Читать книгу Der Weg in die Verbannung - Liselotte Welskopf-Henrich - Страница 6
Der Berg schweigt
ОглавлениеDie Sonne stand hoch am Himmel. In der Mittagswärme flimmerte die Luft, als ob sie die Strahlen zu einem goldenen Schleier webte. Über dem Windbruch, der zu Beginn des Frühlings am Hang der Black Hills entstanden war, lag jetzt Ruhe. Aus den Wunden der gestürzten Stämme duftete es nach Harz. Wurzelwerk stand in der Luft; getrocknete Erde und vertrocknetes Moos hingen noch daran. Während die entwurzelten Bäume starben, reckten sich Gräser und Beerenstauden im neu gewonnenen Licht. Käfer krabbelten eifrig ihren mühsamen Weg, und es summte und surrte von Bienen.
Am Rande der Bruchstelle, zwischen schattengebenden Bäumen, stand ein Bär. Nur ein paar Sonnenflecken tanzten durch Laub und Nadeln bis auf seinen braunen Pelz und in seine kleinen Augen. Er blinzelte, setzte sich hin, hob die Vordertatzen und schleckte eine nach der anderen sorgfältig ab. Dann sog er die Luft tief ein, überlegte und schnüffelte wieder.
Schließlich erhob er sich und begann in das Gewirr der gestürzten Stämme einzudringen. Auf seine gewohnte Art benutzte er die langen Krallen zum Klettern und balancierte geschickt von einem Stamm zum andern, während ihm die Sonne jetzt prall auf das Fell schien. Immer entschiedener strebte er einem riesigen alten Baum zu, der sich inmitten der allgemeinen Zerstörung aufrecht erhalten hatte. Der Stamm war dick, die Krone zerzaust, die Rinde rissig. Die Blätter spielten leise mit Wind, Sonne und Schatten, und ringsumher schwärmten Bienen.
Der Bär näherte sich dem Baum und wurde allmählich vorsichtig. Er war nicht mehr jung. Von Erfahrungen gewitzt, umkreiste er sein Ziel, stieg von einem querliegenden Stamm herab und verkroch sich im Gesträuch und zwischen Zweigen. Langsam, im Zickzack, als ob er nicht mehr genau wisse, wohin er wolle, kam er dem Baum näher und näher, und verführerisch duftete ihm Honig entgegen.
In einem tiefen Astloch des Baumes hatte sich ein Bienenvolk angesiedelt. Der Bär wollte den Wintervorrat an Honig rauben, den es sich gesammelt hatte. Als der Braunpelz sich bis zum Stamm angeschlichen hatte, ohne dass die Bienen misstrauisch geworden waren, reckte er sich schnell in die Höhe. Auf den Hintertatzen stehend, griff er mit einer Vordertatze in das Astloch; honigtriefend zog er sie zurück und leckte verzückt daran.
Jetzt wurden die Bienen aufmerksam. Zuerst flogen diejenigen aufgeregt davon, die der Räuber mit der Tatze im Stock aufgestört hatte. Fast zur selben Zeit schwirrten andere herbei, die honigbeladen zu dem Astloch unterwegs gewesen waren, und im Nu musste ein dem Bären unbekanntes Nachrichtenwesen funktioniert haben, denn wie eine Wolke kam das Bienenvolk schon von allen Seiten. Den Tod nicht kennend und daher nicht achtend, drangen die Insekten auf ihren Feind ein und stachen ihn überall, wo sie an seinen Körper gelangen konnten.
Wütend schlug der Bär mit den Vordertatzen um sich und suchte vor allem seine Augen zu schützen. Aber die surrenden kleinen Angreifer waren schnell und geschickt und vergällten dem dicken Braunen die Freude an seinem Raub gänzlich. Er holte sich zwar noch ein zweites und letztes Mal eine Tatze Honig und schleckte schnell, ohne rechten Genuss, unaufhörlich umschwirrt und gestochen. Aber dann zog er sich eilends zurück. Er turnte über die Stämme, sprang trotz seines Gewichts fast so gewandt wie eine Eichkatze davon und gelangte endlich wieder in Wald und Schatten. Die wütenden Bienen verfolgten ihn noch immer. Er lief weiter und brach durch das Gebüsch, dass es krachte.
Aber nach hundert Metern blieb er plötzlich stehen, als ob er versteinert worden sei. Während er einen Teil der Bienen noch hinter sich hatte, war vor ihm der ihm verhassteste aller Feinde aufgetaucht: ein Mensch.
Der Mensch lachte dröhnend. Der Bär glaubte, dass sein Feind brülle, und antwortete mit einem bösen Fauchen, um dem anderen Angst zu machen. Aber das dem Bären widerwärtige Geschöpf lachte weiter. Die Bienen nahmen unterdessen ihren Vorteil wahr und stachen den Braunfelligen von hinten an empfindlichen Stellen. Das wurde dem Bären, der sich in dieser stillen Mittagsstunde auf Genuss und nicht auf Gefahr eingestellt hatte, zu viel. Er brach zur Seite aus und rannte in voller Flucht waldabwärts.
Die beharrlichsten der Bienen verfolgten ihn noch eine Strecke weit. Dann kehrte das Insektenvolk triumphierend zu seinem Stock zurück. Die Toten wurden nicht gezählt.
Der Mensch hatte dem fliehenden Bären nachgeschaut und noch einmal aufgelacht. Als das Raubtier verschwunden war, schlug er sich auf den Mund, sagte leise »Dummkopf« zu sich selbst und verkroch sich, um zwischen Buschwerk und Stämmen hindurch auf den Windbruch am Hang Ausschau zu halten.
Als er sich überzeugt zu haben glaubte, dass außer ihm selbst und dem Getier aller Art nichts und niemand im Wald und auf der Lichtung unterwegs war, regte er sich wieder. Mit aller Umsicht, deren Jäger wie Gejagte in der Wildnis fähig werden, ging er die hundert Meter durch den Wald am Rand des Windbruchs. Er überzeugte sich bei jedem Schritt und jedem Griff, dass er keine Spur hinterließ, und wenn dies doch der Fall war, nahm er sich Zeit, um sie unsichtbar zu machen. Als er den Windbruch erreicht hatte, kletterte er, gewandter noch als der Braunbär, durch das Gewirr der gestürzten Stämme, der dörrenden Baumkronen und des herausgerissenen Wurzelwerks. Auch er strebte zu dem einzigen Baumriesen, der der Gewalt des Wirbelsturms entgangen war. Aber es lag nicht in seiner Absicht, den Bienenstock auszurauben. Er umging den Baum, näherte sich von der dem Astloch abgewandten Seite und besah einen Unterschlupf, den er schon vom Rand der Lichtung her entdeckt hatte. Die Zweige einer Baumkrone, an denen verwelkte und auch noch einige grünende Blätter hingen, die Wurzeln eines anderen Baumes und etliches Gesträuch bildeten eine Art natürlicher Laube. Der Mann kroch darunter, zog das Messer und schnitt Zweig- und Wurzelgewirr etwas aus, so dass er sich freier bewegen konnte. Zwei Ledersäcke, die er bei sich trug, und seine Büchse verstaute er im verborgensten Winkel. Dann prüfte er mit den Augen die Möglichkeit, von seinem Versteck zu dem mächtigen Baum und in dessen Krone zu gelangen, und probierte den Weg, der ihm dafür geeignet schien, auch gleich aus. Hoch oben in der dicht belaubten Baumkrone fand er den gewünschten Sitz auf einem Ast, der immer noch stark genug war, um nicht zu schwanken. Das Schwanken eines Astes hätte etwaige verborgene Feinde aufmerksam machen können. In aller Ruhe spähte der Mann aus seinem Versteck umher, über die Baumwipfel an den Berghängen, über die Prärien am Fuße des Gebirgsstocks, die im Mittagsglast lagen und sich mit ihren grasbewachsenen und sandigen Bodenwellen im Dunst verloren. Gegen Südosten zu erkannte er in der Ferne Ödland und bizarre Felsen.
Die aufgestörten, immer noch unruhigen Bienen waren dem Mann lästig, aber doch nicht mehr als eine ärgerliche Empfindung wert. Er rührte sich nicht, nur hin und wieder nahm sein Blick eine andere Richtung.
