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I Die Flucht aus dem Teufelsmoor

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Das Heideland bei Zeven hatte seit Wochen die Sommerhitze in sich aufgesogen, und der modrige Boden war zu einem mächtigen Wärmespeicher geworden. Unbarmherzig brannte die Augustsonne; das Heidekraut war dürr, ein kahler Baum streckte seine toten Äste aus. Der Dunst des Moores schwängerte die Luft und leitete die unsichtbaren elektrischen Ströme zwischen Himmel und Erde.

Der Wachtmeister rückte am Riemen des Karabiners. Dann setzte er seinen Rundgang in gemessenem Schritt fort. Er umkreiste die Schar der Gefangenen, die ihm anvertraut war, wie ein Raubtier, das kostbare Beute hütet.

Irgend etwas sang oder schwang durch die Atmosphäre der Glutwärme, des Hasses und der Müdigkeit. Der grau Uniformierte wußte nicht, ob er etwas gehört habe außer dem dumpfen Geräusch, das die Gefangenen mit ihren Spaten beim Ausstechen des Moores verursachten. Er hielt noch einmal den Schritt an und lauschte, aber es war, als ob mit dem Anheben seines mißtrauischen Lauschens die Luft selber verstummt sei.

Wachtmeister Hinrich Vürmann steckte sich eine Zigarette an. Es war zwei Uhr nachmittags. Er hatte noch vier Stunden Wache zu halten. Es war ein Hundeleben. Ein Hundeleben war es. Wenn er sich durch Verdienste auszeichnete, konnte er an einen besseren Platz versetzt werden. Ja, es würde notwendig sein, daß er sich durch Verdienste auszeichnete. Er hatte nicht Lust, einen zweiten Sommer im Moor Wache zu schieben.

Hinrich Vürmann durchdachte diese Gedanken noch einmal, Schritt für Schritt, im wahrsten Sinne »Schritt für Schritt«. Jedesmal, wenn er einen Fuß im schweren Stiefel voransetzte und der warme Heideboden unter seinem Tritt nachzugeben schien, gelangte er auch von einem Gedanken zum nächsten. Solange er dabei vor sich selbst die Verdienste aufzählte, die er schon errungen hatte, beschleunigte sich sein Gang unwillkürlich; das Selbstbewußtsein beschwingte ihn, und die Vorstellung »Oberwachtmeister in Celle oder in Hannover« strich wie ein ermunternder angenehmer Luftzug um seine Stirn, auf der sich längs des drückenden Mützenrandes die Schweißperlen gesammelt hatten.

Aber dann kniff Vürmann die Lider über den wasserblauen Augen zusammen und warf die angerauchte Zigarette weg. Das Bild seines Vorgesetzten war vor ihm aufgestiegen. Dieser Vorgesetzte entschied über die Karriere des Wachtmeisters. Aber der Teufel wußte, was der Herr Hauptwachtmeister sich dachte, und ob er die Verdienste Hinrich Vürmanns zu würdigen geneigt war.

Immerhin, es gab Vorschriften, Beförderungsvorschriften!

Der Wachtmeister steckte sich eine zweite Zigarette an und äugte über das brennende Streichholz hinweg nach den Gefangenen.

Versuchte einer, die fortgeworfene Zigarette heimlich aufzugreifen? Nein. Die Banditen arbeiteten wie die Marionetten. Spatenstich – Spatenstich. Komisch. Besonders der »Neue« legte in seiner Arbeit ein Tempo vor und eine Genauigkeit an den Tag, die verblüffend waren. Was bezweckte er damit? Wollte er sich beim Herrn Wachtmeister einschmeicheln? Dann täuschte er sich. Mit Arbeitsleistungen im Moor vermochte man das Wohlwollen Hinrich Vürmanns nicht zu erringen. Was gingen den Wachtmeister die Torfmengen an? Den Verdienst strich die Firma ein, die den Torf erhielt, und der Wachtmeister bekam keine Prozente.

Aha! Vürmann grinste. Aha, also doch! Der kleine Gustav, in Strafe für den fünften schweren Einbruch und seit langem im Kommando Hinrich Vürmanns, hatte sich mit bewundernswerter Behendigkeit den Zigarettenstummel aus dem Heidekraut geholt.

»Wegen der Brandgefahr … Herr Wachtmeister«, sagte er so unterwürfig wie verschmitzt, als die wasserblauen Augen des Uniformierten ihn mit gespielter Drohung musterten.

»Arbeite, du nichtsnutziger Hund, und schwatze nicht!« sagte Vürmann und verwischte die einzelnen Worte seines Satzes mit einem forciert heiseren Gebrumm.

Gustav war eine brauchbare Kreatur. Er klaute dem Herrn Wachtmeister aus dem Zuchthausinventar alles, was dieser für seinen vielköpfigen Haushalt benötigte. Aber Gustav sollte seine Vertraulichkeit nicht zu Frechheiten ausnutzen. Die anderen Gefangenen brauchten von seinen Beziehungen zur Wachmannschaft nichts zu ahnen.

Hinrich Vürmann versuchte, den abgerissenen Faden seiner Gedanken wieder anzuknüpfen. Er wollte Oberwachtmeister werden; man sollte ihn an einen besseren Platz versetzen. Er hatte eine vielköpfige Familie, sechs Kinder – alles nordische Rasse. Er war Parteigenosse. Wenn der Hauptwachtmeister …

Der Wachtmeister lüftete die Mütze und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Die Gefangenen hatten die Jacken abgelegt und arbeiteten mit nacktem Oberkörper in der Sonnenglut. Manche torkelten, wenn sie einen Schritt machten. Die Spatenstiche wurden allmählich langsamer und kraftloser. Mit tödlicher Kraft brannte die Sonne auf die schwarzen Leinenkäppis, auf die gebräunten Nacken und die schwarzen Leinenhosen. Die Hände der Gefangenen waren angeschwollen von Hitze und Anstrengung; es war, als ob das Blut in den Adern dick würde. Einer seufzte leise. Sein aufgedunsenes Gesicht schimmerte grau.

Der Wachtmeister schritt die Runde jetzt gleichmäßig ab wie eine Maschine. Aber es wurde ihm schwer, folgerichtig weiterzudenken. Das Blut wühlte auch in seinem Hirn wie kochende Brühe. Sich versetzen lassen … Oberwachtmeister … Seine Gedanken liefen im Kreis wie seine Schritte.

Die Gefangenen beobachtete er immer noch pflichtgemäß. Der »Neue« unter ihnen war sonderbar. Hinrich Vürmann mußte doch auf ihn achten. Die Torfquadrate, die dieser Häftling ausstach, schienen wie mit einem Maß gemessen; eins glich dem andern aufs Haar, und die Spatenstiche erfolgten immer im gleichen Tempo; sie hatten immer die gleiche Kraft, eine Stunde um die andere. Der Kerl wirkte wie ein Teufel. Warum eigentlich? Schwarz das Käppi, schwarz das Haar, schwarz die Hose; dunkel, mulattenfarben der sonnverbrannte Rücken und die Arme, an denen die Muskeln vorsprangen. Nichts Weiches war an diesem Körper, der weder mager noch dick erschien; nur aus Muskelsträngen, Sehnen und Knochen bestand er. Die Augen hielt der Bursche immer gesenkt, und der Wachtmeister konnte ihre Farbe nicht erkennen. Buschige schwarze Brauen schlossen sich über der Nase zusammen, und auf der Stirn war eine gerade Falte eingegraben. Nur die angeschwollenen Hände verrieten, daß selbst dieser Körper unter der Hitze litt.

Vielleicht ließ sich aus dem »Neuen« doch Kapital schlagen für die Karriere des Herrn Wachtmeisters. Wenn das Kommando in der Arbeit gut abschnitt, war das auf alle Fälle ein beredtes Zeugnis für den Eifer des Wachhabenden. Vürmann mußte auch diese Möglichkeit im Auge behalten.

Bei der Versammlung vor dem Vertreter der Torffirma in der vergangenen Woche hatte sich der Neue allerdings sehr schlecht verhalten. Er hatte gesprochen, obwohl es üblich war, daß Grünlinge den Mund hielten, und er hatte Fleisch und Butter verlangt an Stelle der Tabakzuteilung für die Gefangenen. Fleisch und Butter! Man konnte dem Burschen doch nicht über den Weg trauen. Es mußte einen Grund haben, daß er keine Arbeitssabotage übte. Hinrich Vürmann nahm sich vor, am Abend einmal mit dem schwarzhaarigen und dunkelhäutigen Athleten zu sprechen. Er wollte ihn kennenlernen, um sicherzugehen.

Als die Glut ausstrahlende Sonnenscheibe endlich tiefer sank, sammelten sich die Gefangenen und schulterten die Spaten, um den Heimweg anzutreten. Der Häftling mit dem aufgedunsenen, grauen Gesicht sackte zusammen, als er sich in die Reihe stellen wollte. Er wurde von seinen Kameraden rasch aufgefangen, von jenem großen dunklen Mann und einem zweiten, fast zierlich wirkenden blonden Häftling, den die anderen Christoph nannten. Diese beiden faßten den Erschöpften rechts und links und nahmen ihn mit; es schien, daß er wieder laufen konnte, aber in Wahrheit wurde er eher getragen.

Der Weg über die Heide wurde an diesem Abend allen lang.

Am Ende des Wegs wuchs vor den Augen das umzäunte Gebäude mit den vergitterten Fenstern auf, dem die Gefangenenabteilungen von den Wachmannschaften zugetrieben wurden.

Hinrich Vürmann atmete auf, als er endlich in der Wachstube angelangt war, die er mit zwei Kollegen teilte. Er hing die Mütze an den Haken, zog die Jacke aus und spritzte sich erfrischendes Wasser über Gesicht und Nacken. Als er gegessen und getrunken hatte und sich aufs Bett warf, den »Völkischen Beobachter« in der Hand, war sein Wohlbefinden wieder vollständig hergestellt. Über die Zeitung weg schaute er nach seinen Kollegen.

»Na?«

Vürmann war der Stubenälteste. Wenn er »Na?« sagte, war das der Auftakt zur Erfindung neuer und zum Aufwärmen alter Zoten. Aber sein »Na?« löste sich an diesem Abend in der warmen Luft auf wie schwindender Wasserdampf. Die Kollegen rauchten und schwiegen.

Neben der Wachstube lag der Schlaf- und Aufenthaltsraum von 25 Gefangenen. In die Zwischenwand war ein Fenster eingelassen, das der Wachmannschaft erlaubte, das Tun und Treiben der Gefangenen ständig zu beobachten. Die Geräusche aus dem Gefangenenraum waren in der Wachstube zu hören; Schritte, das Klappern der Eßnäpfe und Löffel, das Rücken der Hocker und Bänke, leise Stimmen. Allmählich stieg jenes dumpfe Summen auf, das wie ein Chor wirkte und das Wachtmeister Vürmann schon in der Heide hatte aufhorchen lassen. Da bei der Wachmannschaft Schweigen herrschte, vernahmen alle das rhythmische Summen der Gefangenen, das sich endlich zu den Worten eines Liedes formte:

»Wohin auch das Auge blicket,

Moor und Heide rings umher,

Vogelsang uns nicht erquicket,

Eichen stehen kahl und leer.

Wir sind die Moorsoldaten

und ziehen mit dem Spaten

ins Moor …«

»Hört ihr das?« fragte Vürmann und knisterte mit dem Papier des »Völkischen Beobachters«. »Die singen! So gut geht’s der Bande, wahrhaftig!«

Die Kollegen grinsten, nickten und horchten. Das Lied wurde lauter, und die Wachtmeister vernahmen deutlich, daß es jetzt auch in anderen Gefangenenstuben des Hauses angestimmt wurde.

»Manche Brust ein Seufzer dehnet,

weil wir hier gefangen sind.«

»‘ne Krankheit«, knurrte Vürmann und dachte wieder daran, daß er gern versetzt werden wollte, »… wirkt immer ansteckend.«

Dann sprang er plötzlich auf, warf die Zeitung fort und lief in Socken zum Kontrollfenster. Er wollte feststellen, welche Stimme der »Neue« in diesem Chor sang und ob die Gefangenen sich etwa zusammengerottet hatten.

Die Gefangenen hatten sich nicht zusammengerottet. Sie saßen umher; ein paar rasierten sich; einige lagen schon auf den Betten.

Hinrich Vürmanns Augen mußten lange suchen, ehe sie den gebeugten Rücken des Gefangenen fanden, den er beobachten wollte. Der große dunkle Mensch saß auf einem niedrigen Hocker, vom Kontrollfenster abgewandt, und schien einen Knopf an seine Jacke anzunähen. Sang er mit? Sang er nicht mit? Es war eine tiefe, klangvolle Stimme im Chor zu hören, eine feste, führende Stimme. Aber Hinrich Vürmann konnte nicht sehen, ob jener Gefangene den Mund bewegte.

»Man muß sich ja auch mal um den Menschen kümmern«, sagte Vürmann.

Er suchte die Blätter des »Völkischen Beobachters« wieder zusammen und ging über den Korridor hinüber in den Gefangenenraum.

Als er eintrat, war sofort der Stubenälteste, von Beruf ein gewiegter Ganove, zur Stelle und meldete in strammer Haltung:

»Fünfundzwanzig Gefangene anwesend, Herr Wachtmeister!«

Vürmann nickte kaum merklich, und der Stubenälteste trat ab.

Die anderen Gefangenen nahmen nach außen hin nicht viel Notiz von dem Wachtmeister, aber Vürmann wußte genau, daß er heimlich beobachtet wurde.

Er steuerte langsam, scheinbar absichtslos, auf den Gefangenen zu, der eben den Nähfaden abriß und dann aufstand, um seine schwarze Leinenjacke wegzulegen.

»Na?« knüpfte Vürmann an.

Der Gefangene setzte sich wieder. Er hatte die Augen gesenkt, als betrachte er seine eigenen Fußspitzen, und seine Miene blieb ausdruckslos.

Das Lied der Gefangenen war wieder in ein Summen übergegangen. Nur aus der Ecke, in der der schmächtige Christoph saß, klangen noch die letzten Worte:

»Doch wir kennen kein Verzagen …«

»Na«, wiederholte der Wachtmeister, zu dem Dunkelhaarigen gewandt, und spielte mit der zusammengefalteten Zeitung. »Es gibt wieder allerhand Neues …« Der Gefangene griff nach dem Blatt, mit einer ruhigen und selbstverständlichen Bewegung, als ob ihm ein Kollege eine Zeitung gebracht habe, die er nun lesen wolle. »Aha«, sagte er nur, »hm …«, und dann hatte er die große Zeitung auseinandergeschlagen und schien sich in die Nachrichten zu vertiefen.

Hinrich Vürmann war verblüfft. Er hatte sich unterhalten und den Gefangenen dabei ausforschen wollen. Nun war das nicht ohne weiteres möglich. Sollte man einen Gefangenen stören, der mit offensichtlichem Interesse den »VB« las? Nein, diese Lektüre war gut; sie mußte auch Jan, den Gefangenen, überzeugen. Vürmann redete sich ein, daß es das beste sei, den Gefangenen mit der Zeitung zunächst sich selbst zu überlassen.

»Ja, lesen Sie nur mal ganz gründlich – das Blatt können Sie ruhig auch noch den anderen geben. Damit Sie alle Bescheid wissen, was sich tut … Na, also gute Nacht.«

Der Gefangene murmelte etwas Unbestimmtes. Vürmann legte die Laute als einen ordnungsgemäßen Gruß aus, weil er sich nicht ärgern wollte.

Dann ging er langsam, in gemessener, ja, gravitätischer Haltung wieder hinüber in die Wachstube.

Der Raum, in dem sich die Gefangenen befanden, wurde abgeschlossen. Die meisten legten sich todmüde schlafen. Schmale Bettgestelle mit Strohsack und Wolldecke dienten ihnen zur Ruhe.

Jan saß noch mit seiner Zeitung am Fenster. Der lange Sommerabend war über einem letzten grün schimmernden Dämmer am Horizont in die Nacht übergegangen. Aber die Nacht erschien licht im Mond- und Sternenschein. Das Fenster war offen; nur das Gitter trennte den Menschen von der Freiheit. Draußen war die Luft noch immer warm; aber ihr Sauerstoff und selbst der eigenartige Heidemoorgeruch taten der Lunge und dem Herzen wohler als die stickige Atmosphäre des Schlafraumes. Jan faltete die Zeitung sorgfältig zusammen und stützte die Arme auf das Fensterbrett.

»Doch wir kennen kein Verzagen …«

Jan drehte nicht einmal den Kopf, als ein Mitgefangener zu ihm trat, aber er wußte, daß jetzt Christoph neben ihm stand. Die beiden blieben einige Minuten still und schauten zusammen in die Nacht hinaus.

»In Spanien kämpfen sie«, sagte Jan endlich leise.

»Steht es in der Zeitung?« flüsterte Christoph.

»Es steht in der Zeitung.« Jan zeigte dem anderen die Notiz auf der zweiten Seite. »Da steht es. In Frankreich stellen sie die Volksarmee zusammen!«

Christoph vermochte im Mondlicht die fette Überschrift der Notiz zu erkennen. Es war der Sommer des Jahres 1936. »Mann«, sagte er. »Mann! Die kämpfen! Und wir sollen hier verrecken?«

Jan gab nicht gleich eine Antwort. Er schaute nach den Sternbildern. Das Fenster war an der Schmalseite des Schlafraumes angebracht und ging gegen Norden. Der »Wagen« leuchtete am nächtlichen Firmament, und der Polarstern stand hell und unbewegt in der unendlichen Ferne.

