Er ritt gut, fast so gut wie Leo. Helga sah noch, daß Josi den Loki bekam, ein kleines, nicht sehr dekoratives Pferd, aber einfach zu reiten. Eigentlich gehörte sie noch in die Anfängerabteilung.
„Wir wollen es mal hier versuchen, kleines Fräulein“, sagte der Reitlehrer eben zu ihr. „Schneid und Energie haben Sie ja. Gehen Sie hinter den Lord, so. Freien Schritt reiten!“
Helga fand es schade. Josi nicht beobachten zu können. Natürlich ritt sie selbst besser, sie hatte ja schon zu Hause viel geritten, auch unter Anleitung. Hier tat sie mehr mit, um in Übung zu bleiben, Mit dem Lord wäre Josi vermutlich nicht fertig geworden.
Es wurmte Helga, daß Josi in diese Abteilung durfte. Sie bekam zwar manchen Rüffel – Reitlehrer sind ja nie sehr höflich –, und einmal benahm sich der Loki auch ausgesprochen störrisch und wollte nicht mehr auf den Hufschlag zurück; da ritt Helga schweigend aus der Reihe und setzte sich vor ihn, nahm ihn mit, bis er wieder drin war. Josi rief ein halblautes: „Danke schön, Helga!“, das sehr erleichtert klang. Aber was war das schon groß.
Als sie absaßen, sah sie, daß Josi kaum laufen konnte. Es war wohl erst ihre dritte oder vierte Stunde, und anfangs machte das Reiten ja einen unmäßigen Muskelkater. Aber sie lachte nur und grub Zucker aus der Hosentasche, und das Haar hing ihr verstrubbelt in das erhitzte und erschöpfte Gesicht. Sie sattelte selbst ab und kam daher erst in den Umkleideraum, als Helga schon fertig war.
„Du, das war prima von dir, ich glaub’, der Gestrenge hätte mich sonst rausgeschmissen“, sprudelte sie hervor, „dabei möchte ich doch...“; und nun ergoß sich ihre ganze Reit- und Pferdebegeisterung über Helga. Die Jungen klopften schon an die Tür und riefen und trieben an, da stand Josi noch in der Strumpfhose da und ereiferte sich. Sie wollte unbedingt wissen, wie man antrabt, wie man richtig wechselt und woran man merkt, daß man – schweres Verbrechen! – auf dem falschen Fuß trabt oder angaloppiert.
Es war schon dunkel, als sie das Reithaus verließen. Josi und die Jungen schoben die Räder, da Helga zu Fuß war, und man beratschlagte, was heute noch zu unternehmen sei. Nach dem Reiten mußte ein schöner Abend folgen, das gehörte zum Programm.
Ulrich fuhr aus dem Schlaf, als der Wecker rasselte. Er hatte ihn auf sechs gestellt. Aufstehen, los, sonst kam er keine einzige Minute an die Arbeit.
Mit Mühe raffte er sich auf. So ein Unfug von ihnen, gestern bis wer weiß wann in der „Laterne“ zu sitzen. Nun hatte man einen dicken Kopf. Ulrich steckte das Gesicht in die Waschschüssel und prustete. Huh, war das kalt! Und in solcher Stimmung sollte der Mensch nun dichten! Er holte die Papiere und suchte nach einem Kuli. Das Glück bescherte ihm eine Packung Zigaretten, als er in Leos Hosentasche fuhr, um nach einem Stift zu fahnden. Na also, so ärmlich war man ja gar nicht dran. Er entzündete eine der beiden einsamen und zerdrückten Zigaretten und überlas die letzten Sätze.
Seine Stimmung stieg. Das letzte war gut, das hatte er ganz sicher im Gefühl, und ein guter Schluß ist ein leichter Anfang. Man mußte nur so tun, als habe man eben erst geschrieben, und sich über den Absatz hinwegmogeln. Es gelang. Der Kugelschreiber eilte, und die Zigarette verglomm ungeraucht. Er merkte es nicht. Von Zeit zu Zeit starrte er geistesabwesend in die Luft, schrieb dann weiter und verbesserte, strich aus, setzte neu an. Und allmählich kam es über ihn wie ein sanfter Rausch. Er sah sich selbst sitzen in der kalten und unordentlichen Bude, fröstelnd und übernächtigt; es war ja sozusagen für die Kunst, daß er hier litt. Für die Kunst und für Helga. Manchmal sah er zu Leo hinüber, von dem nur der Schopf unter der Decke herausguckte und der so hingegeben schnaufte. Und aus dem anfänglichen Neid auf dessen gesunden und genießerischen Schlaf wurde ein Gefühl der Herablassung. Na ja, wer sich nicht schindet, bringt es auch zu nichts. Aber er, Ulrich, würde es zu etwas bringen, zu etwas Großem, bestimmt!
Im Stockwerk über ihm fing es an zu rumoren. Er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn sie erst verheiratet wären, Helga und er. Dann würde er nach einer durcharbeiteten Nacht – daß er erst vor einer reichlichen Stunde aufgestanden war, zählte nicht – hinüber in ihr Schlafzimmer gehen und die Vorhänge aufziehen, damit die Sonne auf ihr verschlafenes, rosiges Gesicht fiel, und sie lächelnd wecken: „Helga, denk nur, ich hab’ das Kapitel fertig!“
Wie sie dann staunen und sich an ihn schmiegen würde: „Ulrich, das ist großartig! Und ich schlief so schön!“
Er saß und träumte und erlebte dies alles. Und dann würde er hinausgehen in die winzige Küche, die sie haben würden, den Stecker des elektrischen Topfes einstecken und den Kaffee in die Tüte schütten. Und nachher saß er dann auf ihrem Bettrand und balancierte eine Tasse auf den Knien, und Helga hörte zu, während sie trank. Ach, herrlich würde das sein, großartig, Helga und er!
Helga und er, so hieß seine Zukunft. So hatte er sie sich schon als halbwüchsiger Junge geträumt. Und wenn die Welt voll Teufel wär’ und wenn er jede Nacht sitzen müßte...
Er horchte. Nein, es war wohl Josi gewesen, die da oben herumfuhrwerkte. Man hörte es an ihrem halblauten, nicht sehr musikalischen Singen. Josi sang immer, wenn sie aufstand. Dann schepperte es in regelmäßigen Abständen, daß die Lampe klirrte: Josis Frühgymnastik. Der Gesang wurde kriegerischer. Dazwischen ertönte immer einmal ein tiefer Seufzer: „Oh!“ Wahrscheinlich hatte sie Reitfieber. Ulrich lächelte. Eine Tür schmetterte ins Schloß. Ach ja, Josi war sehr anders als Helga.
Mit dem Arbeiten war es vorbei. Frau Fleischhack, die Zugehfrau, meldete sich, die Dame mit dem Waldlauf am Morgen und den Schnäpsen am Abend. „Gehen Sie erst rauf, oben ist das Nest leer“, trompetete Leo, der inzwischen auch aufgewacht war, durchs Schlüsselloch hinaus, und die Dame entfloh erschreckt die Treppe hinauf. Als sie dann zu dritt das Haus verließen – Josi war längst über alle Berge –, trafen sie den Briefträger. Wieder keine Antwort des Verlages, an den er seine Novelle „Reiterin in der Heide“ geschickt hatte. Dabei befand sich der Verlag in der Stadt. Ulrich tobte.
„Ruf doch mal an, vielleicht ist was verlorengegangen“, riet Leo, und Ulrich strebte auf das nächste Telefonhäuschen zu. Die beiden andern standen wartend, der Atem rauchte ihnen vor dem Mund. Helga hatte den Kragen ihrer Jacke hochgeschlagen, ihr Gesicht sah fein und ein wenig blaß aus dem Pelzwerk hervor. Wie eine Gräfin sieht sie aus, dachte Leo stolz. Eben wurde die Glastür heftig aufgestoßen, und Ulrich kam heraus, aufgeregt und eilig.
„Kinder, ich muß in den Verlag“, sprudelte er hervor, „sie wollen persönlich mit mir verhandeln. Paßt auf, sie nehmen sie!“
„Hast du nicht Kolleg?“ fragte Leo hinterlistig-bieder.
„Na, das geht ja wohl vor“, rief Ulrich. Er hatte noch keine seiner zahlreichen Arbeiten an den Mann gebracht und war begreiflicherweise empfindlich, wenn jemand deren Wichtigkeit anzweifelte. Leo tat das mit Vorliebe. Sie hasteten weiter. An der Uni schwenkte Ulrich ab, er sah noch Helgas Pelzjacke im Strom der Studenten verschwinden. Einen Augenblick stand er still und überlegte – war er nicht ein bißchen zu salopp angezogen? Dann aber setzte er sich entschlossen in Marsch.
Das Verlagshaus war groß und gediegen. Ulrich mußte in der Diele warten und blätterte in den Zeitschriften, die auf einem Tischchen auslagen. Wie beim Zahnarzt, dachte er. So ähnlich war ihm auch zumute. Dann aber bat ihn ein kleiner, sehr höflicher Mann einzutreten, und nahm selbst hinter einem riesenhaften Schreibtisch Platz. „Sie kommen wegen der ‚Reiterin in der Heide‘ für unsere Monatshefte“, sagte der kleine Mann und schichtete einige Manuskripte um, die sich vor ihm türmten. „Wie gesagt, sie gefällt mir ausgezeichnet.“ Ulrich strahlte und fand ihn nicht mehr komisch.
„Aber sie ist zu groß für uns.“
„Wieso?“ fragte Ulrich töricht.
„Zu umfangreich, zu lang“, erläuterte der Kleine. „Sie müssen sie kürzen.“
„Das geht nicht“, warf sich Ulrich in den Kampf. Er war entschlossen, jedes seiner hundertmal überlegten und gefeilten Worte bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Wenn dieser Herr seine „Reiterin“ ausgezeichnet fand, mußte er sie auch nehmen, wie sie war.
„Tja, das sagen die Herren Autoren immer. Aber glauben Sie mir...“ Er blätterte virtuos eine Nummer der Monatshefte auf, die vor ihm lag. „... der Raum ist ausgerechnet. Zwölf Druckseiten höchstens. Das Manuskript ergibt... ergibt...“ Er rechnete. „Mindestens zwanzig. Das ist zuviel.“
„Aber ich kann nicht...“
„Doch. In der Beschränkung zeigt sich der Meister.“
„Ich kürze nicht. Unter keinen Umständen.“
„Dann bedauere ich aufrichtig.“ Er erhob sich, Ulrich tat es auch. Er trat an den Schreibtisch heran, sah auf seinen Gegner nieder. Etwas Flehendes kam in sein Gesicht. „Bitte...“, sagte er, und dann kam ihm ein leuchtender Einfall. „Können Sie nicht... Sie müssen dann eben die Novelle in Fortsetzungen bringen, in zwei Hälften.“
„Das ist nicht üblich.“ Aber es klang zögernd. Ulrich merkte, daß er Boden gewann.
„Muß man sich denn nach dem Üblichen richten?“
„Nein, das nicht. Aber unsere Leser – man vergißt so leicht... Sie müssen bedenken, daß nur alle vier Wochen ein Heft erscheint!“
„Aber einen Fortsetzungsroman haben Sie doch auch, sogar durch vier Hefte laufend.“
„Das wohl...“
Ulrich fieberte. Er mußte das Eisen schmieden, solange es warm war. „Ich finde, die Novelle eignet sich prachtvoll als Fortsetzungsgeschichte. Wenn man an der Stelle abbricht, wo Leonore – wo es gerade so spannend ist, im fruchtbaren Moment sozusagen...“ Er hatte das Manuskript erspäht und blätterte es eifrig auf. „Hier, sehen Sie!“ Er fühlte ordentlich, wie die Entscheidung auf Messers Schneide stand. Kaum konnte er Atem holen. Der Gewaltige – jetzt wirkte er plötzlich gewaltig, so klein er war – sah auf den Bogen herunter, den Ulrich herausgenommen hatte, überlegte. Ulrich fühlte alles Blut zum Herzen strömen – er hatte gewonnen!
„Also gut. Allerdings...“
Es sauste und brauste um Ulrich. Er lächelte entspannt und nicht sehr intelligent.
„Bitte, was ist noch?“ fragte er erschöpft.
„Sie müßten darauf eingehen, daß ich Ihnen nur die Hälfte des Honorars zahle, sozusagen, also quasi das Honorar für das eine Heft, und den Schluß honorarfrei bringe. Ich kann es sonst nicht verantworten.“
„Bitte. Natürlich“, sagte Ulrich. Er wäre auf ganz andere Bedingungen eingegangen.
„Das macht dann ungefähr – ungefähr...“ Der Kleine überlegte, rechnete, sah auf. „Zweihundert Mark.“
„Das Ganze?“ fragte Ulrich gespannt.
„Das, was Sie bekommen.“
Ulrich wäre am liebsten in ein Indianergeheul ausgebrochen. Zweihundert Mark! Das überstieg alle Hoffnungen. Er hatte mit kaum der Hälfte gerechnet. Mit Mühe bezwang er sich.
„Und in welchem Heft erscheint es?“
„Das muß ich mir vorbehalten. Bezahlt wird sofort. Wir sind uns also einig?“
An der Tür hielt der kleine Mann Ulrich noch einen Augenblick auf. „Wenn Sie – ich meine das ganz unverbindlich –, wenn Sie zufällig eine größere Arbeit haben, einen Roman, der sich vielleicht eignet, in Fortsetzungen zu erscheinen? Ich sehe gern einmal hinein. Die Länge können Sie sich ja ungefähr aus den Heften ausrechnen.“
Ulrich fand sich, leicht taumelig vor Aufregung, auf der Straße wieder, zweihundert Mark in der Brieftasche und einen Stoß Monatshefte unter dem Arm. Und im Herzen die Aussicht, die Aussicht! Das war vielleicht das allergroßartigste dabei. Zweihundert Mark, gewiß, aber er hatte bereits andere Maßstäbe. Fieberhaft überschlug er, was wohl der Roman bringen würde, wenn er ankam. Denn natürlich hatte er einen. Einen, seinen Roman, noch nicht ganz fertig, um so besser, so konnte er sich mit der Länge noch einrichten. Er mußte sich nur entsetzlich eilen, durfte keine Zeit verlieren. Der Zwerg dort drin sollte die Arbeit in der Hand haben, ehe er ihn, Ulrich, vergessen hatte.
Mit offener Jacke – er hatte sich nicht die Zeit genommen zuzuknöpfen – eilte er durch die Straßen. Abgetippt mußte der Roman noch werden, er hatte ihn erst handschriftlich fertig, das heißt, auch das noch nicht ganz. Aber wenn er die Nächte zu Hilfe nahm – und auch sonst konnte er schließlich ab und zu einmal schwänzen. Natürlich! Im Eingang der Uni rannte er fast an Josi an, die gerade die Stufen herabgesprungen war. So war sie die erste, die es erfuhr, und sie freute sich, mein Gott, wie sie sich freute!
„Ich könnte kopfstehen, Ulrich“, versicherte sie immer wieder, „nein, so ein Glück, so ein Glück! Gigantisch einfach!“
Er fand es auch. Sie standen und priesen das Geschick und vergaßen Ort und Zeit.
„Natürlich muß der Roman sofort raus“, sekundierte Josi eifrig, „dauert es lange, bis er getippt ist? Vielleicht braucht ihn der Zwerg gerade für die nächsten Hefte? Du mußt dich furchtbar beeilen, das ist eine einmalige Chance.“
„Klar will ich mich beeilen...“
„Kann ich dir nicht helfen? Ich tippe sehr schnell, hab’ doch für Vater lange Zeit alles geschrieben. Sicher geht es schneller, wenn du diktierst und ich schreibe.“
Ulrich strahlte sie an. „Wenn du das tätest!“
„Gerne! Wir fangen heute schon an. Oder mußt du erst noch den Schluß ganz fertig schreiben?“
„Im Kopf hab’ ich ihn druckfertig. Inzwischen diktiere ich dir den Anfang und schreib’ den Schluß, wann es eben einmal geht. Paß auf, Josi, es klappt, es muß einfach klappen!“
Sie zappelte genauso wie er, während sie auf die andern warteten. Ulrich versprach, alle zum Essen einzuladen. Einträchtig steuerten sie dem „Mathäser“ zu. Das war ein Rahmen, würdig des großen Ereignisses, und außerdem gab es dort reichliche Portionen. Den Kaffee würden sie nachher in der „Maxburg“ nehmen. Nicht trinken, nehmen, betonte Josi. So sagte man es auf feine Art.
„Du hast das natürlich nie geglaubt“, sagte Ulrich triumphierend zu Leo, „immer hast du mich ausgelacht. Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterhaus.“
„Na, auch eine blinde Henne findet mal ein Korn.“
„Na, weißt du, blinde Henne! Was meinst du, Helga?“
„Doch, warum sollst du nicht auch einmal Glück haben?“
„Glück?“ Ulrich war beinahe ernstlich beleidigt. „Glück! Als ob das ein bloßer Zufall wäre, so tust du. Weißt du nicht, daß Glück auf die Dauer nur der Tüchtige hat?“
„Auf die Dauer. Aber...“
„Kein Aber! Ihr seid Spießer! Und außerdem Kleingläubige! Ist doch klar, daß unser Roman nun auch funkt!“ flammte Josi. Ulrich war ganz ihrer Meinung. „Unser Roman“, nett war das von ihr, ihn so zu nennen. Obwohl es ihm einen feinen Stich gab: Noch netter wäre es zweifellos gewesen, wenn Helga es so formuliert hätte. Aber schließlich, sie meinte es sicher auch, und es war nur Zufall, daß Josi es ausgesprochen hatte. Nichts sollte ihm den heutigen Tag trüben! Sie traten ein und suchten sich einen Tisch. Es sollte ein Festmahl werden.
Der Tag war ein einziger Glanz. Die ganze Woche über hatte es geschneit, man mußte es einfach ausnutzen. Leo und die beiden Mädchen stiegen bergan. Der Schnee konnte nicht besser sein. Sie wollten nicht Pisten rutschen, sondern eine Tour machen. Ulrich war zu Hause geblieben, er wollte arbeiten. Am Übungshang konnten sie nicht widerstehen, die sommersteifen Skibeine erst einmal auszuprobieren, sie fuhren ab und versuchten ein paar Schwünge.