Hoch über den Wäldern kreisten zwei Raubvögel.
Die Ruhe des Mittags, die Stille der Wildnis, die Regungslosigkeit der Baumwipfel machten den Mann zufrieden. Allein zu sein und weithin nirgends einen anderen Menschen zu wissen, das war im Augenblick alles, was er sich wünschte.
Er blieb in der Baumkrone bis gegen Abend, so regungslos, als wäre er selbst ein Ast. Als die Sonne sich tiefer neigte, kletterte er behende, ohne Äste zu bewegen, geräuschlos hinab und kroch in sein Versteck.
Hier öffnete er erst den einen Sack, entnahm ihm eine halbe Handvoll getrocknetes und gemahlenes Büffelfleisch und ließ es auf der Zunge zergehen, um es langsam zu schlucken. Dann gestattete er sich einen Schluck Wasser aus dem zweiten Sack. Das war seine Mahlzeit an diesem Tag. Mehr brauchte er nicht, denn er war gut bei Kräften, und sein Körper konnte einige Zeit hindurch zusetzen.
Für eine Viertelstunde streckte er sich aus und ruhte. Dabei dachte er, was er nur äußerst selten zu tun pflegte, an sich selbst und sein bisheriges Leben. Er dachte daran, weil er hoffte, dass sich in der beginnenden Nacht dieses Leben endgültig, für immer, ändern sollte. Nein, das war falsch gedacht. Es konnte sich nicht so schnell verändern. Aber die eine große Wendung, der alles andere folgen sollte, musste in dieser Nacht eintreten.
Sie musste!
Der Mann, der seinen Willen darauf konzentrierte, mochte zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt sein. Wie alt er war, wusste er selbst nicht genau, denn er besaß keinen Geburtsschein, und kein Schreiber in der Welt hatte mit seiner Feder den Moment notiert, in dem dieser Mann als ein Kind das Licht erblickt und zu schreien begonnen hatte. Er kannte weder seinen Vater noch seine Mutter, hatte auch nie Genaueres gehört, wer sie gewesen waren. Seine früheste Erinnerung war der krachende Sturz eines gefällten Baumes. Damals war er erschrocken. Später hatte er sich nicht mehr erschreckt, weder vor den stürzenden Bäumen noch vor dem fluchenden Pflegevater noch vor Prügeln. Eine ganz schwache Erinnerung besaß er daran, dass er einmal seiner Pflegemutter hatte helfen wollen, als diese von ihrem Mann halb zu Tode geschlagen wurde. Der Erfolg war nur der, dass die Pflegeeltern sich vereint auf ihn stürzten und er mit knapper Not sein Leben rettete. Er war also dumm gewesen, das war der Schluss, den er selbst aus dem Erlebnis zog, und jedenfalls verspürte er nie wieder Lust, einem anderen zu helfen. Er lernte sehr früh Bäume fällen, Schnaps trinken, rauchen, fluchen, schießen und mit dem Messer stechen. Einmal beteiligte er sich an dem Überfall auf eine der Postkutschen, die den Ost-West-Verkehr in dem riesigen Land durch die Wildnis hindurch vermittelten. Er war damals kaum dem Knabenalter entwachsen und sah zum ersten Mal in seinem Leben Leute in kostbaren Kleidern und viel Geld in einer einzigen Börse, die er verschwinden ließ, ehe seine Raubkumpane etwas davon merkten. Mit der Börse verschwand er selbst in den Prärien, kaufte sich von einem der Grenzhändler eine vorzügliche Büchse und ging von da an allein und völlig selbständig auf Raub aus.
Sein bedeutendster Fang war einer der berittenen Geld- und Telegrammboten. Dieser Bursche ritt ein schnelles und ausdauerndes Pferd, war auch sehr gut bewaffnet. Aber es gelang dem jungen Räuber, ihn im Wald zu überraschen und zu überwältigen. Zum letzten Mal in seinem Leben hatte er diesem Burschen gegenüber so etwas wie ein Mitgefühl mit einem Menschen empfunden, ehe er ihn umbrachte. Der andere weinte und flehte um sein Leben und sagte, dass er ein Waisenkind sei. Natürlich, was war anderes zu erwarten gewesen, für das gefährliche Botengewerbe wurden fast nur Waisenkinder angestellt, deren Tod keine Scherereien verursachte. Eben darum tat es dem jungen Räuber, der selbst ein Waisenkind gewesen war, einen Moment leid um den Burschen. Aber er überwand sein Gewissen mit einem Ruck und führte den tödlichen Stoß. Obgleich er mit einem großen Teil seiner Beute, den Kreditpapieren, nichts anzufangen wusste, war die übrige Ausbeute noch reich genug. Aber der junge Räuber hatte nicht gelernt, mit Geld umzugehen und noch mehr Geld daraus zu machen. In Spelunken und Schenken, bei Spiel und Schnaps liefen ihm die Münzen durch die Finger wie Wasser, und er schloss daraus, dass es zwar schön sei, reich zu sein, dass es aber nur Sinn habe, Geld zu besitzen, wenn man es in unermesslichen Maßen besaß, die ein Menschenleben hindurch kein Ende nahmen.
Er hatte bei den Truppen der Südstaaten und auch bei den Truppen der Nordstaaten im mehrjährigen Bürgerkrieg Kundschafterdienste angenommen und war im Krieg zum legalisierten Räuber geworden, aber auch das hatte nicht genug gebracht.
Gold musste man finden! Irgendwo, wo kein anderer es suchte und wo man allein Herr wurde über unerschöpfliche Schätze der Erde. Heute in der Nacht, heute in dieser Nacht, musste es ihm endlich gelingen, ein sagenhaftes Goldvorkommen aufzuspüren, zu dem noch kein anderer gelangt war, jedenfalls noch kein Mensch mit weißer Haut!
Der Mann befühlte im Dämmer seines Verstecks und der gebrochenen Helligkeit des sinkenden Tages seine Perücke und lächelte befriedigt vor sich hin. Sein Gesicht war bartlos, denn er rasierte sich sorgfältig; das war der einzige Luxus, sein einziges Steckenpferd, davon ließ er nicht ab. Sonne und Wind hatten seine Haut der eines Indianers ähnlich gemacht. Als Perücke trug er einen Dakotaskalp mit zwei schwarzen Zöpfen. Es war die Kopfhaut einer Frau, die er ermordet hatte. Seine Füße waren mit weichen, elchledernen Mokassins beschuht.
Ein Pferd hatte er nicht bei sich. Er hatte es in der Prärie frei laufen lassen, um jedweden Verfolger zu narren und glauben zu machen, dass er tot sei. Denn in der Prärie auf ein Pferd verzichten, das konnte nach den Vorstellungen der Indianer nur ein Toter oder ein Wahnsinniger.
Für wahnsinnig aber würde ihn niemand halten, der seinen Namen kannte. The Red oder Red Jim oder Red Fox oder wie er auch immer genannt werden mochte, war für seine sichere Hand und seinen sicher rechnenden Verstand in einigen Landstrichen schon berühmt, obgleich er erst zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt sein konnte.
Heute in der Nacht wollte er zum zweiten Mal geboren werden. Das erste Mal war es ihm nur geglückt, als ein armer Teufel auf die Welt zu kommen. Jetzt aber würde er ein reicher Herr werden.
Ein unerschöpflich reicher Herr würde er sein, in diesem zweiten Leben!
The Red rührte sich, kroch aus seinem Versteck und kletterte noch einmal auf den Baum, um Ausschau zu halten. Der Abend war so einsam und still wie der Mittag.
Da ließ sich der Mann wieder herunter und machte sich auf den geplanten Weg. Die Säcke mit Fleisch und Wasser, selbst seine Büchse ließ er in seinem Versteck zurück. Er musste die Hände frei haben. Bedächtig, ohne jede Hast, immer mit der gleichen lückenlosen Aufmerksamkeit und Vorsicht, bewegte er sich zwischen Stämmen, Zweigen, Wurzeln und Gebüsch im Windbruch aufwärts und gewann endlich den Wald. Er befand sich jetzt etwa dreihundert Meter höher als bei seiner Begegnung mit dem Braunbären. Ehe er weiter in den Hochwald eindrang, schaute er noch einmal über den Hang zurück und lauschte angestrengt.