»Das liegt nur an uns«, sagte Jan schließlich. »Ob wir kämpfen oder ob wir verrecken.«

Christoph schaute von der Seite auf den Freund, dessen nackte muskulöse Schultern und Arme in Mondschimmer und Nachtschatten so deutlich abgegrenzt waren wie die dicken eisernen Stäbe des Gitters. Es war dem schmächtigen Christoph einen Augenblick zumute, als ob diese Arme das Gitter mit der Kraft eines Riesen packten und zerbrechen müßten.

Aber dann kamen Christoph die Tränen. Das Gefühl der Ohnmacht und die Weichheit der Liedstrophen, die von der Sehnsucht nach Weib und Kind gesungen und geklungen hatten, überwältigten ihn.

»Na, Mensch!« sagte Jan.

Christoph fuhr sich mit dem Ärmel um die Augen. »Die verfluchte warme Luft – es ist doch zehn Uhr –, um die Zeit hab’ ich mit meiner Rike im Sommer immer auf dem Balkon gesessen – und sie hat mir noch einen Apfel geschält …«

»Äpfel …«, wiederholte Jan, aber nicht zu seinem Freund gewandt; er sprach wie abwesend, zum Fenster hinaus in die stille, kühlende, weite Nacht.

»Wie das Obst jetzt duftet – du bist doch auch aus unserem ›Alten Land‹, Jan. Wie sich jetzt die Zweige biegen. Und wie die Äpfel duften, wenn sie einer schält – und wie die Elbe so ruhig fließt, und wie der Tang und die toten Fische stinken … Ob wir noch einmal heimkommen?«

»Heim willst du?« fragte Jan rauh.

»Du nicht?« fragte Christoph leise dagegen.

»Nein. Nach Spanien will ich, wo sie kämpfen. Kommst du mit?«

»Mann … Mann … du machst doch sonst keine Redensarten.« Christoph berührte die Eisenstäbe vor dem Fenster.

»Der Mist ist doch nur angeschraubt … im Fachwerk angeschraubt«, sagte Jan. »Na, laß man. Wir gehen schlafen.«

Er löste die Arme von dem Fensterbrett, auf das er sich gestützt hatte, und ging ohne weitere Worte, auch ohne Gruß, in den Raum zurück, dessen Atmosphäre von dem Geruch und Geräusch der schnarchenden, schweißdünstenden Gefangenen auf ihren Strohsäcken erfüllt war.

Christoph tat das gleiche.

Die eisernen Bettgestelle standen je eines über dem anderen. Jan hatte das obere Bett neben dem zweiten Fenster inne. Das untere gehörte einem Häftling, der von Beruf Schlossergeselle war. Als Jan sich zum oberen Bett hinaufschwingen wollte, sah er, daß der Schlosser die Augen noch offen hatte. Er hielt einen Augenblick an.

»Wenn die Hitze nicht bald aufhört!« knurrte der Schlossergeselle zu Jan gewandt. »Dazu der Fraß – Erbsen bei dreißig Grad im Schatten – zum Kotzen.«

Jan stand mit den Füßen auf dem unteren Bett und hatte mit der Linken oben angefaßt. Er schaute auf den Unzufriedenen hinunter. »Weißt du was?« fragte er.

»Nee – bloß, daß ich Bauchweh habe.«

»Da gibt’s ein Mittel …«

»… und?«

»Äpfel muß man essen.«

Der Schlosser wälzte sich auf die andere Seite. »Halt’s Maul!« sagte er unwirsch. »Äpfel ess’ ich einen ganzen Korb – wenn ich sie kriege. – Aber woher?«

»Kriegen – kriegen! Ich hol’ sie dir – mal – des Nachts.«

»Woher denn!« Der Schlosser blieb ärgerlich und ohne jegliches Interesse.

»Vom Baum – woher denn sonst? Ich brauche nur einen Schraubenschlüssel, weiter nichts. Überleg dir das. Du hast doch das Werkzeug zur Arbeit.«

»Gh – hm.« Der Schlossergeselle machte die Augen zu, steckte den Kopf zwischen die Arme, wie ein Huhn ihn zwischen die Federn steckt, und sagte nichts mehr.

Jan betrachtete sich den scheinbar Einschlafenden einen Augenblick.

»Gh – hm«, knurrte der Schlosser hinter geschlossenen Lippen noch einmal.

Es war ein gewisser Unterton in diesem Knurren, aus dem Jan Hoffnung schöpfte. Der Schlosser schien doch nicht abgeneigt, auf den Vorschlag einzugehen.

»Von der Hitze kann einer schon krank werden«, murmelte Jan, als ob er mit sich selbst spreche, aber doch so, daß der Schlossergeselle die Worte noch verstehen mußte. Dann stieg Jan wieder von dem Bett herunter und ging zum Fenster zurück, als ob er noch ein letztesmal Luft schöpfen müsse.

Wieder breitete sich die nächtliche Landschaft vor den Augen des Gefangenen aus. Das große Fachwerkhaus, in dem die im Moor arbeitenden Abteilungen aus dem Zuchthaus zu Celle untergebracht waren, lag bei einem kleinen Heidedorf. Jan sah in einiger Entfernung die Bauernhäuser, in denen die Lichter schon gelöscht waren. Er konnte die Straße überschauen, die an den Häusern vorüberführte. Auf dieser Straße mußte der Hauptwachtmeister von seinem Besuch bei der Liebsten zurückkehren. Es war Sonnabend. Am Wochenende pflegte der Herr Hauptwachtmeister seinen Besuch länger als sonst auszudehnen. Jan stand allein und regungslos und schaute in die Nacht. Die Sekunden flossen, die Minuten, endlich war eine Stunde vorüber und noch eine halbe. Jan beobachtete die stille, menschenleere Landstraße, aber wieder und wieder glitt sein Blick auch zu den Sternbildern, die er sich fest einprägte. Wenn er fliehen würde, konnten ihm nur die Sternbilder die Himmelsrichtungen weisen. Auch den Stacheldrahtzaun, der Haus und Hof umgab, betrachtete Jan. Bei einem der Zaunpfähle fand sein prüfender Blick eine geeignete Stelle … eine Stelle, die einem gewandten Mann beim Überklettern nicht allzu große Schwierigkeiten bereiten würde.

Als es Mitternacht wurde, erkannte Jan auf der Straße den einsamen Fußgänger in Uniform, der dem Hause der Gefangenen zustrebte. Der Herr Hauptwachtmeister hielt in allem auf Ordnung. Auch seine Besuche bei der Liebsten waren auf die Minute geregelt. Am Sonnabend kehrte er zwar stets später als sonst zurück, aber nie später als Mitternacht.

Als der Hauptwachtmeister das Haus betreten hatte und das Schloß der Haustür wieder zusprang, kletterte auch Jan in sein Bett, um ein paar Stunden Nachtruhe zu halten. Jan hatte beschlossen, an dem folgenden Sonnabend, dem 30. August 1936, aus dem Zuchthaus nach Frankreich zu fliehen und sich dort bei der spanischen Volksarmee zu melden. Christoph wollte er überreden, mitzukommen, dazu noch den Franz, der Verbindungen an der holländischen Grenze hatte.

Sobald Jan auf seinem Strohsack lag, schlief er auch sofort ein. Er hatte eine harte Jugend gehabt und gelernt, in jedem Augenblick nur das Notwendigste zu denken und zu tun.

Der Sonntagmorgen brach an. Die Gefangenen hatten die Erlaubnis, eine Stunde später aufzustehen. Der Stubenälteste machte dem Wachtmeister Vürmann die übliche Meldung, daß die Gefangenen vollzählig anwesend seien, und unwillkürlich dachte Jan, als er diese gewohnte Meldung mitanhörte: nächsten Sonntag werden hier drei fehlen, und die Aufregung wird groß sein. – Der Stubenälteste und ein Gefangener brachten den Kessel mit dem Morgenkaffee. Die Gefangenen traten mit ihren Schüsseln oder Tassen an und ließen sich einschenken. Jeder hatte noch etwas von seiner Brotration, der eine mehr, der andere weniger. Jeder besaß irgendein Messer und strich sich seine Marmelade aufs Brot. Dann saßen die Gefangenen an den langen Tischen, tranken und aßen. Es wurde nicht viel gesprochen. Die Gefangenen hatten aus den Fenstern nach dem Himmel geäugt, der sich blau und wolkenlos über der dörrenden Heide wölbte. Wieder stand ein Tag unerträglicher Hitze bevor.

Wachtmeister Vürmann, der durch das »Spionenfenster« den Gefangenen beim Frühstück zusah, hatte eine Stinkwut im Leibe. Die Sommerglut bekam ihm nicht, er fühlte Kopfschmerzen. Es schien ihm auch, daß der Herr Hauptwachtmeister ihm unfreundlich »Heiitler!« gewünscht habe. Vielleicht war das ein schlechtes Vorzeichen für seinen Beförderungs- und Versetzungsantrag, den er zu stellen gedachte. Jedenfalls, wenn sich ein Mensch nicht wohl fühlte, so mußte er dafür sorgen, daß andere sich noch weniger wohl fühlten. Das war das beste Rezept, um sich zu kurieren. Vürmann hatte diese Methode auf den Rat erfahrener Kollegen hin in der Praxis schon mehr als einmal mit Erfolg ausprobiert.

Als die Gefangenen gefrühstückt hatten, wurden sie zum »staatspolitischen Unterricht« befohlen.

Die Türen des Saales öffneten sich, und die Gefangenen gingen unter Bewachung in geordneter Reihe die Treppe hinunter in den Hof. Auch die Häftlinge aus den beiden anderen Sälen fanden sich hier ein.

Die 82 Gefangenen wußten, daß sie sich der Größe nach im Hofe aufzustellen hatten, mit dem Gesicht dem Gebäude zugewandt. Vürmann stand der Reihe gegenüber und gab seine Befehle.

»Rechtsum! – Kehrt! – Marsch! – Marsch marsch! Hinlegen! – Auf! – Hinlegen! – Auf –«

Vürmann beobachtete Jan. Der Kerl hatte wohl kein Kopfweh. Der würde wohl niemals Kopfweh kriegen. Er machte seine Übungen weder zu gut noch zu schlecht. Nicht so schlecht, daß Vürmann ihn hätte anschreien können – nicht so gut, daß man hätte sagen können, er sei ein Speichellecker und Kriecher. Komischer Kerl. Vielleicht konnte noch etwas aus ihm werden. Er war zwar schwarzhaarig und dunkelhäutig – na ja –, aber das waren schließlich andere Randgermanen auch. Es konnten nicht alle die nordische Rasse so rein präsentieren wie die Kinder des Wachtmeisters Vürmann! Ein Kommunist – na ja –, wenn Vürmann ihn bekehrte – vielleicht war das gar nicht so schlecht. Der komische Kerl hatte doch mit offensichtlichem Interesse den »Völkischen Beobachter« gelesen! Vielleicht war er später als Spitzel unter den »Politischen« zu gebrauchen.

»Hinlegen – – –!!«

Vürmanns Stimme gellte durch die Stille des heißen Sonntagmorgens. In der Ferne ging ein Bauer vorüber. Er wandte den Kopf und schaute nach dem Drahtzaun, der den Hof des Arbeitslagers umgab.

Als Vürmann den »staatspolitischen Unterricht« schloß, waren die Gefangenen erhitzt, übermüdet, erbittert. Vürmanns Kopfschmerzen aber hatten sich nicht gebessert. Die erprobtesten Rezepte nützten nichts mehr.

Zum Mittagessen gab es für die Gefangenen Gulasch mit Salzkartoffeln.

Jan aß bedächtig. Seine Nachbarn waren Christoph und Franz.

Als Jan des Nachmittags beim Fenster hockte und seinen Strohsack flickte, kam der Schlossergeselle langsam herbei.

»Also machen wir das dann!« sagte er zu Jan. »Schon wegen dem Schwein, dem Vürmann. Bring aber saftige.«

Jan nickte.

»Morgen oder übermorgen kann ich dir den Kram geben. Halt aber auf alle Fälle die Schnauze. Von mir hast du ihn nicht. Verstanden.«

Jan nickte und flickte weiter.

Der Sonntagnachmittag schlich dahin. Als sich der Tag dem Abend zuneigte, wurden die Gefangenen unruhig. Die Vorstellung, daß sie nach einem Sonntag, der durch Vürmanns Schuld kein Ruhetag gewesen war, am folgenden Morgen die schwere Arbeit im Moor wieder aufnehmen mußten, zerrte an ihren Nerven und machte ihnen ihre Abspannung und Müdigkeit noch mehr als sonst bewußt. Von fernher war irgendeine Melodie durch die schwüle Luft gedrungen und hatte alle sehnsüchtigen und überreizten Empfindungen geweckt.

»Warum die wieder nicht geschrieben haben?« sagte Franz zu Jan. »Mein Brief muß doch dort sein. Bei der Postverteilung gestern hätte ich die Antwort schon haben können, wenn sie gleich geschrieben hätten.«

Die Gefangenen durften alle zwei Monate einen Brief nach Hause schreiben und alle vier Wochen einen Brief empfangen.

»Du kannst ja selber mal nachsehen, was los ist«, meinte Jan.

»Witze!« antwortete Franz gereizt und gekränkt.

»Würdest du mitkommen, wenn ich nach Frankreich und von da nach Spanien ginge?«

»Mensch, was – quatschst du da?«

»Sie kämpfen dort.« Jan holte das Zeitungsblatt und gab es Franz zu lesen. »Sie stellen internationale Brigaden zusammen!«

Franz las zweimal, dreimal. Er konnte sich von der kurzen Notiz gar nicht trennen. »Wo hast du denn das her?« fragte er Jan, ohne ihn anzusehen.

»Von Vürmann.«

»Der Idiot. Spanien? Du hast recht. Da gehören wir hin. Mit unseren Brigaden kämpfen … Aber …«

»Ich denke, der Christoph kann uns Papiere in Hamburg verschaffen.«

»Was? Soweit seid ihr schon?«

»Nächsten Sonntag machen wir den ›staatspolitischen Unterricht‹ nicht mehr mit, Franz.«

»Mensch, Mensch … ist außer Christoph noch einer dabei?«

»Nein. Wir drei sind mehr als genug.«

»Hm. Wir drei … aber sobald sie es merken, wird sofort alles alarmiert, die ganze Polizei … und wir sitzen nur in der Mausefalle.«

»Wo werden sie uns suchen? Was denkst du?«

»An der holländischen Grenze natürlich – über die müssen wir auf alle Fälle rüber.«

»Da kennst du dich ja aus, Franz. Das hast du mir doch schon ein paarmal erzählt.«

»Erzählt, ja, erzählt. Ich hab’ da schon meine Verbindungen, ich hab’ nicht geflunkert. Aber wenn die Streifen unterwegs sind?«

»Wie lange werden sie suchen?«

»Was heißt, wie lange? Was willst du damit sagen?«

»Daß wir erst nach der entgegengesetzten Seite gehen, in Richtung Hamburg. Dort muß uns der Christoph Papiere beschaffen. Bis wir an die Grenze kommen, haben sie das Suchen dort schon aufgegeben.«

»Jan, du bist gar nicht so dumm. Aber unsere Personalbeschreibung wird doch bekanntgemacht. Wenn sie von uns dreien auch nur einen wiedererkennen, ist es aus. Wir mit unseren Zuchthausjacken fallen überall auf.«

»Zivil bekomme ich in Hamburg für uns alle, Franz. In Hamburg trennen wir uns dann. Wenn wir Papiere haben und eingekleidet sind, trennen wir uns und fahren einzeln. Die Fahrkarten werden uns die Hamburger Genossen schon bezahlen. An der Grenze treffen wir uns wieder, an einem Punkt, den du bestimmen sollst.«

»Hm. An der Grenze, wie gesagt, da wüßte ich schon, wo und wie etwas zu machen ist … wenn es mit dem Christoph und den Papieren nur klappt – und wie kommen wir raus aus dem Bau hier?«

»Das laß nur meine Sorge sein. Es geht.«

»Nächsten Sonnabend? Weißt du … hör mal … du hast die Bande ja auch am eigenen Leibe kennengelernt. Ob sie nicht unsere Familien verhaften und sich an denen rächen?«

»Und wenn?«

»Ich hab’ eine Frau, Jan, und Kinder.«

»Du mußt es wissen.« Jan stand auf und brachte seinen geflickten Strohsack auf sein Bett. Es war nie gut, wenn sich zwei Gefangene zu lange miteinander unterhielten. Das fiel nur auf. Franz mußte mit seinem Entschluß allein fertig werden. Nur wenn er allein damit fertig wurde, konnte er ein zuverlässiger Gefährte bei dem kühnen Unternehmen sein.

Von diesem Wochenende an betrachtete Jan, der Gefangene, seine Umgebung mit anderen Augen als bisher. Er betrachtete sie mit den Augen eines Mathematikers, der sich vorgenommen hat, eine schwierige Aufgabe mit Genauigkeit zu lösen. Jede Örtlichkeit, jede Entfernung prüfte er mit den Augen wieder und wieder. Das Gitter und die sechs Holzschrauben, mit denen es außen am Fachwerk angebracht war, hätte er schon halb im Schlaf aufzeichnen können. Mehr als einmal schaute er vom Fenster in den Hof hinab und schätzte, daß drei aneinandergeknüpfte Laken genügten, um sich hinunterzulassen. Wenn er an der Ecke vorbeiging, in der der eiserne Ofen stand und in der noch einiges Holz aufgeschichtet war, das zum Feuern diente, falls Kaffee gewärmt oder Wäsche getrocknet werden sollte, so musterte Jan die Holzscheite, und als er das für seine Zwecke geeignetste einmal unbemerkt an sich nehmen konnte, tat er es und versteckte es bei seinem Bett.