„Ich kann gar nicht mehr!“ schrie Josi den beiden andern zu, und auch Helga machte die erste Bekanntschaft mit der Erde. Leo fuhr zu ihr hin, um ihr aufzuhelfen.
„Wirklich, man hat alles verlernt, es ist eine Schmach“, sagte er. „Aber das gibt sich. Wir kommen schon wieder rein.“
Sie stiegen weiter auf. Der Lift wäre außerdem zu teuer gewesen, redeten sie sich ein. Helga prustete.
„Wirklich, man ist eingerostet.“ Sie stand still und wischte sich die Stirn. Josi war wieder ein Stück voraus. Sie stieg leichter als Helga, aber unregelmäßig. Gerade schwatzte sie mit ein paar halbwüchsigen Buben, in die sie vorhin hineingesaust war. Beinahe sah sie aus wie einer von ihnen.
Leo sagte das und lachte. Helga sah ihn nachdenklich an.
„Ihr hängt sehr an Josi. Ulrich und du“, meinte sie dann. Er lachte und nickte unbefangen.
„Natürlich. Wir waren doch die ganze Kindheit über zusammen, sie und wir“, sagte er. „Ich könnte mir gar nicht vorstellen, wie es ohne sie gewesen wäre. Sie hatte immer die schönsten Einfälle und machte alles um sich her lebendig. Das ist jetzt noch so. Mutter mag sie auch.“
„Jaja.“ Helga stand und sah Josi nach, die wieder ein Stück bergab gesaust war. „Ich wünschte, ich wäre auch wie sie – manchmal“, fügte sie hinzu. Es klang fast ärgerlich. Leo wunderte sich. „Helga, du? Das ist ja komisch. Wo du doch...“
„Was denn?“ fragte sie ungeduldig.
„Du bist doch viel – viel hübscher als sie, ich meine...“ Er stockte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, Helga und Josi zu vergleichen. Sie waren so verschieden, aber jede in ihrer Art gut zu leiden, und außerdem war es bei ihnen nicht üblich, über so etwas zu sprechen. Deshalb sprach er unsicher und etwas verlegen.
„Ach, hübscher! Als ob es darauf ankäme!“ sagte Helga und stieß mit ihrem Stock nach einem Schneebatzen. „Danach geht es doch nicht. Sag mal – nein, sag mal ganz ehrlich: Ist es nicht anders bei uns, seit Josi da ist?“
Er war auch stehengeblieben. „Wie meinst du das?“
„Ich meine – ach, ich meine gar nichts. Wenn du es nicht selbst merkst.“ Sie hatte sich abgewandt und stand jetzt, dem Tal zugekehrt, auf ihre Stöcke gestützt und sah hinunter. Die Hangwiese unter ihnen wimmelte jetzt von Skiläufern, überall war es bunt und lebendig.
„Vielleicht liegt es auch nur an mir“, sagte sie grübelnd. „Überhaupt – nein, komm, wir wollen weiter. Es hat keinen Zweck, wenn man über so etwas spricht.“
„Gefällt es dir nicht, Helga?“ fragte Leo nach einer Weile wieder. „Oder ist es, weil Ulrich nicht mit ist?“
„Ach, Unsinn. Überhaupt – aber du hast recht, etwas gefällt mir nicht mehr an unserm Leben“, sagte sie plötzlich. „Du mußt nicht denken, daß ich – daß ich was gegen Josi hab’.“
„Nein“, sagte er, „das denke ich nicht. Komm, die Sonne ist so schön, wir wollen uns einen Augenblick setzen.“
Er half ihr die Bretter abzuschnallen, steckte sie in den Schnee und schob die Stöcke durch die Bindungen.
„So, jetzt kannst du dich setzen. Ich mach’ es auch so. Willst du eine Zigarette? Nein, nimm ruhig, ist nicht die letzte. Ja, ich versteh’, was du meinst. Mir geht es ähnlich in letzter Zeit.“
„Dir auch?“ fragte Helga ein wenig ungläubig und sah ihn von der Seite an. Er erwiderte ihren Blick sekundenlang. Ihr schönes, schwermütiges Gesicht tat ihm weh, es riß etwas in ihm auf, was eigentlich tiefer lag, tief innen in ihm, selbst noch beinah fremd und neu. „Ja, mir auch“, sagte er und senkte die Augenlider, schlug die Stiefelspitzen zusammen, so daß es metallisch klirrte. „Es ist so – ich frage mich manchmal, was es eigentlich für einen Sinn hat, dies alles.“
„Ich auch, oft“, sagte sie leise. „Aber ich dachte, als Junge weiß man, was man will.“
„Natürlich weiß man das“, gab er heftig zurück. „Ich zum Beispiel will den Diplomlandwirt machen und Ulrich ein großer Schriftsteller werden. Aber das ist alles noch so – so weit entfernt.“
„Ja, nicht wahr?“
„Helga“, sagte er plötzlich, und es war ihm selbst nicht klar, woher er den Mut nahm, vor sich selbst und vor ihr – es war wohl ihr leidvolles Gesicht. „Helga, dabei hab’ ich doch ein Ziel. Ich weiß genau, was ich will. Nur, ob du willst, das weiß ich noch nicht.“
„Leo...“
„Aber wenn ich das wüßte, wenn du mir sagen würdest – Helga, sag mal, wäre es dann nicht viel leichter für uns beide? Wenn du – wenn wir beide wüßten...“
Er hielt inne, vollkommen festgefahren. Er konnte doch, um alles in der Welt, Helga jetzt keinen Heiratsantrag machen, plötzlich aus heiterem Himmel. Was war er denn? Und was war sie? Nein, er mußte erst etwas werden, ach, die alte, die uralte Leier!
„Helga, sag mir’s!“ bat er leise.
„Was soll ich denn sagen?“ fragte sie hilflos und sah ihn einen Augenblick lang an. Auch sein Gesicht brannte, es war solch ein gesundes, breites, gutes Jungengesicht, der ganze Kerl war so, zuverlässig und gesund und gerade. Er würde einmal sehr männlich werden, wenn er älter war, sie fühlte es deutlich. Sie wurde immer verwirrter, während ihr dies alles durch den Sinn ging.
„Sag mir wenigstens das: Ist es wegen Ulrich?“ fragte er nach einer Weile. „Magst du Ulrich lieber?“
„Ich dachte übrigens in der letzten Zeit, ihr mögt mich beide nicht mehr“, sagte Helga nach einer Weile und strich das Haar aus der Stirn, richtete sich auf. Ihre Stimme klang wieder ruhiger, viel mehr so wie sonst. Er hatte sie überhaupt noch nie so hilflos und verstört gesehen, sie, die sichere, ruhige und vornehme Helga Martens. Jetzt war es, als habe sie sich gleichsam wiedergefunden. „Immer habt ihr es mit Josi. Ulrich hilft sie tippen, du unternimmst nichts ohne sie, ich dachte immer, Josi ist für euch zehnmal so wichtig wie ich. Etwa nicht?“
„Aber Helga. Wir gehören doch zusammen!“
„Ja, ihr und Josi!“
„Und du etwa nicht? Gehörst du nicht zu uns?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es manchmal wirklich nicht“, wiederholte sie heftig. „Ihr habt mir so viel voraus. Schon, daß ihr Geschwister habt. Euch ist das so selbstverständlich, daß ihr bei allem ‚wir‘ sagt und nie ‚ich‘. Immer habt ihr das gekonnt, ihr wißt gar nicht, wie das ist, allein zu sein. Von klein auf wart ihr immer zu mehreren. Das ist wie eine Hülle, die einen schützt. Nur ich...“
Leo schwieg erschrocken. Es war so: Ein einzelnes Kind steht nie so naturhaft fest im Leben wie eins, das unter einem „Wir“ aufwuchs. Aber daß sie es fühlte und aussprach...
„Du kannst doch nichts dafür“, sagte er zaghaft.
„In einer Art doch. Ich weiß auch, daß ich Mutter – daß ich meine Eltern enttäuschte. Sie hatten sich sicher einen Sohn gewünscht.“
„Helga! Welch ein Unsinn! Als ob du etwas dafürkönntest!“
„Nein, aber sie meinen es.“
„Ein Sohn könnte doch auch – anders geworden sein, als sie dachten“, versuchte es Leo ungeschickt.
„Ja, aber das sagt sich Mutter nicht. Überhaupt...“
„Quäl dich doch nicht damit!“ Er warf seinen Zigarettenrest in den Schnee. „Ich finde deine Mutter übrigens fabelhaft.“
„Jaja. Daß sie reitet und Tennis spielt und all dies“, sagte Helga, plötzlich müde und unwillig. Das ist es ja, aber das versteht ihr alle nicht. Es hat keinen Zweck, dachte sie.
Nein, es hatte keinen.
„Sei nicht böse, daß ich dir den Tag verpatzt hab’“, sagte sie, stand auf und probierte ein Lächeln. Ihr Gesicht war nun wieder wie meist: schön, verschlossen und still. „Denk nicht mehr dran.“
„Aber Helga!“
„Bitte, vergiß es. Das sind so Stimmungen...“
„Das sind doch nicht nur Stimmungen...“
„Doch“, sagte sie bittend, „vergiß es. Bei dem herrlichen Wetter – es ist doch eine Schande. Wollen wir abfahren? Wo steckt übrigens Josi?“
„Dort! Sie winkt uns gerade. Wollen wir?“
Sie beugten sich über ihre Bindungen. Nein, er konnte ihr nicht helfen. Es blieb, wie es war. Sie war allein...
„Renn doch nicht so, Ulrich, man kommt ja kaum mit!“
Sie waren im Theater gewesen, alle vier, es hatte den Faust gegeben, mit einem sehr guten Gretchen. Josi war ganz hingerissen, auch die andern beeindruckt. Sie gingen zu Fuß heim, um noch darüber sprechen zu können. Ulrich strebte heim. Am nächsten Abend sollte es „Die Hebamme“ von Hochhuth geben. Die wollten sie auch sehen.
„Seid nicht böse, aber ohne mich. Ich muß...“
„Ach, Ulrich, wir hatten es doch verabredet!“
„Ich muß mit meinem Roman weiterkommen!“ Das war sein A und O, heute wie immer. Josi sah ihn bittend an.
„Und wenn wir heute abend noch was täten? Du diktierst mir? Wie wäre das?“ fragte sie vorsichtig.
„Wenn du magst? Haben wir noch was zu heizen?“ Sie kauften die Kohlen selber, um ja recht sparsam zu wirtschaften.
„Doch, Kohlen sind noch da. Ich mach’ Feuer, vielleicht mögt ihr einen Tee?“ fragte Leo.
„Ach ja, herrlich. Wir fangen inzwischen an.“
Das Zimmer der Jungen war relativ groß und wurde nur langsam warm, aber man konnte ja erst einmal die Mäntel anbehalten. Josi wuchtete die Schreibmaschine auf den Tisch, während Ulrich sich am Ofen abmühte, bis Leo ihn gähnend, aber gutmütig von dort vertrieb. „Nun hol schon dein Zauberzeug, ich werde anzünden. Damit ihr gleich loslegen könnt.“ Ulrich ließ sich das nicht zweimal sagen. „Warte, das letzte müssen wir ändern“, sagte er, Josi über die Schulter guckend, die den Bogen eingespannt hatte, „fang am besten hier noch mal an, bei diesem Abschnitt.“
Er diktierte, sah dabei das Getippte an. Helga hatte sich auf das Ende der Liege gehockt, die das zweite Bett ersetzte und auf der die Jungen abwechselnd schliefen, und wartete. Aber Ulrich war völlig von seiner Arbeit in Anspruch genommen, und Leo knurrte und fluchte am Ofen. Ich hab’ recht, dachte sie, ich stehe außerhalb. Keinem von ihnen bin ich wichtig.
Daß sie schließlich auch den Tee hätte aufbrühen und auch sonst mit Hand anlegen können, darauf kam sie gar nicht. Es war kein böser Wille, aber es lag ihr unendlich fern. In jeder Frau sieht man bis zu einem gewissen Grade die Mutter, und Helgas Mutter war zwar nach Leos Meinung ganz famos, aber am Herd stand sie nie.
„Weißt du, wie ich mir die Frau Irmelin vorstelle?“ fragte Josi in diesem Augenblick, während sie einen falsch getippten Buchstaben ausradierte, sorgfältig ein Stück Pappe zwischen Blaupapier und Durchschlag klemmend. „Wie Helgas Mutter. Auch äußerlich. So schlank und groß und vornehm. Und daß sie auch reitet und das alles...“
„Ja?“ fragte Ulrich und stand hinter ihrem Stuhl still. „Ja, Josi? Ist sie so geworden?“ Seine Stimme klang anders als sonst, gepreßt und so, als geniere er sich ein bißchen, aber es war auch ein Frohlocken darin, ein verhaltener Jubel.
„Ja“, sagte Josi unbefangen. „und so was könnte sie glatt gesagt haben...“ Sie las einen Satz halblaut vor. „Findest du nicht?“
Ulrich sah ein wenig vorsichtig zu Helga hinüber, die außerhalb des Lichtkreises der Lampe saß, noch in der Jacke. Ihr Haar schimmerte matt. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.
„Und ich? Komme ich auch in eurem Roman vor?“ fragte Leo jetzt herzerfrischend unbefangen in die Stille hinein. Ulrich lachte erlöst. „Du möchtest wohl gern?“ fragte er.
„Wenn ihr mich nicht zu blöd hinstellt – übrigens, der Tee ist fertig. Ulrich, du mußt das Zahnputzglas nehmen, nein, laß den Löffel drin, sonst springt es, der Tee ist heiß. Die Tasse muß Helga haben, unsere einzige vornehme mit Untertasse.“
„Ach ich – ich brauch’ doch keinen“, sagte Helga und stand auf, „ich wollte sowieso hinauf.“
„Nanu, warum denn?“ fragte Ulrich so erstaunt, daß sie sich schämte.
„Ich meine, ich arbeite doch nicht, und der Tee soll doch bei der Arbeit munter halten“, sagte sie leise und rasch.
„Ach deshalb – ich tu’ ja auch nichts“, meinte Leo gemütlich und goß ein, „hier ist der Zucker. Nein, Josi, du hast schon, ich hab’ ihn dir gleich reingetan. Du bekommst meinen Löffel. Und nun wird’s auch allmählich warm. Gib die Jacke her, Helga, ich häng’ sie auf.“
Helga hatte sich, halb widerstrebend, wieder gesetzt. Er ließ sich mit einem Plumps neben sie fallen, so daß sie, die Tasse in der Hand, auf der schlecht gefederten Liege zur Seite sank. „Hoppla, entschuldige, hast du geschwappt? Ja, die sogenannte Gute-Stuben-Couch! Erst war sie ein Bett, dann ein Diwan, und nun wird sie den Ehrennamen Couch tragen. Was den Federn nicht viel ausmacht, denen kann nichts mehr schaden.“
„Du bist wohl wieder dran?“ fragte Josi lachend, während sie einen neuen Bogen einspannte. „Weil du so schmähst.“
„Ich bin meistens dran. Jetzt jedenfalls, wenn ihr schreibt. Da penne ich zu guter Letzt hier ein, und wenn ich irgendwann einmal wach werde, liegt Ulrich im Bett und ist nicht zu erwecken.“
„Wir werden ein zweites Bett organisieren“, versprach Josi im Ton einer Mutter, die dem kleinen Jungen auf den verletzten Finger pustet, „heile, heile, Segen. Nun aber schön Ruhe, wir müssen arbeiten...“
Ulrich lachte und diktierte weiter. Seine anfängliche Scheu, den Roman vor anderen laut zu lesen, begann sich zu legen. Josis unbefangene Teilnahme tat ihm wohl, er fragte sie auch hie und da um Rat. Sie bezwang tapfer ihre Müdigkeit. Es war doch etwas Großartiges, hier mitzuschaffen an einem Werk, das Ulrich berühmt machen würde. Und sie war in dem Alter, in dem man eine Nacht durchschuften kann, sich dann die Augen wäscht und in den neuen Tag startet, als habe man acht Stunden tief geschlafen. Außerdem hält es wach, wenn man tätig ist. Helga dagegen fielen die Augen allmählich buchstäblich zu. Sie merkte es und riß sich ärgerlich hoch. Irgend etwas trieb sie, wach zu bleiben, solange Josi wach war. Leo war längst sanft entschlummert, er lag halb sitzend quer über der Liege und schnarchte vernehmlich. Endlich legte Ulrich die handgeschriebenen Blätter weg, zufrieden aufseufzend.
„Ich glaube, wir machen Schluß. Wann hast du denn morgen Kolleg?“
„Schon ab acht. Aber nur bis elf“, sagte Josi. „Wenn du willst, können wir in der Mittagsstunde weitermachen.“
„Wirklich? Au fein, du! Da kommen wir vorwärts. Wenn wir erst über die Stelle hier weg sind – hier...“ Er las murmelnd ein paar Sätze, griff nach dem Bleistift und strich durch, schrieb darüber und strich wieder aus. Josi stützte den Kopf in beide Hände und starrte auf die Buchstaben der Tastatur. Sie schlief fast sofort ein, wie sie so dasaß, todmüde und erschöpft. Er merkte es nicht. Als sie hochfuhr, hatte sie noch die Erinnerung an einen langen und bunten Traum.
„Entschuldige, hab’ ich gepennt? Na so was, jetzt aber in die Falle! Helga, kommst du mit?“ – Sie ließ die Maschine stehen, wo sie stand, und schob den Stuhl zurück, endlos gähnend. „Nein, steck die Zigarette wieder ein, Ulrich, rauch sie lieber morgen.“ Sie lachte ihm zu, taumelig vor Müdigkeit.
„Na gut, meinetwegen.“ Er steckte die Packung wieder ein. „Und schönen Dank auch.“
„Gefällt dir der Roman? Ich finde ihn fabelhaft“, sagte Josi, als sie oben vor ihren Zimmertüren standen.
