Читать книгу Die alte Mühle - Lise Gast - Страница 4

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Es war ein bitterkalter Samstag im Januar. Die Sonne hatte gegen Mittag ein einziges Mal schüchtern versucht, ein wenig durch den Frostnebel zu spähen, aber die Kälte behielt das Feld. Wer nicht das Glück hatte, fernbeheizt zu sein oder wenigstens einen starken Mann zur Seite zu haben, der das Füttern der Öfen übernahm – „laß, das kannst du nicht! –“, der oder besser die war übel dran.

Corinna besaß weder das eine noch das andere, und so blieb es an ihr hängen, sich und ihren Töchtern eine einigermaßen erträgliche Temperatur zu sichern, mindestens eine solche, die zuließ, daß man „geischtig schaffe“ konnte, wie Uli sagte. Denn Uli – einsachtzig groß und neunzehn Jahre alt, also eigentlich schon bald eine Ulrike – arbeitete fürs Abitur, und dabei froren ihr Finger und Gehirn ein, wie sie sagte, wenn man den Hauch im Zimmer sah. Und den sah man oft ...

An jenem Samstag also kam etwas Neues in die Familie, etwas Entscheidendes: ein Ölofen. Die alte Mühle, in der sie wohnten, bot wenig Komfort, die Öfen waren am Ende ihrer Kraft und die Wände dünn, und im Flur hatte man das Gefühl, als käme man nach Sibirien.

„Da muß man dann wenigstens in ein warmes Wohnzimmer hereinkommen können“, sagte Uli zu ihren Klassenkameraden mit jener Energie, die sie immer entfaltete, wenn ihr etwas wichtig schien, „los, Jungs, nun zeigt mal, was ihr könnt.“

Die mit „Jungs“ angeredeten waren zwei Mitschüler, die sich erboten hatten, ihr im Kampf gegen die diesjährige scharfe Kälte entscheidend zu helfen. Nach Schluß des Unterrichts waren sie mit ihr losgegangen und hatten im Städtchen, wo sie zur Schule gingen, einen Ölofen erstanden. Der wurde auf einen mittelgroßen Schlitten geladen, den man zu dritt ziehen konnte, ein paar Kanister Heizöl dazu und ihre Schulmappen oben drauf.

„Wir bleiben dann bei euch, bis es warm ist“, verhießen sie, „Zahnbürsten haben wir eingesteckt!“ Das aber konnte Uli nicht schrecken.

„Ich bringe Samstagsbesuch mit“, hatte sie schon am Morgen der Mutter gemeldet, und Corinna freute sich. Oft kamen ein paar aus der Klasse mit und blieben über den Sonntag, im Sommer, um in der Mulde zu schwimmen, im Winter, um Ski zu laufen, wenn auch die Hügel hier nur mäßig steil waren. Diesmal also würden es zwei sein, und Corinna hatte mit dem Essen vorgesorgt. Kaum aber waren die Gabeln weggelegt, da machten sich die beiden jungen Männer daran, den alten Ofen – es war einer aus weißem Porzellan mit dünnen Beinchen und Messingbeschlägen – aus dem Wohnzimmer zu räumen und den modernen an seine Stelle zu bringen. Das dauerte bis gegen fünf, dann waren sie fertig und sehr stolz, und eine neue, trokkene, herrliche Wärme zog durch das bis dahin immer etwas klamme Zimmerchen. Uli seufzte zufrieden auf und schenkte den beiden Helfern je ein Glas wasserhelle Flüssigkeit ein.

„Zum Dank für die tatkräftige Hilfe“, sagte sie, und die beiden lachten und tranken. Dann aber verabschiedeten sie sich, um, wie sie sagten, mit der inneren Wärme noch recht weit zu kommen, möglichst bis heim. Die Zahnbürsten seien „eitel Dunst und Prahlerei“ gewesen. Bis zum Städtchen waren es etwa fünf Kilometer.

„Wenn ihr stramm marschiert, höchstens eine Stunde“, verhieß Uli und brachte sie noch bis auf die Bundesstraße, die etwas oberhalb der Mühle entlanglief. „Vielleicht lächelt euch das Glück, und ihr kriegt sogar ein Auto.“

Und siehe da, da hielt schon eins! Uli hatte „kaum“ gewinkt. Der freundliche Fahrer lud die beiden Jungen gutmütig ein. Uli lief befriedigt über den hartgetretenen Schnee zurück und huschte ins Haus. Ha, herrlich warm, endlich! Gleich darauf kam Sybille, die bis zum Schloß mit Onkel Hanjo gefahren war. Sie staunte gehörig.