Eines Abends hielt auch der Schlosser Wort und brachte den Schraubenschlüssel. »Jetzt bin ich neugierig«, sagte er dabei nur.

Jan steckte das Werkzeug zu sich.

Als Christoph wieder einmal des Abends mit Jan am Fenster stand und Jan in seiner gewohnten Schweigsamkeit irgendwohin schaute, vielleicht nach der Tür, vielleicht nach einem Mitgefangenen, vielleicht nach dem »Spionenfenster« der Wachstube … wer wußte es? …, konnte Christoph nicht an sich halten. »Wie du nur so gleichgültig sein kannst, Jan«, meinte er. »Als ob wir am nächsten Sonnabend zum Kegelschieben verabredet seien. Schließlich …«

»Schließlich …?«

»Also schließlich ist es doch etwas anderes!«

»Wägen und zielen muß man da und da!«

Es war dämmrig. Die meisten Gefangenen schwatzten oder aßen noch. Jan lehnte mit dem Rücken gegen das geöffnete Fenster. In seiner Rechten, in dieser großen, muskulösen, dunkelgebräunten Hand, hielt er den Schraubenschlüssel. Christoph stand so, daß die anderen Gefangenen das Werkzeug nicht hätten sehen können, auch wenn sie nach Jan hinblickten. Aber sie schauten gar nicht hin. Jan betrachtete noch einmal die Holzschrauben, mit denen die Gitter am Fachwerk festgemacht waren. Gitter und Schrauben waren verrostet, und Jan fürchtete, daß die Schrauben quietschten, wenn sie gelöst wurden. Darum mochte er nicht nachts daran arbeiten, wenn in der Stille jedes Geräusch auffiel. Er wollte lieber die Abendstunden benutzen, in denen es im Saal noch unruhig war. Mit unauffälligen, wie selbstverständlichen Bewegungen setzte er den Schraubenschlüssel an und lockerte die eine, dann auch eine zweite Schraube ein wenig.

»Geht’s?« fragte Christoph gespannt.

»Wird schon. Wir haben ja noch ein paar Abende Zeit.« Jan steckte den Schraubenschlüssel wieder zu sich. »Haltet euch bereit – du und Franz. Nächsten Sonnabend. Nach Mitternacht, wenn der Vürmann und seine Kumpane und der Hauptwachtmeister eingeschlafen sind. In der Nacht zum Sonntag schlafen sie fester als sonst, und morgens merken sie später, daß wir weg sind.«

Christoph trommelte mit den Fingern auf das Fensterbrett.

»Das wird ein Ding. Na schön.«

Die Woche ging dahin. Den Gefangenen war es immer erschienen, als ob die Tage unendlich langsam vorwärts krochen. Aber jetzt hatte sich in der Vorstellung von Jan, Christoph und Franz das Tempo des Zeitablaufs geändert. Die Stunden und Tage schienen trotz Hitze und Mühsal zu fliegen. Montag, Dienstag – Mittwoch – Donnerstag. Am Freitag hatte Jan die vierte Schraube locker gemacht.

Der 30. August brach an.

Am Morgen dieses Tages wurde ein Gefangener, genannt Hannes, aus der Strafzelle, die sich im Keller des Gebäudes befand, entlassen und trat wieder mit den anderen zur Arbeit im Moor an. Hannes gehörte nicht zu den »Politischen«; er büßte für einige gemeine Vergehen, wußte der Teufel, was er eigentlich angerichtet hatte. Jan, Christoph und Franz hatten sich früher kaum nach Hannes umgesehen. Als er mit seinem losen Mund den Wachtmeister Hinrich Vürmann reizte, ohne sich selbst dessen recht bewußt zu sein, hatten die drei Freunde nur mit dem Kopf geschüttelt. Aber heute schauten sie verstohlen immer wieder nach dem Köll’schen jung. Wie verändert erschien er! Sein Gesicht war blutleer, die Augen dunkel umrändert. Er ging krumm, und als er anfing, Torf zu stechen, lahmte er in der Schulter. Dennoch hastete er bei der Arbeit. Hin und wieder blickte er dabei scheu nach Vürmann, in dessen Zügen der Hohn glänzte.

»Den Hannes hat der Vürmann fertiggemacht«, sagte Christoph zu Jan. »Der Vürmann, der Schuft, der prügelt …«

Jan nickte.

»Der Hannes ist nicht der erste, den er geprügelt hat …«, bemerkte ein Gefangener, der Christophs Worte mitgehört haben mußte. »Der macht mit uns, was er will!«

Die Gefangenen verstummten, denn der Wachtmeister kam näher.

Die Gefangenen arbeiteten weiter. Geduckt, wie ein mißhandeltes Tier, schuftete Hannes.

Als die Sonne dieses Tages sank und die Gefangenen im Saal ihre Suppe in Empfang nahmen, war die allgemeine Stimmung noch gedrückter und mißmutiger als in der Woche zuvor. Zwar hatte die Augusthitze nachgelassen und einem milden Herbstwetter Platz gemacht. Aber die Erschöpfung, die die Körper in den schwülen Tagen gequält hatte, wirkte noch nach. Hoffnungen waren wie vertrocknet, kleine Freuden abgeblättert, abgefallen wie Blätter von den verdorrten Bäumen im Moor. Wachtmeister Vürmann fühlte sich in jener Laune, in der er bereit war, um nichts einen Menschen totzuschlagen. Die Gefangenen waren gereizt; dem einen schien es, daß er den anderen hassen müsse, und der Anblick eines Zigarettenstummels konnte die Ganoven unter den Gefangenen bösartig machen. Aber plötzlich sackte dieser oder jener zusammen und hätte am liebsten geweint. Der Sommer war vorbei. Der nasse Herbst stand bevor und der Winter mit Schnee und Kälte. Wann sollte dieses Leben ein Ende nehmen? Wieder ging ein Summen durch den Saal, und es formten sich die Worte:

»Auf und nieder gehn die Posten

, keiner, keiner kann hindurch …

Flucht wird nur das Leben kosten.

Vierfach ist umzäunt die Burg!«

Es war an diesem Abend nur eine Gruppe von drei Gefangenen, deren Stimmen mit festem Klang die dumpfe Hoffnungslosigkeit durchbrachen:

»Doch wir kennen kein Verzagen!

Ewig kann’s nicht Winter sein.

Einmal werden froh wir sagen:

Heimat, du bist wieder mein!

Dann ziehn die Moorsoldaten

nicht mehr mit dem Spaten ins Moor!«

Franz und Christoph saßen bei Jan am Fensterplatz, flickten und stopften. Als das Lied geendet hatte, versuchte Franz einen gezwungenen Scherz. »Winter, na, ich danke! Mir reicht die Hitze auch heute noch.« Dann summte er die Melodie wieder vor sich hin, und Jan hörte die Worte heraus, die Franz meinte: »Flucht wird nur das Leben kosten …«

»Legt euch mal schlafen«, sagte Jan zu seinen beiden Genossen. »Wenn es soweit ist, wecke ich euch.«

»Gute Nacht!« antwortete Christoph nur und folgte dem Rat. Auch Franz blieb nicht mehr lange sitzen. Jan schaute ihm nach, als er zu seinem Bett ging. Franz schlüpfte angekleidet unter die Wolldecke. Er hielt sich also doch bereit! Jan blieb auf. Er stand wieder am Fenster und blickte nach den Sternen, die ihm den Weg in die Freiheit weisen sollten. In Spanien kämpften die roten Bataillone! Es war Jan, als ob er die Freiheit riechen und fühlen könne, als ob sie mit dem Wind durch das Gitter zu ihm komme und ihn rufe. Seine Sehnen strafften sich, seine Faust umklammerte die Gitterstäbe, die er bald lösen wollte.

Die Bauern im Heidedorf löschten schon die Lichter. Die Straße lag so leer und einsam wie in jeder Nacht. Um zwölf Uhr kam, wie an einem jeden Sonnabend, der einsame Fußgänger in Uniform von seiner Liebsten zurück. Die Haustür knarrte. In dem Raum unter dem Saal der Gefangenen rumorte es noch kurze Zeit, dann war alles still. Der Hauptwachtmeister schlief nach seinem nächtlichen Abenteuer, und vielleicht auch von einem kleinen Rausch beschwert, einen tiefen, festen, befriedigten Schlaf in die Sonntagnacht hinein. Aus der Wachstube neben dem Gefangenenraum erklang Schnarchen.

Es war Zeit für Jan. Er nahm den Schraubenschlüssel aus der Tasche und lockerte vollends die vier Schrauben, an denen er schon gearbeitet hatte, bis sie sich herausziehen ließen. Die beiden obersten Schrauben aber ließ er fest sitzen. Dann bog er das Gitter, das jetzt lose hing, nach außen, so weit, daß ein Mensch eben hindurchzukriechen vermochte, und stemmte das Stück Feuerholz als Keil zwischen Wand und Gitter. Als das unbemerkt geschafft war, ging Jan zu den Betten von Franz und Christoph. Er ging mit ruhigen Schritten, ohne Lärm zu machen, aber auch ohne besondere Vorsicht. Die erschöpften Gefangenen waren auf ihren Strohsäcken in halbe Bewußtlosigkeit gesunken. Keiner rührte sich. Auch Franz und Christoph schliefen. Wahrhaftig, sie schliefen! Jan rüttelte sie. »Auf!« sagte er. »Es ist Zeit!«

»Also wirklich?« antwortete Franz leise.

Dann erhoben sich die beiden.

Jan hatte sein Bettlaken in der Hand und nahm sich jetzt noch diejenigen von Christoph und Franz. Er knüpfte die Laken schnell zusammen. Die drei Männer schlichen zum Fenster. Noch war keiner der schlafenden Gefangenen auf die Vorgänge aufmerksam geworden. Auch in der Wachstube blieb es still. Vürmanns Schnarchen war in einen ruhigen Atem übergegangen.

Jan hing die zusammengeknüpften Laken über die unterste Stange des hinausgedrückten Gitters und ließ dieses Behelfsseil an der Außenwand hinabhängen. Es war lang genug.

»Ihr zuerst!« flüsterte er seinen Genossen zu.

Franz schwang sich auf das Fensterbrett, zwängte sich zwischen dem hinausgedrückten Gitter und der Wand durch und ließ sich an den Bettlaken hinunter. Christoph folgte auf die gleiche Weise. Ein mürbes Laken begann zu reißen, und Christoph sprang im Hof hart auf. Er landete gerade vor dem Fenster der Hauptwachstube, das unmittelbar auf den Hof ging.

Als Jan auf dem Fensterbrett saß, bereit, als letzter zu folgen, vernahm er einen unterdrückten Schrei seiner Genossen.

Er schaute hinunter.

»Was ist?«

»Alles umstellt …«, kam die hastige Antwort. »Es ist alles aus.«

Jan zwängte seinen Körper so schnell wie möglich zwischen Gitter und Wand hindurch und hangelte sich mit Windeseile an den mürben Laken in den Hof hinab. »Was denn umstellt?« flüsterte er, als er bei seinen beiden Gefährten unten angekommen war. »Wo denn umstellt?«

»Da, siehst du nicht? Posten!« Franz und Christoph deuteten auf mannsgroße schlanke schwarze Schatten, die regungslos im Mondlicht standen.

»Was?! … Das sind doch die Zaunpfähle! Also kommt!« Jan zog bei seinen Worten die Laken herunter und warf sie in die Regentonne. Dann lief er voran über den Hof.

Die Gefangenen wußten, daß das Haus auch des Nachts von außen nicht bewacht wurde. Die Zuchthausverwaltung verließ sich auf die Aufmerksamkeit der Wachtmeister im Gebäude selbst. Da nur die besonders zuverlässig und in keiner Weise fluchtverdächtig erscheinenden Gefangenen zur Arbeit im Moor abkommandiert wurden, hatten die Vorsichtsmaßnahmen bis dahin auch immer genügt. Mit politischen Gefangenen hatte man noch wenig Erfahrungen.

Die drei Männer überkletterten den Stacheldrahtzaun an der ausgemachten Stelle. Dann rannten sie wie flüchtiges Wild querfeldein, bis das Arbeitslager außer Sicht war. Jan führte. Von Anfang an hielt er genau nordwärts, und die Sterne wiesen ihm den Weg.

Als Hinrich Vürmann, der Wachtmeister, sich in dieser Nacht zum Schlafen aufs Bett geworfen hatte, war ihm seit Wochen zum ersten Mal wieder so recht wohl zumute gewesen. Seine Stubengenossen hatten die Fenster offengehalten, und die würzige Nachtluft kam herein. Irgendeiner, der sich bei Vürmann lieb Kind machen wollte, hatte eine Tasse kalten Bohnenkaffee bereitgestellt, den Vürmann noch im Bett schlürfte. In der Schublade lag ein Brief der Frau, der meldete, daß daheim alles in Ordnung sei und daß es den Kindern gut gehe. Von den vergeblichen Bitten, das Haushaltsgeld zu erhöhen, hatte Grete Vürmann diesmal abgelassen, und der Ehemann konnte also den Brief von zu Hause ohne Gewissensbisse zweimal lesen. Auch Gretchen, die Dorfschöne, hatte sich bei Vürmanns abendlichem Besuch so lecker und munter erwiesen, wie der Herr Wachtmeister es sich nur wünschen mochte. Nun fehlte nur noch ein wohlwollendes »Hei-itler!« des Herrn Hauptwachtmeisters am kommenden Morgen und für Hinrich Vürmann stand der Sonntagshimmel offen.

Vürmanns Träume waren in dieser Nacht von angenehmen Phantasien beschwingt und er schnarchte zufrieden.

Hannes aber, der arme Teufel, der vierzehn Tage Kellerarrest und viele Schläge hinter sich hatte, lag mit Schmerzen und ohne rechten Schlaf zu finden auf seinem harten Lager im Gefangenenraum. Er machte zwar immer wieder die Augen zu, aber sein Herz und seine Nerven wollten nicht zur Ruhe kommen. Die Schulter tat ihm noch weh, und er fürchtete sich vor dem »staatspolitischen Unterricht« des folgenden Morgens unter Vürmanns Kommando. Wenn das nur nicht wieder schiefging. Durst hatte er auch, die Luft war schlecht und eigentlich mußte er austreten. Er warf seine Wolldecke bald zurück, bald zog er sie sich wieder über die Brust. Einmal merkte er, daß einer aufstand. Hannes hatte gerade die Augen geschlossen und machte sie nicht gleich wieder auf. Er war im Grunde befriedigt, daß irgendein anderer auch nicht schlafen konnte. So war er doch nicht ganz allein mit seinem Ärger, seiner Angst und seiner gequälten Müdigkeit. Was der andere Schlaflose tat oder wo er hinging, war Hannes gleichgültig. Es konnte damit nichts Besonderes auf sich haben, und Hannes verspürte keine Lust, ein Gespräch anzufangen. Infolgedessen hielt er die Augen zu und beschäftigte sich nur damit, auf die Schritte zu horchen, weil ihm diese Beobachtung die Langeweile vertrieb. Einmal vernahm er auch ein Flüstern, ohne etwas zu verstehen. Dann überwältigte ihn der Schlaf, vielleicht, weil er in diesem Augenblick seine Schmerzen vergessen hatte.

Als er wieder wach wurde, sehnte er sich noch mehr nach frischer Luft als zuvor und schaute sehnsüchtig nach dem Fenster, das sich in dem ersten zarten Morgendämmern vor Sonnenaufgang erhellte.

Wie?

Hannes setzte sich im Bett auf.

Er träumte wohl noch?

Hannes fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Aber seine Wahrnehmung wurde dadurch nicht geändert. Das Gitter am Fenster war unten abgelöst und hinausgebogen.

Teufel, Donner …

Hannes kletterte von seiner Bettstatt herab und lief barfüßig durch den Saal. Er gelangte bis zu dem Fenster. Als er es näher besah, erschrak er furchtbar. War hier einer entflohen? Dann gab es wieder Strafe. Prügel von Vürmann … wußte der Himmel, wen er beschuldigen und wie er vielleicht alle bestrafen würde, die hier im Saal geschlafen hatten. Hannes öffnete den Mund, er wollte laut aufschreien, um die Wachmannschaften auf seine Wahrnehmung aufmerksam zu machen. Er durfte nicht in diese Sache hineingezogen werden, er mußte unschuldig sein!

Als Hannes den Mund öffnete, um zu schreien, legte sich auf einmal eine Hand grob vor seine Lippen. »Halt’s Maul, du Taugenichts!« flüsterte es.

Das war der Schlossergeselle, der sein Bett unmittelbar am Fenster hatte.

Hannes wollte sich losreißen.

Da packte ihn schon ein zweiter. »Halt’s Maul, du Lump!«

Hannes sackte zusammen.

Der Vorgang hatte noch weitere Gefangene geweckt.

»Was ist denn los?«

»Ruhe!«

»Was ist denn mit dem Fenster?!«

»Mensch …«

»Das Maul sollt ihr halten! Wollt ihr sie verpfeifen? Ruhig, sage ich!«

Der Lärm, der hatte aufwallen wollen, ebbte wieder ab. Doch war jetzt fast der ganze Saal wach geworden, und das Geflüster wollte nicht mehr abreißen. Die Gefangenen schauten nach den anderen Betten, und bald wußte jeder, wer fehlte: Jan, Christoph und Franz.