„Sicher. Ich würde ihn gern mal ganz lesen“, sagte Helga.
„Ja, tu das nur. Die Hälfte haben wir jetzt.“ Josi gähnte wieder, am liebsten wäre sie in den Kleidern ins Bett gekrochen. Helga stand eine Weile allein im Dunkeln.
„Wir“, hatte Josi gesagt. Es war vielleicht nur ein Zufall.
Nein, das war es nicht. Helga stand und fühlte Tränen in den Augen. Immer wieder „wir“. Und ich? Wer fragt nach mir, wer bezieht mich mit ein, wer kümmert sich um mich?
Frau Martens stand am Fenster ihres Zimmers und sah hinaus in den Schnee. Die Dämmerung hing weich und lila über dem schlafenden Garten, kein Windhauch regte sich. Auf den allerkleinsten Ästen lag die Schneelast noch, man konnte glauben. Bäume und Sträucher hielten den Atem an. Übermorgen war Heiligabend. Wenn es doch kalt bliebe! Wie lang hatte es keine weißen Weihnachten mehr gegeben!
Es war unglaublich gemütlich im kleinen Zimmer mit dem halbhohen, weißen Kachelofen. Nicht einmal eine Zigarette mochte sie rauchen, so wohlig war ihr. Die Hyazinthen am Fenster standen still und verheißungsvoll unter ihren Hütchen. Im Februar, wenn sie anfangen würden zu duften...
Nein, im März erst. Ende März. O du gütiger Himmel, gab es denn solch ein Glück? Es war keine vage Hoffnung, kein Traum, hundertmal geträumt in mehr als zwanzig Jahren und nun am Wahrwerden! Sie war so sicher, daß es ein Sohn sein würde. Bei Helga hatte sie keinen Augenblick daran gezweifelt, daß sie eine Tochter bekommen würde, eine große Schwester für die kleinen Brüder, die folgen würden. Diesmal wurde es ein Sohn. Sie war so sicher.
Helga – heute sollte sie kommen. Was würde sie sagen? Die Tür ging auf, es war ihr Mann.
„Du sitzt hier im Dunkeln, ist dir nicht gut?“ fragte er erstaunt. Sie lachte. Sie hatte noch jenes merkwürdig junge, jungmädchenhafte Lachen von früher.
„Doch, sehr gut, Lieber. Soll ich Licht machen?“
„Wolltest du nicht Helga abholen? Der Schlitten ist draußen. Oder möchtest du lieber nicht?“
„Ich möchte am allerliebsten hier auf Helga warten“, sagte sie und griff nach seiner Hand. Sie war kalt und frisch, er kam von draußen. „Fahr du, das freut sie sicherlich!“
„Na schön. Josi Fischer nehm’ ich dann auch gleich mit...“
„Ja, und die beiden Jungen vom Förster“, sagte Frau Martens, „Helga schrieb, daß sie alle vier zugleich kämen.“
„Die beiden Giesekings? Meinetwegen. Du, sag mal, wie steht Helga eigentlich zu den beiden jungen Männern? Weißt du etwas darüber?“
„Ich? Nein. Jedenfalls nicht mehr als du. Helga läßt ja nicht viel verlauten. Aber ich denke, sie halten gute Kameradschaft miteinander. Eigentlich sind es wohl mehr Josis Freunde.“
„Josis? Hm. Hast vielleicht recht. Der eine studiert wohl Landwirtschaft, oder?“
„Ja, der Jüngere. Warum fragst du?“
„Ich meine nur. Man macht sich manchmal so Gedanken. Also mehr Josis Freunde. Ich fahre dann also. Wartest du mit dem Tee?“
„Ich denke. Grüß Helga inzwischen schön, und die andern natürlich auch. Josi wird ja spätestens morgen hiersein.“
Ob der Junge ihrem Mann ähnlich sein würde? Sie lachte leise in sich hinein. Da benahm sie sich doch wirklich wie eine ganz junge, noch nicht ein Jahr lang verheiratete Frau und hatte schon eine so große Tochter! Sie freute sich auf Helga, sie freute sich auf Weihnachten, sie freute sich auf das neue Jahr. Sie stand noch einmal auf der Schwelle des Glücks, und sie wußte um das Glück, das in diesem Freuen lag.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag, vormittags, genau zur vorgeschriebenen Besuchszeit, erschien Ulrich auf dem Gut. Helga hatte lange geschlafen und war dann mit dem Vater ausgeritten, so traf er nur ihre Mutter an.
Sie saß in ihrem Zimmer und begrüßte ihn freundlich, und er bekam eine Tasse Kaffee und Zigaretten, jene mit dem merkwürdig langen Pappmundstück, die sie immer rauchte. Sie rochen gut und hatten ihn schon als Jungen begeistert, wie so vieles an dieser Frau.
Josi hatte recht, seine „Frau Irmelin“, die seinem Roman den Titel gab, war, kaum nur mit Mühe etwas verändert, Frau Martens. Sie war der Schwarm seiner Knabenjahre gewesen, und auch jetzt noch meinte er oft die Mutter, wenn er an Helga dachte. Deshalb war er auch so fest entschlossen, etwas „Großes“ zu werden. Es schien ihm unmöglich, eine solche Frau in kleine Verhältnisse zu bringen. Noch immer fühlte er das Lampenfieber wie einen halb schlimmen, halb angenehmen Rausch in sich, wenn er mit Frau Martens sprach.
„Nun, da haben wir ja unseren kommenden Dichter, Helga hat mir erzählt“, begrüßte sie ihn. Ihre Stimme hatte noch immer den Tonfall jener östlichen Mundart, die sie als Kind gesprochen hatte. Ulrich fand auch das ungeheuer reizvoll.
„Bekomme ich die Novelle zu lesen, wenn sie gedruckt ist?“
„Natürlich gern, wenn Sie möchten!“ Ulrich bedauerte im stillen, daß sie hinzugefügt hatte: wenn sie gedruckt ist. Denn ein sauberer Durchschlag des Manuskripts steckte in der Innentasche seiner blauen Jacke. Aber natürlich machte es mehr Eindruck, wenn er wartete und dann das gedruckte Exemplar vorlegen konnte: Druckerschwärze macht viel aus, sie steht vor allem dem Erstling.
Frau Martens fragte dies und jenes. Ulrich erzählte; er wußte, daß sie Gedichte liebte, und kam wie von ungefähr darauf, kürzlich die Bekanntschaft eines bedeutenden Lyrikers gemacht zu haben. Sie ging in ihrer lebhaften Art auf das Thema ein und vergaß fast, daß sie, als sich Ulrich verabschiedete, ihn eigentlich ein bißchen darauf ansehen wollte, wie er zu Helga stand. Ihr Mann hatte doch neulich so eine Bemerkung gemacht.
Aber er erwähnte Helga mit keinem Wort. So schwieg sie. Er saß da und sprach, und sein lebhaftes junges Gesicht unter dem dunklen Haar gefiel ihr. Er war noch ein bißchen wie Most, unausgegoren, aber allerlei versprechend. Und er brachte mit, was sie hier auf dem Land eben doch trotz allem entbehrte: geistigen Austausch, Anregung, den Hauch der Welt, in der das geschriebene Wort wichtig ist. Sie ließ sich von ihm über das Theater berichten, über Bücher, schrieb sich ein paar Titel von Neuerscheinungen auf und war fast enttäuscht, als Helga kam.
Ulrich stand auf und ging ihr entgegen. Sie hatten sich seit dem Vormittag des Vierundzwanzigsten nicht mehr gesehen.
Helga schien, als sei das sehr lange her.
„Ach, da bist du ja, Ulrich...“ Sie gab ihm die Hand, war noch im Reitanzug. Ihr Gesicht hatte von der scharfen Kälte im Freien tiefe Farben, sie sah sehr hübsch aus. Aber es gab ihr irgendwie einen kleinen Stich, Ulrich und Mutter so im Gespräch zu treffen.
Das war natürlich dumm von ihr. Überhaupt – sie fand sich selbst nachgerade unmöglich in letzter Zeit. Was auch geschah, sie bezog es immer auf das eine, auf sich selbst. Diese Sache mit Mutter – sie verstand sich selbst nicht. Hatte sie nicht noch vor kurzem laut beklagt, daß sie keine Geschwister habe? Und nun, da sie dies erfahren hatte, müßte sie ja eigentlich in den Himmel springen. Daß sie das nicht tat, schien Mutter weniger zu wundern als sie selbst. Mutter konnte ja nicht ahnen, wie zurückgesetzt sie sich anderen gegenüber gefühlt hatte als einziges Kind. Aber statt einer grenzenlosen Freude empfand sie eigentlich nur eine große Hilflosigkeit. Sie war nicht eifersüchtig auf dieses Kind, auf das sich Mutter so offensichtlich freute. Aber sich von Herzen freuen, das konnte sie auch nicht.
Und nun saß Ulrich hier im guten Anzug, rauchte Mutter das Zimmer voll und erzählte von seinem Roman. Er merkte übrigens gleich, daß es ihr nicht recht war, ohne daß sie ein Wort gesagt hatte. Es war, als könnte er ihre Stimmung genau wittern.
„Ich wollte dich fragen, Helga, ob du Silvester zu uns kommen möchtest“, sagte er, gleichsam erklärend, warum er da war, „Josi soll auch dabeisein, wir wollen Blei gießen, und Mutter hat versprochen, wieder mal Waffeln zu backen, die ganz richtigen alten. Und Punsch soll es geben, den macht Vater.“
„Ja, ich weiß nicht...“
„Aber, Helga, das weißt du nicht?“ fragte Frau Martens. „Wenn Sie mich einladen würden, Ulrich, ich käme sofort.“ Sie lachte über seine Verlegenheit ihr kleines, klingendes Lachen.
„Nun, wie wäre es, wenn ihr alle vier nachmittags zu mir kämt an Silvester? So was wie Waffeln kann ich euch ja nicht bieten...“
Ulrich wurde noch röter. Er hätte sich gern unsinnig gefreut über diese Einladung. Als er später mit Helga über den Hof ging, fragte er sie, ob sie denn keine Lust hätte und was denn überhaupt wäre. Er fragte sonst nie so etwas, sondern pflegte sich, wenn er etwas Ähnliches merkte, stets zurückzuziehen und abzuwarten.
„Ach, gar nichts“, sagte sie aufgebracht. Sie gingen ein Stück schweigend. Dann blieb er plötzlich stehen.
„Wenn es dir nicht paßt, brauchst du nicht zu kommen, Helga“, sagte er leise und verbissen, „das möchte ich dir nur gesagt haben. Ich habe keine Lust...“
„Wozu hast du keine Lust?“ fragte sie scharf.
„Mich behandeln zu lassen wie – wie – du weißt ganz genau, was ich meine, Helga. Irgend etwas stimmt doch nicht bei dir“, fuhr er beschwörend fort, „schon lange. Sag doch, was los ist!“
Sie waren in den Pferdestall getreten und lehnten an der Box, in der Helgas Schill stand. Er war nicht angebunden, kam sofort heran und hob den Kopf über die Holzwand, um mit weichem Maul Zucker zu erbetteln. Helga nahm ein paar Stück aus der Tasche und hielt sie ihm auf der flachen Hand hin.
„Weißt du noch. Helga“, sagte Ulrich leise, ganz anders als vorhin, wo er gepreßt und böse gesprochen hatte, „erinnerst du dich daran, als dich einmal ein Gewitter im Wald überraschte? Es war im Sommer, und nachher goß es. Wir waren auch eingeregnet, Leo und ich, und hockten vorm Herd, um uns zu trocknen. Mutter backte Waffeln.“
Helga nickte stumm, ein wenig schüchtern.
„Du standest am Waldrand mit dem Schill, und ich lief hinaus und wollte ihn in den Stall führen. Aber er wollte nicht. Damals merkte ich das erstemal so richtig...“
„Was merktest du?“ fragte Helga scheu. Sie wußte genau, was er meinte. Ihr Herz klopfte so sehr, daß sie ihre Hände auf den Rand der Box legen mußte, damit er nicht sah, daß sie zitterten.
„Ich merkte, daß – und ich wußte auch, daß es für immer sein würde. Aber ich sah und wußte auch gleichzeitig immer das andere, das, wie verschieden wir sind, du und ich. Daß du aus einem ganz anderen Kreis kommst. Ich sah, daß der Schill nicht in unsern Stall wollte. Wahrscheinlich hatte er ganz recht damit, euer Schill.“
Helga stand und riß kleine Splitter aus dem Holz der Boxenwand. Sie sagte nichts. Ulrich blickte auf ihren gesenkten Nacken mit dem hellen Haaransatz. Auch sein Herz klopfte schnell, oben im Hals. Er glaubte, Helga müsse sein Herzklopfen hören.
„Siehst du, Helga, damals beschloß ich – damals sagte ich mir, daß ich etwas Besonderes werden müßte, unbedingt. Und das habe ich seit damals keinen Tag vergessen. Aber ich weiß nicht...“
„Was weißt du nicht?“ fragte Helga leise. Sie bemühte sich, sosehr sie konnte, ruhig und sachlich zu sprechen, aber sie konnte die Worte kaum herausbringen.
„Ich weiß nicht, ob es richtig ist, so etwas zu wollen“, schloß er zaghaft. Er hatte etwas anderes sagen wollen, aber es kam nicht über seine Lippen. Es verwandelte sich gleichsam, während er es auszusprechen versuchte.
„Ach, es ist wohl immer gut, etwas Großes zu wollen“, sagte sie schwach. Sie standen und sahen einander nicht an. Plötzlich hob Helga den Kopf.
„Ich weiß das auch noch von damals. Es war das erstemal, daß ich bei euch war. Als ich hereinkam, war auch Josi da.“
„Ja“, sagte Ulrich und sah sie an. Ihr Gesicht rötete sich, als sie weitersprach. Aber sie wollte nun sprechen.
„Sie stand am Herd. Und ich – deine Mutter nahm mir die Jacke ab und führte mich in die Schlafstube, brachte warmes Wasser, damit ich mich waschen konnte, ich war ganz durchgefroren, obwohl es August war. Und als ich wieder in die Küche kam, hatte Josi das Waffeleisen in der Hand und backte weiter.“
„Ja und?“ fragte Ulrich.
„Verstehst du das denn nicht? Josi war bei euch, immer. Damals backte sie weiter, und ich, ich wurde als Besuch behandelt. Und jetzt tippt sie deinen Roman ab.“
„Ja, aber Helga – das wollte sie doch...“
„Natürlich. Aber ich?“
„Was hast du denn damit zu tun?“ fragte er langsam. Er begann etwas zu ahnen.
„Gar nichts. Das ist es ja. Du hättest ja auch mich bitten können“, sagte sie. Nun war schon alles gleich, fand sie. Ulrich begriff endlich, es verschlug ihm den Atem.
„Ist es – wegen Josi?“ fragte er. Helga sah ihn einen Augenblick an, ihr Gesicht war nahezu fassungslos. Er hatte sie noch nie so gesehen.
„Aber Helga, nein, bist du dumm!“ stammelte er dann und umfaßte sie. Sie ließ die Stirn an seine Schulter fallen.
Er gehörte ihr doch, er gehörte doch zu ihr, sie fühlte es auf einmal deutlich. Nicht zu Josi, zu ihr. Daß er das alles noch wußte, daß er es ihr darbrachte: Sieh, ich habe es für dich bewahrt. Sie stand ganz still und fühlte seinen Arm um ihre Schultern liegen, erst nach einer Weile sprachen sie weiter. Es war sehr schwer, jetzt die richtigen Worte zu finden. In beiden zitterte die Angst, den andern zu erschrecken, zu verprellen.
„Wenn mein Roman erst gedruckt ist“, sagte Ulrich. Sie nickte. „Er wird bestimmt angenommen. Und du kommst doch Silvester zu uns?“ fragte er noch.
„Ja, selbstverständlich. Und du – und ihr – zu uns, vorher. Weißt du, Mutter findet das bestimmt sehr nett von sich.“ Sie zog mit der Fußspitze Striche auf dem Boden entlang.
„Du nicht?“ fragte er vorsichtig.
„O ja, ich auch. Nur...“ Schon wieder waren Zweifel in ihr, kaum daß er die Arme von ihr genommen hatte. Warum küßt er mich nicht? Hat er Angst, jemand könnte kommen, oder...
Er dachte dasselbe. Aber was war er denn? Der Roman war ja noch nicht angenommen, und es gibt auch Zufallstreffer. Ein einziger Erfolg war ja noch kein Wechsel auf die Zukunft...
„Komm, ich muß gehen“, sagte schließlich Helga. Sie traten aus der Wärme des Stalles in die sonnenlose Schneehelle hinaus. Zwei kleine Jungen bemühten sich drüben, die Scheunenbrücke hinunterzurodeln. Aber der Schnee war zu tief. Helga sah geistesabwesend zu.
„Hallo? Kommt ihr herein? Ulrich, Helga?“
„Ach, ihr dummen kleinen Kerle, das geht natürlich nicht“, rief Josi und rannte in langen Sprüngen vom Inspektorhaus herüber. Hopp, sprang sie über die aufgeschaufelten Schneewälle vor dem Stall.
„Wartet, ich schieb’ euch. Seht ihr, so geht es.“
Die beiden Kleinen lachten und kreischten, während Josi sie über den Hof zog, in vollster Karriere. Vor Ulrich und Helga bremste sie atemlos ab.
„Nanu? Was macht ihr denn für Gesichter? Wißt ihr überhaupt, was Großvater mir geschenkt hat? Sporen! Nein, wirklich, ich hab’ mich halb krankgelacht. Das wichtigste für meine Reitkünste! Kommt, ihr müßt sie euch unbedingt ansehen.“
Sie ließen sich ins Inspektorhaus ziehen. Josi riß die Tür zum Wohnzimmer auf. Frau Fischer deckte gerade den Tisch.
„Oh, wir wollen nicht stören“, sagte Helga betreten.