Es war schon dunkel geworden, Fledermäuse flatterten unter einer Baumkrone hervor, schwebten umher und jagten.
Sonst rührte sich nichts.
Der Mann schlich weiter waldaufwärts und hielt sich etwas nach links. Die Gegend war ihm gut bekannt. Er konnte nicht irregehen. Der Waldhang wurde noch steiler, und der Mann nahm sich weiterhin in Acht, um keine Spuren zu hinterlassen, die bei Tag für unerbetene Nachforschungen sichtbar wurden. Zwar hatte er sich überzeugt, dass sich rings im Wald kein Indianerlager mehr befand und auch keine weißen Jäger oder Holzfäller unterwegs waren. Aber vor Überraschungen musste man in der Wildnis immer auf der Hut sein.
Es war schon Mitternacht, als The Red an einer Felswand anlangte, die aus dem Waldhang herauswuchs und die tiefer stehenden Bäume überragte. Oberhalb der Wand setzte der Baumwuchs wieder ein. The Red kletterte am Felsen hoch. Er hatte die Mokassins ausgezogen und eingesteckt und kletterte mit bloßen Füßen. Zehen und Finger einkrallend, zog er sich langsam über die Vorwölbung im Felsen in die Höhe. Er war sehr groß, das kam ihm hier zugute. Mit seinen langen Armen und Beinen konnte er weit umhertasten und auch entfernte Griffe und Tritte erreichen und ausnutzen.
Endlich hatte er es geschafft. Er gelangte zu dem Eingang der Höhle, den er nach der Beschreibung des zahnlosen Ben kannte und durch den er eindringen wollte. Er dachte jetzt nicht mehr daran, dass er ein großer Herr werden und in Saus und Braus leben wollte; er konzentrierte seine Gedanken und seinen Willen nur noch auf den jeweils nächsten Schritt und Tritt.
In der Höhle brauchte er kaum zu befürchten, dass er Spuren hinterließ. Er musste nur nicht allzu gewaltsam mit den sonderbaren Felsgebilden umgehen, die vom Boden auf- und von der Decke herabwuchsen. Ihre Spitzen durfte er nicht abbrechen. Das ließ sich leicht vermeiden.
The Red kam verhältnismäßig schnell voran. Der Höhlenboden senkte sich, und aus der Tiefe des Berges drang das Dröhnen, dessen Natur dem Eindringling schon von dem zahnlosen Ben beschrieben worden war. Tief im Berg stürzte eine Quelle als Wasserfall durch Höhlenarme abwärts. Dieser Wasserfall war es, der dem zahnlosen Ben im Frühling gefährlich geworden war. The Red würde sich geschickter verhalten und sich nicht von dem Wasser hinabreißen lassen. Ein Wunder, wahrhaftig, dass der Zahnlose den Tücken dieser Höhle noch entkommen war. Mehr Glück als Verstand hatte der Schleicher gehabt. Nun ließ er es sich in seiner Handelsspelunke am Niobrara wohl sein und verdiente sein Geld mit weniger Gefahr. The Red hatte dem zahnlosen Esel diesen guten Rat für sein weiteres Leben gegeben. Ben würde sich nie mehr in der Höhle sehen lassen, davon war The Red überzeugt.
Er allein beherrschte dieses Revier.
Der Mann erreichte die Stelle, an der das Wasser aus einem rechter Hand aufsteigenden Höhlenarm herunterschoss, den Hauptgang kreuzte und linker Hand donnernd in die Tiefe hinabstürzte.
The Red machte hier halt, setzte sich an den Rand des Wassers, bückte sich und erfrischte sich mit einem Schluck. Das eiskalte Wasser schmeckte nicht schlecht.
Goldwasser, dachte der Mann.
Der Moment der Ruhe rief sogleich wieder seine Phantasie wach. Er gestattete sich eine Pfeife. Mit großer Ruhe und Überlegung und mit erfrischten Kräften wollte er jetzt ans Werk gehen. Er klopfte die Pfeife aus, so dass der Tabak in das Wasser fiel, hängte sie wieder an der Schnur um den Hals und erhob sich. Zunächst tastete er den Rand des Höhlenarmes ab, der rechter Hand aufwärtsführte und aus dem das Wasser herunterschoss. Das Ergebnis seiner Untersuchung war wenig ermutigend. Die Quelle führte im Frühling noch mehr Wasser als zur Sommerzeit und hatte die Ränder ihres Felsenkanals in Jahrhunderten und Jahrtausenden vollständig glatt ausgewaschen. Keine Hand, kein Fuß konnte daran Halt finden.
Der Mann ließ zunächst ab von jedem Versuch, an dieser Stelle aufwärts zu klettern. Er überschritt im Hauptgang der Höhle den Bach, der hier nur seicht floss, und tastete dann vom anderen Ufer aus wieder an der Felswand hoch, die zu dem aufsteigenden Höhlenarm führte. Auch auf dieser Seite war der Fels glatt gescheuert, in Mannshöhe ohne jede Einbuchtung, ohne jeden Halt.
»Donner, Fluch, Dreck! Misthöhle!« Der Mann schrie nicht, er zischte nur und schlug mit der Faust gegen den glatten Fels. Im Vergleich zu seinem Temperament und seinen sonstigen Jähzornausbrüchen war diese Zornesäußerung nur gering und durchaus mild. Er bemerkte sie selbst kaum, es war eine Art Reflexbewegung gewesen.
Er setzte sich wieder hin und dachte nach.
War dies die richtige Stelle? Der zahnlose Ben hatte da hinaufklettern wollen, das stand fest. Warum, das hatte der schwarzhaarige Esel trotz seiner Angst vor Red Jim allerdings nie recht gestanden. Was er Jim gesagt hatte, waren nur Ausflüchte gewesen. Aber die Tatsache, dass der zahnlose Esel eine so schwierige und scheinbar aussichtslose Kletterei versucht hatte, deutete darauf hin, dass er irgendwelche sicheren oder wenigstens einleuchtenden Nachrichten über Goldvorkommen oben in den Seitenarmen der Höhle, bei der Quelle oder über der Quelle besitzen musste. The Red hielt diesen Anhaltspunkt in Gedanken fest und verglich damit die Worte, die er von einem halb betrunkenen Indianer gehört hatte. Wenn diese Worte überhaupt einen Sinn hatten und sich zusammenfügten, so passten sie eben auf diese Stelle in der Höhle. Vielleicht allerdings legte The Red die Worte und Satzfetzen, die er dem angetrunkenen Häuptling entlockt hatte, nur darum als Beschreibung dieser Höhlenstelle aus, weil er durch den zahnlosen Ben schon etwas davon erfahren hatte. Vielleicht gab es viele andere Stellen in dem verfluchten höhlenreichen Berg, die dieser ähnlich sahen, und The Red war seinem Glück nicht nah, sondern fern und wurde wie ein Tanzbär an der Nasenkette von falschen Kombinationen im Kreise geführt.
Alles in allem genommen, das Erste und Notwendige für ihn war, diesen schwierig zugänglichen Höhlenarm zu untersuchen, aus dem das Wasser herunterschoss.
Er stand wieder auf, zog den Tomahawk und suchte, seine Reichweite mit diesem Werkzeug erweiternd, noch einmal die glattgewaschenen Wände von beiden Seiten des Wassers her ab. Aber er fand nicht die geringste Einbuchtung, auch keinen Felsvorsprung als Anhalt.
So ging es also nicht.
Ging es überhaupt? Konnte ein Mensch da hinaufgelangen?
Er hatte keine Lust, bei einem tollkühnen Versuch von dem Wasser mit hinabgerissen zu werden, wie es Ben im Frühjahr geschehen war.
Noch einmal überlegte The Red alle Worte, die er von dem angetrunkenen Indianerhäuptling gehört hatte. Er wusste jedes einzelne auswendig, jedes halbe Wort, jede Silbe hatte er gehört und behalten. Aber der Indianer hatte in der Dakotasprache gesprochen, und der Wortschatz, den The Red in dieser Sprache beherrschte, war nicht groß und bezog sich nur auf die lebenswichtigen Vorgänge in der Wildnis und zwischen den dort lebenden Menschen. Auf genaue Beschreibungen war er mit seinen Sprachkenntnissen nicht eingestellt, und wahrscheinlich war auch für den Sprachkundigsten die Beschreibung nicht eben genau gewesen.