Hannes war wieder auf sein Bett geklettert und weinte. Die anderen mutmaßten und ratschlagten. Es herrschte eine ungeheure, wenn auch noch unterdrückte Erregung. Der Schlosser hatte mit drei handfesten Freunden zusammen gedroht, jeden, der die Flüchtlinge verpfeifen würde, kurz und klein zu schlagen.

Vürmanns Schnarchen, das die Gefangenen hören konnten, klang jetzt unregelmäßiger. Er träumte nicht mehr gut, sondern schlecht. Endlich warf er das Kopfkissen gegen seinen vermeintlichen Gegner und erwachte mißlaunig. Es war trotz des geöffneten Fensters noch dumpfe Luft im Wachraum, darum hatte er vielleicht so schlecht geträumt. Vürmann stand auf, um sich sein Kopfkissen wiederzuholen. Dabei nahm sein auf Wachsamkeit dressiertes Ohr die leise Unruhe im Gefangenenraum nebenan wahr. Was die Bande wohl wieder zu flüstern und zu munkeln hatte? Jetzt war es ihm klar, diese Banditen hatten ihm mit ihrer unangebrachten Unruhe den seligen Schlummer in einen Schlaf voll schlechter Träume verwandelt und ihn endlich aufgeweckt. Er wollte der Bande aber zeigen, wer hier Herr im Hause war, die Ganoven oder der Wachtmeister!

Vürmann ging an das »Spionenfenster«, das den Wachraum mit dem Gefangenensaal verband. Da waren doch wahrhaftig welche aus den Betten gekrochen und klönten. Was die an dem Fenster der gegenüberliegenden Seite wohl interessierte? Die Gefangenen hatten nichts am Fenster zu suchen!

Vürmann fuhr in seine Hosen, griff nach der Dienstpistole, entsicherte sie und nahm sich noch einen zweiten Mann mit, den er höchst unsanft aus dem Schlafe gerissen hatte.

Die Pistole in der Hand, betrat er mit seiner Begleitung rachedrohend den Schlafsaal und ließ das Licht anschalten.

Der Stubenälteste, im Hemd, nahm beim Eintreten des Herrn Wachtmeisters bessere Haltung an als je und machte seine Meldung.

»Zweiundzwanzig Gefangene anwesend, Herr Wachtmeister!«

Vürmann war so aufgeregt, daß er die Zahl »zweiundzwanzig« zunächst nicht in ihrer vollen Bedeutung in sein Bewußtsein aufnahm. Er hatte nur den unterwürfig-militärischen Ton des Stubenältesten und seine furchtsam-stramme Haltung erfaßt. Er war zufrieden, daß die Gefangenen offenbar keinen Aufruhr versuchten und daß das kostbare Leben der Wachtmeister also nicht gefährdet schien. Der Ton korrekter Unterwürfigkeit in der Meldung des Stubenältesten waren ihm ein Labsal und eine Ermutigung. Fast wollte er schon die Meldung als empfangen bestätigen, schon setzten sich seine Muskeln in Bewegung, um ein Nicken zustande zu bringen, da bemerkte er die Tatsache, die ihn nicht weniger erschütterte, als je einen Sterblichen die Voraussage des Weltuntergangs erschüttern konnte.

Das Gitter des einen Stubenfensters war weit hinausgebogen.

In Vürmann entstand eine Sekunde hindurch ein Wirbel der Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle.

Dann hatte er begriffen. Im Saale schliefen 25 Gefangene; der Stubenälteste hatte gemeldet: 22 anwesend. Also fehlten drei Gefangene. Das Gitter war herausgelöst … drei waren durch das Fenster entflohen. Gefangenenflucht! Flucht der Gefangenen, für die Hinrich Vürmann verantwortlich war! Beförderung … Essig, Versetzung nach Celle oder gar nach Hannover … Essig. Vielleicht sogar …

»Ihr Schweine! Ihr …« Vürmann fehlten einen Augenblick die Worte. Sein Stimmband krampfte sich. Seine Stirn lief rot an. Er ballte die Faust. »Ihr Ganoven, ihr Banditen … ihr haltet zusammen …« Vürmann stürzte zu dem Fenster. Er packte das Gitter, stellte fest, daß es noch in den oberen beiden Schrauben hing, und untersuchte die Fachwerkbalken, aus denen die übrigen vier Schrauben herausgelöst waren. Es wurde ihm sofort klar, daß das Gitter nicht herausgebrochen worden war, sondern daß jemand die Schrauben mit einem Schraubenschlüssel sachgemäß gelockert und herausgedreht haben mußte.

Vürmann wandte sich wieder den Gefangenen zu, die sich in angemessener Entfernung respektvoll aufgestellt hatten. »Ihr … ihr … Schweinehunde … wer ist weg?«

Der Stubenälteste trat einen Schritt vor und stand wieder so stramm, als es ihm möglich war. »Die Gefangenen Jan Möller, Christoph Wiesner, Franz Strom, Herr Wachtmeister!«

»Seit wann wißt ihr denn das, ihr …«

»Soeben bemerkt, Herr Wachtmeister, als Sie uns weckten.«

»Ich helfe euch lügen, ihr Bande! Der Jan … der hat doch da oben geschlafen … gleich beim Fenster … den Kerl her, der im unteren Bett geschlafen hat … und nichts gemerkt haben will … den Kerl her …!«

Der Schlosser trat zögernd vor.

Vürmann sprang auf ihn zu, packte ihn am Arm und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. »Du Hund, du hast es gewußt, geholfen hast du ihm …!«

»Herr Wacht …« Eine zweite Ohrfeige erstickte dem Gefangenen das Wort im Mund.

»Halt die Schnauze, du Verbrecher! Beihilfe zur Flucht, das kostet dich noch was. Mach dich gefaßt!«

Der Gefangene schwieg vorsichtshalber.

»Himmelherrgott, verfluchte Wirtschaft …« Vürmann sah, daß sein zweiter Kamerad aus der Wachstube auch noch nachgekommen war. »Da haben wir die Bescherung!« schrie er ihm zu. »Drei Mann weg! Wir müssen sofort Meldung machen!«

Die Vorstellung, daß jetzt der Hauptwachtmeister und Kommandoführer Vürmanns Blamage erfahren würde, schürte Hinrich Vürmanns Wut von neuem an.

Er rannte im Saal umher und entdeckte, daß drei Laken fehlten.

»Die Laken haben sie gestohlen! Wegen Diebstahls werden sie verurteilt, die Herren ›Politischen‹…!«

An der Tür erschien ein weiterer Wachtmeister. »Zum Hauptwachtmeister!« gab er Vürmann zu verstehen.

In der Kommandostube stand der Hauptwachtmeister schon am Telefon. Er empfing Vürmann mit einem vernichtenden Blick. Als er die telefonische Meldung gemacht hatte, legte er den Hörer knackend wieder auf die Gabel.

»Der Marloh ist schön in Fahrt«, sagte er dabei vor sich hin.

»Aber es wird alles alarmiert, bis zur holländischen Grenze hin. Bei den Kommunistenschweinen in Hamburg wird sofort Haussuchung gemacht! Wir kriegen die verfluchten Verbrecher heute noch wieder.«

Wer Marloh war, das wußten alle im Zimmer Anwesenden. Marloh, geschworener Feind aller Kommunisten, berühmt und berüchtigt durch die Art und Weise, wie er neunundzwanzig rote Matrosen im Jahre 1919 hatte betrügen und niederknallen lassen, war Direktor des Zuchthauses in Celle, von dem das Arbeitskommando im Moor abgeordnet war. Marloh war Oberleutnant gewesen und ließ nicht mit sich spaßen, weder den Gefangenen noch den Wachmannschaften gegenüber. Vürmann fühlte eine Übelkeit im Magen. Aber wenn die drei wieder eingefangen wurden, die sollten es zu spüren bekommen.

Der Hauptwachtmeister ging mit seinen Untergebenen in den Hof, um sich den Fluchtweg genauer zu besehen. »Von heute an jedenfalls Verstärkung anfordern und auch Außenposten aufstellen«, bemerkte er zum Oberwachtmeister. »Vor allem müssen wir uns über den Hausvater in Celle beschweren, der uns derart unzuverlässiges politisches Gesindel hierherschickt, das unter den hier gegebenen Umständen gar nicht ordnungsgemäß zu bewachen ist …«

Vürmann atmete ein wenig auf. Die Schuld abschieben, ja die Schuld abschieben, das war der einzig mögliche Weg.

Einer der Wachtmeister fand die Laken in der Regentonne.

»Als ob sie uns verhöhnen wollten!« schrie Vürmann.

»Dieser Jan muß ein ganz gewiegter Gauner sein! Wie er sich immer verstellen konnte! Ich denke noch, er liest den ›Völkischen‹…«

»Das interessiert uns jetzt weniger«, bemerkte der Hauptwachtmeister spitz. »Aber wo hatte er den Schraubenschlüssel her?«

»Der Schlosser … Er kommt sofort in die Arrestzelle!«

»Na ja, gewiß, der Schlosser! Aber wieso wird hier nicht besser auf das Werkzeug geachtet? Kann hier jeder alles mitnehmen, wohin es ihm beliebt? Wie? Die Schluderwirtschaft hört jedenfalls auf!«

Vürmann wurde blaß.

In der Stube des Hauptwachtmeisters rasselte das Telefon. Hoffnung beflügelte alle Wachmannschaften. Vielleicht war das schon die Meldung, daß die Entflohenen wieder gefaßt seien. Vürmann war der erste, der in der Stube anlangte und den Hörer zitternd abnahm, um ihn dem Hauptwachtmeister zu reichen. Alle Ohren lauschten, es war mäuschenstill im Raum.

Auch in den Mienen des Hauptwachtmeisters hatte sich die angenehme Hoffnung abgezeichnet. Aber auf seiner Stirn erschienen gleich wieder Falten. »Ich habe doch die Personenbeschreibung durchgegeben … nein. Nein!! habe ich gesagt. Ein kleiner Rothaariger war nicht dabei! Nun verhaften Sie wohl die ganze Bevölkerung zwischen uns und der holländischen Grenze, Sie Idiot! Wir haben hier keine Frauen … ganz unwahrscheinlich, daß sie jetzt mit Frauenzimmern gehen … schwarze Arbeitsbluse, schwarze Hosen … mit gelben Biesen …« Der Hauptwachtmeister hängte erschöpft ab. »Die sind ja nicht normal …«, sagte er.

»Was aber die Biesen anbelangt«, bemerkte einer der Wachtmeister, »so hatte der Jan noch keine Biesen an den Hosen. Einige Gefangene tragen noch die alte Kleidung.«

»Mist!« rief der Hauptwachtmeister. »Warum habe ich das nicht gleich erfahren! Soll ich vielleicht jetzt an hundert Stellen wieder eine andere Personenbeschreibung durchlaufen lassen?! Wie soll man hier Ordnung halten, wenn nichts klappt, überhaupt nichts!! Wachtmeister, gehen Sie an Ihre Plätze, das ist notwendiger als hier herumzustehen! Sonst laufen uns noch ein paar weg. Nichts ist gefährlicher als das Beispiel … verflucht und zugenäht, es ist zum Kotzen …«

Die Wachtmeister waren schon verschwunden. Nur die drei wieder in Händen haben, dachte Vürmann. Nur die wiederhaben! Der schwarze Jan war ihm doch nicht umsonst aufgefallen. Es war etwas Unheimliches an diesem Menschen gewesen! Er hatte ihn überzeugen wollen. Quatsch! Einen Kommunisten überzeugen! Totschlagen mußte man sie, nur totschlagen! Warum die Gerichte noch soviel Federlesens mit den Untermenschen machten?

Als sich diese Vorgänge im Moorlager abspielten, befanden sich Jan, Christoph und Franz auf der Flucht.

Während ihrer ersten kurzen Atempause hatten sie in einem Rübenfeld gestanden. Der Tau lag in dicken Tropfen auf den Blättern. Aber die drei merkten nicht, daß sie naß wurden, als sie sich einen Augenblick niederließen.

»Der Vürmann wird Augen machen«, sagte Franz.

»Dort …«, flüsterte Christoph. »Licht! Das kann nur …«, er schaute umher, »das kann nur Polizei sein!« Er legte sich flach ins Feld.

Jan hatte auch prüfend in die Richtung geschaut, die sein Freund meinte.

»Ein Mädel ist es, das nicht schlafen kann«, sagte er dann. »Sie hat eine Kerze hinters Fenster gestellt.«

Die Flüchtlinge standen auf und setzten ihren Weg fort.

Sie mieden die Landstraßen und die Häuser. Querfeldein ging es im Dauerlauf die ganze Nacht hindurch. Das Laufen über die Rübenfelder und Kartoffeläcker war anstrengend.

Als die drei wieder einmal einen Zaun überkletterten, der die Felder trennte, stürzte der schmächtige Christoph vor Müdigkeit. Er fiel kopfüber und lag dann auf etwas Warmem, Weichem, das ihn mehr erschreckte, als ihn eine nasse Wiese voller Brennesseln oder der Lehm eines Kartoffelackers hätte erschrecken können. Das Warme Weiche geriet in Bewegung … und auf einmal gab es einen tiefen Laut von sich: »Muh-öh.«

Christoph mußte lachen. Die Kuh war offenbar ebenso erschrocken wie er selbst. Rasch glitt er von ihrem Rücken herunter und eilte seinen beiden Gefährten wieder nach.

Der Mond wanderte am Himmel und auch die Sterne veränderten langsam den Stand. Es kamen die Stunden, in denen das Sternenlicht schon blasser wurde und die ersten Anzeichen der Morgendämmerung zu bemerkten waren.

Als die Flüchtlinge einen Weg kreuzten, sahen sie am Rain schon große gefüllte Milchkannen stehen, die die Bauern zum Abholen für die Molkereiwagen bereitgestellt hatten. Verschwitzt, erschöpft, vom Durst gepeinigt nach dem stundenlangen Lauf, öffnete Franz die eine der Kannen und trank. Seit Jahren hatten die Gefangenen keine Milch mehr geschmeckt. Franz schlürfte noch ein paar Schluck. Dann ließ er Christoph heran.

»So macht doch vorwärts«, flüsterte Jan ungeduldig. »Es wird hell!«

Christoph trank nicht mehr viel, aber das wenige genügte schon, um in ihm eine furchtbare Übelkeit zu erregen. Die Kost war ungewohnt und sein Körper überanstrengt. Aber er durfte nicht nachgeben. Weiter lief er mit den anderen, bald springend, bald kriechend, bald im Dauerlauf. Die Flüchtlinge, die den Schutz der Dunkelheit verloren, mußten im heraufziehenden Tag den Schutz des Geländes suchen. Sie hatten lange nichts mehr miteinander gesprochen.

Jan führte nach wie vor. Er steuerte jetzt mit seinen beiden Gefährten auf ein Gehölz zu, das sich an einem Hang hinabzog.

Die drei Männer drangen in das Gehölz ein. Es bestand aus jungen Tannen und Gesträuch. Die Flüchtlinge suchten sich ein geeignetes Versteck. Todmüde von dem stundenlangen nächtlichen Lauf, durchnäßt, erhitzt durch die Anstrengung und zugleich ausgekühlt von dem herbstlichen Winde der letzten Nachtstunden, nisteten sie sich im Unterholz ein. Es roch nach Harz, nach Brombeeren und nach Walderde. Die dünnen Waldgräser glitzerten. Der erste Lichtschimmer, der dem Sonnenaufgang noch voranging, fing sich schon in den Tautropfen. Von einem der Baumwipfel erklang die erste Vogelstimme.

Jan kroch in dem Versteck umher, um einen geeigneten Ausguck zu finden, der ihm den Blick auf den nächsten Weg erlaubte, ohne daß er selbst von dort gesehen werden konnte.

»Wo sind wir denn?« fragte Franz, zu Jan hingewandt. »Du scheinst dich ja auszukennen.«

»Wo-die-Hunde-mit-dem-Schwanz-bellen«, antwortete Jan. »Hier in der Gegend habe ich gewohnt und gearbeitet.«

»Du?« fing Christoph an und holte tief Luft, um sich nicht zu erbrechen. »Wohnt hier nicht … hier in der Nähe … der Hein Henne, meine ich?«

»Stimmt. Du kennst ihn doch auch?«

»Ja.«

Die Vogelstimmen wurden schon zahlreicher. Die Sonne war über dem Horizont emporgekommen. Eine Lerche stieg in die Lüfte. Hellgoldenes Licht flutete zwischen den jungen grünen Tannen, den Ranken und Sträuchern. Der Himmel wölbte sich blau über dem Land. Die Tautropfen begannen an den Gräsern herabzurinnen und leuchteten dabei in allen Farben des Regenbogens. Ein Marienkäfer war Jan auf die Hand gefallen und versuchte jetzt, seine Flügel zu spreizen. Über den Waldweg, den Jan vom Versteck aus beobachten konnte, lief ein Hase. Das Tier hielt einen Augenblick an, machte Männchen, äugte und lauschte, dann setzte es seinen Weg mit Windeseile fort und verschwand im Gesträuch. Jan dachte daran, daß er sich mit seinen Gefährten in der Lage eines Wildtieres befand, das sich vor den Jägern hüten mußte.