„Ach, die Jungen sind auch noch nicht da“, sagte Josi und kam mit ihren Sporen an. Die „Jungen“ waren zwei ihrer Brüder, die zu Weihnachten heimgekommen waren. Ulrich sprach noch wegen Silvester mit Josi, dann gingen sie beide wieder. Josi war am Fenster stehengeblieben und sah ihnen nach. Ihr Gesicht war nachdenklich geworden.
Sie steckt ihn richtig an mit ihrer Miesepeterei, dachte sie und fühlte einen plötzlichen Ingrimm in sich aufsteigen. Ingrimm, Helga gegenüber? Nein, es war etwas anderes, es war nicht zu greifen, aber da... Sie warf die Sporen achtlos aufs Fensterbrett und wandte sich um. Das Lachen war ihr vergangen.
An einem regnerischen, unfreundlichen Tag im Januar fing Josi Leo im Treppenhaus ab.
„Männe“, so nannte Frau Gieseking ihren Jüngsten manchmal noch, und Josi zuweilen auch, „kannst du nicht mal hier hereinkommen? Ich bin eingebrochen bei Sasses, und so recht wohl ist mir dabei nicht...“
„Eingebrochen?“ fragte Leo belustigt.
„Na ja, ich hab’ ewig geschellt, bis die Kinder schließlich aufmachten. Drinnen brüllte es, als würde eins geschlachtet, und als ich endlich reinkonnte, sah ich die Bescherung. Die Küche überschwemmt, Renate, die Kleinste – es sind zwei Jungen und ein Mädel, ich hab’ sie schon öfter gesehen –, saß mitten in der Nässe und schrie, und...“
„Aber geschlachtet war keins?“ fragte Leo und lachte.
„Nein. Ich hab’ also aufgewischt, und dann dachte ich, ich bleib’ lieber, bis die Mutter wiederkommt. Im Kindergarten, in den sie sonst gehen, scheint Scharlach zu sein, Jürgen sagte so etwas...“ Sie zog ihn mit sich. „Es ist sicherlich besser, wenn wir hier zu zweit hocken, meinst du nicht? Einzubrechen ist so eine Sache, ich hab’ da doch keine Erfahrung drin...“
Leo folgte. In der Küche saßen die drei Kinder jetzt zufrieden am Tisch und malten. Josi hatte ihnen Papier und Stifte gegeben. „So was! So kleine Kinder sich selbst zu überlassen. Aber es ging vielleicht nicht anders. – Hast du heute nicht Schwimmen?“
„Ja, ich hätte, aber ich trau’ mich nicht weg. Könntest du nicht was zu essen holen, ein paar Hefestücke vom Bäcker gegenüber? Kochen möchte ich lieber nicht...“
Leo nickte und ging. Dann schmausten sie alle zusammen. Am Herd trockneten die Sachen von Renate, der Kleinsten, die Josi umgezogen hatte. Es war eigentlich sehr gemütlich. Gottlob war Frau Sasse, als sie heimkam, nur dankbar und fand Josi nicht eigenmächtig, daß sie sich eingemischt hatte. Sie fragte sogar, ob sie ihr einen zweiten Schlüssel geben dürfte, damit sie in Notfällen einspringen könnte. Darüber war Josi sehr froh.
„Ich seh’ dann ab und zu nach“, versprach sie, „wenn ich zwischen den Vorlesungen mal heimkomme. Jetzt kennen mich die Kinder ja.“
„Das kam bestimmt davon, daß du da warst“, behauptete sie, als sie neben Leo die Treppe hinaufsprang, vergnügt und sehr erleichtert, daß alles gut abgelaufen war. „Deinen himmelblauen Kinderaugen widersteht keine Frau.“
„Auch du nicht?“ fragte er lachend.
„Auch ich nicht.“ Sie nahm ihn um den Hals und gab ihm einen Kuß; im letzten Augenblick allerdings erschrak sie doch über ihre Kühnheit und bog ab, so daß sie immerhin nur die Backe traf. Aber sie war so froh.
„Immer weiter, bedien dich, bitte!“ sagte er lachend. Sie wurde rot.
„Das könnte dir so passen! Du, ich bin doch sehr beruhigt, da kann ich mich doch kümmern, bis der Kindergarten wieder aufgemacht Wird. Wie lange dauert denn Scharlach heute? Nicht mehr sechs Wochen oder acht wie früher, oder?“
„Da mußt du Helga fragen, wozu haben wir denn eine Medizinerin im Haus. Da kommt sie übrigens grade – wie ist das, unternehmen wir heute was? So eine Lebensrettung dreier Kinder müßte eigentlich gefeiert werden!“
Ulrich erwachte, als es schellte. Er hörte den Briefkastendeckel zufallen und etwas auf die Erde rascheln. Sollte er aufstehen? Zu oft war er enttäuscht worden. Diese blöde Warterei!
Einmal mußte der Verlag ja antworten. Und er hatte sich fest vorgenommen, dann mit Helga zu sprechen, nicht von „verloben“ oder so was, aber es sollte klar und deutlich feststehen: Wir gehören zusammen. Deshalb...
Mit einem Ruck, sich selbst überrumpelnd, warf er das Deckbett ab und lief hinaus. Fischte auf der Erde – dußlige Reklame, weiter nichts – und drehte sich wieder um. Da sah er noch was liegen, kleiner als ein Brief, hob es auf, ohne Hoffnung und Spannung. Gleich darauf schrie er laut, so daß Leo kerzengerade aus dem Bett auffuhr, wie der Teufel aus dem Kasten. „Was ist denn los?“
„Hier, ich soll anrufen. Die Nummer vom Verlag!“ rief Ulrich. „Also, wenn sie ihn nicht nähmen, hätten sie ihn zurückgeschickt. Paß auf, jetzt klappt es! Das kommt davon, daß wir kein Telefon haben! Schriftsteller ohne Telefon, unmöglich!“
„Schriftsteller“, sagte Leo. Er hatte sich wieder ins Bett verkrochen und sah dem wild herumfuchtelnden Bruder zu. „Schriftsteller. Im Schlafanzug, der noch aus der Zeit Ottos des Heizbaren stammt, mit Stachelbeerbeinen, unrasiert – was sage ich, ungewaschen sogar, ungekämmt: Schriftsteller, Klassiker. Wunderbar.“
„Lästere nur“, japste Ulrich, während er hin und her fuhr, nach den Schuhen unterm Bett angelte und sich in der Schlafanzugjacke verfilzte, die er unaufgeknöpft über den Kopf zu ziehen versuchte. „Es hat mancher schon in einer Dachstube gehungert, der später groß und berühmt wurde.“
„Dachstube. Gehungert. Weder – noch. Aber ich sage dir: So wie mein holder Bruder sieht ein von der Muse Geküßter nicht aus.“
„Idiot. Von mir aus kannst du...“ Die Tür flog hinter ihm zu. Leo räkelte sich behaglich im Bett zurecht. Wahrscheinlich wieder blinder Alarm. Aber er irrte. Nach geraumer Zeit tobte Ulrich die Treppe herauf, läutete bei den beiden Mädchen und trommelte dann an die Glastür, als sie nicht gleich geöffnet wurde, schrie und tanzte und benahm sich wie ein Verrückter. Leo hörte, daß jemand kam und öffnete, wahrscheinlich Josi, denn es erhob sich gleich ein neues Indianergeheul. Helga würde nie so brüllen, dachte er. Angenommen also. Na schön.
Jawohl, angenommen!
Helga wurde es durch die geschlossene Tür zugeschrien, Frau Fleischhack bekam es vorgesetzt, kaum daß sie den Schlüssel ins Schloß gesteckt hatte. Ulrich und Josi waren sehr erstaunt, daß Leo gar nicht überrascht war.
„Woher weißt du es denn?“
„Ich bin doch nicht taub“, sagte er trocken. „Wieviel zahlen sie denn?“
„Na, ich hab’ doch nicht gleich durchs Telefon gefragt, du hast auch gar keine Lebensart.“ Ulrich war entrüstet. „Damals sagte er, ein Fortsetzungsroman in den Monatsheften brächte, je nach Länge, etwa zweitausend Mark. Ich soll morgen in den Verlag kommen und alles mit ihm besprechen.“
„So. Na, für so viel Geld kann man auch etwas brüllen“, sagte Leo. „Gibst du jetzt einen aus?“
„Klar! Kinder, wir müssen feiern, daß die Wände wackeln“, rief Ulrich, „heute abend schon. Was wollt ihr – Theater oder ganz fein essen oder Kabarett oder was sonst?“
„Keins davon. Wir machen endlich einen richtigen Fasching mit, finde ich. Seit Wochen karnevalt es um uns herum, und wir waren noch nirgends dabei. Was meint ihr?“
„Da weiß ich etwas Phänomenales“, rief Ulrich, die andern überschreiend, „wir gehen zum Fest der Damischen Ritter. In den Löwenbräu. Das gibt’s nur hier und heute!“
„Du bist bekloppt – da kriegt man doch keine Karten mehr! Die waren alle schon vor vierzehn Tagen weg“, sagte Leo. „Ich wollte so gern hin, das ist nämlich ganz groß. Man kann anziehen, was man will, und wie es ausgestattet ist! Und keine Polizeistunde, glaub’ ich...“
„Wo gibt’s keine Polizeistunde?“ fragte Helga. Sie war eben hereingekommen, schon fertig zum Ausgehen. Leo saß noch im Bademantel auf seinem Bett, und Josi trug den Wintermantel über dem Schlafanzug. Es sah jetzt schon wie Fasching aus.
„Bei den Damischen Rittern. Gehst du mit? Wir müssen hin, ich mach’ es möglich, paßt mal auf. Ich kenn’ ein paar Leute.“
„Also, wenn du das fertigbringst...“
„Ich bringe es fertig, heute!“ Ulrich war wie ausgetauscht, man konnte ihm tatsächlich zutrauen, daß er in seinem Siegestaumel Bäume entwurzelte. Helga sah ihn nachdenklich, Josi hingerissen an. Leo lachte vergnügt.
„Also gut. Mach es möglich. Das wär’ was!“
„Erkennt man auch wirklich, was ich sein soll?“ fragte Josi und drehte sich vor dem kleinen Spiegel, den sie im richtigen Neigungswinkel auf den Stuhl gebaut hatte. Einen großen Spiegel, in dem man sich ganz bewundern konnte, besaßen sie nicht. Sie trug ein kurzes Höschen zu einem feuerroten Wams, halbhohe rote Stiefel (geborgte) und auf dem Kopf ein paar Mephistohörner. Das Ganze sollte den Puck aus dem Sommernachtstraum darstellen, wirkte aber eher wie ein noch nicht ganz erwachsener Waldschrat, der sich in eine Großstadt verlaufen hat.
„Niemand fragt dich danach. Hauptsache, es steht dir“, sagte Leo und befestigte den Colt an seiner Hüfte. Ulrich war schon fertig, als Forscher mit Tropenhelm und umgehängtem Fernglas zu Jeans und weißem Sporthemd. Er wirkte schlank und jung in diesem Aufzug und weit unternehmungslustiger, als ihm zumute war. Denn Karten hatte er natürlich nicht mehr gekriegt.
„Aber wir kommen hinein“, versicherte er zum dreißigstenmal, eher seine eigenen Bedenken überredend als die der andern, „ich habe...“ Keiner hörte zu.
Helga besaß als einzige ein richtiges Kostüm, Biedermeier, es stand ihr entzückend. Ulrich wurde ganz heiß bei dem Gedanken, womöglich doch umkehren zu müssen. „Los, seid ihr noch nicht fertig? Das Taxi muß gleich dasein.“
„Josi, man friert, wenn man dich ansieht!“
„Dann guck doch weg!“
„Nehmt ihr Geld mit?“
„Klar, etwas.“
„Ich denke, Ulrich kommt für alles auf?“
„Trotzdem: Sicher ist sicher.“
Sie liefen hinunter, eben bremste das Taxi am Bordstein. Es war bitter kalt, sie gingen ohne Mäntel, Josi kuschelte sich an Leo. „Löwenbräu!“ rief Ulrich dem Fahrer zu.
„Wohin denn sonst?“ schmunzelte der und wendete. Die Straßenlampen blinkten trüb durch den Frostnebel, es war gegen neun, eigentlich zu zeitig für das geplante Unternehmen. Das letzte Stück gingen sie zu Fuß, Josi hopste, um sich zu erwärmen.
Rechts und links vom Eingang standen Schaulustige, die sich am Einzug der Gäste ergötzten. Besonders schöne Kostüme lösten ein „Ah!“ und „Oh!“ aus. „Los, kommt!“ befahl Ulrich, gleich darauf erspähte er seinen Bekannten, der in gestreifter Sträflingskleidung mit einer großen Dreiunddreißig auf dem Rücken etwas abseits stand. Er bahnte sich den Weg zu ihm hin. „Na?“
„Hier. Vier Stück. Sie sind schon entwertet. Ihr müßt bei der Kontrolle sagen, ihr hättet nur die Pelze noch ins Auto gebracht. Pelze, nicht Mäntel, das klingt vornehmer.“
„Jaja, danke.“ Ulrich drängte sich zurück und händigte die Eintrittskarten, an denen je eine Ecke fehlte, den andern aus. Seine Hände zitterten vor Aufregung und Kälte. Sie hatten alles genau besprochen. „So, und nun nicht verblüffen lassen.“
Sie stiegen die Stufen hinauf. Leo drängte sich nach vorn, er hatte am wenigsten Bammel. „Hier!“ sagte er und hielt den beiden maskierten Kontrollierenden die Karte hin, die abgerissene Ecke mit dem Daumen verdeckend. Josi machte es ihm nach. Ulrich hatte es nicht gesehen oder war zu verwirrt, er wollte gerade die Ausrede von den zurückgebrachten Pelzen vom Stapel lassen, als ihn der Sträfling weiterschubste. „Los, los, vorwärts, man friert sich ja hier halb tot.“
„Wo ist...“
„Ach, die schöne Frau? Gehört die zu dir? Alle Achtung, da hast du ja was Hübsches ausgegraben.“
Die Zuschauer lachten. Ulrich wurde noch röter, wollte etwas sagen, fühlte sich am Kragen gepackt und vorwärts gestoßen. Gerade sah er noch, wie Helga, am Arm des Sträflings, der galant lächelte, die Kontrolle passierte. Er war zu verblüfft, um zu begreifen.
„Idiot, sei doch froh, daß du drin bist.“
Erst jetzt kapierte er. Da waren auch Leo und Josi, vor Kälte schnatternd. „Sind wir wirklich schon...“ Leo hielt ihr den Mund zu. „Nein, wir sind noch nicht betrunken“, vollendete er geistesgegenwärtig, „aber das kommt noch.“ Da war die zweite Kontrolle. „Eure Karten sind ja schon...“
„Klar. Da vorn“, sagte Leo seelenruhig und deutete über die Schulter zurück. Die Wachhabenden schüttelten die Köpfe. Eigentlich sollten sie ja die Karten abreißen. „Frag doch mal da vorn!“
Aber jetzt hatte auch Ulrich begriffen, daß Geschwindigkeit keine Hexerei ist. Er überließ Helga dem Mann im gestreiften Kittel, der war ja vom Bau und sie in bestem Schutz. Nur weiter, nur außer Sicht kommen! Eine dritte Kontrolle gab es nicht.
„Na also!“ sagte er aufatmend, als sie sich im ersten Saal zusammenfanden. Die Knie zitterten ihm noch. Aber das sah ja niemand. „Wie habe ich das gemacht?“
„Denkbar blöde“, sagte Leo, „wenn wir nicht gehandelt hätten...“
„Ach, zankt euch nicht, ich finde es herrlich, daß wir drin sind“, rief Josi dazwischen. „Was macht man nun? Wie geht’s los?“
Vor ihr schwebte ein nackter weiblicher Rücken vorbei, auf den ein riesengroßes Fragezeichen gemalt war. Sie vergaß, den Mund zu schließen.
„Es zieht, Kleiner, mach die Futterluke dicht!“ rief jemand. Ein Matrose stand neben ihr und lachte, als sie herumfuhr.
„Du bist wohl Muttern durchgebrannt, ja? Ohne Schularbeiten zu machen?“
„Wer sind Sie denn?“
„Sie“, prustete der Matrose. „Sie. Darf ich Sie vielleicht drauf aufmerksam machen, daß Sie sich auf dem Fasching befinden?“ Er gab ihr einen Klaps auf die Hose und entschwand. Josi sah sich hilfesuchend um. „Leo, ist das hier so?“
„Ja, Josi, das ist hier so. Komm, tanz erst mal mit mir, du mußt dich akklimatisieren.“
„Fein, Helga? Sag, daß es dir gefällt!“ drängte Ulrich. Sie ließen sich auf eine Bank neben der Kapelle fallen, man konnte sein eigenes Wort kaum verstehen. Helgas Haar hing voll Konfetti, und Papierschlangen ringelten sich ihr um Hals und Schulter. Sie zog die Füße an sich, damit die Tanzenden nicht drüberfielen.
„Ja. Ja, natürlich“, sagte sie. Es klang nicht ganz echt. Ulrich schob den Tropenhelm hoch, ihm war entsetzlich heiß.
„Wo sind denn die andern?“
„Keine Ahnung. Guck mal, dort, der Kerl! Das soll wohl ein Auto sein? Eine Hupe hat er auch. Und da...“
„Willst du etwas trinken, Helga? Wollen wir Sekt trinken? Zur Feier meines Romans? Ja, Helga?“
„Ich weiß nicht – da ist Josi. Ruf sie doch mal!“
Josi entschlüpfte ihrem Tänzer und klemmte sich neben Ulrich auf das Bankende. Sie sah jetzt einfach süß aus, mit roten Backen und springlebendig, wirklich wie ein kleiner Junge.
„Sitzt ihr hier? Ich hab’ euch ewig nicht gefunden.“
„Weißt du nicht, wo Leo ist? Wir wollten eben zu Sekt übergehen.“
„Au fein! Sieh mal den Alten dort, dem rutscht die Perücke weg! Und der dort! Ist der eine Lifaßsäule?“
„Bleibt mal hier sitzen, damit ich euch wiederfinde. Ich hol’ jetzt was zu trinken“, sagte Ulrich.