Vielleicht hatte der schlaue Indianer ihn sogar mit Absicht genarrt und sich betrunkener gestellt, als er war. Wer kannte sich mit einer Rothaut aus? Vielleicht hatte dieser schmutzige Dakota nur aus The Red herausbringen wollen, wo dieser das Gold zu suchen gedachte.
Vielleicht schlich er mit seiner Kojotenbande schon hinter ihm her.
Verdammt!
Es konnte sein, dass ihm, dem Roten Jim, nicht so viel Zeit für ungestörtes Nachforschen blieb, wie er geglaubt hatte.
Himmel, Hölle und Teufel!
Das gleichmäßige Rauschen des Wassers, das Donnern des Wasserfalls in der echowerfenden Höhle konnten den ruhigsten Menschen in kurzer Zeit unruhig machen.
Vielleicht musste man den Fels anspringen, hinaufspringen bis zu der Stelle, an der sich der ansteigende Höhlenarm verengte und ein Mensch sich rechts und links an den glatten Wänden anstemmen konnte.
Ja, das war eine Möglichkeit.
The Red schlug Feuer und betrachtete im Licht eines glimmenden Spans die Umgebung. Der zuletzt von ihm erwogene Plan erschien ihm auch bei Licht ausführbar. Bei Licht war er am ehesten ausführbar.
Daher benutzte der Mann den verglimmenden Span, um einen größeren, mit Teer beschmierten anzuzünden, den er sich ebenfalls mitgebracht hatte. Er legte diesen an den Felsrand des seichten Bachbettes, das den Hauptgang der Höhle kreuzte, und betrachtete dabei seine Umgebung auch auf mögliche Spuren hin, die der zahnlose Ben oder andere Menschen, die schon hier gewesen sein mochten – zum Beispiel Indianer –, verursacht haben konnten. Aber er entdeckte nichts dergleichen. Der Zahnlose hatte an dieser Stelle entweder kein Feuer gemacht oder keinerlei Reste davon herumliegen lassen.
Erstaunlich schien dem Mann bei Licht, dass das Wasser einen Mann über den Hauptgang der Höhle weg in die Tiefe gerissen hatte. Selbst wenn der herabstürzende Bach einen packte, musste er sich doch hier noch halten können, wenn einer kein zappelndes Baby war.
The Red wurde bei dieser Berechnung sehr zuversichtlich. Er konnte versuchen, zu dem ansteigenden Seitenarm hinaufzuspringen, ohne damit gleich das Leben zu riskieren. Er legte alles ab, was nicht nass werden sollte: Feuerzeug, Pfeife, Tabak.
Dann sprang er hoch, und es gelang ihm tatsächlich, sich in dem ansteigenden Höhlenarm mit Knien, Schultern, Händen und Füßen festzuklemmen. Das eiskalte Wasser floss an seinem Körper herab, überspülte ihm den Kopf, drückte gegen seine Schultern. Er hielt sich krampfhaft fest und suchte sich mit gespreizten Knien so an die Wände anzudrücken, dass er mit einer Hand den Fels würde loslassen können, ohne abzurutschen.
Er musste sich beeilen, denn lange vermochte er in seiner jetzigen Lage nicht auszuhalten.
So ... los ... nun mochte es gelingen!
The Red machte die rechte Hand und den rechten Ellenbogen frei und suchte. Aber die Gewalt des Wassers war groß, und die Finger wurden ihm in der Eiseskälte der unterirdischen Quelle schon steif. Er konnte nicht lange untersuchen, er musste sich auch mit dem rechten Arm wieder einstemmen, um nicht allen Halt zu verlieren.
Da, nun war es doch geschehen.
The Red war mit dem linken Knie ein wenig gerutscht, nur um zwei Zentimeter. Aber das hatte schon genügt, um ihn ganz aus dem Halt zu drängen. Er konnte dem Wasser nicht mehr widerstehen; es drückte ihn aus dem Seitenarm der Höhle hinaus. Er stürzte in den Hauptgang der Höhle, rücklings, prallte auf den Fels und griff um sich, um neuen Halt zu finden.
Das war nicht schwer. Seine Hände fassten den Felsen, und triefend nass erhob er sich, um aus dem seichten Bachbett im Hauptgang der Höhle tastend hinauszukriechen auf trockenen Boden.
Dummes Zeug! Dreckshöhle, verdammte!
Der teerbeschmierte Kienspan war erloschen.
Aber The Red hatte sich nicht verletzt, nichts gebrochen, den Schädel nicht angeschlagen. Er war ganz bei Sinnen. Ein wenig fror er, und der Rücken tat ihm vom Aufprall weh, aber damit beschäftigte sich sein Bewusstsein kaum.
Er wollte den Versuch wiederholen.
Zunächst gönnte er sich ein Pfeifchen, um wieder ganz zur Ruhe zu kommen. Er überlegte, ob er noch einen Span riskieren solle, kam davon aber ab, da er sich jetzt auch im Dunkeln zurechtzufinden dachte.
Ein zweites Mal stellte er sich an den verhältnismäßig günstigen Platz, von dem aus er auch das erste Mal den Sprung gewagt hatte. Wieder schnellte er sich empor, kam sogar um eine Handbreit höher als das erste Mal und klemmte sich wieder fest. Diesmal zögerte er nicht, sofort weiterzutasten. Seine gespreizten Knie hielten ihn fest; er legte alle seine wilde Kraft hinein. Den Atem anhaltend, schob er sich, vom Wasser vollständig überspült, ein Stückchen höher und noch ein kleines Stück. Ein Toben der Freude erfüllte ihn. Er kam weiter!
Der Seitenarm der Höhle verengte sich, wurde aber flacher. Der Mann gewann ohne Schwierigkeit, in schnellem Tempo, einen ganzen Meter.
Er musste haushalten mit der Luft, die er vorher tief eingeatmet hatte, denn das Wasser füllte hier den engen Höhlengang aus; der Mann konnte nicht atmen.
Der Seitenarm der Höhle wurde wieder steiler. Fast senkrecht ging es hinauf, und das Wasser hatte dadurch doppelte Gewalt. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte The Red, sich dieser Gewalt entgegen weiter aufwärtszuschieben. Es gelang ihm noch, etwa dreißig Zentimeter Höhe zu gewinnen, aber dann steckte er hoffnungslos fest. Seine Schultern und Hüften waren zu breit, um durch den engen Höhlenarm weiter hindurchzukommen. Mit wütender Anstrengung versuchte er sich zu strecken, voranzuschieben.
Es war vergeblich.
Die Luft ging ihm aus. Wasser drang ihm in Nase und Mund. Er begann Wasser zu schlucken. Die Besinnung verließ ihn, und er wusste nicht mehr, was mit ihm geschah.
Als er wieder zu sich kam, spürte er zunächst nur Schmerzen. Seine Sinne, mit Ausnahme des Schmerzempfindens, funktionierten noch nicht. Er sah nichts, er hörte nichts, er schmeckte nichts, aber es tat ihm alles weh. Es dauerte sogar geraume Weile, bis er sich wieder bewusst wurde, der Rote Jim zu sein.
Der Rote Jim!
Als ihm dieses Bewusstsein seiner selbst von neuem dämmerte, konnte er den zweiten Gedanken fassen, dass ihm irgendein Unglück geschehen war. Irgendein Unglück ...
Er versuchte, sich zu rühren. Die Finger konnte er bewegen, und er spürte jetzt, dass sie nass waren. Die Augen musste er aufmachen. Er war ein Waldläufer und Präriejäger, und er musste die Augen aufmachen, jawohl. Mühsam zog er die Lider hoch. Sein Schädel brummte und schmerzte abscheulich.
Um ihn war es dunkel. Es rauschte um ihn. Entweder rauschte es ihm in den Ohren, oder ...
… oder Wasser rauschte.
Wasser!
Mit einem Schlage wurde dem Roten Jim wieder klar, was geschehen war. Sobald er das Wort »Wasser« denken konnte, war es, als ob überhaupt ein Schleier, der über seinem Gedächtnis gelegen hatte, weggezogen worden sei.
Wo befand er sich jetzt? Das musste er zunächst feststellen.