»Du könntest mal zu Hein Henne hingehen und die Lage peilen«, sagte Jan zu Christoph. »Damit wir erfahren, wie es eigentlich steht und wer von den Genossen noch lebt. Man ist ja aus allem raus.«

»Der Gedanke ist nicht schlecht«, stimmte Christoph zu. »Ich würde selbst gehen«, sagte Jan, »aber mich kennen die Frau und die Kinder. Die Frau und die Kinder brauchen nichts von uns zu wissen.«

»Ich sehe mal zu.« Christoph überwand seine Erschöpfung und erhob sich. Er versicherte sich noch einmal, daß rings alles still und menschenleer war, dann schlich er vorsichtig durch das Gehölz. Die beiden Zurückbleibenden lauschten noch auf seine Schritte, die aber bald nicht mehr zu hören waren.

»Ist das nicht gefährlich?« fragte Franz.

Jan zuckte die Achseln. »Hein Henne ist Genosse, und er wohnt in einem Häuschen am Wald allein. Wenn Christoph sich in acht nimmt, kann eigentlich nichts passieren. Wir müssen uns doch orientieren, wie es politisch aussieht.«

»Ja, ja.« Franz hatte eine unreife Brombeere gefunden und zerkaute sie. »Wir können die Zeit hier zu so etwas ausnützen, das ist schon richtig. Vor Abend kommen wir ja doch nicht weiter.«

»Nein, den Tag über müssen wir hier versteckt bleiben. Sobald es dunkel wird, machen wir uns auf nach Hamburg. Den Weg bis Hamburg schaffen wir in der Nacht.«

»Mhm.« Franz legte sich etwas bequemer zurecht, aber auch er dachte noch nicht ans Schlafen. »Wann kann Christoph zurück sein?«

»In einer halben Stunde – in einer Stunde, je nachdem.«

Jan hatte zwei Ausguckstellen gefunden. Von der einen konnte er den Weg, von der zweiten aus ein Stück von Hein Hennes Häuschen am Waldrand erkennen.

Abwechselnd hielt er nun Ausschau, blieb dabei aber selbst gut versteckt.

Die Strahlen der Morgensonne wärmten jetzt schon mehr. Die Sonnenscheibe war am Himmel zu sehen. Aber es war noch sehr früh am Tage. »Im Moor sind sie vielleicht noch nicht einmal aufgewacht«, sagte Jan.

Franz lachte ein wenig und dehnte die Glieder. Merkwürdig war es, wenn man tun konnte, was man wollte und nirgends ein Vürmann mit einem Karabiner stand, um Befehle zu erteilen.

Eine halbe Stunde verging. Christoph war noch nicht zurück. Die entflohenen Gefangenen besaßen keine Uhren, aber sie hatten ihren Zeitsinn gut entwickelt und wußten gut abzuschätzen, was eine halbe Stunde und was eine Stunde war.

Endlich knackte es wieder leise im Gebüsch, und die aufhorchenden Flüchtlinge erkannten auch bald die schwarze Leinenhose ihres Gefährten.

Der Zurückkehrende legte sich in die Mulde, die als Versteck diente, und schaute Jan aufmerksam an. »Also nun paßt auf«, sagte er. »Mit dem Hein ist das so. Ich habe ihn eben mal gesprochen. Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich ihn ans Fenster herausgeklopft hatte. Dann erschien er, kreideweiß, und ich habe mit ihm gesprochen. Er steht unter Polizeiaufsicht. Sonst wäre er gleich mit mir hierher gekommen. Aber nun muß er noch eine Stunde warten, vorher darf er das Haus nicht verlassen. Dann kommt er mal her, und wir können ihn fragen, was wir wissen wollen.«

»Na meinetwegen«, knurrte Jan. »Also in einer Stunde.«

Franz gähnte. Christoph war sehr elend. Er schloß die Augen, und seine Gefährten merkten, daß er einschlief. Bald hatte der Schlaf auch Franz überwältigt.

Jan hielt mit Gewalt die Augen offen. Er durfte nicht schlafen, so müde er auch war. Mit mißtrauischer Aufmerksamkeit beobachtete er das Haus des Hein Henne. Die Mitteilung, die Christoph mitgebracht hatte, gefiel ihm nicht.

Obwohl der Tag warm war, fror Jan aus Müdigkeit. Die Stunde Wartezeit war schon vorbei, aber der Erwartete war noch nicht erschienen. Da … jetzt! Jan beobachtete, wie Hein Henne aus dem Hause kam. Er hatte sein Rad bei sich. Wozu das? Mit dem Rad wollte er in das Gehölz kommen? Nein. Hein Henne fuhr den Weg zur Stadt. Jan wartete gespannt. Es blieb ihm nichts übrig als zu warten. Am Tage durften sich die Flüchtlinge nicht aus dem Walde hinauswagen. Es dauerte nicht lange, da kam Henne wieder. Er brachte das Rad ins Haus und blieb auch selbst darin verschwunden. Wenig später verließ die Frau des Henne das Haus und schlug ebenfalls den Weg zur Stadt ein. Es mag sein, daß sie Milch holen will, dachte Jan. Sie blieb nicht lange aus, und als sie wiederkam, konnte Jan nicht erkennen, ob sie irgend etwas mitgebracht hatte. Jan schätzte, daß es neun Uhr sein mochte. Seine beiden Gefährten schliefen fest. Jan vernahm auf einmal das Geräusch eines Motorrades. Das brauchte nichts Besonderes zu besagen, denn am Sonntag konnte leicht einer auf den Gedanken kommen, mit dem Motorrad auszufahren. Trotzdem lauschte Jan angespannt. Das Geräusch verstummte, das Motorrad hielt. Jan konnte das Rad selbst durch die Bäume nicht sehen, aber als der Fahrer und der Beifahrer abgestiegen waren und etwas vortraten, kamen sie in das Gesichtsfeld des Flüchtlings. Jan erkannte einen SA-Mann im braunen Hemd und einen uniformierten Polizisten. Dicke Luft!

Jan weckte seine beiden Gefährten. Er ließ sie in Eile sehen, was er selbst gesehen hatte.

»Verrat!« sagte Christoph erbittert, als er den Kopf vom Ausguck wieder zurückzog. »Der Henne, der Lump … daß der Henne so ein Lump geworden ist! Er hat uns verpfiffen!«

Franz und Christoph schauten unwillkürlich auf Jan, der sich in dem Gelände am besten auskannte. Was tun?

Jan winkte den beiden, ihm zu folgen. Das Versteck, in dem sich die drei Flüchtlinge bisher befunden hatten, war jetzt zu sehr gefährdet.

Leise und schnell huschten die Flüchtlinge durch Heide und Buschwerk. Sie hielten sich immer sorgfältig in Deckung. Es war eine Waldschlucht zu durchqueren. Jan spähte die Schlucht hinauf. Oben auf dem Hügel stand ein Polizist.

»Es ist klar«, flüsterte Jan, »wir sind umstellt.«

Die drei Männer versteckten sich, so gut es ging. Jan hatte in der Schonung ein Loch aufgespürt, das günstige Deckung versprach. Mit seinen Gefährten verkroch er sich darin, und alle deckten sich mit Heide und altem Laub zu. Es blieb ihnen nichts übrig als zu warten, ob man sie entdecken werde oder nicht.

Schwere Schritte knackten jetzt durch die Schonung. Jan und seine Gefährten lauschten angestrengt. Nach den Geräuschen zu schließen, kam eine Reihe von Polizisten oder SA-Männern von oben her den Hang herunter, im Abstand von je drei Metern. Die ganze Schonung wurde offensichtlich »durchgekämmt«. Die versteckten Flüchtlinge erblickten zwei Männer in braunen Hemden, die mit schußbereiten Pistolen geradewegs auf das Versteck zusteuerten. Noch hatten die SA-Leute die Flüchtlinge nicht bemerkt. Aber im nächsten Augenblick schon mußte das Zusammentreffen erfolgen.

Die entflohenen Gefangenen hatten die Wahl, einen Kampf zu wagen, der für sie aussichtslos war, oder sich zu ergeben.

Jan faßte als erster den bitteren Entschluß. Als die beiden braun Uniformierten kurz vor dem Versteck angelangt waren, sprang er auf und nahm die Hände hoch.

Die beiden SA-Männer stockten überrascht. Sie legten die schußbereiten Pistolen an und warteten. Christoph und Franz erhoben sich auch und stellten sich neben Jan.

Es herrschte einen Augenblick Stille.

»Hallo!« rief dann der eine der braun Uniformierten. »Da ist ja auch der Möller dabei, der Jan! Ergebt ihr euch?«

»Das siehst du ja!« antwortete Jan trocken.

Die lauten Worte hatten die übrigen SA-Leute und Polizisten auf den Vorgang aufmerksam gemacht. Sie eilten herbei. Die Flüchtlinge wurden umringt.

»Wahrhaftig, der Möller!« wiederholte einer der Ortspolizisten. »So sehen wir uns auch mal wieder! Na, denn kommt mal mit. Du machst den Weg mit uns ja nicht das erstemal, Möller.«

»Nee, so an zehnmal habt ihr mich schon geholt«, meinte Jan und dachte an die zahlreichen Verhaftungen, denen er seit Beginn des Hitlerregimes ausgesetzt gewesen war. »Dann komme ich auch das elftemal mit euch.«

Die Gefangenen stiegen langsam den Hang aufwärts, eskortiert von Polizei und SA. Sie dachten nicht mehr an Freiheit, an Sonne und Wald. Sie sahen wieder nur Uniformen, Karabiner und Pistolen.

Ein Polizist und ein SA-Mann bestiegen an der Landstraße, die über den Hügel führte, ein bereitstehendes Motorrad und knatterten damit stadtwärts. Die übrigen machten sich mit den Gefangenen zu Fuß auf den Weg. Nur einmal begegnete die Eskorte Fußgängern, die den Sonntagmorgen im Freien genießen wollten. Zwei Frauen in Sonntags-Sommerkleidern, Männer in frisch geplätteten Hemden, ein kleines Mädchen mit blauen Zopfbändern und ein junge im neuen Anzug wanderten von der Stadt her in den Wald. Als sie die Polizei, die SA und, von diesen halb verdeckt, auch die Gefangenen in den schwarzen Leinenanzügen erblickten, wandten sie scheu den Kopf zur Seite und wichen vom Wege. Erst als die Polizei und die Gefangenen an ihnen vorüber waren, schauten die Spaziergänger noch einmal kurz zurück und wiesen dabei das Mädchen und den jungen an, sich nicht aufzuhalten. Erschien der Anblick der Verfemten den Bürgern gefährlich?

Die Gefangenen sahen nur geradeaus auf ihren, Weg.

Die Landstraße führte auf halber Höhe der von Wald und Wiese bedeckten Hügel entlang. Vom Wiesentale her ließ sich jetzt froher Lärm einer Kinderschar vernehmen. Der Augenblick, in dem Jan die fröhlichen Laute vernahm, war auf seinem schweren Weg der einzige, der ihn daran erinnerte, daß er in diesen Wäldern, auf diesen Wiesen auch als Junge umhergestrolcht war und daß er mit dem gleichen übermütigen Geschrei in der Este gebadet hatte, wie es jetzt die jungen aus der kleinen Stadt taten. Allerdings hatte Jan das Vergnügen zu baden immer nur als ein verbotenes Vergnügen genossen. Er hatte schon als Kind arbeiten müssen, denn seine Eltern waren arm gewesen.

Die Wachmannschaften kamen mit den drei Gefangenen in die Straßen der Stadt.

Die Fensterscheiben leuchteten blank geputzt an den Fachwerkhäusern. Da und dort tat sich eines der Fenster auf. Die Hausfrau am Herd, der Hausherr, der seine Zeitung in Ruhe lesen wollte, wurden durch das Getrampel der schweren Polizei- und SA-Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster aufgeschreckt und warfen neugierige Blicke auf die Straße. Kinder, die sonntäglich geputzt auf den Höfen, in den Toreinfahrten, auf den Bürgersteigen gespielt hatten, verstummten, brachen ihre Spiele ab und schauten voll Spannung auf den ungewöhnlichen Vorgang. Die Kirchgänger faßten ihre Gebetbücher unwillkürlich fester.

»Habt ihr gesehen? Der Jan Möller ist dabei!«

Die Ohren der Gefangenen fingen hin und wieder einen Fetzen solchen Geflüsters auf.

Endlich war das Rathaus erreicht, in dem sich die Polizeiwache befand. Die Gefangenen wurden in den Wachraum gebracht.

In dem kühlen Raum des alten Gebäudes standen sie vor dem Polizeimeister und dem Protokollanten und gaben ihre Personalien an.

»Na ja«, meinte der Polizeimeister, ein älterer, gesetzter Mann, »dann werden wir also jetzt das Moorlager verständigen.«

Der Protokollant klappte die Akte zu. »Es ist nur sonderbar«, hörten die Gefangenen den Polizeimeister noch sagen, »daß wir vom Lager überhaupt keine Meldung bekommen haben … in der Richtung hier hat man die Flüchtlinge wohl nicht vermutet.«

Die Gefangenen wurden von einem der Polizisten in den Keller gebracht. Der Polizist schloß die drei zusammen in eine enge dunkle Zelle ein.

Franz, Christoph und Jan setzten sich auf die einzige schmale Bank, die vorhanden war. Wortlos schauten sie sich zunächst in dem schmutzigen Raum um.

»Also Wanzen jedenfalls, darauf will ich wetten«, bemerkte Franz.

Dann herrschte wieder längeres Schweigen.

»Die Kerle sind eigentlich noch grundanständig zu uns«, meinte Christoph schließlich, »daß sie uns nicht isolieren, sondern zusammensperren. Was sagen wir denn nun, wenn die Vernehmung kommt?«

»Was ausgemacht ist«, antwortete Jan.

»Also wir wollten durch die Flucht gegen die Behandlung protestieren … gegen die Prügel … wollten unter falschem Namen in der Gegend hier untertauchen und arbeiten … Verbindungen haben wir keine …«

»Das ist doch alles klar!« meinte Franz.

»Ja, ja … bloß die von Celle werden ja weniger anständig sein. Die werden wissen wollen, wie wir zu dritt auf den gleichen Gedanken gekommen sind!«

Jan zuckte die Achseln. »Ich habe schon die höchsten Strafen von uns dreien, und darum kriege ich jetzt wieder die höchsten …«

Franz und Christoph stützten die Ellenbogen auf die Knie und senkten den Kopf.

»Es ist ja auch egal«, erklärte Jan weiter. »Bei mir kommt es nicht mehr darauf an. Solange der Hitler an der Macht ist, lassen die mich sowieso nie mehr frei.«

»Das schon«, sagte Christoph, »aber deshalb braucht man dich doch nicht mehr als nötig hineinzubringen.«

»Also ich habe das angestiftet«, schloß Jan kurz. »Ich habe euch überredet. Den Schraubenschlüssel habe ich natürlich gefunden, den hat mir keiner gegeben. Dann ist alles klar?«

Franz und Christoph stimmten zu.

Die Gefangenen saßen wieder still beisammen. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Nur einmal flüsterte Christoph noch: »Der Henne, so ein Lump! Die Polizei hier hatte keine Ahnung. Alles wäre gut gegangen …«

Die beiden anderen sagten nichts dazu. Was nützten alle Worte. Der große Plan war an einem Verräter gescheitert.

Als es Nachmittag geworden war, wurden die Gefangenen wieder nach oben zur Vernehmung gebracht. Im Wachraum stand bei dem Polizeimeister Hinrich Vürmann mit zwei Posten. Es war den Gefangenen klar, daß er auf den telefonischen Anruf der Polizeiwache hin sofort mit dem Wagen gekommen sein mußte.

Jan, Franz und Christoph blieben äußerlich völlig gleichmütig und sagten auf die Fragen des Polizeimeisters übereinstimmend nach der getroffenen Abrede aus.

Es war dem Wachtmeister Hinrich Vürmann anzusehen, wie er die ruhigen Fragen des Polizeimeisters und die bestimmten Antworten der Gefangenen mit steigendem Ärger verfolgte.

»Eine ganz große Schweinerei!« rief er, als das Protokoll geschlossen wurde »Prügel! So eine unverschämte Lüge! Die Bande hat ihre Aussagen offenbar verabredet! Das einzige, was der Wahrheit entspricht … ja, das einzige, was hier nicht erstunken und erlogen ist, das ist die Tatsache, daß der Kommunist hier, der Jan Möller, die ganze Schweinerei angestiftet hat! Das ist ein Staatsfeind, ein waschechter Kommunist ist das, ein ganz gefährlicher Verbrecher, der sich noch um nichts gebessert hat und nur von neuem auf hochverräterische Umtriebe ausgehen will! Er wird auch niemals etwas einsehen … dementsprechend muß man ihn behandeln!«

Jans Gestalt hatte sich um ein weniges gereckt, als er die Worte vernahm: »… ein waschechter Kommunist ist das.«

Hinrich Vürmann schaute den »Rädelsführer« wütend an. »Du bist wohl noch stolz darauf, so ein Untermensch zu sein, du Bolschewik! Der Stolz vergeht dir noch!«

Vürmann wischte sich den Schweiß von der Stirn. Obgleich es kühl im Raume war, hatte ihm der Zorn die Hitze in den Kopf getrieben. jetzt ließ er sich das Protokoll geben, las es noch einmal durch und warf die Blätter dann mit einer heftigen Bewegung auf den Tisch.