„Welch ein Komfort! Wir werden direkt noch feine Leute“, sagte sie, und Corinna warnte:

„Nicht diesen Ton, bitte! Feine Leute sind wir sowieso, man kann auch vornehm frieren.“

„Das haben wir lange genug geübt“, lachte Sybille und rieb sich vergnügt die Hände. „Es lebe der Erfinder des Heizöls. Ich bin begeistert.“ Und damit öffnete sie die Türen der beiden kleinen Zimmer rechts und links vom Wohnraum: „Laßt auch ein wenig Wärme in die Schlafzimmer fluten, dort war es lange genug eisig. Kalt wollen nur Leute schlafen, die den ganzen Tag in überhitzten Räumen arbeiten. Das kann man bei uns nicht behaupten. Außerdem gehöre ich zu den stundenlangen Bettlesern. Denen trübt es das Fest, wenn die Hände abfrieren. Hurra, heute beginnt ein neues Leben!“ In dem einen der angrenzenden Zimmerchen schlief Corinna, im anderen die beiden Töchter. Der Ölofen brannte herrlich und erfüllte alle drei Räume mit seiner wonnigen Wärme. Es war ein Fest.

„Es schneit nämlich schon wieder“, berichtete Sybille, „hoffentlich habt ihr Öl auf Vorrat. Auf jeden Fall: Uli, du sollst leben.“

Corinna war derselben Meinung, und um dem Abend den richtigen Akzent zu geben, braute sie einen Punsch. Das dauerte eine Weile, und draußen verwandelte sich die Dämmerung in jene schneeblasse schleiernde Dunkelheit, die Winterabende so verzaubert, man kann auch sagen: verhext. Denn stets ist eine Drohung dabei, wenn man einsam und weit entfernt von anderen Menschen wohnt, bei denen man um Hilfe bitten könnte, und die Witterungsverhältnisse den normalen Rahmen sprengen. Dann fällt man zurück in die Lage des Urmenschen, der das Wetter fürchten, auf jeden Fall aber respektieren gelernt hat.

So erging es an diesem Abend Corinna und ihren beiden ältesten Töchtern, die jüngste, Pat, befand sich in England, im milden Seeklima, in einem Internat, das bestimmt über eine herrlich funktionierende Heizungsanlage verfügte. ‚Wie gut‘, dachte Corinna, ‚wir drei werden uns bis Pfingsten schon durchschlagen, und dann ist es bestimmt wärmer.‘ Als sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, klopfte es. Und das war nun wahrhaftig erstaunlich um diese Tageszeit und bei diesem Wetter.

„Herein?“ sagten sie alle drei wie aus einem Munde, und bei allen dreien hörte man deutlich das Fragezeichen hinter dem Wort, dem sonst ein Ausrufungszeichen zu folgen pflegt. Dann wurde die Tür geöffnet, und Roland streckte den Kopf herein, Roland Herrmann, wie man später erfuhr. Zunächst war es nur ein namenloser, hilfesuchender Mensch, der geklopft hatte und sehr schüchtern fragte, ob man ihm nicht helfen könnte; sein Wagen wollte nicht mehr. Er hatte keine Ketten, und die Reifen drehten in dem immer höher werdenden Schnee durch.

Uli und Sybille waren sofort aufgestanden; sie kannten die kleine Steigung oberhalb der Mühle, die schon manchen Autofahrer hatte steckenbleiben lassen.

„Wir kommen“, verhieß Uli und stieg von neuem in die vorhin ausgezogenen Skistiefel, die neben dem neuen Ofen trockneten, und Sybille fuhr in ihre Flauschjacke. Die drei jungen Leute verließen das Haus.

Corinna stellte ihren Punsch warm und ging ein wenig hin und her, ordnend und richtend, denn es sah im Wohnzimmer noch etwas unordentlich aus, was einem erst auffiel, wenn man fremde Blicke darauf ruhen wußte. Hier der Hammer und dort ein Pack Wellpapier, der die Neuanschaffung verhüllt hatte – Corinna brachte alles beiseite und freute sich bei jedem Schritt ihrer drei herrlich durchwärmten Räume. So bewußt genoß man das doch nicht, wenn man es von eh und je warm gehabt hätte – sie lachte bei dem Gedanken und horchte hinaus: Kamen die Mädel noch nicht zurück? Schließlich, als alles so schön und sauber und aufgeräumt war wie beispielsweise vor einem Besuch von Onkel Hanjo, der selten genug stattfand, nahm auch Corinna eine Jacke um und folgte ihren Töchtern hinaus, hinauf, um nachzusehen, was los sei. Der Schnee fiel noch immer, und es war sehr kalt. Corinna mühte sich den kleinen Berg hinauf zur Straße, wo sie gedämpfte Geräusche hörte. Ein Motor brummte auf und verstummte wieder, eine helle Stimme rief. Das war Uli. Eine dunkle antwortete. Dann war sie angekommen.