Aber nicht nur der Schädel, auch Schulter, Rücken, Kreuz, Arme und Beine schmerzten ihn heftig. Vorsichtig versuchte er ein Glied nach dem anderen zu rühren und den Kopf zu drehen.
Es schien, dass er keinen Knochen gebrochen hatte. Beulen hatte er davongetragen, Prellungen. Was hieß das schon! Damit konnte er leicht fertig werden.
Aber wo befand er sich?
Seine immer noch schlecht funktionierenden Augen nahmen einen vagen Lichtschimmer wahr. Oder hatte er Halluzinationen? Sein Schädel und sein Gehirn schienen mehr abbekommen zu haben, als er beim Erwachen geglaubt hatte. Vielleicht hatte er eine Gehirnerschütterung.
Schlecht war ihm jedenfalls. Er erbrach sich, und dabei wurde ihm schwindelig, und er fiel wieder in Ohnmacht.
Bei seinem neuen Erwachen fühlte er weniger Schmerzen, aber es war ihm sehr schwach zumute, jämmerlich schwach. Am liebsten wäre er liegen geblieben, um vollends zu sterben, obgleich ihm bewusst war, dass er der Rote Jim sei und dass mindestens er selbst bedauern müsse zu sterben, wenn ihm auch kein anderer nachjammern konnte.
Die anderen Menschen wurden eine Plage los, wenn der Rote Jim krepierte.
Diese Vorstellung ärgerte den Mann. Die anderen sollten ihn keineswegs loswerden. Sie sollten sich nicht freuen können, dass er nicht mehr da war und dass sie nicht mehr mit ihm zu rechnen brauchten.
Er gab sich selbst einen Ruck; Durst und Hunger hatte er, und er fror. Das Rauschen war nicht mehr in seinem Kopf. Es rauschte über ihm oder neben ihm oder unter ihm.
Wasser rauschte, ja, Wasser, das hatte er doch schon einmal festgestellt! Es war Zeit, dass er sich danach umsah. Er wälzte sich vom Rücken auf den Bauch, rutschte dabei ein Stück zur Seite, weil der rauhe Boden abschüssig war, und tastete mit der rechten Hand ins Wasser.
Gierig trank er.
Dann kroch er wieder zur Seite.
Was das wohl mit dem Lichtschimmer auf sich hatte? Der Schimmerschien keine Selbsttäuschung zu sein, sondern wirklich zu existieren.
Roter Jim starrte nach der matten Andeutung von Tageshelligkeit. Wie von einem Zauber, dem er noch nicht ganz traute, angezogen, kroch er auf dem rauhen Fels neben dem fließenden Wasser zu dem Schimmer hin.
Plötzlich traf ihn etwas Hartes an der Schulter. Er stockte erschreckt und bemerkte gleichzeitig, dass es um ihn herum polterte wie von einem Steinschlag. Verdammt. Er zog den Kopf ein, und er hatte Glück. Es traf ihn kein zweiter Stein.
Fluchen konnte er wieder. So weit war er schon bei sich.
Ängstlich und langsam kroch er weiter, immer in Richtung des Lichtschimmers. Je näher er diesem kam, desto deutlicher wurde die Helligkeit. Da musste es hinausgehen aus dem Berg. Hinaus! Was für ein Glück!
Der Teufel oder die Geister oder sein Stern oder der Berg oder was es überhaupt sein mochte, wovon sein Schicksal abhing, irgend etwas hatte ihm wohlgewollt. Ihm, dem Roten Jim!
Nein, die Welt sollte ihn noch nicht loswerden. Das hatte noch Zeit, und er hatte noch einiges vor.
Nachdem er fünf Meter weitergekrochen war, wurde ihm seine Situation vollständig klar. Er befand sich in einer Höhlung des Berges, aus der der unterirdische Bach ins Freie drang.
Schon wieder hagelte es Steine, die das Wasser aus dem Berginnern mit sich gerissen hatte. Red Jim hatte rechtzeitig die Hände schützend hinter Kopf und Nacken gelegt, so dass ihm von einem dicken Steinbrocken nur zwei Finger angeschlagen wurden.
Gemütlich war das hier nicht. Er musste sehen, wie er hinausgelangen konnte.
Die Öffnung, durch die der unterirdische Bach ins Freie floss, war eng, aber doch nicht so eng wie jener Höhlenarm oben an der Stelle, an der Red Jim mit dem Vorwärtskommen gescheitert war. Wenn er sich mit Gewalt durchzwängte, o ja, wenn er sich mit Gewalt durchzwängte, Kopf, Schultern, Hüften ...
Verflucht, schon wieder ein Steinhagel! Aber diesmal traf es nur die Beine. Unangenehm genug war es.
Der Mann, der mit Kopf und Oberkörper schon im Freien lag und die Beine jetzt nachzog, erkannte, dass es Abend war. Irgendein Abend! Wie konnte er wissen, ob er ein, zwei oder drei oder vielleicht sogar vier Tage im Innern des Berges verbracht hatte.
Der Himmel flammte in Rot und Gold. Die Bäume schimmerten noch in den Strahlen der untergehenden Sonne, die mit ihren letzten Ausläufern bis zu Quelle und Bach heranspielten.
Mechanisch, aus Gewohnheit, schaute Red Jim nach Spuren aus. Aber er konnte keine Fährten entdecken, mit Ausnahme einiger Wildspuren, die für ihn keine Gefahr bedeuteten.
Noch einmal trank er, dann kroch er vorsichtig, sich immer auf einem Geröllstreifen haltend, zwischen das Gebüsch und ließ sich da nieder. Zum ersten Mal fand er Zeit, sich selbst zu betrachten. Wie ein Totengerippe sah er aus, mager, abgefallen. Die Hauptsache aber war, dass er trotzdem lebte.
Er suchte nach seinem Beutel mit Trockenfleisch, fand ihn, wenn er auch nicht mehr trocken, sondern nass war, und nahm etwas von der breiig gewordenen Masse zu sich. Das tat ihm wohl. Dann schlief er ein. Er musste Kräfte sammeln, ehe er wieder etwas unternehmen konnte.
Mit dem Morgengrauen wurde er wach. Nass, wie er immer noch war, fror er erbärmlich und sehnte sich nach der Wärme der aufgehenden Sonne. Er aß wieder ein wenig Trockenfleisch, fing eine Eidechse, die sich hervorgewagt hatte, verzehrte sie und betrachtete dabei die Quelle. Die herumliegenden Steine, zum Teil von bizarren Formen, bewiesen, dass der Steinhagel von Zeit zu Zeit auch aus dem Berg herausdrang. Eine nicht ganz eingestandene Hoffnung bewegte den Mann, als er die Steine einzeln musterte.
Zu seinem Bedauern war kein Goldkorn darunter.
Fürs Erste wollte er den Bach einen Bach und die verfluchte Höhle eine Höhle sein lassen und sich um sein Versteck im Windbruch und um die dort befindliche Büchse und die Vorräte kümmern. Hoffentlich hatten sich nicht schon irgendwelche Spürnasen dort eingefunden.
Auch sein weiterer Plan war dem Roten Jim mit Sonnenaufgang schon klar. Er würde nicht ein drittes Mal versuchen, in den Höhlenarm einzudringen, der sich für ihn als unzugänglich erwiesen hatte. Vielleicht hätte ein solcher Versuch Aussicht auf Gelingen gehabt, wenn er sich Werkzeug und ein oder zwei Kumpane zur Hilfe herangeholt hätte. Aber eben das Letztere wollte er nicht. Er beschloss, sich in sein Versteck zu begeben und von dort aus den Berg ringsumher zu untersuchen, ob nicht noch ein anderer Zugang zu der »verdammten Höhle« zu finden war. Er wollte sich Zeit lassen und sein Unternehmen allein durchführen. Denn wenn er Gold fand, sollte es auch ihm allein gehören.
Der Rote Jim schlich mit wankenden Knien durch den Wald, sehr bedächtig, sehr langsam, sehr vorsichtig. Auch jetzt löschte er die geringste Spur, die er etwa verursacht hatte, sofort aus.