Der Polizeimeister rückte das Aktenstück zurecht, so daß es wieder in genau gemessenem Abstand ordnungsgemäß neben den anderen Akten auf dem Schreibtisch lag. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, stützte die Hände gegen die Tischkante und fragte: »Haben Sie zu der Sache noch etwas zu bemerken, Herr Wachtmeister?«

»Nein«, erwiderte Vürmann bissig, knurrend wie ein Hund, der an die Leine genommen worden ist. »Ich habe hier nichts mehr zu bemerken. Das übrige wird sich ja in Celle finden.«

»Ich danke Ihnen. Dann können die Gefangenen also abgeführt werden.«

Derselbe Polizist, der die Gefangenen das erstemal in den Keller gebracht hatte, führte sie auch jetzt wieder in ihre Zelle.

Wieder saßen Jan, Franz und Christoph still und stumm in dem kleinen, halbdunklen, schmutzigen Raum. Die Stunden vergingen. Die drei Männer waren sehr müde, und sie waren auch hungrig, denn die Verpflegung war schlecht.

Als es später Abend und auch draußen schon fast dunkel geworden war, kam ein Schritt die Kellertreppe herunter, ein Schritt, der an Polizeistiefel denken ließ. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß der Zellentür. Die Gefangenen schauten mißtrauisch auf. Alle Vorgänge, die nicht der üblichen Regel entsprachen, mußten einen Gefangenen zunächst mit Mißtrauen erfüllen, denn das Außergewöhnliche im Gefangenenleben war meistens etwas Schlechtes und selten etwas Gutes.

Die Tür ging auf.

Der uniformierte, etwas untersetzte, kräftige Mann, der eintrat, war der Polizeimeister selbst.

Die Gefangenen hatten sich von ihrer Bank erhoben. Sie waren überrascht.

Der Polizeimeister lächelte verlegen und wog ein großes Brot in der Hand, das noch nach Hefe und Backofen duftete. Die Blicke der Gefangenen hingen an dem Brot.

»Die Verpflegung ist nicht so reichlich«, sagte der Polizeimeister. »Ihr werdet ja auch Hunger haben nach eurem Marsch vom Moor hierher. Ich habe euch noch ein Brot beim Bäcker besorgt.«

Der Polizeimeister blinzelte Jan zu und gab ihm das Brot.

»Wir danken.«

»Schon gut, schon gut.«

Der Polizeimeister entfernte sich schnell.

Die Gefangenen brachen das Brot. Alle drei aßen heißhungrig. Sie waren noch ganz und gar mit dem Genuß des frischen Bäckerbrotes beschäftigt, als sich an dem vergitterten Kellerfenster ein leises Zischen hören ließ.

»He … he … scht …«

Franz stand auf und ging ans Fenster.

Durch das Gitter konnte er den Schattenriß einer Mädchengestalt erkennen.

Eine schmale weiche Hand steckte einige große Birnen durch das Gitter. »Da …«, flüsterte es, »laßt’s euch schmecken. Ich komm’ morgen wieder!«

Das Mädchen war verschwunden. Die Gefangenen glaubten noch ihren leichten Schritt draußen auf dem Hof zu hören. Die Birnen waren reif. Wenn man hineinbiß, spürte die Zunge den Saft voller Süßigkeit; sie schmeckten nach Sonne und fruchtbarer Erde.

»Das ist sicher das Mädel vom Ratskeller gewesen«, erklärte Jan und warf noch einen Blick zu dem Kellerfenster, durch das jedoch nichts mehr zu erkennen war als das von einem fernen Lampenschein ein wenig erleuchtete nächtliche Dunkel und das Pflaster des Hofs.

Die Gefangenen aßen die Birnen zum Brot. Sie hatten seit Jahren kein frisches Obst mehr erhalten. Lange, beinahe vorsichtig, schmeckten sie den Saft auf der Zunge. Das Verlangen ihres Körpers nach der frischen Nahrung setzte sich in ein Wohlgefühl ihrer Nerven um, als sie das Begehrte schlucken konnten. Ihre Glieder und ihre Gedanken konnten sich entspannen. Es waren nicht nur der Duft des Brotes und die Süßigkeit der heimatlichen Frucht, was sie belebte. Sie empfanden, daß Menschen ihnen freundlich gesinnt waren, und konnten die harte Abwehrstellung ihres Empfindens für eine Stunde aufgeben. Sie fühlten sich gekräftigt und trotz ihrer elenden Lage in dem dunklen und verwanzten Raum auf eine bestimmte Art befriedigt. Es kamen ihnen wieder eher Worte, und ihre Bewegungen und Vorstellungen wurden lebhafter.

»Wenn die Verpflegung so weitergeht!« sagte Christoph und lächelte.

»Alle Achtung«, meinte Franz und ging mit einer Birne und einem Kanten Brot auf und ab. »Die sind hier in Ordnung.« Er lachte kurz. »Sogar der Herr Polizeimeister persönlich geht am Sonntagabend noch für uns zum Bäcker!«

Jan hatte die Arme auf die Knie gestützt und aß bedächtig.

»Komisch«, sprach Franz weiter. »Es ist eigentlich komisch – bei uns daheim … nee – hätte es das nicht gegeben. Bei euch hier … muß doch irgendwas anders sein in der Stimmung …«

Jan zerbiß das Kernhaus seiner Birne und aß auch noch den Stiel auf. Dann schaute er Franz von unten herauf aufmerksam an.

»Das ist eben Arbeit«, meinte er. »Es kommt auch auf die Arbeit an. Wir sind in der Hamburger Gegend hier. Das darfst du nicht vergessen.«

Franz zog die Brauen hoch. »Ihr habt wohl hier gar keine schlechte Gruppe gehabt?«

»Nee, das war gute Arbeit hier«, sagte Jan, mit Stolz und mit Trauer. Der Klang seiner Stimme hatte sich verändert. Er sprach seine einfachen Worte beinahe feierlich. »Siehst du, 1933 hatten wir hier 400 ›Nein‹-Stimmen gegen Hitler, aber 1934 waren es schon mehr als 800, die ›nein‹ sagten … Das ist es ja auch, was denen dann auf die Nerven gegangen ist.«

Franz wog die letzte Birne in der Hand. »Fast ein halbes Pfund, so ein Ding …« Er sagte das nur, um Zeit für seine Gedanken zu gewinnen. »Mehr als 800, das ist in dem Nest hier nicht schlecht …«, kam er dann auf das Thema zurück, das das Schicksal der drei gefangenen Männer geworden war. »Mehr als doppelt soviel in einem Jahr … schade … wie seid ihr denn nachher hochgegangen, Jan?«

»Na, du weißt ja, wie so etwas geht.« Jan machte eine Bewegung und legte dann die muskulösen Hände ineinander, als ob er irgend etwas nochmals abschließen müsse. Es war, als ob er nochmals das Unfaßbare fassen müsse, daß seine Kräfte wiederum gebunden, daß sie wieder nutzlos geworden waren. »Wie eben so etwas geht. Wir sind zu dreist geworden. Wir hatten so viel Freunde, daß wir schon eher legal als illegal gearbeitet haben. Das ist immer schlecht. Die Menschen werden zu leicht unvorsichtig. Jedenfalls, sie fingen den Paul ab, meinen Kurier, als er Material von Harburg dabei hatte, und dann … nun, was soll ich viel erzählen. Sie haben ihn fertiggemacht … geprügelt, bis er meinen Namen sagte …«

»Dir ist es ja nicht anders gegangen, Jan«, warf Christoph hin. »Du sollst ganz hübsch bunt ausgesehen haben, damals, als sie dich vernommen hatten … aber gesagt hast du nichts.«

»Tscha, ein Zimmermann hat harte Knochen, der spürt das mal nicht so … Du selbst hast ja übrigens auch den Mund gehalten, als der Kiesel dich ein paarmal geschlagen hat, bis du zusammengebrochen bist. Aber ich trag’ dem Paul nichts nach. Bloß der Henne … das war gemein heute.«

Draußen erlosch der Lichtschimmer.

Franz fing die erste Wanze, die sich von der schmutzigen Kellerdecke auf ihn herabgelassen hatte. Überall, an den Wänden, auf der Bank, am Fußboden fing es an, sich zu rühren.

Die Gefangenen hatten ihre Beschäftigung.

»Macht euch nicht soviel Arbeit«, sagte Jan. »In Celle werden wir geschoren und entlaust.«

Die Nacht ging mit wenigen Stunden erschöpften Ruhens vorüber. Die Gefangenen erfuhren am Morgen von dem Wachhabenden, daß sie in einigen Tagen mit dem Gefangenenwagen der Reichsbahn nach Celle transportiert werden sollten.

Die verwanzte Kellerzelle war auf die Dauer kein angenehmer Aufenthalt. Aber die Gefangenen erhielten außer der amtlichen Verpflegung regelmäßig ihr Obst und ihre belegten Brote. Einmal erschien das junge Mädchen, einmal erschien die Wirtin des Ratskellers selbst am vergitterten Fenster und steckte den dreien die Leckerbissen zu.

»Sag denen mal Bescheid«, meinte Christoph zu Jan. »Deine Mutter oder wen du sonst noch hier hast … die können dich doch jetzt leicht sprechen.«

Über Jans Züge ging ein dunkler Schatten. »Laß mal …«, antwortete er nur.

Franz und Christoph wußten, daß Jan niemals Briefe von zu Hause erhielt. Sie rührten die Frage nicht weiter an.

Zwölf Tage waren seit der Nacht vergangen, in der Jan, Christoph und Franz die Flucht aus dem Teufelsmoor gewagt hatten. Man hatte sie in das Zuchthaus Celle eingeliefert.

Es war Morgen. Aber das Licht des Septembertages fiel nur trübe in jene Zelle, in der sich Jan jetzt befand. Das kleine, hoch in der Wand angebrachte Fenster war vierfach vergittert. Die Gitter waren in die Mauer eingelassen.

Innerhalb der Zelle war eine besondere »Arrest«-Zelle durch ein starkes Gitter abgeteilt. In der Arrestzelle befand sich die Holzpritsche. Neben der Pritsche waren noch 50 Zentimeter Raum. Auf diesem Raum konnte der Gefangene stehen oder – in der Länge der Pritsche – gehen. Er konnte zwei lange Schritte von dem Kopfende der Pritsche zum Fußende hin und zwei Schritte in umgekehrter Richtung machen.

Jan nutzte die Möglichkeit, die ihm geblieben war, aus. Er ging zwei Schritte hin, zwei Schritte zurück, zwei Schritte hin, zwei Schritte zurück, Stunde um Stunde. Er rechnete dabei nach, wieviel Kilometer er auf diese Weise am Tage laufen konnte. Es kam eine stattliche Marschleistung heraus.

Der Direktor des Zuchthauses, Oberleutnant a. D. Marloh, hatte die drei »Ausbrecher« zu der Disziplinarstrafe von vier Wochen Arrest, verbunden mit »strengem Arrest«, verurteilt. Diese Zeit mußten Jan, Franz und Christoph isoliert in den engen Käfigen bei Wasser und Brot verbringen.

An jenem Morgen, an dem das milde Septemberlicht mit einem matten Schein zwischen die Gitter drang, hatte Jan das Brot, das er zum Frühstück erhielt, schon verzehrt und sich auf den »Marsch« begeben. Der leise Klang seiner eigenen Schritte hinderte ihn nicht, auf alle Geräusche außerhalb seiner Zelle aufmerksam zu lauschen.

Die Schritte, die auf dem Gang draußen zu vernehmen waren, stockten an der Tür zu Jans Zelle. Jan wußte, daß der Wachtmeister jetzt durch den »Spion« schaute, um das Verhalten des Gefangenen zu beobachten. Jan gab keinerlei Zeichen dafür, daß er etwas gehört habe oder etwas vermutete. Er lief unentwegt hin und her.

Der Schlüssel drang ins Schloß und drehte sich, das Schloß sprang auf, und die Tür wurde geöffnet.

Der Wachtmeister machte einem andern Platz, der mit ihm gekommen war. Der Wachtmeister machte diesem anderen in einer sehr respektvollen Weise Platz, wie es sich einem Wachtmeister dem Direktor des Zuchthauses und Oberleutnant a. D. gegenüber gebührte.

Marloh trat in Jans Zelle.

Jan war stehengeblieben und schaute Marloh an. Der Gefangene hatte weder die Schultern zurückgenommen noch die Hände, an der Hosennaht gestrafft. Er stand ruhig, gerade, natürlich, in der gleichen Haltung, die er gegenüber jedem Wachtmeister einzunehmen pflegte. Vielleicht war die Falte zwischen seinen Augenbrauen, die sich ihm schon als Kind eingeprägt hatte, in diesem Augenblick noch etwas schärfer und tiefer. Aber auch das hätten nur diejenigen sagen können, die Jan genau kannten.

»… itler«, sagte Marloh. Er wirkte dem Gefangenen gegenüber schmächtig. »Na – Gefangener Möller – was machen Sie?«

»Es geht mir gut«, antwortete Jan.

In Marlohs Augen blitzte etwas auf. Er hatte die Augen des preußischen Offiziers, Augen ohne tiefen Hintergrund, Augen, die das, was sie sahen, einteilten in Freund oder Feind, gefährlich oder nicht gefährlich. Seine Augen erschienen Jan wie schartige Messer.

Das ist der Mann, der die roten Matrosen betrogen und ermordet hat, dachte Jan. Das hat er vor siebzehn Jahren getan. Jetzt will er wieder morden. Aber betrügen kann er uns nicht mehr.

»So, es geht Ihnen gut«, schnarrte Marloh. Er schnarrte es leise, ohne Stimmaufwand, mit einem Unterton des Mißtrauens. Er wußte offenbar nicht recht, was er aus Jans Haltung und Sprechweise machen sollte. War dieser Gefangene dumm? Oder war er unverschämt? – »So, es geht Ihnen gut. Dann haben Sie also kein Heimweh?«

»Was soll ich dazu sagen?« erwiderte Jan ruhig. »Das Heimweh, das kommt und geht. Wachtmeister Vürmann pflegte uns zu erklären, daß das so ’ne Krankheit ist.«

»Ich hoffe, daß Sie diese Krankheit anders und besser zu heilen versuchen, als mit Meuterei. Sie kommen bei uns nicht mit dem Kopf durch die Wand! Je eher und je gründlicher Sie das einsehen, desto besser für Sie!«

»Aus Heimweh habe ich nicht gemeutert. Sondern wegen der Behandlung.«

Jan, der gefangene Arbeiter, stand hinter den schweren eisernen Gittern dem Oberleutnant a. D. nach dieser Antwort noch einen Moment schweigend gegenüber. Es waren nur Bruchteile von Sekunden, aber in diesem Augenblick drängte sich alles zusammen, was Jan Marloh gegenüber denken und empfinden konnte. Du Mörder … du kleine, elende, niederträchtige Kreatur!

Marloh hatte vielleicht noch irgend etwas sagen wollen. Aber er sagte nichts mehr. Er hätte selbst nicht erklären können, warum es ihm nicht länger angenehm war, sich an dem Anblick des eingekerkerten Flüchtlings zu weiden. Die Wirkung, die er auf den Gefangenen machte, hatte ihn enttäuscht. Es schien, als ob die Person des Zuchthausdirektors hier keinen Eindruck mache, und doch war es auch nicht möglich, dem Gefangenen eine Disziplinlosigkeit nachzuweisen.

Marloh ging. Der Wachtmeister schloß die Zellentür wieder ab, und Jan nahm seinen Marsch wie vordem auf.

Mittagbrot erhielt er nicht. Die ersten elf Tage gab es im Arrest und strengen Arrest kein Mittagessen. Von da an erhielten Jan und seine beiden Gefährten jeden vierten, schließlich jeden dritten Tag eine Mittagsmahlzeit.

Jan blieb allein in seinem Käfig und ohne Beschäftigung.

Marloh erschien noch einige Male. Nicht, daß er selbst das Bedürfnis gefühlt hätte, sich den Gefangenen anzusehen, der durch seine Flucht den Ruf des Zuchthauses zu Celle als einer Musteranstalt im Dritten Reich geschädigt hatte. Marloh mußte sich eingestehen, daß ihm der Anblick des Gefangenen immer widerwärtiger wurde. Aber es gab prominente Besucher, denen Marloh eine gewisse Sensation zu bieten verpflichtet war, und diese pflegte er zu dem Käfig zu führen und ihnen den gefangenen Meuterer zu zeigen. Jan betrachtete dann ohne jede äußerlich sichtbare Gemütsbewegung die feinen braunen und schwarzen Tuche, aus denen die Uniformen der Gäste geschneidert waren, er sah ihre Gesichter, die im Grunde immer die gleichen Gesichter waren und in denen sich eine mittelmäßige Intelligenz, Ehrgeiz und Brutalität ausdrückten.

Die Besuche waren Jan langweilig. Sie hatten ihm nicht mehr zu sagen, als er schon wußte.

War aber der Gefangene allein, so langweilte er sich nicht. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ihm das Alleinsein schwerfiel. Aber wie lange, wie unendlich lange lagen diese Jahre zurück. Damals, als ihn die Einsamkeit noch bedrückte, war er ein Kind von neun oder zehn Jahren. Die Eltern hatten ihn von daheim fortgeschickt, weil er zuviel Hunger hatte und aus den Kleidern zu schnell hinauswuchs. Er sollte sich seinen Unterhalt selbst verdienen. Das tat er als Hütejunge bei einem Bauern. Der Arbeitsherr des kleinen Jan war ein reicher Bauer gewesen, dem viel Land ringsumher gehörte, Felder, Wälder, Wiesen, Weiden. Weil alles Land rings dem einen großen Bauern gehörte, war es menschenleer und einsam. Auch die Knechte und Mägde kümmerten sich wenig um den kleinen Jan. Die einzige Tochter des Bauern war ein großes hübsches Mädchen und viel zu stolz, um mit einem Hütejungen zu spielen. Damals hatte Jan zuerst gelernt, was Heimweh heißt und Einsamkeit. Er hatte es noch oft erfahren müssen, und die Kruste um ein heißes und leidenschaftliches Herz war immer härter und starrer geworden. Er hatte sich gewappnet.