Josi strahlte Helga an. „Na, ist es nicht herrlich?“
„Ja, schon, aber...“ Helga lächelte pflichtschuldigst. Sie fand das Ganze ziemlich beängstigend und schüttelte den Kopf, als ein Maharadscha nach ihr griff, um mit ihr zu tanzen.
„Wir sollen doch hier warten.“
„Ach so. Und du? Wartest du auch?“ fragte er Josi.
Josi hatte den hier herrschenden Ton inzwischen erfaßt.
„Auf dich bestimmt nicht“, sagte sie schnippisch. Gerade erspähte sie Leo, winkte ihm zu und rief: „Männe, hallo!“ Als er sie nicht hörte, steckte sie zwei Finger in den Mund und pfiff. Es schrillte durch die eben verklingende Musik, laut und lausejungenhaft, aber es paßte irgendwie in die Stimmung im Saal.
„Du bist richtig“, sagte der Maharadscha und hatte sie schon gepackt. Sie gab nach und tanzte davon, riß sich dann wieder los und kehrte zu Helga zurück. Eben kam Ulrich, zwei Sektgläser vorsichtig vor sich her balancierend. „Komm, Helga, trink...“
„Wie spät ist es eigentlich?“ fragte Josi und wischte sich über das Gesicht. Sie hatte gerade einen unendlich langen Walzer mit einem Fremden getanzt, der nicht besonders gut führte. Oder lag es an ihr? Immerzu kam sie aus dem Takt. Sie war froh. Leo erwischt zu haben. „Drei, glaube ich. Bist du müde?“
„Eigentlich ja“, sagte sie ein bißchen kleinlaut. Sie hockten sich auf die Stufen einer Treppe und verschnauften. Josi gab Leo einen kleinen Stoß. „Und du?“
„Ach, ich...“
„Hast du keine Lust mehr?“
Leo stützte die Ellbogen auf die Knie, grub die Fäuste in die Backen und starrte vor sich hin.
„Sei nicht böse, Josi“, sagte er leise. „Ich will dir den Abend nicht verderben.“
„Aber wieso denn?“ Sie wurde aufmerksam und sah ihn an. Er kannte das an ihr, sie hatte so einen eindringlichen und unbestechlichen Blick, wie ihn eigentlich nur eingeschüchterte Kinder haben. Ganz so sah sie auch aus, das Haar verwildert – die Mephistohörner waren längst dahin – und das ungeschminkte Gesicht so offensichtlich und treuherzig besorgt.
„Was ist denn mit dir? Sag!“
„Ach, Josi...“ Er legte den Kopf schräg in die linke Hand und zog mit der rechten ihre kleine, schmalschultrige Gestalt an sich. „Ich hab’ heute abend was erfahren, was nicht zum Karneval paßt.“
„Was denn?“ fragte sie erschrocken.
„Willst du es wirklich wissen? Ich hab’ erfahren, daß das Mädel, das ich seit Jahren heiraten will, mich nicht mag. Sondern vielmehr einen anderen.“ Er sprach in einer ironischen, sich selbst verhöhnenden Art, die Josi noch nie bei ihm erlebt hatte. Sie war ganz erstarrt, aber faßte sich sofort.
„Leo, das ist doch nicht möglich! Dich nicht mögen! Irrst du dich auch nicht?“ Ein Verdacht schoß in ihr auf. „Bist du etwa...“
„Betrunken, nein“, sagte er rauh. Natürlich, er hatte etwas getrunken, aber nur zwei oder drei Gläser. Josi legte beide Hände auf seinen Arm. „Aber Leo, Leo! O Gott, tut mir das leid. So ein blödes Mädel! Weißt du“, fuhr sie etwas ungeschickt fort, sie wollte unbedingt etwas Tröstliches sagen, „das muß aber eine Gans sein, wahrhaftig. Dich nicht mögen. So einen feinen Kerl!“
Leo lächelte trübe. „Würdest du mich denn mögen, Josi?“
„Ich? Ich will doch...“ Ulrich, hatte sie sagen wollen. Sie schluckte es noch rechtzeitig hinunter. „Ich will doch... überhaupt noch nicht heiraten“, vollendete sie verwirrt.
„Ach Josi.“ Er legte, ohne sie anzusehen, seinen Arm um ihren Hals, wie sie so neben ihm saß. „Siehst du, du willst mich auch nicht.“
„So ein Unfug.“ Josi sprach jetzt ganz erbittert. „Ich würde dich auf der Stelle mögen!“
„Wenn?“
„Ach Quatsch, du weißt, wie gern ich dich hab’. Nun sei nicht mehr traurig.“
„Leicht gesagt. Aber du hast recht: Lache, Bajazzo!“
Sie hatte ihn noch nie so bitter gesehen. In verzweifeltem Mitleid legte sie die Arme um seinen Hals.
„Genier dich nicht, Kleine“, ermunterte ein buntbemalter Clown, der jetzt die Treppe herunterkam, „er hat den Katzenjammer, aber das geht vorbei. Tröste nur feste.“
„Ach, halten Sie doch den Mund!“ fuhr Josi auf. Dann nahm sie Leos Hand. „Komm, wir wollen weg. Ich mag nicht mehr.“
„Ich auch nicht“, sagte er und stand auf. Sie wühlten sich durch, der Garderobe zu, dort fiel ihnen ein, daß sie ja gar keine Mäntel mithatten.
„Wir müssen einen Wagen nehmen, du erkältest dich sonst“, sagte Leo mechanisch. Sie stand an der Tür, während er nach einem Auto Ausschau hielt. Aber es kam keins. Schließlich erbeutete er eins. Josi stiefelte neben ihm durch den hohen Schnee. Es hatte frisch geschneit. „Komm, so!“ Er zog seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Die frische und kalte Luft tat ihm wohl, er wurde wieder etwas klarer im Kopf. Ob sie etwas ahnte? Hoffentlich nicht! Sie hatte wohl nie etwas davon wahrgenommen, wie gern er Helga hatte, sie genausowenig wie Helga selbst. Er seufzte, der Wagen fuhr an.
„Was ist sie denn? Studentin? Ist sie hübsch?“ fragte Josi vorsichtig.
Er lächelte sie an, trotz allem beruhigt.
„Jaja. Aber mach dir keine Gedanken mehr.“
Sie rollten durch die stille, verschneite Stadt. Leer und dunkel wirkten die Straßen, trotz des Schnees.
„Jetzt mußt du tüchtig ausschlafen, Josi“, sagte Leo, während er den Schlüssel ins Schloß steckte. Es schneite nicht mehr, man sah Sterne. Josi blickte zum Himmel auf.
„Kommst du?“ fragte er.
„Ja, gleich. Vielleicht sehe ich noch eine Sternschnuppe“, sagte Josi.
„Willst du dir etwas wünschen?“ Er lachte ein wenig.
„Mir? Nein dir. Daß du wieder froh wirst.“
„Komm, komm! Sternschnuppen fallen nicht auf Bestellung.“
Sie stiegen die Treppe hinauf. An Josis Tür blieben sie stehen. Josi fingerte nach dem Schlüssel. Sie hatten die Treppenbeleuchtung eingeschaltet, aber ehe die Tür aufging, wurde es gerade wieder dunkel.
„Gute Nacht“, sagte Leo. Josi merkte, daß er stehenblieb. Sie tastete nach ihm. Er war ihr so vertraut, in einer Art sogar vertrauter als Ulrich. Ganz schnell legte sie die Arme um seinen Hals und das Gesicht an seine Brust. So weit reichte sie gerade. Er war ja viel größer als sie.
„Du bist ein lieber Kerl, Josi“, sagte er gerührt.
„Du, ich hab’ dich lieb. Glaubst du mir das?“
„Ja. Danke, Josi.“
Sie ließ ihn los und ging hinein. Ihr war so traurig zumute, zum Weinen. Eine Weile stand sie noch an der Glastür und horchte nach draußen. Ging er hinunter? Ja, jetzt. Sein Schritt klang ganz anders als sonst. Sie tastete sich im Dunkeln in ihr Zimmer und setzte sich aufs Bett. Neben dem Gefühl der Traurigkeit und dem Mitleid für den Kameraden war noch etwas anderes in ihr, eine seltsame, dumpfe Angst. Wenn es ihr auch einmal so ging? Und sie war dann hier so allein ...
Auf einmal dachte sie das, dachte und fühlte ganz deutlich: fremde Stadt. Sie kroch in sich zusammen. Wenn die Freunde nicht wären, dieses lebendige Stück Heimat hier... es war etwas Unheimliches, das zu denken und zu fühlen. Fremde Stadt – zum erstenmal in ihrem Leben fürchtete sie sich.
Leo fuhr hoch, als die Tür knallte. Er mußte also doch eingeduselt gewesen sein. Die Uhr zeigte zwölf. Eine Schande!
Mit verstruwweltem Haar lief er ans Fenster, stieß es auf. Draußen lag Sonne auf dem Schnee. Es schien noch bitter kalt zu sein. Dicke Eisblumen hatten sich an den Scheiben gebildet. Ach, was tat die Luft wohl!
Ganz plötzlich fühlte er sich froh und beinahe erleichtert, er verstand sich selbst nicht. Heute nacht war er doch sehr unglücklich gewesen, oder nicht? Aber er konnte nicht anders: Wunderbar ausgeschlafen fühlte er sich und herrlich hungrig.
Ob die beiden Mädchen wohl noch schliefen? Vielleicht kochte Josi einen ordentlichen Kaffee für sie alle.
„Hast du schon gefrühstückt?“ fragte er Ulrich, während er mit tropfendem Gesicht nach einem Handtuch suchte. „Ich hab’ einen Kohldampf, nicht von schlechten Eltern. Warst du etwa schon in der Stadt?“ Ulrich hatte den Mantel an.
„Mach doch das Fenster zu, es wird ja eiskalt“, sagte er jetzt ärgerlich. Er stand am Tisch und kramte in seiner Mappe.
„Na, wenn ich nicht friere“, sagte Leo friedlich und schloß den Flügel. Seine Haut dampfte. „Warst du im Verlag? Wieviel hast du denn rausgeschlagen?“
„Ach, das ist eine dumme Geschichte, ich hab’ noch gar nicht fest zugesagt“, knurrte Ulrich. „Sie wollen eine Änderung.“
„Das wollen, denke ich, alle Verleger?“ fragte Leo, während er sein Hemd hinten in den Gürtel stopfte. „Jedenfalls sagtest du das mal. Ohne Änderung kein Vertrag.“
Ulrich stampfte mit dem Fuß auf. „Ach, quatsch doch nicht. Nein wirklich, Leo, du solltest nur über Sachen reden, von denen du was verstehst.“
„Nanu, du hast wohl Aschermittwochslaune?“
„Ich hab’ gar keine Laune“, schrie Ulrich und schmetterte die Tür hinter sich zu. Der Bruder sah ihm verblüfft nach. Merkwürdig!
Nach einiger Zeit kam Ulrich mit Helga und Josi wieder ins Zimmer. Leo hatte inzwischen etwas Ordnung gemacht und geheizt. Sie hatten schon gestern verabredet, heute zu schwänzen. Josi trug ein Päckchen Kaffee in der Hand.
„Laß es dir nicht gefallen, Ulrich, ja nicht!“ sagte sie ganz wild. „Es kommt auf keinen Fall in Frage. Gerade diese Stelle ist die Hauptsache, der Höhepunkt des Ganzen!“
„Du mußt es dir unbedingt ansehen, Helga“, sagte Ulrich und blätterte in seinem Manuskript, „hier, im dritten Kapitel. Also meiner Meinung nach kann man das gar nicht streichen.“
Helga kannte den Roman noch nicht ganz. Sie hatte Teile daraus gehört, als Ulrich ihn diktierte, aber nie darum gebeten, das Ganze lesen zu dürfen. Ulrich hatte das ein wenig gekränkt, und er hatte es ihr deshalb nie angeboten. Jetzt schob er ihr die Blätter heftig über den Tisch hin.
„Wollen sie ihn in dieser Form nicht abdrucken?“ fragte Leo, der allmählich merkte, daß es sich nicht nur um eine Kleinigkeit handelte, wie er vorher gedacht hatte. Ulrich tat ihm leid, es schien ihm sehr nahezugehen.
„Sie bestehen darauf, daß ich das streiche – oder abändere“, sagte Ulrich, „aber das gibt ein ganz anderes Gesicht des Ganzen. Und Frau Irmelin würde nie so handeln, nie, nie.“
„Nein, gerade dieses Unbedingte paßt zu ihr!“ fiel Josi ein. „Sie ist eine Entweder-Oder-Natur, ohne Kompromisse, ohne Zugeständnisse. Sie muß so handeln, das ist ganz logisch.“
„Kinder, geht es denn eigentlich immer so logisch zu auf der Welt?“ fragte Leo, der bisher geschwiegen hatte, plötzlich nachdenklich. Er stand da und sah über Helgas Schulter weg auf das Manuskript herunter, ohne zu lesen. Logisch – wäre es nicht logisch gewesen, daß er jetzt kreuzunglücklich wäre, todtraurig, mindestens ein paar Jahre lang? Und er stand hier, durchaus nicht zu Tode betroffen, obwohl Helga Ulrich liebte und nicht ihn. Der Kaffee schmeckte ihm herrlich, und er freute sich bereits auf das Reiten am Nachmittag. Nein, Logik war das nicht. Oder hatte er am Ende Helga gar nicht wirklich geliebt? Er hörte nichts davon, was die andern heftig hin und her redeten. Brauchte man nur richtig auszuschlafen, und alles war wieder besser? Es schien fast so. Denn – obwohl es ihm ein bißchen untreu erschien – er hatte keine Lust, weiter traurig zu sein, wenn er es nicht von selbst war, in einem Schmerz zu wühlen, der eigentlich schon zur Vergangenheit gehörte. Helga war ihm von jeher als das schönste und feinste Mädchen erschienen, das er kannte, und nicht zuletzt hatte er deshalb Landwirtschaft studiert. Wenn er einmal einen guten Posten auf einem Gut oder Gestüt bekam, konnten sie heiraten. An einen eigenen Hof war natürlich nicht zu denken. Früher hatte er sich eigentlich immer vorgestellt, Reitlehrer zu werden. Jedenfalls konnte er sich keine Zukunft ohne Pferde denken.
Aber alles, was Helga betraf, war gleichsam nie der brennende Mittelpunkt, das leuchtende Ziel seines Lebens gewesen, eher eine angenehme und schöne Aussicht. Natürlich mußte er sich nun, da es nichts wurde, umstellen. Aber das war auch alles. Und...
Seit sie zu viert hier wohnten, war es ganz von selbst gekommen, daß er Helga manchmal mit Josi verglich. Und manches war bei Josi eben doch einfacher. Helga war anspruchsvoll, ohne es überhaupt zu wissen. Immer hatte sie Geld.
Natürlich, bei der großen Liebe hatte Geld nichts zu sagen. Dann setzte sich die Frau eben drüber weg, weniger zu haben, oder der Mann erzwingt vom Leben, daß er mehr schafft. So würde es nun wohl Ulrich machen. Natürlich war das nicht leicht, aber seine Sache. Daß er, Leo, sich nun nicht so anzustrengen brauchte, machte vielleicht die kleine Erleichterung aus, die er fühlte. Und wenn sie trotzdem gute Freunde bleiben würden, sie alle vier – dann war doch alles in Ordnung. Nur gut, daß er allein von der Sache wußte, das nahm dem Ganzen doch die Peinlichkeit.
Nein, sein Herz war keineswegs gebrochen. Er saß auf der Tischdecke, aß gedankenverloren ein Brötchen nach dem andern und hörte kein Wort von der wilden Debatte um ihn herum. Auch, daß sie ihn nicht um seine Meinung fragten, focht ihn nicht an. Was verstand er schon von Büchern! Er war ein Bauer und wollte keine Sterne vom Himmel reißen. Mochte Ulrich es tun.
Ulrich ging an diesem Tag nicht mit reiten. Er war sehr bedrückt. Gestern hatte er sich mit Vorschußlorbeeren geschmückt, das war ihm sehr klar. Am Telefon hatte es ja auch geklungen, als ob... ach ja. Nun saß er in der Tinte. Sollte er wirklich ändern? Es kam ihm wie ein Verrat vor.
Josi natürlich, die sagte: „Keine Silbe wird geändert.“ Ach, Josi! Sie war so hundertprozentig, wie man das mit neunzehn Jahren ist. Aber man kann im Leben eben nicht mit dem Kopf durch die Wand. Und wer sagte denn, daß der Verlag nicht recht hatte! Daß seine Frau Irmelin eben nur eine Romanfigur war, eine Idealgestalt, die es nicht gibt, nicht geben kann in Wirklichkeit?
Schließlich packte er das Manuskript zusammen und ging damit los. So oder so, er mußte noch einmal mit dem „Zwerg“ sprechen, wie er den Verleger bei sich nannte. Er stand lebhaft hinter seinem Riesenmöbel von Schreibtisch auf.
„Herr Gieseking, und mit dem Manuskript! Sie haben sich also entschlossen zu ändern? Meinen Glückwunsch!“
„Herr Doktor, ich möchte – ich komme...“
Der Kleine zog die Augenbrauen hoch. „Sie möchten...“
„Ich möchte noch einmal mit Ihnen über die bewußte Stelle sprechen“, sagte Ulrich schwach. Er hatte das Gefühl, als stünde er in einem reißenden Fluß auf Sand, und der Sand ränne ihm unter den Füßen fort.
„Gut, sprechen wir“, sagte der andere und sah nach der Uhr, „ich bin zwar etwas eilig...”
„Hören Sie mich doch an. Diese Frau kann nicht anders handeln“, sagte Ulrich angstvoll, „sie ist eine Entweder-Oder-Natur, hundertprozentig!“ Unwillkürlich sprach er in Josis Worten. „Wenn sie diesem Schuft – Steinbach ist ein Schuft, sie weiß das noch aus der Schulzeit –, wenn sie ihm gegenübersteht, ohrfeigt sie ihn. Ich kann das nicht ändern.“
Er merkte, daß der andere überlegte. Das gab ihm etwas Sicherheit zurück. Es war, als fühlte er Felsen unter dem rinnenden Sand.