Als er wieder zu dem Windbruch gelangte und die Lichtung mit den gestürzten Stämmen in der hellen Nachmittagssonne, in warmer, flimmernder Luft, liegen sah, atmete er tief auf. Er machte eine kurze Rast, überzeugte sich, dass auch hier nirgends die Spur eines Menschen zu entdecken war, und kletterte und kroch dann zwischen Stämmen, Zweigen, Wurzelwerk und Gesträuch zu seinem alten Versteck. Es war völlig unberührt.
Gut so, gut.
The Red legte sich hin und schlief nach einer kärglichen Mahlzeit vom Nachmittag bis zum Morgen des nächsten Tages. Als er wach wurde, fühlte er sich wesentlich erfrischt.
Er kletterte auf den hohen Baum neben der natürlichen Laube und hielt von dem höchsten der Äste, den er erklettern konnte, ohne dass er schwankte, wieder Ausschau über Lichtung, Wald und die ferne Prärie.
Menschenleer schien alles, ruhig, einsam.
Der Rote Jim wollte den Tag nutzen. Er goss den Wassersack aus, den er leicht neu füllen konnte, nahm diesen und den Sack mit Trockenfleisch, auch Büchse und Munition mit sich und tilgte alle Spuren seines Lagers, was ihn erhebliche Zeit kostete.
Als es endlich so weit war, dass auch er selbst keine Spur mehr von sich fand, schlich er aus seinem Versteck und dem Windbruch hinaus und hinauf in den Wald.
Sein erstes Ziel war hoch oben der versteckt liegende Ausgang eines Höhlenarmes, in dem er im Frühling dem zahnlosen Ben überraschend begegnet war. Miteinander waren sie nach ihrem Zusammentreffen aus der Öffnung herausgestiegen, die sich zwischen Moos und Wurzeln jedem nicht sehr aufmerksamen Auge verbarg. Ihre Unterhaltung war nicht gerade freundschaftlich verlaufen, denn der Rote Jim liebte es nicht, wenn sich ein anderer in seinem Revier herumtrieb, aber letzten Endes hatte er Ben doch nicht umgebracht. Aus den Beschreibungen des Zahnlosen wusste er, dass der Höhlenarm, an dessen Eingang Jim jetzt stand, zu dem unterirdischen Wasserfall führte, der im Frühjahr Ben und vor wenigen Tagen Jim mit sich gerissen hatte. Hier einzusteigen war zwecklos. Auch ein zweiter Arm der Höhle, der nicht weit entfernt im Wald mündete, war für Jim nutzlos, da er sich nach Bens Aussage im Innern des Berges mit dem ersten vereinigte und somit auch auf halbe Höhe des gefährlichen Wasserfalls führte.
Auf diesem Weg war nicht weiterzukommen. Aber wenn es zwei Seitenarme dieser verdammten und gottverlassenen Höhle gab, warum nicht auch drei oder vier? Der Rote Jim machte sich auf die Suche und streifte durch den Wald. Seine Perücke hatte er wieder aufgesetzt.
Bis zum Abend hatte er nichts gefunden, was seiner Aufmerksamkeit wert gewesen wäre. Die monatealten Spuren des indianischen Zeltdorfes, das am Südhang auf einer Lichtung gestanden hatte, interessierten ihn nicht. Er wusste, wohin der Trupp der Oglala, der hier den Winter verbracht hatte, im Frühling gezogen war. Südwärts zum Pferdebach war diese Jagdabteilung gewandert, die sich die »Bärenbande« nannte. Das war in jenen Tagen gewesen, als der Rote Jim mit Ben überraschend in der Höhle zusammentraf. Von diesem Indianertrupp befürchtete The Red nichts. Er glaubte nicht, dass die Bärenbande mitten im Sommer, mitten in der Hoffnung auf die bevorstehenden großen Herbstjagden auf Büffel, ihr jetziges Standquartier am Pferdebach mit Weibern und Kindern verlassen würde. Aber es war möglich, dass andere Stammesabteilungen in die Gegend kamen, in der sich The Red umhertrieb. Die Black Hills waren altes Jagdgebiet der Dakota, und jeder Weiße musste sich hier in Acht nehmen.
Jim übte auch weiterhin bei jedem Schritt die größte Vorsicht. Als die Sonne sank, kletterte er auf einen hohen Baum, nicht weit entfernt von dem früheren indianischen Zeltplatz, und überschaute wieder den Wald und die Prärie, die er mehr und mehr als sein Reich betrachtete.
So vergingen dieser Tag und die folgenden Tage. Red Jim lebte verborgen und suchte, was er nicht fand. Er jagte nicht, sondern nährte sich nur von seinem Vorrat und von Getier, das er greifen konnte, ohne Spuren zu verursachen. Dazu gehörten auch Fische aus dem Bach, der im Innern des Berges entsprang und dann den Waldhang auf der Südwestseite hinabsprudelte. Es waren schon viele Wochen vergangen, als der Mann wieder einmal am Ufer dieses Baches eine Regenbogenforelle roh gefrühstückt hatte.
Dieses Frühstück sättigte ihn und gab ihm vom Magen her ein Gefühl des Befriedigtseins, das er schon lange nicht mehr empfunden hatte. Im Gegenteil, manchmal beschlich ihn eine dumpfe Angst, dass er bei seiner vergeblichen Suche noch verrückt werden müsse. Jeden Tag von früh bis spät auf jeden Tritt und Handgriff aufmerken; jeden Tag von früh bis spät das Gleiche denken: Gold – Höhle – Wasser – Indianer; jeden Morgen mit neuer Hoffnung beginnen und jeden Abend mit wachsender Enttäuschung eine Etappe der Suche abschließen; ein solches Leben konnte auf die Dauer auch einen Starken mürbe machen.
The Red musste sich einmal eine Stunde Ruhe gönnen und genau nachdenken. Er hatte nach dem guten Frühstück die Empfindung, dass ihn eine Ruhepause und ein paar wohlabgewogene Gedanken vielleicht weiterbringen würden als eine erneute wochenlange nervöse Suche. So schlich er sich bachabwärts zu dem Fluss, der sich wie ein Band um den Fuß des Bergstocks zog. Auf dem Geröll, das sich an den Ufern streckenweise angesammelt hatte, konnte er sich leicht fortbewegen, ohne Spuren zu verursachen, und er genoss diese relative Freiheit.
Schön war der Tag.
Er setzte sich hin und blinzelte gegen die Sonnenstrahlen, die durch die Bäume spielten. Dabei begann er nachzudenken.
Der zahnlose Ben hatte im Frühjahr von irgendwoher eine Nachricht gehabt, dass es in den Höhlengängen an dieser Bergseite Gold gäbe. Woher die Nachricht kam, hatte er nicht gestanden. The Red war im Frühling auf gut Glück und weil er gehört hatte, dass es hier verzweigte Höhlengänge gab, einmal in die Gegend gekommen. Die vagen Gerüchte, dass man in den Black Hills Gold finden könne, hatten ihn hergetrieben. Aber weder Ben noch Jim hatten bei ihrer Suche im Frühjahr Erfolg gehabt, und Jim hatte den Zahnlosen energisch und endgültig aus diesem Revier vertrieben. Als Jim sich dann bei den Baracken und Lagern der Bauarbeiter und Jäger an der geplanten Strecke der neuen Pacificbahn sehen ließ, schwirrten dort neue Gerüchte über Goldvorkommen in den Black Hills umher. Eine Dakotaabteilung, die Bärenbande, sollte darüber Näheres wissen. Ein Goldkorn von erstaunlicher Größe befand sich angeblich im Besitz dieser Indianer, die in den Augen des Roten Jim unwissend und nichtsnutzig und nur zur Plage der weißen Waldläufer und Präriejäger erfunden waren. Jim hatte sich auf den Weg zu der Bärenbande gemacht, den Häuptling mit allerhand Schlichen zu einem Becher Brandy überredet und bei dieser Gelegenheit Wortfetzen und Andeutungen zu hören bekommen, mit denen, wie sich zeigte, nicht viel anzufangen war. Vielleicht hatte der angetrunkene Rote auch noch Verstand genug gehabt, um Jim absichtlich zu belügen. Diese Befürchtung kehrte in dem misstrauischen Mann immer wieder. Wer kannte einen Indianer ganz? Jedenfalls klappte die Angelegenheit nicht so, wie Jim gerechnet hatte. Er sagte auf seinen vollen Magen und an seinem sonnigen Platz ohne Hast und wie zur Erholung alle Flüche auf, die er in seinem Räuberleben gelernt hatte, und dachte dann wieder nach.