Der Wagen schien besten Willens zu sein. Er nahm immer wieder Anlauf, rollte ein Stück und blieb dann im Schnee wieder stecken, obwohl die beiden jungen Mädchen sich mit Schieben gewaltig anstrengten. Corinna stemmte sich mit gegen sein Heck, ließ aber gleich wieder davon ab.

„Hat keinen Zweck“, sagte sie zu Uli, die neben ihr schob und immer meinte, den Wagen noch flott zu bekommen.

„Doch, nur noch ein kleines Stück“, keuchte sie, aber die Mutter legte ihr die Hand auf die Schulter. „Vielleicht hier“, sagte sie, „aber nachher, im Lindicht, dort bleibt er dann bestimmt hängen, und da hilft ihm keiner mit Schieben.“

„Im Lindicht – auch wahr“, sagte Uli erkenntnisvoll und richtete sich auf, „das weiß er aber nicht.“

„Dann ist’s am besten, wir sagen es ihm.“ Corinna hob das Gesicht. „Das schneit heute noch die ganze Nacht, sollst es sehen. Und dann sitzt er fest, mitten zwischen den Ortschaften. Nein, komm, es hilft nichts.“ Sie ging nach vorn und bückte sich, um in den Wagen zu sehen.

„Sie kommen hier nicht weiter“, sagte sie. „Lassen Sie es sein. Das Wetter ist ungewöhnlich. So etwas haben wir kaum erlebt.“

„Ja und? Soll ich –“ er machte eine vage Bewegung mit der Hand nach vorn und ließ sie dann sinken.

„Ich kann doch nicht – den Wagen –.“

„Natürlich können Sie ihn hier stehen lassen, was bleibt Ihnen denn übrig“, sagte Corinna und lachte leise. „Denken Sie, jemand fährt ihn weg, nachdem wir uns zu viert bemüht haben, ihn flott zu kriegen? Ein bißchen an die Seite müssen wir ihn schieben, aber das wird schon gehen. Uli, los, rückwärts. – Na, seht ihr.“

„Hier steht er gut“, stellte Corinna fest und richtete sich schnaufend auf, „hier fährt Ihnen niemand hinein. Ganz abgesehen davon, daß in dieser Nacht bestimmt keiner kommt. Und selbst wenn, dann nur im Fußgängertempo. Also.“

„Und ich?“ fragte der junge Mann verstört. Es klang, als habe Corinna ihn dazu verdonnert, hier in seinem Wagen sitzen zu bleiben und einzuschneien.

„Kommen Sie herunter und wärmen Sie sich“, sagte Corinna, und es klang so selbstverständlich und gleichmütig, daß er unwillkürlich gehorchte. „Hier kommt kein Haus mehr, das Dorf liegt hinter Ihnen.“

Er schloß den Wagen ab und folgte den drei Frauen den kleinen Weg bergab zur Mühle.

„Vorsicht, hier – fallen Sie nicht!“ sagte Corinna, als sie an die Stufe am Gartentor kamen, und faßte ihn unter den Arm. Dabei merkte sie, wie unsicher er ging. Es fiel ihr aber nicht weiter auf, sie schob es auf die Dunkelheit. Sie selbst und die Töchter kannten natürlich hier jeden Schritt und gingen so sicher, als wäre es heller Mittag.

„Kommen Sie, hier herein. Sie haben Glück, heute ist es herrlich warm bei uns“, sagte sie, und dann fiel die Haustür hinter ihnen zu. Corinna schob ihren Gast ins Wohnzimmer. Die Töchter folgten.

‚Wie hübsch es bei uns sein kann, wenn man ein bißchen zusammenräumt‘, dachte Sybille. ‚Mutter findet immer, das wäre Nebensache. Na, Gott sei Dank, heute hat sie sich bemüht.‘

„Hier haben Sie etwas, damit Sie erstmal auftauen“, sagte Corinna und reichte dem Gast ein Glas von dem Punsch. „Prosit, ich komme nach, bin durchfroren von den paar Minuten draußen, brr. Ja, hol noch eine zweite Flasche, Uli, wir können es brauchen.“

„Schön ist es hier“, sagte der junge Mann verträumt und stellte sein Glas ab, nachdem er getrunken hatte. „Und warm – –“ er hatte sich in den Sessel neben dem Ofen komplimentieren lassen und lehnte sich jetzt zurück, die Hände auf den Armlehnen. Corinna sah, wie blaß diese Hände aus den Pulloverärmeln herauskamen. Sie vergaß es und dachte erst später wieder daran.