„So, meinen Sie? Aber eine Ohrfeige ist etwas ziemlich Deftiges, noch dazu im Beisein anderer. Wer läßt sich von einer Frau ohrfeigen? Nein, nein, nein.“
„Das ist es ja gerade. Diese Frau Irmelin ist ungeheuerlich. Sie ist etwas Besonderes, kein Durchschnittsmensch.“
„Zugegeben.“ Der Verleger stand auf und ging auf und ab. „Ich verstehe Sie. Etwas Besonderes. Trotzdem kann ich Ihnen nicht recht geben. Die Szene muß geändert werden. Es tut mir leid für Sie“, setzte er nach einer Pause hinzu. „Es tut mir immer leid für Autoren, wenn sie denken, sie müßten Konzessionen machen. Aber so kann ich den Roman nicht bringen. Das Publikum...“
„Ich kann doch auf die schwachen Nerven Ihres Publikums keine Rücksicht nehmen“, rief Ulrich wütend.
„Schwache Nerven? Verzeihung, das ist Unsinn. Von Nerven ist keine Rede. Es ist geschmacklos.“
„Finden Sie?“ fragte Ulrich beleidigt. Auch er war aufgestanden. „Dann kann ich wohl gehen.“
„Sie können. Natürlich können Sie jetzt gekränkt abziehen“, sagte der andere, „steht Ihnen frei. Aber es wäre unklug, jawohl. Denn ich biete Ihnen eine Chance, vielleicht die Chance Ihres Lebens. Ihr Roman gefällt mir, er ist frisch, lebendig und jung. Aber solche gibt es mehr. Sie tun mir nichts an, wenn Sie jetzt gehen, vielleicht aber sich selbst etwas. Nicht jede Zeitschrift nimmt, wie wir, Romane von gänzlich unbekannten Leuten, die sich erst bewähren müssen. Ich will nichts erzwingen. Aber wenn ich die Verantwortung übernehme, Sie zu drucken, müssen Sie Vernunft annehmen. Verstehen Sie mich?“
„Ja“, sagte Ulrich leise. Wieder rann der Sand, und der Fels war fort. Eine Zeitlang hatte er nicht mehr daran gedacht, was alles von dieser Unterredung abhing. Jetzt stand es wieder deutlich vor ihm: die Blamage vor Helga und den andern.
„Wenn Sie also glauben, daß Frau Irmelin nicht anders handeln kann, wenn sie diesem Steinbach gegenübersteht...“
„Sie kann nicht anders“, sagte Ulrich, beinahe nur noch aus einem gewissen Beharrungsvermögen heraus. Nun war alles verloren.
„Gut, dann ändern Sie die Situation. Vermeiden Sie, daß sie ihn trifft, lassen Sie ihn jemanden anders schicken, der die Botschaft ausrichtet. Den wird sie wohl nicht ohrfeigen.“
„Nein“, sagte Ulrich zögernd. Eine kleine Hoffnung glomm in ihm auf. Vielleicht...
„Gut, dann schreibt er einen Brief. Oder telegrafiert. Ganz egal, aber vermeiden Sie die Gegenüberstellung. Lassen Sie die Frau auf den Tisch hauen oder den Brief zerfetzen, meinethalben, alles andere wird sich schon finden.“ Er blieb vor Ulrich stehen.
„Auf den Tisch hauen finde ich nun wieder geschmacklos“, sagte Ulrich und lächelte matt.
„Na schön. Also haut sie nicht. Aber mit der schriftlichen Erledigung sind Sie einverstanden? Sehen Sie, wir raufen uns noch zusammen. Ich bin ja kein Banause, wenn Sie es im Augenblick auch fest glauben. Nein, nein, widersprechen Sie nicht, ich kenne meine Herren Autoren. Wenn Wünsche töten könnten, deckte mich längst der grüne Rasen.“
Ulrich verließ den Verlag mit widerstrebenden Gefühlen. Was würden die andern sagen? Helga? Und Josi? Und Leo? Wenn der spottete, bekam er hoch und heilig etwas ab!
Der Verleger hatte bis zu einem gewissen Grade recht. Obwohl es natürlich schade war um die große Szene. Was hatte Josi gesagt? Der Höhepunkt des Ganzen? Josi übertrieb immer. Wenn man es von Anfang an so beschrieben hätte, ohne Gegenüberstellung... Das Publikum! Er schnitt ein Gesicht. Aber schließlich will man ja für die Leser schreiben und nicht für die Schublade... Josi ließ das Rad ausrollen und sprang ab. Im Englischen Garten waren die Wege eben, große, alte Bäume säumten sie, ja aber Wald war das nicht. Der Park einer Stadt, kein Wald.
Zu Hause war alles anders. Josi war auf einer der kleinen Brücken stehengeblieben und spuckte gedankenlos ins Wasser hinunter. Sie war jetzt viel allein, und Alleinsein war nichts für sie. Helga ließ sich kaum auf der Bude sehen, Ulrich arbeitete wie ein Besessener an seinem Roman, dessen Korrekturen er las, und Leo machte den Führerschein neben allen sonstigen Anforderungen. Josi schnupfte.
Manchmal war sie extra zu Hause geblieben, um Ulrich Gelegenheit zu geben, daß er sie um Rat fragte, wie früher. Aber er tat es nie mehr. Josi fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Sie hatte damals recht gehabt, sie fand es schlapp und unmännlich von Ulrich, daß er nachgegeben hatte. Man gibt nicht nach, wenn man die Kunst ernst nimmt, wenn sie einem mehr bedeutet als alles Gold der Erde. Oder man ist eben kein ganzer Kerl. Sie hatte Ulrich immer für so einen gehalten.
Ihr Gefühl zu ihm hätte sich kein bißchen geändert, wenn der Roman unangenommen in der Schublade verschimmelt wäre. Sie hatte nicht den erfolgreichen Schriftsteller geliebt, auf dessen Bücher sie stolz sein konnte, sondern den Menschen, und der hatte sie enttäuscht. Es war schlimm, sich das eingestehen zu müssen, aber sie tat es. Erst hatte sie versucht, die Augen davor zu schließen und ihn weiterzulieben. Aber das ging nicht. Er war ein schönes Standbild, das einen Sprung bekommen hatte.
Josi fragte sich jetzt oft ganz ernstlich, warum sie eigentlich hier war. Ihr Studium – du lieber Gott, man sollte es wirklich andern überlassen zu studieren, die geeignet dafür waren und wußten, was sie wollten. Studieren, um den anderen zu verstehen – sie hatte Germanistik gehört wie Ulrich –, nein. Und der Sport? Er machte Spaß, zugegeben. Aber er war kein Lebensinhalt für sie. Es genügte ihr nicht, beim Schwimmen Sekunden zu drücken oder beim Speerwurf Rekorde aufzustellen. Auch das war nicht ihr Gebiet.
Was aber um Himmels willen war es denn? Wo leistete sie etwas? Nirgends. Ja, tatsächlich, wenn man ehrlich war: nirgends. Es war ein recht niederschmetterndes Ergebnis, zu dem sie kam.
Es war doch aber schön hier gewesen! Josi dachte an den Abend, als sie auf den Christkindlmarkt zogen, alle vier. Es war sehr kalt, und alles sah verlockend und märchenhaft aus mit der dünnen Schneeschicht auf Boden und Zelten. Auf der Erde war der Schnee längst zerstampft von unzähligen Füßen, aber über dem Ganzen lag ein weißlicher Frosthauch, der um jedes Licht einen großen, verschwommenen Hof malte. Und es roch nach Makronen und Fettgebackenem und warmer Wurst, so, wie es auf dem Weihnachtsmarkt riechen muß, und das Herz ging einem auf vor Vorfreude.
Jetzt hatte man gar nichts, worauf man sich freuen konnte. Josi nahm einen Stein und schmetterte ihn ins Wasser, nahm ihr Rad auf und fuhr los. Aber die Gedanken kann man nicht ins Wasser schmeißen, die folgten einem...
Es war solch laue, bänglich-süße Vorfrühlingsluft, die Sonne fiel golden durch die Äste der Bäume, und zwischen dem welken, vorjährigen Laub blühten Leberblümchen und Anemonen. Josi mußte plötzlich abspringen und hinüberlaufen auf die dunkelfeuchte Walderde. Der Radweg war asphaltiert.
Nein, das war kein richtiger Wald hier. Er roch auch anders. Wild und erstickend überfiel sie auf einmal die Sehnsucht nach den heimatlichen Wäldern, nach der Hutung hinter der Försterei, nach dem Teich, wo sie immer Salamander gefangen hatten. Und die Wiesen und Koppeln! Immer dachte sie „unser“ Wald, obwohl er Helgas Vater gehörte. Sie wußte das, aber es zählte nicht. Man war so nahe verschwistert damit aufgewachsen, und es gehörte einem, wie einem wahrscheinlich keine Landschaft der Welt gehören würde. Was war nur los mit ihr, da stand sie und sehnte sich, obwohl sie im Grunde gar nicht nach Hause wollte. Nein, nach Hause, wieder das Jüngste zu sein, das keiner ernst nahm, das wollte sie nicht. Aber wissen, wohin man gehörte...
Zu Ulrich gehörte sie nicht, das wußte sie jetzt. Zu Leo?
Sie stand und sah hinüber nach dem Weg. Ihr war, als müßte er jetzt kommen, jetzt, wo sie so allein und verlassen und hilflos war, wo sie so sehr jemanden brauchte. Alles mußte gut werden, wenn er jetzt käme und wie so oft „Hallo, Josi!“ riefe. Ach, seine gute, vertraute Stimme, seine breiten, verläßlichen Hände!
Er kam nicht. Sie stand und starrte, und dann ging sie langsam zu ihrem Fahrrad zurück. Es war ja dumm von ihr, Leo hatte im Augenblick so viel um die Ohren...
Aus der Theatinerkirche klang Orgelmusik. Sie lehnte ihr Fahrrad an die Mauer und probierte an der Tür – offen. Auf Zehenspitzen trat sie ein. Die Kirche war leer. Lautlos stieg sie die Treppe hinauf bis auf die Empore. Ein nicht mehr ganz junger Mann saß und spielte. Sie sah den schönen, stark geprägten Lockenkopf im Profil, die dunkel überbuschten Augen. Der ganze Körper des Mannes ging auf und ab im Spiel der Hände und Füße. Oh, es war ein Genuß, gleichzeitig zu hören und zu sehen. Dieses Strahlende im Gesicht des Mannes – klang es nicht in der Orgel wider? Rauschte das Glück, das in diesen tanzenden Händen lag, nicht vielfältig in Tönen durch den Raum? Es überschauerte sie. Bach, ein ganz Großer, ganz Einsamer. Sie fühlte sich klein und unwichtig und nebensächlich werden neben dieser Wucht, dieser Stärke. Ohne daß sie es wußte, liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Als sie später die Kirche verließ, war sie irgendwie verändert. Irgend etwas in ihr hatte sich umgeschichtet, verlagert. Was sie vorher bedrückt hatte, schien ihr klein und dumm.
Sie fuhr heim. Niemand da. Sie setzte sich aufs Bett und stützte die Fäuste in die Wangen. Wer groß und stark ist, kann ruhig allein sein. Wer das aber nicht ist und voraussichtlich auch nie werden wird, was fängt der an?
Sich an etwas anschließen, an etwas Gemeinsames, an etwas, wo man mitarbeitet und mitbaut. Wo man unentbehrlich ist, so klein man auch scheint. Ja, aber wo gab es das für sie, Josi Fischer? Sie wußte es nicht.
Es war eine dunkle Stunde. Josi vergaß sie nie.
Leo hatte sie zur Bahn gebracht. Sie stand am Fenster des D-Zuges und wartete auf die Abfahrt. Es war glühend heiß, sie hatte das Gefühl, fast umzukommen in ihrem dicken Kostüm. Aber sie hatte es anziehen müssen, um den Platz im Koffer zu sparen, der Teufel mußte seine Hand im Spiel haben, warum jetzt alle Taschen voller waren als im Herbst. Schleppte sie so viel von hier fort? Sie hatte nicht das Gefühl.
Pustend warf sie die Jacke auf ihren Platz. Der Aufhänger war schon wieder den Weg aller Aufhänger gegangen, sie mußte ihn annähen, ehe Mutter dahinterkam. Sie ließ das Fenster herunter. Leo stand draußen und reichte ihr eine Illustrierte herein und eine Rolle saure Drops. „Für den Durst.“
„Danke, du bist rührend. Nein, es ist wirklich genug und zuviel. Ich will doch nicht lesen. Ich will rausgucken und sehen, wie alles bekannter wird ringsum...“
„Komm doch noch ein bißchen heraus, es ist noch Zeit“, sagte er. Sie nahm ihre Tasche und lief durch den Gang zur Tür.
„Du freust dich wohl sehr? Grüß nur alle!“ sagte er lächelnd.
„Und ob ich mich freue. Ganz toll! Und ihr, wann kommt ihr?“
„Morgen in vier Wochen.“ Leo hatte sich einen Job gesucht, um das nächste Semester zu finanzieren. Auch der Führerschein war noch nicht bezahlt. „Eigentlich finde ich es ja beleidigend, daß du so vergnügt bist und ganz ohne Abschiedsweh“, sagte er jetzt.
„Ach, Männe, es ist vielleicht nur die Maske der Heiterkeit.“ Sie sah zu ihm auf, er konnte den Ausdruck ihrer Augen nicht recht deuten. Saßen da Tränen im Hintergrund?
„Weißt du, Josi, ich dachte in den letzten Wochen manchmal, es wäre etwas mit dir.“
„So? Was sollte denn sein?“
Leo suchte nach Worten. „Ich meine...“
„Na? Sag doch!“
„Ich meine, du könntest ja auch mal einen Kummer haben...“ Es klang fast entschuldigend.
„Eben, warum nicht?“ fragte sie. Ihr Ton war nicht ganz echt, diesmal hörte er es heraus.
„Josi?“
„Ach, Leo, soll ich dir wirklich die Ohren volljammern, es nützt doch nichts. Es ist, glaub’ ich, ein ganz ähnlicher Fall wie deiner, wie der, von dem du sprachst, zu Fasching.“
„Ein ähnlicher Fall?“ Er wagte nicht zu fragen: wohl der gleiche mit den gleichen Leuten? Stimmte es, daß sie Ulrich – daß sie an Ulrich – so gedacht hatte? Manchmal glaubte er, so etwas beobachtet zu haben.
Sie gingen nebeneinander den Bahnsteig auf und ab. Leo strich leise über ihren Arm.
„Das geht vorbei, Josi.“
„Jaja, natürlich. Ich hab’ dir damals wohl dasselbe gesagt...“ Sie lachte ein bißchen. „Aber jedenfalls geht es schneller und besser vorbei, wenn man ordentlich schuftet. Siehst du, deshalb ist es sicherlich gut, daß ich gerade jetzt für Mutter einspringen muß. Sie fährt weg, ich werde also ganz selbständig wirtschaften müssen. Und so was gefällt mir, darauf freue ich mich.“
„Ja? Wie gut, Josi.“
Sie sah sich um. Die Halle des Bahnhofs war sonnendurchstrahlt, alle Metallteile blitzten und schimmerten. Der Himmel mit seinem wolkenlosen, funkelnden Blau drängte sich förmlich hinein. „Schön war es aber doch“, sagte Josi.
„War? Willst du denn nicht wiederkommen?“ fragte Leo aufmerkend.
Josi sah etwas überrascht zu ihm auf.
„Sagte ich: war? Ja? Nein, weißt du, eigentlich hab’ ich überhaupt noch nicht weiter gedacht als an die nächsten Wochen. Eigentlich will ich ja weiterstudieren.“
„Josi, wenn du nicht wiederkommst!“
„Täte dir das leid? Ach, Männe, du guter Kerl, das ist wirklich nett von dir, mir das einreden zu wollen. Aber im Grunde – richtig vermissen werden mich wahrscheinlich nur die drei Sasse-Kinder. Bloß gut, daß ich noch mit ihnen in Hellabrunn war, im Tierpark – sie hatten es sich so sehr gewünscht. Renate ist natürlich in den Dreck geflogen, und die Jungen interessierten sich sehr laut dafür, wie der Vogel Strauß sich fortpflanzt im Gegensatz zu den Zebras. Noch dazu auf sächsisch – du kennst sie ja. Alle Leute guckten auf mich, und ich werde ja immer so blödsinnig rot. Sie wollten unbedingt ein Vogel-Straußen-Ei sehen, das von der Sonne bebrütet wird. Wir müssen sie mal zu uns nach Hause einladen. Das wäre fein, im Sommer, ja?“
Leo nickte. Er sah Josi an, ihr ernsthaftes und irgendwie verändertes kleines Lausbubengesicht. Nein, kein Lausbubengesicht mehr. Gewiß, ihre Nase wies noch immer gen Himmel, noch immer war ihr kurzes Haar stets irgendwie zerzaust und saß, wie es nicht sitzen sollte, noch immer konnten ihre Augen Kobolz schlagen. Aber sie taten es seltener, und die Grübchen in den Wangen sah man kaum mehr, wahrscheinlich, weil das Gesicht schmaler und straffer geworden war. Liebes, liebes kleines Josi-Gesicht!
„Du, Josi, der Kerl mit ‚Türen schließen‘ wird gleich kommen. Darf ich dich noch um was bitten, eh’ du fährst? Ja?“
„Natürlich. Klar. Was möchtest du denn?“
„Du sollst... du sollst mir glauben, daß ich dich... daß du mir... daß...“ Er verhaspelte sich.
„Willst du mir in aller Geschwindigkeit noch eine Liebeserklärung machen?“ fragte Josi, auf einmal zwischen Lachen und Weinen. Ihr war plötzlich entsetzlich traurig zumute.