Was sollte er jetzt unternehmen? Entweder er musste weitersuchen, und das schien ihm nicht vielversprechend, oder er musste sich noch einmal an die Bärenbande, besonders an ihren Häuptling, heranmachen, der auf alle Fälle etwas zu wissen schien. Vielleicht hätte er nicht so schnell aus dem Zelt dieses Mannes verschwinden sollen, als er die Andeutungen gehört hatte. Aber sie schienen ihm damals fürs Erste zu genügen – was sich leider als ein Irrtum herausgestellt hatte –, und außerdem war Jim von dem Argwohn geplagt worden, dass Lauscher um das Zelt schlichen und ihm an den Kragen gehen würden, sobald er wirklich etwas erfahren hatte. Darum war er so schnell wie möglich, mitten in der Nacht, aus den Zelten der Bärenbande ausgerückt.
Man sollte eben nie so voreilig und auf bloße Befürchtungen und Kombinationen hin reagieren. Nun saß er da wie ein dummer und erfolgloser Kerl.
Dabei konnte es nicht bleiben! Er musste etwas unternehmen, um seinen Fehler zu korrigieren. Ein Goldkorn so groß wie eine Haselnuss sollte sich bei der Bärenbande befinden. Verflucht und zugenäht! Und er, der Rote Jim, lief hier herum, ohne die Fährte zu den Goldvorkommen zu haben.
Während der Mann so dasaß und nachdachte, mit sich selbst unzufrieden und über die Zufälle, die ihm nicht günstig waren, verärgert, heftete sich sein Blick unwillkürlich auf eine sandige Stelle im Fluss, die ihm gefiel. Er hätte dort gern gebadet, aber das erschien ihm zu gefährlich. Beim Baden wurde man wehrlos. Die Büchse musste man ablegen, die Munition – nein, er wollte auf dieses Vergnügen verzichten. Aber die sandige Stelle gefiel ihm. In vielen Farben schillerte das zerriebene Gestein unter dem klar dahinfließenden Wasser. An solchen Stellen pflegte man am Sacramento in Kalifornien den Sand zu sieben, um die Goldkörnchen auszuscheiden.
Red Jim erhob sich und ging vorsichtig über das Geröll, bis zu der sandigen Stelle hin. Er kämpfte mit sich, aber dann gab er sich selbst nach, bückte sich und ließ Sand durch seine Finger rieseln. Er wollte sich nicht eingestehen, dass sein Herz in heftigen Stößen klopfte und das Blut durch die Pulse jagte. Seine Schläfenader war angeschwollen. Leise rieselte der Sand durch seine Finger. Sein Blick war stechend darauf gerichtet, wie eine Lanzenspitze, die das Ziel sucht.
Ah!
Red Jim setzte sich auf den rundgewaschenen Felsblock, in dessen Schutz der Sand angeschwemmt war. Er blickte in seine Hand, die er ein wenig zusammengebogen hatte, wie ein Mensch, der mit der Hand Wasser zum Trinken schöpfen will. Zwischen zwei Fingern hatte sich ein winziges Goldkorn festgeklemmt. Ein winziges Sandkorn, ein Staubkorn aus purem Gold! Der Mann starrte unentwegt darauf. Er wusste selbst nicht, wie lange er so saß, unbeweglich, von seinem Fund festgehalten wie ein Stück Eisen von einem Magneten.
Endlich ließ er das Körnchen in seine Brusttasche fallen. Gold! Es stand damit fest, dass sich auch auf dieser Seite des Bergstocks Gold finden ließ, nicht nur auf der Nordseite, von der schon so viel gemunkelt wurde. Er, der Rote Jim, hatte den Anfang zu seinem neuen Leben gefunden. Die Phantasiebilder gaukelten vor seinem inneren Auge; er schloss die Lider, um sie ganz zu genießen.
Da drang irgend etwas an sein Ohr, was ihn störte. Er war sofort ganz wach, horchte und öffnete die Augen.
Was er gehört hatte, wurde ihm nachträglich klar. Ein Pferd hatte auf der Prärie gewiehert. Es konnte sich um wilde Pferde handeln oder um gezähmte, um indianische Reiter oder um Weiße. Wenn Jim jetzt noch von Glück sprechen wollte, dann nur von dem, dass er Büchse und Proviant bei sich trug und sein Versteck geräumt hatte. Er war voll beweglich, ganz unabhängig.
Soweit es die äußerste Vorsicht erlaubte, schlich er sich vom Fluss weg und durch den Wald zu einem Baum, der sich leicht erklettern ließ und gute Aussicht versprach. Gewandt turnte er hinauf und verbarg sich, während er durch das Laub hindurch auf die Prärie spähte.
Himmel, Hölle, Donner und Teufel! Verdammt alles ...
Er erkannte nördlich in der Ferne eine Indianerschar. Noch waren Reiter und Pferde in der Perspektive klein wie Ameisen, aber er vermochte sie jetzt zu zählen und bis zu einem gewissen Grad zu unterscheiden. Vierzig Krieger zu Pferd waren es, außerdem etwa sechzig Frauen und Kinder, alle ebenfalls beritten. Nach einigen Minuten erkannte er bereits, dass unter den Männern fünf die Adlerfederkronen trugen. Das waren ungewöhnlich viele ausgezeichnete Krieger und Häuptlinge in der kleinen Schar. Es musste sich um Dakota handeln.
Wohin strebten sie?
The Red behielt sie im Auge. Wenn seine Blicke hätten vernichten können, wären die Indianer alle vom Erdboden verschlungen worden. Aber der Hass des Goldsuchers war machtlos. Von der Reiterschar, die Jim beobachtete, lösten sich vier Punkte. Vier Reiter waren abgestiegen und verschwanden für den Beobachter im Gras. Er zweifelte nicht, dass es sich um Kundschafter handelte, die den Wald durchspähen sollten, ehe die Wandergruppe ihn betrat.
Nun viel Vergnügen, ihr Kundschafter, strengt eure Augen und Ohren nur an. Euren Feind mit dem Namen The Red findet ihr nicht! So dachte der Mann und blieb unbeweglich.
Nach einiger Zeit entdeckte er von seinem verborgenen Sitz aus einen jungen Indianer mit Scheitel und Zöpfen, der am Ufer des Flusses entlangschlich. Der Bursche hatte die für die Dakota charakteristische elastische Steinkeule zur Hand. Sein Gesicht war nicht bemalt. Er befand sich also nicht auf dem Kriegspfad, sondern hatte von seinem Anführer nur den Auftrag für den üblichen Spähdienst als Vorsichtsmaßnahme in aufgeregten Zeiten erhalten.
Der junge Kundschafter verschwand flussabwärts.
Die Indianerschar draußen auf der Prärie hatte ihr Tempo verlangsamt, war dem Wald und den Bergen aber stetig näher gekommen. Jim konnte nicht bemerken, ob die Kundschafter schon zu dem Trupp zurückgekehrt waren oder nicht. Er schloss aber aus dem Verhalten der Schar, dass sie beruhigende Nachricht erhalten hatte. Sie beschleunigte ihr Tempo wieder und bog schließlich in den Wald ein. Wahrscheinlich strebte sie der Lichtung zu, auf der im Frühling die Bärenbande gerastet hatte. In dem Augenblick, in dem die Reiter zum Wald eingebogen waren, hatte Jim den Indianer an der Spitze der Schar erkannt. Dieser Mann mit der Adlerfederkrone war Sitting Bull oder Tatanka-yotanka, wie ihn die Dakota nannten. Das hatte noch gefehlt! Ebendieser hatte noch gefehlt, um das Missgeschick des Roten Jim vollständig zu machen.
Jim blieb auf dem Baum hocken. Als er die Indianer nicht mehr sehen konnte, lauschte er auf jedes Geräusch. Die knackenden Tritte der Pferde auf dem Waldboden waren in der stillen Wildnis weithin vernehmbar. Als sie verstummt waren, sah Jim bald die dünnen Rauchsäulen aus den Zelten über die Baumwipfel aufsteigen. Die Schar hatte sich, wie er schon vermutete, auf derselben Lichtung niedergelassen, auf der im Frühjahr die Bärenbande gelagert hatte.