„Vielleicht möchten Sie erst etwas essen?“ fragte Sybille jetzt. Mutter aß oft halbe Tage nichts, dünn wie sie war, und vergaß, daß andere Leute Hunger haben könnten. „Ich werde etwas holen.“

„Aber ich kann doch nicht –“

„Doch, können Sie. Bleiben Sie nur sitzen“, befahl Corinna und schob das Tischchen neben seinen Sessel. „Jetzt wird gegessen und getrunken und ganz durchgewärmt, alles andere kommt später.“

„Bei Mutter muß man kuschen“, sagte Uli und lachte durch die Nase, „das heißt: wochenlang darf man tun und lassen, was man will. Aber dann mit einem Mal heißt es parieren. Nur damit Sie es wissen.“

„Wär auch schlimm, wenn ich jeden Tag ... immerhin seid ihr erwachsen“, brummte Corinna und stellte einen Glaskrug auf den elektrischen Kocher, „er wird doch nicht springen? Ich hab keine Lust, in der kalten Küche zu stehen.“

Sybille brachte ein Tablett mit geschnittenem Brot, Wurst und Käse. Sie setzte sich still an den Tisch und richtete ein paar Schnitten, die sie dem Gast hinüberreichte. Er weigerte sich zuerst wieder, aß dann, anfangs langsam, später mit verdecktem Heißhunger. Die drei Frauen taten, als merkten sie es nicht. Endlich schien er satt zu sein. Er seufzte und nahm sein Glas.

„Es ist so freundlich von Ihnen – aber ich muß nun wieder ...“

„Wohin wollen Sie denn heute noch?“ fragte Corinna sanft und lächelte. „Bleiben Sie ruhig. Morgen ist Sonntag, da findet sich schon Rat.“

„Aber ich kann doch nicht – hier –“

„Natürlich können Sie. Jedenfalls eher als in diesen Schnee hinausrennen“, sagte Sybille jetzt. Sie hatte die ruhige Art ihres Vaters, auch dessen helle, dunkelgesäumte Augen. „Mutter behält Sie gern. Was glauben Sie, was Mutter alles hier behält, wenn es hereinschneit. Oder versäumen Sie etwas sehr Wichtiges?“

„Nein. Ich wollte – aber ich – es wäre wohl sowieso nichts geworden“, schloß der junge Gast mutlos. Dann schien er sich zusammenzunehmen und stellte sich vor: „Ich heiße Roland Herrmann und studiere Jura – oder habe studiert – oder – sechstes Semester, ja. Examen noch keins –“ er verstummte. Im selben Augenblick sah Corinna, daß er eingeschlafen war.

„Na so was!“ sagte sie und lachte. Die beiden Töchter lachten auch.

„Wahrscheinlich ist er schon lange unterwegs, und jetzt die Wärme – und das Essen – und der Punsch ...“

„Jaja, der Punsch“, sagte Sybille und nickte ernsthaft. Corinna hob streitbar den Kopf.

„Findest du ihn etwa ...“

„Er ist toll stark, Mutter“, sagte Sybille, zog aber vorsichtshalber den Kopf ein. Corinna stand und sah auf sie herunter.

„Ihr macht euch lustig“, sagte sie ein bißchen unsicher.

„Aber woher denn“, beteuerte Uli und fuhr herzhaft fort: „Nein, Mutter, wirklich nicht. Nun komm. Es ist diesmal kein herrenloser Dackel und keine verlaufene Ziege, kein Waschbär und kein Eichelhäher, kein bankrotter Kaufmann – na, und so weiter, sondern ein verhungerter Student. Wo soll er schlafen?“

„In meiner Stube. Ein Glück, daß sie heute warm ist“, sagte Corinna sachlich. „Laß ihn noch im Stuhl, ich überziehe rasch frisch. Er wird gar nichts merken.“

Sie hantierte mit blauweißem Leinenzeug. Uli half. Sybille räumte die Reste des Nachtmahls weg. Sie waren gut aufeinander eingespielt. Nach zehn Minuten gelang es ihnen, den jungen Gast so weit zu wecken, daß man ihn ins Nebenzimmer bringen konnte. Dort saß er nun auf dem Bett.

„Hier ist die Nachttischlampe, knipsen Sie die nachher aus“, sagte Corinna im Ton, als spräche sie zu einem Kind, freundlich-eindringlich. „Und im Flur ist Licht, falls Sie nochmal wandern wollen. Wir sind nebenan, gehen aber auch schlafen. Versuchen Sie, was Hübsches zu träumen, und schlafen Sie sich gut aus!“

Der Fremde nickte benommen. Er saß mit hängenden Schultern da und sah blinzelnd zu ihr auf. Sie strich ihm flüchtig übers Haar. „Gut’ Nacht –“

Die alte Mühle

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