„Eigentlich ja – oder doch beinahe.“ Auch er war sehr durcheinander. „Versprich mir, daß du mein Freund bleibst!“
„Das ist doch sowieso klar.“ Sie stand in der Tür des Waggons, es war Zeit, daß sie einstieg. Er dachte an damals im Fasching, als sie die Arme um seinen Hals gelegt hatte. Wenn sie das jetzt wieder tun würde... Aber so leicht wurde es ihm nicht gemacht. Sie gab ihm die Hand, zögernd. Da mußte er schon selbst handeln.
„Auf Wiedersehen. Josi!“ sagte er, gab sich einen Stoß und küßte sie auf den kleinen, traurigen Mund. Sie stand ganz erstarrt. „Auf Wiedersehn, hörst du. Josi?“
„Abfahrt. Einsteigen. Die Türen schließen!“
Josi zwängte sich neben den Dicken ans Fenster, sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber Leo konnte es nicht mehr verstehen. Die Lok ruckte an.
Er lief ein Stück neben dem Zug her, winkte und blieb dann zurück. Noch immer sah er ihr unter Tränen lächelndes Gesicht, fühlte er ihre bebenden Lippen. Hatte er versäumt, etwas Wichtiges zu sagen? Und wenn, war es nachzuholen?
Sie fuhr heim, gewiß. Aber dort blieb sie nicht. Wohin würde das Leben sie führen? Wieder hierher? Er glaubte es nicht. Ich schreibe ihr, dachte er und nahm es sich fest vor. Sobald ich eine Bude in Leverkusen habe, schreib’ ich ihr, sie muß es doch wissen!
Was denn? Was wollte er ihr schreiben? Was mußte sie wissen? Leo marschierte in tiefen Gedanken durch das Menschengewühl und wußte nicht recht, ob er das wirklich tun würde. Landwirte sind nicht allzu schnell mit der Feder...
Aber sie muß doch gemerkt haben..., verteidigte er sich bereits vor sich selbst. Und außerdem, vielleicht kann ich noch mal heim, ehe das nächste Semester beginnt...
Ein Jahr später machte Leo Gieseking seinen Diplomlandwirt. Er hatte das letzte Semester hindurch scharf gearbeitet und bestand das Examen mit Auszeichnung. Eigentlich wunderte er sich selbst, daß er jetzt, da er es hinter sich hatte, nicht froher war. Aber so ist es wohl: Traurig sein kann man allein, zum Freuen braucht man Gesellschaft. Und Leo war allein, daran lag es.
Josi war nicht wiedergekommen. Nachdem ihre Mutter von ihrer Reise zurück war, hatte sie kurzerhand ein Haushaltspraktikum auf dem Lande gewählt, in einer Familie, in der Zwillinge eine junge Mutter sehr mitnahmen, während sich das nächste Kind schon angekündigt hatte. Dort mußte man alle Kräfte einsetzen, und die Arbeit würde ihr angerechnet werden, wenn sie später in einen sozialen Beruf hineinging.
Auch Ulrich und Helga waren nicht mehr in München. Helga hatte durchgesetzt, daß sie nach Hamburg gingen. Leo war allein.
Na ja. Wenn man sehr angespannt arbeitet, ist es gleichgültig, in welcher Stadt. Er ging, den Hut in der Hand, die Mappe in die Hüfte gestützt, die Leopoldstraße entlang. Die Sonne brannte ihm auf die haarscharf rasierten Wangen, so sehr, daß er in einen Laden trat und sich eine Tube Sonnenschutz kaufte, um sich ein bißchen einzureiben. Als er in den Spiegel guckte, sah er, wie blaß er war. Nein, wie ein Landwirt im Hochsommer sah er nicht aus. Es war eine Schande.
Als er heimkam, war Frau Fleischhack da. Sie freute sich sehr, als sie hörte, daß er Examen gemacht hatte.
„Nein, Herr Gieseking, ich gratuliere! Aber da muß ich doch gleich... Ich hab’ so einen vorzüglichen...“, und sie stürmte ab. Leo setzte sich auf die Liege, riß Kragen und Hemd auf und lehnte sich zurück. Er war wohlig müde und wehrte sich nicht, als die begeisterte Alte ihm einen selbstgebrauten Huldigungstrunk kredenzte.
„Und nun gehen Sie bald weg“, seufzte sie.
„Ach, Sie finden schon wieder nette Leute, die Sie verwöhnen!“ Aber sie wiegte bekümmert den Kopf.
„Ich denke immer: So schön wie Fräulein Martens und so lustig wie Fräulein Fischer erleb’ ich keine mehr.“
„Und wir? Sind wir nicht auch schön und lustig? Oder wie würden Sie uns bezeichnen?“ fragte Leo amüsiert.
„Klug und stark“, sagte sie unerschüttert, „Ihr Bruder ist klug und Sie stark, jaja“, und damit goß sie sich noch einen ein.
„So. Stark. Viel ist das ja nicht gerade“, sagte Leo nachdenklich und stand auf. Sie sah ihn an, wie er den Gürtel zurechtzog.
„Sagen Sie das nicht! Stark – das ist das, was die Frauen sich wünschen. Das einzige.“
„Meinen Sie?“ Er mußte lachen. Dann warf er plötzlich die Jacke von sich und riß die Kommodenschublade auf.
„Ich brauch’ ein kurzärmeliges Hemd, Frau Fleischhack, hören Sie fix! Ich muß raus aus der Stadt, raus, raus, raus!“
Es war schon Abend, als er die letzte Steigung hinter sich hatte. Er war warm geworden und sah sich um. Wie sanft die Höhen lagen! Hier oben war der Boden steinig und hart, als habe es unendlich lange nicht geregnet, aber die Wälder standen saftig grün in strotzender Fülle. Drüben flammte der Himmel rot und golden, daß es blendete, und die Tannen davor hoben sich scharf ab mit ihren unzähligen Spitzen. Unwillkürlich kam ihm das alte, ewig junge Lied in den Sinn: „O Täler weit, o Höhen!“
Er sah sich um, ob es hier oben eine Übernachtungsmöglichkeit gab. Eigentlich gefiel es ihm über die Maßen, daß er so ohne Programm losgerannt war, aus einem plötzlichen Entschluß heraus, ohne Ziel, nur vorwärts. Als er das Zeichen für Jugendherbergen sah, lachte er vergnügt und ging ihm nach.
Es saß sich wunderbar hier oben an dem in den Boden gerammten Tisch, er streckte die Beine von sich und räkelte sich. Jetzt hätte eine Zigarette herrlich geschmeckt, aber es widerstrebte ihm, eine anzuzünden. Da drüben saß eine Schar Jungen, denen er kein schlechtes Beispiel geben wollte.
Die Herbergsmutter hatte alle Hände voll zu tun mit der ungeduldigen Meute. Er wartete geduldig. Sie trug ein Dirndl und dazu ein rotes Kopftuch, klein war sie, aber behend und energisch, wie sie da umherflitzte und lachte und schalt. Sie ging barfuß in Holzsandalen, die nur aus Sohle und einem roten Riemen bestanden und ein flinkes Klipp-Klapp machten. Jetzt kam sie zu seinem Tisch gelaufen, rot und erhitzt. „Leo?“
„Josi!“ Sie hatten einander im selben Augenblick erkannt. Es war kaum zu unterscheiden, wer von ihnen verblüffter war.
„Bist du hier? Nein, so eine Überraschung!“
Daß er sie nicht sofort erkannt hatte! Er hatte wahrscheinlich, müde vom Laufen, vor sich hin gedöst und sie angestarrt und nicht gemerkt, daß er etwas sehr Vertrautes ansah. Unverändert war sie noch, ihre fixen Bewegungen, ihr halb springendes Laufen und – richtig, auch das kannte er noch – ihr altes, unvermeidlich gepunktetes Tuch, das sie immer irgendwie getragen hatte, ob es paßte oder nicht.
„Nein, Leo, wie mich das freut! Und ausgerechnet dich lass’ ich warten und hungern!“
„Nicht wahr? So geht es einem, alle alten Freunde verlassen einen. Dabei hab’ ich heute Examen gemacht.“
„Wirklich? Ach du, ich bin leider im Dienst, sonst kriegtest du ehrlich einen Kuß ab!“
„Josi!“ Er griff nach ihrem Arm. „Wann ist dein Dienst aus?“
Sie lachte. Wie ein Apfel strahlte ihr Gesicht, als sie sich losriß und zu schimpfen anfing.
„Das möchtest du wissen, das glaub’ ich. Nein, nein, ich bin hier Herbergsmutter, also eine Respektsperson!“
„Wirklich?“
„Zweifelst du etwa daran?“ fragte sie und richtete sich möglichst imponierend auf.
„An der Respektsperson nicht. Aber bist du wirklich Herbergsmutter, ich meine – verheiratet?“
Sie sah ihn einen Augenblick spitzbübisch an.
„Herbergsmutter ja. Aber nur in Vertretung. Die richtige hat eben den zweiten Sohn bekommen, so vertrete ich sie.“
„O Josi!“
„Nein, jetzt hab’ ich keine Zeit mehr für dich, großes Ehrenwort. Bleibst du über Nacht? Hast du einen Ausweis?“
„Nein. Kann ich auch ohne bleiben, wenn ich bezahle?“
„Du mußt mit dem Herbergsvater sprechen“, sagte sie rasch, „natürlich geht es. Ach, Leo, ich bin ja so froh, daß ich dich hier sehe, wir müssen uns entsetzlich viel erzählen. Was machen denn die andern?“
„Sind noch in Hamburg, soviel ich weiß.“
„Und du? Was hast du jetzt vor?“
Leo wanderte auf und ab, während er auf Josi wartete. Ihm war, als habe er bis jetzt geschlafen und sei nun hochgeschreckt, als er Josis Gesicht sah, ihre Stimme hörte. Mit einemmal erschien es ihm unglaublich, daß er ein Jahr lang gelebt hatte, ohne jeden Tag an sie zu denken.
Einen Kuß, dachte er. Damals hatte er ihr einen gegeben, als sie abfuhr, einen einzigen. Wie leicht hätte es sein können, daß sie wirklich verheiratet oder doch verlobt war jetzt, sie, sein bester Kamerad. Ihm wurde ganz windelweich bei dem Gedanken. Wie konnte er nur so leichtfertig das Leben laufen lassen, und wenn er zehnmal Examen zu machen hatte. Wofür arbeitete man denn, wenn nicht für die Frau, für die Familie, für das, was bleibt?
Kam sie denn immer noch nicht? Ihm war, als könnte er jetzt, da er sie so lange nicht gesehen hatte, keine Sekunde mehr warten. Wieder und wieder sah er nach der Uhr – stand die denn still? Nein, sie tickte wie immer. Aber trotzdem ging sie nicht vorwärts. So spät war es doch vor Stunden schon gewesen!
„Leo!“
„Na endlich. Ich finde, du läßt mich reichlich Geduld üben.“
„Ach, schimpf nicht, jetzt bin ich ja da.“
Sie kam an seine Seite gesprungen und hakte sich bei ihm ein. Es wurde schon kühl. Nebel stiegen aus den Tälern hervor.
„Nun erzähl, was hast du jetzt vor?“
„Nein, erst erzählst du. Bist du schon lange hier, und für immer? Du wolltest doch eigentlich wieder nach München kommen.“
„Wollte ich? Ach, Männe, vielleicht zuerst. Aber dann – weißt du, ich passe nicht in die Stadt. Ich hab’ es deutlich gemerkt. Es war ja nett und lustig mit euch, jedenfalls anfangs...“
„Ich dachte immer, es hätte dir bei uns gefallen“, sagte er leise.
„Hat es auch. Hat es wirklich. Aber weißt du, mir fehlte dort die richtige Arbeit. In Hörsälen sitzen und Sport treiben – sicher, für eine Weile macht das Spaß. Aber ich brauch’ halt Arbeit, richtige, deftige Arbeit, einen Garten oder Viehzeug oder Kinder – oder so wie hier, wo ich die Jungen und Mädchen verköstige.“
„Ja? Fühlst du dich hier wohl?“
„Herrlich wohl. Wenn sie alle so anrücken, hungrig und durchgeblasen von der Luft, und so vergnügt, oder sie wenden sich mit ihren kleinen Leiden und Unglücksfällen an mich. Der eine hat sich die Ferse durchgelaufen – ich bin schon ein halber Arzt geworden –, oder einer hat sein Geld verloren und mag es den andern nicht sagen. Da pump’ ich ihm halt was. Und so viele schreiben mir dann Karten, das ist unglaublich nett. Ich hab’ schon eine ganze Sammlung davon.“
„Da möchtest du wohl nicht wieder fort von hier?“
„Nein, warum? Ich glaub’, an eine solche Stelle gehör’ ich.“
Er schwieg.
„Und nun erzähl du“, sagte sie und gab ihm einen Schubs.
Er fuhr auf. „Ach, ich – was ist da groß zu erzählen. Ich hab’ doch gesagt, das Examen hab’ ich.“
„Und nun?“
„Was denn, nun?“
„Ich meine, was du jetzt anfangen willst. Jetzt geht’s doch los bei dir.“
„Das weiß ich noch nicht“, sagte er mürrisch. All seine gute Laune war plötzlich dahin. Sie versuchte seinen Gesichtsausdruck in der Dämmerung zu erkennen. „Warum brummst du mich denn plötzlich so an?“
„Hab’ ich gebrummt?“ fragte er sanfter.
„Na, und nicht zu knapp. Ich dachte, wenn man das Examen hat, weiß man schon genau, was man dann anfängt. Das ist doch sozusagen das Tor zum Leben. Aber vielleicht willst du nicht darüber sprechen?“
„Doch, Josi, mit dir schon. Gerade mit dir!“
„Männe, sei nicht böse, morgen! Ich muß wieder hinein, es hängt ja alles an mir. Sei lieb, geh schlafen und ruh dich ordentlich aus. Ja? Morgen versuch’ ich, etwas länger abzukommen.“
Sie trennten sich an seinem Zimmer. Josi streichelte ihm heftig abbittend über den Handrücken, als sie sich verabschiedete. Er sah so enttäuscht aus.
Und er war es auch. Von Schlaf konnte keine Rede sein. Er lief hin und her wie ein gefangener Löwe. Seine Gedanken arbeiteten. Er mußte zu einem Entschluß kommen, heute noch. Aber es war schwer, viel schwerer jetzt als vorher.
„Leo? Bist du noch angezogen?“
Er war sofort an der Tür. „Ja, was ist?“
„Wenn du leise bist, zeig’ ich ihn dir noch schnell, willst du ihn sehen?“ flüsterte Josi. Er verstand nicht gleich.
„Wen denn?“
„Den kleinen Jungen. Magst du?“
„Ach so.“
Sie schlichen hintereinander durch die langen Gänge der Jugendherberge. Es war schon nach zehn und eigentlich Bettruhe. Sie durften sich nicht erwischen lassen.
„Komm, hier.“ Josis kleine warme Hand zog ihn im Dunkeln hinter sich her. Er tappte und stieß mit dem Kopf gegen irgend etwas. Es krachte wie ein Donnerschlag.
„Ach, du lieber Augustin, kannst du deinen Dickschädel nicht einziehen?“ Sie standen und hielten den Atem an.
„Ach, es kommt schon niemand. Los, hier.“
Das also war Josis Zimmer. So schmal, daß man neben dem Bett kaum treten konnte, eine Kommode, die wohl auch als Tisch diente, fertig. Kein noch so schmaler Spind.
Am Fenster stand ein buntbezogener Korbwagen. Josi hatte die Lampe schon abgeschirmt und konnte ruhig anknipsen.
„Ist er nicht süß? Eben hat er seine letzte Mahlzeit gekriegt.“
Leo fühlte eine seltsame Rührung, wie er das kleine rotbraune Köpfchen betrachtete. „Und da schläft er nun die ganze Nacht bei dir?“
„Ha, schläft! Bis zwei vielleicht, dann brüllt er, ich sage dir... Nein, mach nicht so ein erschrockenes Gesicht!“ Sie lachte so laut, daß sie selbst erschrak und beide Hände vor den Mund drückte.
„Kannst du denn dabei schlafen?“ fragte Leo.
„Na, ich lern’ es noch. Gestern war ich meistens wach. Aber wir wollen ihm gar nicht erst einen Schnuller angewöhnen. Man muß nur anfangs konsequent bleiben.“
„Und tagsüber rennst du von früh bis spät umher und kochst und pflegst außerdem die Frau – Josi, ich finde...“
„Ach, finde nur nicht erst. Ist nicht der Rede wert. Und wie soll ich es denn machen, bitte sehr? Die Frau braucht ihre Ruhe. Außerdem ist er doch so süß. Wir hatten uns so sehr einen zweiten Jungen gewünscht.“
„Na ja, aber...“
„Kein Aber. Wenn du meckern willst, braus ab. Überhaupt, wenn sie dich hier erwischen!“
„Josi, ich möchte...“
„Was denn?“
„Du hattest mir einen Kuß versprochen.“ Es klang mehr trotzig als hoffnungsvoll.
„Ja, morgen. Nun geh schon, Leo.“ Sie drängelte ihn zur Tür hinaus. Was blieb ihm übrig? Niedergeschlagen warf er sich aufs Bett, schlief aber dann wenigstens sofort ein. Sein Tag war weiß Gott lang gewesen und hatte manches enthalten.
Früh bekam er Josi nicht zu sehen. Sie hatte sicherlich alle Hände voll Arbeit. Er trieb sich in der näheren Umgebung der Jugendherberge herum und kam pünktlich zum Mittagessen. Die Jungen waren weitergezogen, es gab nur wenige Einzelwanderer. So konnte Josi nach Tisch bei ihm sitzen.
„Na gut, daß man dich endlich mal hat!“
„Was hast du den ganzen Vormittag über gemacht?“
„Mich besonnen.“
„Ja und? Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“ fragte sie gespannt. Sie hatte ihn genau verstanden.