Jetzt, hinter Eisenstäben, wußte er die Einsamkeit zu ertragen.

Der Wachtmeister, der täglich die Gefangenen bei der Essenausgabe begleitete, war Jan nicht unfreundlich gesinnt. Er hatte auch ein Auge zugedrückt, als Jan sich vom Kalfaktor einen Bleistiftstummel besorgte.

Eines Tages stand ein Vers an der Kalkwand der Zelle, klein gekritzelt, so daß nur der ihn finden und lesen würde, der später einmal gleich Jan in den Käfig gesperrt wurde.

»Im Arrest, da hab’ ich gesessen,

vier Wochen bei Wasser und Brot.

Das werde ich niemals vergessen –

mein Herz blieb trotz alldem rot.«

Die Wochen des strengen Arrestes vergingen. Der »Maschoris« – der Wachtmeister – brachte dem Gefangenen eines Morgens die Anklageschrift des Staatsanwaltes. Die Anklage lautete auf »Meuterei«. Jan hatte es nicht anders erwartet. Alles, was Gefangene gemeinsam unternahmen, sei es, daß sie eine Beschwerde vorbrachten, sei es, daß sie das Essen verweigerten oder gar die Flucht wagten, alles, wozu sich Gefangene untereinander verabredeten, war »Meuterei«. Jan war in der Anklageschrift als der Rädelsführer bezeichnet. Das entsprach seinen eigenen Aussagen. Er hatte es so gewollt.

Der Gefangene erfuhr aus der Anklageschrift, daß der Termin nicht in Celle stattfinden konnte, weil die Flucht im Bezirk von Stade vor sich gegangen war. Die drei Übeltäter mußten nach Stade zur Aburteilung übergeführt werden. Jan lächelte ein wenig vor sich hin, als er wieder allein war. Der Bürokratismus machte in seinem Vaterland immer noch seine Ziegensprünge. Im vorliegenden Fall hatten die drei Gefangenen dadurch wenigstens die Abwechslung einer Reise im »Reichsbahn-Gefangenen-Wagen« zu erwarten.

Der Tag der Überführung brach an. Jans Zelle öffnete sich. Er konnte unter Bewachung zu ungewohnter Zeit durch das Haus mit den vielen verschlossenen Türen gehen. Die Schritte hallten auf den Gängen und Treppen. Als Jan mit dem Wachtmeister aus dem Tore trat, stand das Gefangenen-Transportauto schon bereit. Jan stieg ein.

Seine beiden Fluchtgenossen saßen in dem Wagen. Die drei Freunde grüßten sich kurz und unauffällig mit den Augen. Ein jeder sah, wie mager und blaß der andere geworden war. Aber Jan las auch aus den Mienen von Christoph und Franz, daß hier keiner schlappgemacht hatte.

Am Bahnhof wurden die Freunde wieder getrennt. Im Reichsbahn-Gefangenen-Wagen war für einen jeden Insassen eine besondere kleine Zelle abgeteilt.

Jan hatte die Gedanken abgeschaltet und überließ es seinen Sinnen, zu arbeiten und die vielen Geräusche aufzunehmen, die sonst nicht mehr an das Ohr des Gefangenen dringen. Die Lokomotive ließ zischend Dampf aus, Stimmen von Reisenden waren vom Bahnsteig her zu vernehmen, der Stationsvorsteher pfiff. Die Räder setzten sich in Bewegung … Rm-tata-rm-tat-rm-tata …

Die Räder rollten schneller. Obwohl die Gefangenen von ihrer Umwelt nichts sehen konnten, fühlten sie sich mehr in das allgemeine Leben eingeschaltet als in dem Hause der Kerker, indem sich niemand aufhielt als Gefangene und Wächter. Heute fuhren sie in einem Zug, in dem auch »normale« Menschen saßen, Menschen, die ihren Geschäften nachgingen, Familien, die ihre Verwandten irgendwo besuchten.

Der Zug hielt an einer Zwischenstation. Wieder drangen die üblichen Geräusche des Bahnhofslebens auch in den Gefangenenwagen. Jans Gedanken setzten ein. Was für Menschen, dachte er einen Augenblick. Der eine will vielleicht in Stade seine Musterkollektion zeigen, eine Frau fährt zu ihrem Mann zurück, ein schönes junges Mädchen lacht aus irgendeinem Fenster des Zuges und nimmt Blumen zum Abschied in Empfang. An den Gefangenenwagen denkt keiner. Keiner denkt an uns. Sie leben dahin und sie wissen nicht, wohin die Reise geht. Eines Tages wachen sie auf, dann werden sich ihre Gesichter verzerren … denn sie müssen dem Krieg und dem Tod ins Angesicht sehen.

Rm-tata-rm-tat-rm-tata …

Was für Menschen! Sie brauchten nur an den Schalter zu gehen, eine Fahrkarte zu lösen, und konnten nach Spanien fahren, nach Spanien, wo um die Freiheit gekämpft wurde. Aber sie taten es nicht. Und Jan konnte es nicht tun. Hein Henne hatte ihn verraten.

Der Gefangene fuhr mit der Hand über sein kurzgeschnittenes Haar. Zorn kochte in ihm auf. Er hatte ihn lange zurückgedrängt. Gefühle ohne Ziel, Gefühle, die nicht zur Tat werden konnten, waren nichts für den Menschen. Sie verzehrten nur die Kraft. Jan hatte die unnützen Träume immer gehaßt. Er hatte auch über das Scheitern seiner Flucht nicht nachgedacht, er hatte sich selbst mit eiserner Energie gezwungen, nicht daran zu denken. Aber heute wallte es in ihm auf wie siedende Brühe. Er wußte selbst nicht, warum. Er konnte es auch nicht mehr hindern. Vielleicht war es der Transport, die Veränderung der Umgebung, die Hoffnungen weckte und in Jans Gefühl die selbst aufgebauten Schranken und Dämme einriß. Ihr Lumpen, ihr Verräter … Wenn ich noch fort könnte, wenn ich doch noch nach Spanien käme … ich und ein Gewehr in der Hand … ich mit den Genossen in der Volksarmee … Jan hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und seine Phantasie sah andere Bilder, als seine Umgebung sie ihm bot. Er hörte nicht mehr das Rollen der Räder und wußte nicht mehr, wieviel Stationen der Zug noch berührt hatte. Wenn … »Wenn« ist ein gefährliches Wort. Jan wurde es nicht mehr los. Er grübelte, machte Pläne, spann seine Gedanken weiter.

Als Jan in Stade als »Untersuchungsgefangener« in seiner Einzelzelle saß, war er von dem Gedanken an den nächsten Fluchtversuch besessen. Er konnte nichts mehr sehen, nichts mehr hören und nichts mehr denken, was nicht damit zusammenhing.

Er saß auf seiner Bank und betrachtete die Wände, die Tür, das vergitterte Fenster, die ihn von der Freiheit abschlossen. Stundenlang saß er so auf der Bank, andere Stunden ging er wieder auf und ab, wie es das gefangene Tier und der gefangene Mensch in gleicher Weise zu tun pflegen. Dabei hingen seine Augen immer an den Wänden, an der Tür, an dem vergitterten Fenster. Seine Augen studierten die Kerkermauern. Jan Möller war Zimmermann. Er hatte selbst oft genug am Bau von Häusern mitgearbeitet, um einen Bau sachverständig zu beurteilen. Immer wieder blieb sein Auge an einer Stelle hängen, an der der Putz von der Wand abbröckelte. Die Stelle befand sich an der Innenwand, die Zelle und Korridor trennte. Hier zum Beispiel …

Jan befühlte die Wände, er tastete die schadhafte Stelle ab.

Wenn es Abend wurde, machte er regelmäßig eine Stunde lang seine Freiübungen. Seine Muskeln und Sehnen, waren sehr kräftig. Sie sollten nicht dadurch schwächer werden, daß ihnen alle Übung fehlte.

Jan studierte auch mit Gründlichkeit die Mienen der Wachtmeister, die zu ihm in die Zelle kamen, und die Mienen der Gefangenen, die als »Kalfaktor« das Essen zu bringen und für Sauberkeit zu sorgen hatten.

Eines Abends fiel ihm ein Gesicht auf.

Jener breitschultrige und grobschlächtige Gefangene, er einen anderen Kalfaktor abgelöst hatte und jetzt den Essenkübel tragen half, hatte Jan zugezwinkert. Er hatte ihm auf jene schlaue Art, die jeder Gefangene rasch annahm, ein Zeichen mit den Augen gegeben. Er wollte irgend etwas von Jan. Was? Das würde sich noch zeigen. Ein Kalfaktor hatte viele Möglichkeiten, mit einem Gefangenen in Verbindung zu treten, wenn er das wollte.

In Jans Gefühl ging eine Veränderung vor. In dem Auenblick, in dem eine Möglichkeit erschien, irgend etwas praktisch zu erreichen, war er wieder so ruhig wie nur je. Er wartete nicht einmal mit Ungeduld, wie sich die Sache mit dem Kalfaktor weiter entwickeln würde. Er wartete voller Geduld.

Als die Nachricht kam, daß der Termin für Jan, Franz und Christoph verschoben sei, erschien Jan diese überraschende Mitteilung wie ein Zeichen, daß sich ihm die Gunst der Umstände wieder zuneigte. Nun hatte er Zeit, um die Annäherung des grobschlächtigen Kalfaktors abzuwarten. Er brauchte dem andern keine Vorgaben zu machen. Das war gut, es war sogar sehr gut.

Eines Morgens klimperte es ein wenig am Spion. Es war die Stunde, um die August, der Kalfaktor, den Gang vor Jans Zelle zu säubern hatte.

»He!«

Jan trat an die Tür heran und blickte durch den Spion in Augusts wasserblaue, immer etwas entzündete Augen.

»Du?«

Jan wartete stumm.

»Du …«

August schaute noch einmal nach rechts und links, und als er sich überzeugt hatte, daß kein »Maschoris« zu fürchten sei, erschien ein Grinsen auf seinem fleischigen, blassen Gesicht.

»Du, Jan, du kennst mich wohl gar nicht? Aber ich kenne dich … ja, da staunst du …«

»Hm … nee – ich kenn’ dich nicht.«

»Nee, nich … wir waren ja auch so viele … die damals zugehört haben, nicht? Weißt du noch, wie euer Prozeß war? Das ist doch hier in Stade gewesen. Ihr kommt jetzt wieder hin, in denselben Saal … der Staatsanwalt, der Sch … kerl … jetzt ist es ein anderer, aber es ist einer wie der andere …«

»Das ist schon wahr.«

»Jan … paß auf … du hast mir gefallen … wie du die zum besten gehabt hast und hast dich gehalten und keinen nicht verraten … weil du immer gesagt hast, das hast du alles allein gemacht …« August lachte vor sich hin. Er hatte einen breiten Mund. Seine Lippen waren blutleer. »Hör mal zu, du hast mir gefallen, Mann, du bist richtig … Also dann auf Wiedersehen … wir sprechen uns noch, ja?«

»Wie du willst.«

August kicherte und nickte.

Als er am nächsten Morgen unter Aufsicht des Wachtmeisters die Verpflegung brachte, tat er schon vertraulich und berichtete unverfroren, daß es Jans beiden Genossen nicht schlecht gehe.

»Laß das Geklatsche!« sagte der Wachtmeister unwirsch. »Ihr seid alle Waschweiber. Aber ich rate dir, August, wenn du noch weiter kalfaktern willst, so laß die Finger von den ›Politischen‹. Du kannst das für deinen Fall schlecht vertragen.«

»Jawoll, Herr Wachtmeister, ich sage ja gar nischt mehr …«

Am Abend erfuhr Jan am Spion, daß August wegen einer Wirtshausrauferei mit einem SA-Mann zu drei Jahren Gefängnis verurteilt war. Am folgenden Morgen war der Grobschlächtige kaum mehr von der Tür wegzukriegen.

»Mensch, Jan«, flüsterte er, »ihr seid alle feine Kerle gewesen in eurem Prozeß. Oh, wie der Staatsanwalt bloß gekeift hat, und ihr seid alle so schön ruhig geblieben. Aber du warst der beste, deshalb haben sie dir auch das meiste aufgebrummt. Paß auf, die SA, die Braunen, dat sind Schweine. Es sind Schweine, und sie wollen nichts als unsere Mädels haben, deswegen ziehen sie die Uniform an und singen ihre dämlichen Lieder. Ich hab’ ihm ein paar mit dem Leder übergezogen … Mensch, dat hättest du sehen müssen … das Leder hab’ ich nicht zugegeben. Es war eben eine Ohrfeige, verstehst du, aus Wut … an mein Mädel wollte er auf dem Tanzboden ran, der schiefe Lump …«

»Was macht dein Mädel denn jetzt?«

In Augusts wasserblaue Augen traten Tränen. »Mann, wenn ick dat mal wüßte … ehrlich war sie ja und sauber, aber drei Joahr sind drei Joahr … und denn bün ick noch vorbestraft und ›politisch belastet‹ und ihr Vater, der is mal Gastwirt und will nix zu tun haben mit die Polizei … Mann, wenn dat Schwein, wenn der Schietbüttel in seine braune Uniform mir jetzt das Mädel wegnehmen will …«

»Dat wird er wohl versuchen.«

»Siehst du wohl, du sagst das auch. Ich könnt’ ihn in Stücke reißen, und die Grete, dat Mädel, dat schlechte Mensch, schreibt mir auch nicht mehr … och, Jan, wenn des Abends jetzt so die Nebel ziehen und die Sterne so ein wenig leuchten und is nich mehr weit hin zu Weihnachten … und zu Weihnachten wollten wir uns ja verloben … wenn du die Grete gesehen hättest, da ist was dran … wenn ich nur wüßte, ob sie mir vielleicht doch noch treu is’ …«

»Schreib doch mal einem, daß er hingehen soll.«

»Ach, hör mir auf, geht ja doch keiner für unsereinen, und dat Schreiben, dat ist bei uns nich so Mode in der Familie … Drei Joahr, denken die, dat ist mal garnich so lang, und wissen tun sie nix, wie einem zumute ist … wenn ich den noch mal in die Fäuste kriegte, dat Schwein … wegen wat haben sie dich verurteilt, Jan? Hochverrat, nicht?«

»Ja, Vorbereitung zum Hochverrat.«

»Denn kommst du ja überhaupt nie mehr raus. Dat sind Verbrecher, ich kann dir dat sagen … ich hör’ doch viel, bin ja Kalfakter.«

August brach ab und verschwand schnell. Er hatte wohl ein verdächtiges Geräusch wahrgenommen. Jan trat von der Tür zurück. Draußen ging bald danach ein Schritt vorbei. Jan horchte. Das war ein Wachtmeister. Aber er schien nichts zu ahnen.

August blieb Kalfaktor.

Jan konnte jetzt jeden Morgen oder Abend mit ihm ein kleines Privatgespräch führen.

»Weißt du«, meinte der große Kerl, dessen Wangen und Arme in der Gefangenschaft schwammig geworden waren, »weißt du« – und in den Augen, die Jan wieder durch den Spion beobachten konnte, blitzte der Zorn auf wie ein grelles Licht –, »weißt du, wenn ich nur die ärgern könnte, die Fatzjuckls, die … ich täte, was ich kann …«

»Dann bring mir doch einen Plan.«

»Wat für einen Plan?« fragte August erstaunt.

»Na, von unserem schönen Haus hier. Wie die Lichtschächte gehn und wo die Feuerwehrleitern und Blitzableiter sitzen … und so.«

August lachte leise. »Dahin geht die Reise? Du bist ja man würklich ein Unverbesserlicher. Weißt du wat? Du gefällst mir. Du sollst dat allens haben.«

»Und einen Hammer und einen Meißel.«

»Allens sollst du haben.«

»Aber beeil dich auch. In drei Tagen ist der Termin. Dann ist nichts mehr zu machen.«

»Geht schon in Ordnung. Du sollst dat allens haben. Weil du mir gefällst, die brauchen dich nicht noch umbringen eines Tags. Tjüs!«

»Tjüs!«

Als Jan wieder allein war, befühlte er nochmals sachgemäß jede Stelle an den Wänden seiner Zelle.

Bei der Essenausgabe am folgenden Tage erkannte der Gefangene sofort an den Mienen des Kalfaktors, daß dieser etwas Wichtiges vorhabe. Während der zweite Kalfaktor die Suppe in Jans Schüssel schöpfte, kam August noch ein wenig näher als sonst an Jan heran. Sobald der Wachtmeister einmal zur Seite schaute, spürte Jan Augusts Hand an der seinen. Jan packte das Etwas, das August ihm zuschob, und hielt es unauffällig unter der Essenschüssel fest.

Der Kessel wurde zur nächsten Zelle weitergetragen. August zwinkerte noch schnell dem Gefangenen zu.

Dann schloß der Wachtmeister die Tür wieder ab.

Jan setzte sich auf seine Bank. Er stellte die Schüssel mit der Erbsensuppe neben sich und wickelte den Lappen auf, in den der Kalfaktor sein heimliches Geschenk eingeschlagen hatte.