„Noch zu keinem endgültigen, Josi. Nur zu einem Entweder-Oder. Ich habe zweierlei an der Hand, wenn man so sagen will. Einmal eine Stelle an einer Landwirtschaftsbank, gut bezahlt, mit Aufstiegsmöglichkeiten, eine sichere Sache für die Zukunft. Daraufhin könnte ich sofort heiraten.“
„So.“ Josi saß da, bohrte mit dem Daumennagel Rillen in den Holztisch und sah nicht auf. Ihr Haar hing ins Gesicht, so daß er von der Seite nur die Nase ein bißchen herausgucken sah.
„Und die andere Möglichkeit?“
„Tja, du sagst ja nicht gleich ‚verrückt‘. Jeder andere würde das sagen, wenn ich diese Stelle neben der in der Landwirtschaftsbank überhaupt in Erwägung ziehe. Aber vielleicht sagst du es doch?“
„Nun red schon!“
„Also, du kennst doch den alten Kostewitz, nicht wahr? Der oft bei Helgas Vater war, und in ‚Wild und Hund‘ sind immer Artikel von ihm. Der ist jetzt durch irgend etwas zu Geld gekommen, und da hat er sich ziemlich nahe von zu Hause einen Hof gekauft, einen ziemlich heruntergewirtschafteten, den Hetzenhof, besinnst du dich? Mit allen Weiden und Koppeln. Und dort züchtet er jetzt Haflinger. Er bewirtschaftet den Hof außerdem noch, die Hauptsache ist aber die Pferdezucht, weil Haflinger doch jetzt immer mehr in Mode kommen. Der sucht einen Pferdepfleger und Bereiter, ich kam zufällig mit ihm zusammen, als ich das letztemal daheim war.“
„Ja und?“ fragte Josi lebhaft. „Habt ihr was verabredet?“
„Noch nichts Bindendes. Ich sagte ihm, ich würde erst mein Examen machen, was er ziemlich überflüssig fand. Er ist ja überhaupt eine komische Nummer, ein Original.“
„Ja, aber ein prima Mann. Also du, ich fände das ganz groß auf dem Gestüt.“
„Gestüt ist übertrieben. Immerhin steht dort der beste Hengst von Süddeutschland, und Stuten hat er auch sehr gute. Was meinst du dazu?“ Es war ein eigener Ton in Leos Stimme, als er die letzten Worte langsam sagte. Josi hörte es genau.
„Was ich meine?“ Sie zögerte einen Moment, hob den Kopf und sah ihm gerade in die Augen.
„Mensch, ich würde überhaupt nicht zögern. Haflinger züchten, zureiten, mit Pferden leben – was ist dagegen die Landwirtschaftsbank. Da sitzt du den ganzen Tag im Zimmer und rechnest und schreibst, das ist doch nichts für unsereinen. Wir gehören hinaus aufs Land, zu richtiger, lebendiger Arbeit, ach, und dort! Arbeit mit und an Pferden, wunderbar! Ich wüßte genau, was ich an deiner Stelle täte.“
„Wirklich, Josi? Hab’ ich dazu Landwirtschaft studiert, daß ich Pferdepfleger und Bereiter werde?“
„Na, schaden kann es dir auf keinen Fall, daß du den Diplomlandwirt hast. Und nur, weil man studiert hat, in die Stadt zu gehen, meinetwegen auch an eine gut bezahlte Stelle, nein.“
„Josi, wenn du das so sagst – ach Josi, kleiner Kamerad, mir wird auf einmal ganz leicht ums Herz! Ja, es wäre Unfug. Herrgott noch mal, was ist man manchmal vernagelt und dumm.“
„Du möchtest also eigentlich lieber zu Kostewitz?“
„Eigentlich? Tausendmal lieber! Ich dachte nur immer – nun, daß meine Eltern mein Studium bezahlt haben und all das...“
„Aber das spielt doch keine Rolle dagegen, ob du dich in deinem Beruf wohl fühlst oder nicht! Nein, Leo, wirklich! Und schließlich, lernen tut man überall was, und du kannst nach zehn Jahren ja immer noch woandershin, wenn es dir nicht mehr genügt.“
„Klar, Josi, klar!“
„Na also. Außerdem – der Hetzenhof liegt so schön nahe von zu Hause, da können wir leicht einmal heim.“
„Wir“ – Josi hatte sich verschnappt. Sie wurde dunkelrot vor Schreck. Hatte er es gehört?
Er hatte. Aber er war selbst viel zu nahe beteiligt an der Sache, als daß er es komisch finden könnte. So sagte er gar nichts, es fiel ihm ums Leben nichts ein. Josis letzter Satz stand sozusagen noch greifbar deutlich in der Luft.
„Ich meine: du. Und wir, wenn wir dich mal besuchen“, sagte Josi schließlich. Es klang für ihre Art zu sprechen bemerkenswert lahm. Da kam endlich Leben in Leo.
„Aber du sagtest doch, du wolltest hier nicht weg!“
„Natürlich nicht. Aber wenn du... wenn wir...“ Nun war sie ganz festgefahren. Zum Kuckuck, er war doch der Mann, konnte er ihr denn nicht heraushelfen? Sie sah ihn wütend an.
„Grinse wenigstens nicht so, du siehst doch...“
„Ich grinse gar nicht“, sagte er beleidigt.
„Doch hast du gegrinst. Sag wenigstens, ob du mich nun haben willst, wenn wir schon einmal davon sprechen!“
Das war wieder so ganz Josi, tapfer und geradeaus und bei allem Ernst so komisch, daß er nun doch lachen mußte. Und mit dem Lachen kam ihm die Sprache wieder.
„Aber, Josi, ich wäre doch ein Idiot, wenn nicht! Vorausgesetzt, daß du mich haben willst, einen besseren Pferdeputzer!“
„Das hab’ ich dir eigentlich schon deutlich genug gesagt“, schnappte Josi, als sie wieder Luft bekam. „Natürlich will ich dich. Und tausendmal lieber, wenn wir aufs Land kommen!“
Er konnte es noch gar nicht fassen: den liebsten Beruf, den er sich denken konnte, und Josi dazu!
„Nein, du, wenn ich geahnt hätte, daß du einmal um mich freien würdest...“
„Untersteh dich und erzähl das jemandem!“
„Aber klar! Allen! Denkst du, ich mach’ es so blöd wie Helga und Ulrich, die es keinem sagen wollen, und man sieht es durch alle Knopflöcher durch?“
„Ja, nicht wahr? Das fand ich auch blöd. Du, ob die zu unserer Hochzeit kommen? Ich finde, sie müssen!“
„Find’ ich auch. Josi, unsere Hochzeit! Deine und meine Hochzeit! Wann wollen wir übrigens heiraten? In vier Wochen? Oder geht es schon eher? Jetzt, wo ich weiß, daß du mich willst, geht bestimmt alles, alles! Josi, mein kleiner, mein bester Kamerad!“
Er lachte sie an, glücklich, strahlend. Und sie lachte zurück. Waren sie jemals getrennt gewesen, weit voneinander, ratlos? Das alles zählte nicht mehr. Sie waren wieder beisammen wie in den Jahren ihrer Kindheit, gewillt, zusammenzuhalten im Guten und im Bösen. Das Leben lag vor ihnen, offen und bereit. Es wartete auf sie, auf sie und ihre junge Kraft. Und sie durften Seite an Seite hineingehen und diese Kraft einsetzen, dort, wo sie beide am allerliebsten waren, unter Gottes freiem Himmel, bei Bäumen und Tieren.
„Daß du überhaupt jemals in Frage gezogen hast, zwischen Geldschrank und Schalter einer Bank zu verschimmeln“, sagte Josi und schüttelte den Kopf, „ich glaube, du, ich muß dir manchmal eine Zügelhilfe geben.“
„Und ich dir öfter eine Parade, wenn du frech wirst!“ Leo lachte und legte den Arm um ihre Schultern. „Komm, Josi, jetzt laufen wir noch ein Stück. Die Bergluft ist so herrlich. Nein, wenn ich das gestern früh geahnt hätte!“
„Liebe Helga, lieber Ulrich, wir haben uns verlobt und wollen so bald wie möglich heiraten. Dazu müßt Ihr unbedingt kommen. Könnt Ihr nicht Urlaub nehmen? Josi hat um mich...“ Das Weitere war dick durchgestrichen, man konnte es nicht mehr lesen. Helga wandte die Karte um: das Bild einer Jugendherberge, herrlich gelegen. Sie versuchte den Poststempel zu erkennen. Aber er war ganz verwischt. Ulrich anrufen, das war ihr erster Gedanke. Er arbeitete in einem Verlag als Volontär. Dann aber ließ sie es, verließ ihr Zimmer und lief los, zu ihm hin. Es war weit durch die Stadt, und sie fuhr sonst immer, heute aber lief sie. Ihr war zum Weinen zumute. Warum nur?
Ein unmögliches Menschenkind, ja, das war sie immer gewesen. Zu Hause hielt sie es nicht aus, weil Mutter da war, so sehr und stark sie selbst, daß sie, Helga, glaubte, stets in ihrem Schatten zu stehen, sich nie zur Persönlichkeit entwickeln zu können. Mutter verlangte so viel, obwohl sie nie etwas sagte. Und jetzt verlangte Mutter gar nichts mehr. Sie war so jung geworden durch den kleinen Jens, so jung und gegenwartsglücklich, beneidenswert. Trotzdem fand sich Helga zu Hause unmöglich – und in der Klinik? Dort erst recht. Sie lief durch die juliheißen Straßen, sah nicht nach rechts, nicht nach links und sprach im Geist auf Ulrich ein, oh, er mußte sie verstehen! Und dann würde alles gut werden, alles – genau wie bei Josi und Leo.
„Wir sind uns also einig?“ fragte der alte Kostewitz abschließend. Leo nickte strahlend. Es war wirklich so gekommen, der Posten war noch frei, und er spürte nichts als den brennenden Wunsch in sich, aufzuspringen, so schnell er konnte, nach dem nächsten Postamt zu rennen und an Josi zu telegrafieren: „Vertrag unterschrieben, komm heiraten!“ Leider durfte man das nicht.
„Also dann.“ Der alte Herr kam mit einer Flasche und Gläsern: Ein richtiger Pferdehändler kann keinen Vertrag als bindend ansehen, der nicht begossen wurde.
Leo trank gehorsam, er stammte ja vom Land und wußte über Sitten und Gebräuche Bescheid. Allerdings – war das ein Rachenputzer! Dagegen erschienen ihm Frau Fleischhacks Erzeugnisse wie Vanillesoße. „Danke, ich hab’ genug.“ Er hielt sein erst halb geleertes Glas so, daß der andere nicht nachschenken konnte. „Wirklich, vielen Dank.“
„Na, denn nicht. Komische Jugend heute.“ Leo sah, wie das Gesicht des Alten sich mit seinen tausend Falten und Fältchen in die Breite zog. Vielleicht war das seine Art zu schmunzeln. Lachen hatte ihn noch niemand gesehen.
„Also am fünfzehnten August fangen Sie an? Gut, sehen wir uns bis dahin noch mal?“
„Ich denke ja. Meine zukünftige Frau...“
„Ihre – was?“ fragte Kostewitz.
„Meine Braut“ – das Wort war so ungewohnt – „käme sicher gern einmal mit her.“
„Mensch!“ Der alte Herr trat in seiner ganzen klapprigen Dürre von fast zwei Metern vor Leo hin. „Ihre Braut? Was wollen Sie denn mit der hier?“
„Tja...“, Leo wich ein bißchen zurück, der Atem des Alten hatte wieder so einen spirituösen Einschlag, „ich will sie natürlich heiraten.“
„Heiraten?“ Der Alte stand versteinert. Dann machte er mit der Flasche, die er noch in der Hand hielt, eine Bewegung zu den Ställen hin. „Daraufhin etwa?“
„Jawohl“, sagte Leo knapp und militärisch. Kostewitz ging der Ton ein, so war er es von früher her gewohnt.
„Soso. Hören Sie...“ Nein, es überwältigte ihn doch wieder, er konnte nichts dafür. „Ich fürchte, Sie haben den Vertrag nicht richtig gelesen. Siebenhundert Mark im Monat...“
„Jawohl. Aber Licht, Wohnung und Heizung frei.“
„Ganz recht. Ebenso Wasser und Müllabfuhr und auch sonst keine Nebenkosten“, vollendete der Alte in grimmigem Hohn, „und davon wollen Sie eine Frau ernähren?“
„Davon getraue ich mir sogar, eine Familie zu gründen“, sagte Leo und hob streitlustig den Kopf. Sein ganzes junges Gesicht leuchtete vor Glauben und Zuversicht. „Es wird Ihnen vielleicht etwas unverständlich erscheinen, aber... Also mit Josi, mit meiner Verlobten, geht das ohne weiteres, darauf können Sie sich verlassen.“
„Soso.“ Der Alte machte ein etwas sonderbares Gesicht, beinahe beschämt sah er aus. Dann schüttelte er wieder den Kopf. „Gieseking, haben Sie sich das wirklich überlegt? Schon allein die Räume, die sind nun einmal, wie sie sind.“
„Jaja, ich habe Josi alles aufgezeichnet“, sagte Leo eifrig, „der große Raum wird die Wohnstube. Wir haben uns schon alles überlegt. Und für die Schlafstube schaffen wir uns eine Schlafcouch an, zwei Betten hätten nicht so gut Platz.“
„Finde ich auch“, stimmte der Alte trocken zu.
„Ja, aber auf diese Weise haben wir zwei Wohnräume, und im Flur können wir vielleicht, wenn Sie nichts dagegen haben, einen kleinen Herd aufstellen. Dort geht der Kamin durch, und Wasserleitung ist auch da. Josi meint, für zwei Mann braucht man eigentlich nur einen Spirituskocher, aber ich dachte es mir nett, sie mit dem Herd zu überraschen. Da ist der Flur im Winter auch überschlagen.“
„Furchtbar nett. Ganz meine Meinung. Wollen Sie ihr den Herd zur Hochzeit schenken?“
„Nun, wenn auch das nicht gerade – Sie haben also nichts dagegen?“
„Gegen den Herd? Nein. Und gegen Ihre Heirat selbstverständlich auch nicht. Obwohl, aber es ist sicher zwecklos zu sagen: Überlegen Sie sich das. Jugend überlegt nicht.“
Leo lachte. „Vieles geht wirklich besser ohne viel Überlegung“, sagte er. Sie verabschiedeten sich. Leo schwang sich draußen auf sein Fahrrad und flitzte davon, um das Telegramm noch vor Schluß des Schalterdienstes aufzugeben. Er erreichte die Post auch mit einem grandiosen Endspurt. Langsamer rollte er dann heimzu. Nun galt es also, die Bombe springen zu lassen.
Am besten überlegte man hier auch nicht; es würde einen Riesenkrach geben, so oder so. Sie ahnten ja noch nichts daheim, weder von dem einen noch von dem andern.
Die Mutter saß auf der obersten Stufe der kleinen Treppe, die vom Hof her in die Küche führte, und steinte Kirschen aus. Zwei Milcheimer voll standen neben ihr.
„Oh“, sagte Leo und setzte sich zu ihr. Kirschen waren gerade das richtige für diesen heißen Tag. Er spuckte die Kerne in weitem Bogen hin über den Gartenzaun. „Backst du Kirschkuchen? Josi kommt nämlich. Und die ißt ihn fast so gern wie Waffeln.“
„Ach! Heute?“ fragte die Mutter erstaunt.
„Nein. Ich hab’ ihr telegrafiert. Sobald sie loskommt dort oben in ihrer Jugendherberge.“
„Nanu? Seit wann telegrafiert ihr euch denn?“
„Seit heute, Mutter. Ich habe heute meinen ersten Dienstvertrag unterschrieben, und daraufhin wollen wir heiraten“, sagte Leo schlicht, aber groß. Frau Gieseking starrte ihn an.
„Dienstvertrag? Heiraten? Ja, aber Männe...“
„Mutter, schimpf nicht. Nein? Es kam so plötzlich. Und Josi hat recht: Ich pass’ nicht in die Stadt. Und sie freut sich so. Hast du sie nicht immer schrecklich gern gehabt? Und denk nur, wir kommen hier ganz in die Nähe, auf den Hetzenhof, zu Kostewitz. Da sind wir sonntags alle nasenlang bei euch. Und du backst Kirschkuchen. So wie du kann ihn Josi sicher noch nicht backen, auch wenn sie einen Herd bekommt...“
Die Mutter kam nicht zu Wort. Wieder einmal hatte Leo, ohne zu überlegen, das Richtige getroffen – sie durfte einfach nicht zu Worte kommen. Er mußte sie überrumpeln, im Sturm nehmen, ehe sie auch nur ein Wort dagegen sagen konnte.
Erst versuchte sie, ihn zu unterbrechen. Aber der Junge war so offensichtlich glücklich, daß sie einsah: Widerspruch kam hier nicht an. Und Josi würde ihre Schwiegertochter werden, große Hauptsache. Immer hatte Frau Gieseking ein wenig Sorge gehabt, ob Leo einmal die richtige Frau finden würde. Daß er nicht in die Stadt paßte, war ihr längst klar. Gottlob, er hatte es herausgefunden! Daß die Stelle, mit der er anfing, keine großartige war, durfte dagegen keine Rolle spielen. Und mit Josi – das wußte Frau Gieseking –, mit Josi war er gut beraten, eine bessere Frau fand er nicht, ganz abgesehen davon, daß sie selbst Josi liebte wie eine Tochter.
„Du, Leo“, unterbrach sie ihn plötzlich, „wie wäre es, wenn wir die Hochzeit hier ausrichten? Im Forsthaus? Josis Mutter hat doch noch mehr Töchter, die wird es sicher erlauben. Ich fände es herrlich, wenn ihr hier heiratet, denn Josi war doch immer Kind im Haus bei uns.“
„Darum wollte ich dich grade bitten, Mutter.“ Leo lachte vergnügt. „Wunderbar. Und Vater? Wird der einverstanden sein?“
„Die Sorge überlaß mir“, sagte Frau Gieseking und strahlte ihn an, „aber Vater ist ja genauso verliebt in Josi wie du und ich. Wahrhaftig, Leo, du bist ein Glückskind! Und so nahe bei uns werdet ihr wohnen? Ach, Männe, Männe, eine größere Freude konntest du mir nicht machen!“