Es kam erst ein Zettel zutage. Als Jan ihn auseinandergefaltet hatte, sah er eine unbeholfene Zeichnung, die ihm aber alles sagte, was er wissen wollte. Er studierte einen Augenblick aufmerksam die Angaben über den Lichtschacht – gut, gut –, er war nicht weit von Jans Zelle entfernt, und dort konnte ein gewandter Mann hochkommen, das hatte Jan bei seiner Einlieferung und bei seinem Gang zum Bad schon berechnet. Mit den Feuerwehrleitern sah es dagegen schlecht aus. Sie befanden sich an anderen Teilen des Gebäudes … Aber halt, der Blitzableiter, den hatte August auch eingezeichnet. Wenn Jan im Lichtschacht hoch und aufs Dach kam, so konnte er den Blitzableiter sofort greifen. Daran dann hinunter, über die Mauer …

Nicht weit von Stade hatte Jan einen Bekannten auf einem Dorf. Der würde ihm wohl das erste Quartier geben. Sie konnten ja nicht alle Verräter sein!

Jan benutzte schon die Tagesstunden für seine Vorbereitungen. Am Tage fiel ein Geräusch nicht so sehr auf. Er wickelte den Lappen um den Hammer und entfernte den Putz an der Stelle, an der er schon abbröckelte, noch weiter. Es gab trotz aller Vorsicht viel Staub und Dreck.

Jan wischte ihn von dem Linoleumboden auf und versteckte ihn in seinem Bett.

Es ging alles gut. Niemand wurde aufmerksam. Als August unter Aufsicht des Wachtmeisters das Abendessen brachte, sah die Zelle wie immer aus. Dem Wachtmeister fiel es nicht auf, daß die schlechte Stelle an der Wand sich vergrößert hatte.

Sobald das Abendessen vorüber war, kam für Jan der schwierigere Teil der Arbeit. Er mußte jetzt den ersten Stein aus der Wand nehmen. Sechs Uhr abends war vorbei. Um acht Uhr wurde das Licht gelöscht. Bis dahin wollte Jan wenigstens den ersten Stein geschafft haben, denn im Dunkeln konnte er schlecht arbeiten.

Es war siebeneinhalb Uhr, als Jan auf der Treppe das leise Knacken vernahm, wie es von Schritten verursacht wird. Irgend jemand kam die Treppe herauf, wahrscheinlich ein »Maschoris«. Jan hörte sofort mit seiner Arbeit auf und begann Freiübungen zu machen.

Der Spion bewegte sich.

»Was machen Sie denn hier?« rief die Stimme des Wachtmeisters. »Was soll das Loch in der Wand?«

Jan begriff, daß alles verloren war.

»Was ich hier mache?« rief er zurück. »Ich will ausbrechen!«

Draußen ertönte ein Fluch. Dann entfernten sich die Schritte des Wachtmeisters, aber bald kam er mit zwei Kalfaktoren wieder zurück. Auch August war dabei.

Die drei betraten die Zelle.

Schade, schade, sagten Augusts halbverdeckte Augen und seine herabgezogenen Mundwinkel.

Jan wurde in eine Arrestzelle gebracht. In einem Gitterkäfig, wie er ihn von Celle her schon gewohnt war, verbrachte er die Nacht.

Am folgenden Tage wurde Jan vorgeführt und das Protokoll wurde aufgenommen.

Der Fall erregte großes Aufsehen.

»Waren Sie sich denn nicht klar darüber, daß Sie durch diese Wand nur auf den Korridor gelangen? Darüber mußten Sie sich doch klar sein!« sagte der protokollierende Beamte ein über das andere Mal zu dem Gefangenen. »Wie wollten Sie denn von dem Korridor aus dem Hause hinausgelangen?«

»Darüber hatte ich mir keine Gedanken gemacht. Das sollte sich eben so ergeben.«

»Sie können doch nicht verlangen, daß wir Ihnen das glauben?« Der Beamte schaute über die Brillengläser. »Wir nehmen an, daß Sie den Wachtmeister ermorden und mit seinen Schlüsseln das Tor öffnen wollten.«

Der Beamte betrachtete den Gefangenen bei diesen Worten mit der Miene der strafenden Gerechtigkeit, in die sich Furcht und Neugier mischten.

»Nein, das wollte ich nicht«, erwiderte Jan, scheinbar gleichgültig.

»Kann jeder hinterher sagen, das wollte ich nicht! Es bestand doch gar keine andere Möglichkeit.«

»Wieso denn? Man kann doch nicht im vorweg sagen, was möglich ist. Da war die schadhafte Stelle an der Wand, die hat mich so am lieben langen Tag auf die Gedanken gebracht.«

»Und von wem hatten Sie das Werkzeug?«

»Das hab’ ich mir schon von Celle mitgebracht. Da hat so etwas immer herumgelegen.«

Der Beamte konnte nicht umhin zu schmunzeln. In Celle, der angeblichen Musteranstalt des Herrn Marloh, schien ja allerhand los zu sein und vielerlei zu bestehen mit Ausnahme von Ordnung.

Der protokollierende Beamte zeigte sich Jan gegenüber jetzt etwas freundlicher.

»Wir könnten die Sache von gestern gleich auf Ihrem Termin morgen mit verhandeln. Sind Sie damit einverstanden?«

»Jawohl, damit bin ich einverstanden.«

Der Tag und die Nacht vergingen.

Als ein gefährlicher Ausbrecher gefesselt und scharf bewacht, wurde Jan am folgenden Morgen aus seiner Zelle und über den Hof zum Gerichtssaal geführt.

Jans Blick streifte rasch die Gefängnismauern, die den Hof umgaben, und er erinnerte sich, wie er ein und ein halbes Jahr vorher, im Frühjahr 1935, einen Tag um den anderen über diesen Hof zum Gerichtssaal geführt worden war. Er und seine vielen guten Genossen, die die illegale Arbeit in der kleinen Heimatstadt gewagt hatten, wurden damals über diesen Hof zur Verhandlung geführt … und jetzt wie damals tat sich die Tür zum Gerichtssaal auf und Jan wurde auf die Anklagebank gebracht. Zwei Wachtmeister postierten sich neben ihm. Auf der Bank saßen schon Christoph und Franz, Jan setzte sich neben sie. Die Freunde wechselten kein Wort. Es war nicht der Ort dafür, und es gab auch nichts Wichtiges zu sagen.

Die Gerichtszeremonien verlangten ihre Zeit. Während der Richter in seiner Robe den erhöhten Platz einnahm, der Staatsanwalt seine Papiere zurechtlegte und die beiden Zeugen sich einfanden, blieb Jan und seinen Freunden die Muße, an das zurückzudenken, was sich vor eineinhalb Jahren hier abgespielt hatte. Das war die alte getünchte Wand, die dem Saal ein nüchternes und gleichgültiges Aussehen gab, die alte gedrechselte Barriere, die Richter und Angeklagte von den Zuhörern abschloß. Auf den Plätzen für das Publikum saß auch heute eine Anzahl Neugieriger. Vor eineinhalb Jahren waren diese Bänke alle voll besetzt gewesen, und auch August hatte unter den Zuhörern gesessen.

Jan glaubte noch einmal die schneidige Stimme des Herrn Staatsanwaltes Dr. Frischbier zu hören. Er erinnerte sich kaum an sein Gesicht, denn dieses Gesicht hatte nichts Besonderes an sich gehabt. Es war das Gesicht eines Korpsstudenten gewesen, der jetzt für den »Führer« seine Pflicht tat, ein Gesicht, in dessen Mienenspiel sich wenig eigene Gefühle, wenig eigene geistige Arbeit ausdrückten, das Gesicht eines qualifizierten Spießers. Das Gesicht und die schneidige Stimme paßten in den getünchten Saal. Alles wirkte wie Tünche, die man aufstreichen und abkratzen, oder wie eine Maske, die man aufsetzen und wieder absetzen konnte, je nach den Erfordernissen der Zeit und der Karriere. Herr Staatsanwalt Dr. Frischbier hatte auch keine eigenen Worte gesprochen. Er hatte nur die Worte gesagt, die ihm sein »Führer« und der »Völkische Beobachter« lieferten, Worte, wie Jan und seine Genossen sie in allen Modulationen seit Jahr und Tag von ihren Feinden zu hören gewohnt waren und wie sie immer wieder gesprochen werden mußten, solange es Menschen gab, die ihre Brüder von den Gütern der Erde ausschließen wollten.

»Das Ziel der KPD ist der bewaffnete Aufstand! Die Kommunisten haben sich illegal organisiert, Möller war schon 1933 in Schutzhaft. Er wurde entlassen. Diese Gnade hat er damit beantwortet, daß er in seinem Heimatorte die KPD wieder aufgebaut hat! Er ist ein eingefleischter Kommunist! Die härtesten Strafen müssen angewandt werden! Das Gericht hat nicht nur die Aufgabe zu sühnen, es hat die Aufgabe, solche Elemente auszumerzen! Möller und sein Kurier Roth sind die Hauptangeklagten. In ihren Händen lief alles zusammen. Ich beantrage …«

Jan wurde aus seinen Erinnerungen herausgerissen. Der Richter in der schwarzen Robe begann mit der Vernehmung der Zeugen und der Angeklagten. Als Zeugen waren der Wachtmeister Vürmann und jener Polizeimeister geladen, bei dem die Gefangenen wieder eingeliefert worden waren. Die Gefangenen sagten wiederum aus, daß sie durch ihre Flucht gegen die schlechte Behandlung der Gefangenen protestieren wollten und daß Vürmann Gefangene geprügelt habe.

Vürmann war blaß. Seine Lippen zitterten vor Wut, wenn er seine gehässigen Aussagen machte; in dem Vibrieren seiner Stimme lag der ohnmächtige Wunsch, sich zu rächen. Jan brauchte diesen Menschen nur anzusehen und anzuhören, um zu wissen, daß Vürmann nicht Hauptwachtmeister werden und nicht an einen besseren Platz versetzt werden würde.

Der Polizeimeister blieb ruhig und berichtete mit wenigen Worten, wie die Gefangenen im Walde entdeckt und wieder eingeliefert worden waren. Von dem Verräter sagte er nichts. Die Verbindung mit ihm blieb das Geheimnis der Polizei.

Die Urteilsverkündung brachte für Jan und seine beiden Genossen je acht Monate Gefängnis, die sie im Anschluß an ihre Zuchthausstrafe verbüßen sollten, und für Jan zusätzlich zwei Monate Gefängnis als Strafe für seinen Ausbruchsversuch in Stade.

Die Gefangenen nahmen das Urteil widerspruchslos an.

Als sie abgeführt wurden, schauten Jan, Christoph und Franz einander noch einmal in die Augen. Sie wußten, daß sie in den kommenden Jahren der Gefangenschaft einander nicht mehr sehen würden. Es war etwas Schönes an der Zeit, in der wir zusammenhalten konnten, sagte ihr Blick. Halt dich weiter gut, Genosse …

In dem Zuchthaus zu Celle hatten sich die Lebensbedingungen für Jan nach seinen beiden Fluchtversuchen verschlechtert. Er saß in Einzelhaft und mußte Tüten kleben. Jeden Abend hatte er seine Kleider abzuliefern und jeden Morgen erhielt er sie erst zu einer bestimmten Stunde wieder. Nachts brannte das Licht in seiner Zelle und machte seinen Schlaf unruhig.

Es ging dem Winter zu, und das Gebäude war nur mäßig geheizt. Jan fror des Abends und des Morgens ohne Kleider. Die Gelenke an seinen Händen und Füßen wurden dick und schmerzten.

Der Gefangene wurde dem Arzt vorgeführt.

Gelenkrheumatismus!

Der Arzt hatte die Krankheit festgestellt, aber an Jans Lebensverhältnissen änderte sich nichts dadurch. Noch vermochte er ja Tüten zu kleben mit seinen wehen Händen, und trotz des Fiebers ging er aufrecht.

Jan war zumute, als ob er nun erst wahrhaft gefangen sei. Solange noch die Hoffnung zwischen den Mauern und Gittern wohnt, ist auch dort ein Stück Freiheit. Wenn die Hoffnung schwindet, ist die Gefangenschaft vollkommen.

Der Gefangene vermochte nicht mehr, den Posttag mit der alten trotzigen Gleichgültigkeit verfließen zu lassen. Er dachte an diesen Tag, auch wenn er nicht daran denken wollte. Er wartete auf diesen Tag, auch wenn er sich sagte, daß er nichts bringen werde. Er wußte, wann dieser Tag anbrach; und wenn die Hände des Wachtmeisters wieder leer gewesen waren, starrte Jan wohl ein paar Minuten auf die Tüten, diese einzigen Gefährten in seiner Zelle, und strich sich über die geschwollenen Hände, denen die Arbeit schwerfiel.

Eines Tages ließ er sich eines der vorgeschriebenen Formulare geben und schrieb an seine Eltern.

»Liebe Mutter und lieber Vater! Es geht mir gut. Wenn Ihr wollt, so laßt einmal etwas von Euch hören.«

Jan las die paar Worte dreimal durch, und dann entschloß er sich endgültig, diesen Brief abzusenden.

Am nächsten Posttag kam der Wachtmeister nicht mit leeren Händen. Jan Möller erhielt Antwort. Der Gefangene faltete den Brief, den ersten, den er nach so langer Zeit erhielt, langsam auseinander. Er erkannte die Handschrift des Vaters. Es war die ungelenke Schrift eines Mannes, der Jahrzehnte mit der Hand gearbeitet hat und das Formen von Buchstaben nicht jeden Tag übt.

»An meinen Sohn Jan«, stand darin. »Du hast Deinen Eltern große Schande gemacht. Wir brauchen deshalb keine Post von Dir.«

Jan legte das Papier zur Seite. Keine Post von dir. Keine Post von dir. Wir brauchen keine Post von dir. Keine Post …

Gut. Er würde also nie mehr an seinen Vater und an seine Mutter schreiben.

Jan zerriß den Antwortbrief.

Während er den ganzen Tag Tüten klebte und auch zuweilen des Nachts, wenn er in der erleuchteten Zelle mit Schmerzen an Händen und Füßen auf dem harten Bett lag, dachte Jan jetzt an seine Eltern. Sie wollten von ihrem Kind nichts mehr wissen.

Jan versuchte, sich selbst begreiflich zu machen, warum seine Eltern solche Menschen geworden waren, die von ihrem Kinde nichts mehr wissen wollten. Die Schande fürchteten sie, die Schande. Was war das, Schande? Wer hatte zu urteilen, was Schande sei?

Die Kunden hatten zu urteilen. Die Kunden, die in den Kellerladen am Rathausplatz kamen und Äpfel, Kartoffeln, Weißkohl und Rotkohl kauften. Die Lieferanten hatten zu urteilen, die großen Händler in der Hamburger Halle, zu denen Jans Vater immer vor Morgengrauen fahren mußte, um frische Ware zu holen, und die großen Bauern, die die Äpfel aus den Obstscheunen an den kleinen Grünkramhändler gaben, wenn er ihnen genehm war und sein Gesicht ihnen gefiel. Oh, welche Schande mochte das wohl für Vater und Mutter gewesen sein, als ihr Sohn, der Kommunist und »Untermensch«, gefesselt, als wieder eingefangener Ausbrecher, an ihrem Geschäft vorüber in die Polizeiwache gebracht worden war. Ja, daran hatte Jan noch gar nicht gedacht.

Der Gefangene schaute mit seinen Augen, deren Sehkraft in der Gefangenschaft langsam nachließ, zu dem Nachtlicht an der Decke.

Die Eltern hatten kaum je von sich gesprochen. Aber einmal war er als Kind dabeigewesen, wie die Mutter von der eigenen Jugend erzählte.

Jan hatte keinen Schlaf. Die Hände und Füße schmerzten, und er verbrachte die langen Nachtstunden damit, in den Bildern der Phantasie noch einmal zu erleben, was die Mutter an jenem Abend von der eigenen Jugend erzählt hatte. Vielleicht konnte er in den Erlebnissen ihrer Jugend die Erklärung für das finden, was sie später geworden war.

Mutter Marie Möller war eine gute Erzählerin. Aber sie tat nur selten den Mund auf, um etwas zu sagen, was in ihren Augen unnütze Rede war. Aber dieses eine Mal, des Abends, im Winter, hatte die Mutter mit einer alten Freundin zusammengesessen, die nach langen Jahren zu ihr zu Besuch gekommen war. Der Name der Freundin war Emmi, daran erinnerte sich Jan noch genau. Er wußte auch noch, wie die Freundin ausgesehen hatte, ein wenig kleiner als die Mutter, sehr zierlich, und ihre Sprache war lebhaft gewesen, dabei schien es, als ob jedes ihrer Worte von einer gewissen Furcht zur Eile getrieben werde. Es war in einem Dezember gewesen, um die gleiche Zeit wie jetzt, in den trüben Tagen, in denen sich der Tag so früh zur Nacht neigte.

Jan, damals noch ein Junge, hatte sich neben den Herd gekuschelt und hatte die Ohren gespitzt, als Mutter Marie und ihre Freundin anfingen, von den Erlebnissen und Gefahren lange vergessener Jahre zu erzählen. Jan, der Gefangene, erinnerte sich jetzt daran, was die Mutter damals berichtet hatte, und mit der Erinnerung an die Erzählung der Mutter mischten sich die Erinnerungen an seine eigenen Eindrücke aus Kindheit und Jugend.

Jan und Jutta

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