Solange sich Dakota überhaupt, und zudem noch einer ihrer hervorragendsten Führer, in solcher Nähe der Höhle aufhielten, musste der Rote Jim verschwinden.
Weg musste er, weg, und das an dem Tag, an dem er den Goldstaub entdeckt hatte.
Vermaledeite, dreckige, unnütze und widerwärtige Indianer!
Er würde gehen, aber er würde wiederkommen, er, so wahr er rote Haare hatte, aber eine schwarze Perücke trug.
Zu Beginn der Nacht verließ er seinen Beobachtungsplatz und schlich sich zunächst nordwärts, um zwischen sich und das Zeltlager des Dakotatrupps möglichst rasch eine möglichst große Strecke zu legen. Als er durch den Wald huschte, immer auf der Hut und immer gewärtig, auf einen Späher zu treffen, den er irreführen musste, hatte er plötzlich eine ganz andere, viel weniger erwartete Begegnung.
Auf einer alten Lichtung, die schon wieder zuwuchs, hatte sich viel Buschwerk angesiedelt, und The Red schwankte, ob er seinen Weg durch diese Büsche hindurch nehmen oder noch mehr Zeit verlieren und sie umgehen sollte. Er entschloss sich, wenigstens ein Stück weit in die Büsche einzudringen, denn der Boden war hier von altem Geröll bedeckt und würde wenig Spuren annehmen. Vielleicht war es gar nicht so schwierig, sich zwischen diesen Büschen und Stämmchen durchzuschlängeln, wie es zunächst scheinen mochte. Er legte sich hin und kroch zwischen die Sträucher, ohne die Zweige zu bewegen, die unter dem Sternenhimmel als Schattenrisse sichtbar waren. Links im Busch nahm er irgendeine im ersten Moment unerfindliche, kompakte dunkle Masse wahr. Ehe er ihre Natur ergründen konnte, kam sie in Bewegung, wie ein Igel, der sich aufrollt, um die Beine zu gebrauchen und zu fliehen. Allerdings war die bewegliche Masse reichlich groß und der Vergleich mit einem Igel daher wenig passend. The Red schnupperte wie ein Hund; er hatte eine gute Nase und roch den Bären. Zur selben Zeit war auch für das Auge schon unverkennbar, was hier davonlief. The Red hätte am liebsten wieder laut hinausgelacht, als er den zottigen Honigschlecker zum zweiten Mal flüchten sah. Aber er hütete sich wohl, seine Stimme laut werden zu lassen. Zudem fühlte er sich dem braunen Räuber, der erschreckt durch den nächtlichen Wald davonlief, auf seine Weise verbunden. Den Zottelbär hatte das Insektenvolk um den Honigraub gebracht, und den Roten Jim vertrieben die Indianer von der erhofften Goldausbeute.
Auch The Red musste fliehen!
Auf einem großen Umweg wollte er sich zum Niobrara begeben, um die Handelsstation des zahnlosen Ben kennenzulernen und sich dort zu informieren, was es in Prärie und Felsengebirge an Neuigkeiten gab.
Als The Red einige Tage unterwegs gewesen war und den ausgedehnten Bergstock halb umkreist hatte, dachte er daran, dass es unter den jetzigen Umständen vorteilhafter wäre, wenn er sich wieder ein Pferd verschaffte. Nicht nur, dass er damit schneller und müheloser vorankam, ein Mann ohne Pferd machte auch einen angeschlagenen Eindruck, der Mitleid oder Misstrauen wecken musste, und beides konnte The Red für seine Zwecke jetzt nicht mehr gebrauchen! Stark und vertrauenswürdig musste er wieder wirken, um seine Ziele zu erreichen.
Er tat sich daher im Norden der Black Hills nach einigen wagemutigen Jägern um, deren Spuren er gefunden hatte, und es gelang ihm, ihnen des Nachts ein Pferd wegzustehlen. Das Tier war nicht erstklassig, aber auch nicht schlecht, und fürs Erste wollte The Red sich damit zufriedengeben. Nachdem er die Bequemlichkeit des Reitens so lange entbehrt hatte, war es ihm ein Vergnügen, wieder einmal im Galopp über die Prärie zu fliegen. Um seine Fährten kümmerte er sich bald nicht mehr. Die Bestohlenen hatte er, das beste ihrer Pferde reitend, abgehängt, und auf der Ostseite der Black Hills einer Dakotagruppe zu begegnen, war für einen einzelnen nicht sonderlich gefährlich, wenn er, wie The Red, die Dakotasprache kannte und seine guten und friedlichen Absichten wortreich nachweisen konnte.
Der Reiter fand eine Reihe von Fährten, die darauf hinwiesen, dass Dakota in diesen Gegenden unterwegs waren, jedoch begegnete er keinem Indianer, auch keinem Weißen. Unbehelligt näherte er sich der kahlen sandigen Hügellandschaft, durch die die Wasser des Niobrara dahineilten. Er hatte es so eingerichtet, dass er auf die Stelle, an der Ben sich vermutlich niedergelassen hatte, nicht vom Westen, sondern vom Nordosten her zukam. Er wollte den Zahnlosen von seinem Abenteuer in den Black Hills nichts ahnen lassen.
Ein Tal lief schräg dem Fluss zu, und in diesem hielt sich der Reiter. Die Fährten häuften sich immer mehr, je näher The Red dem Fluss kam. Es schien hier neuerdings ein lebhafter Verkehr zu herrschen, wobei der Begriff »lebhaft« an den Verhältnissen dieser wilden Prärien gemessen werden musste. Reiterfährten, sogar eine Fährte von Ochsenkarren, liefen durch das leicht zu befahrende Wiesental der Richtung des Flusses zu und auch davon weg.
Die Handelszentrale des zahnlosen Ben musste schon nach den wenigen Monaten, seit denen sie bestand, ein weithin wirkender Anziehungspunkt geworden sein.
The Red beeilte sich nicht.
Wenn hier ein derartiger Verkehr in Gang gekommen war, konnte das nur mit Zustimmung oder wenigstens stillschweigender Billigung der Dakota geschehen sein. Ben musste sich auf irgendeine Weise deren Wohlwollen erkauft haben. Vielleicht lieferte er ihnen Waffen, Tomahawks und Messer mit Stahlschneiden, alte Flinten. Der bestehende Friedenszustand galt ohne Zweifel auch für einen so harmlos daherreitenden armen Teufel wie The Red.
Die Bodenwellen, zwischen denen Jim ritt, traten zur Seite, und es tat sich mit einem Schlage der Blick über die Wiesen auf, die sich sanft bis zum Fluss senkten. Es war hoher Sommer, und die Fluten, die im Frühjahr bis zum Fuße der Hügel spielten, hatten sich auf einige Rinnsale zurückgezogen, zwischen denen breite Sandbänke herausragten.
The Red überquerte das Flussbett und hatte dabei die Vorgänge auf dem jenseitigen Ufer im Auge.
Ben war kein schlechter Unternehmer! Jim erkannte den Schwarzhaarigen sofort, der inmitten einer kleinen Schar handfester Kerle den Befehlshaber spielte. Oberhalb des Flussbettes, das im Frühling von Wasser ausgefüllt sein musste, jetzt aber weithin trocken lag, befanden sich am Südufer eine Anzahl Zelte, dazwischen lagen Stämme, zum Teil schon zugerichtet, und ein Blockhaus war im Entstehen. Beilhiebe erklangen, kurze Zurufe, die üblichen Flüche, eine Art Hausmannskost von kleinen Zornesausbrüchen, die die Arbeit erleichterten. Südwestlich bei den ansteigenden kahlen Sandhügeln lagerten Indianer, ein paar Sioux-Dakota, friedlich daneben gruppierten sich einige noch frei lebende Cheyenne. Alle diese Indianer sahen nicht aus, als ob sie noch Angehörige der großen freien Stammesverbände seien; sie gehörten sicher zu denen, die da und dort bereits abgesplittert waren, denn sie sahen – und das erkannte The Red auch aus der Entfernung – schmutzig und ungepflegt aus und vergnügten sich damit, Branntwein zu trinken. Diesen Branntwein mussten sie von Ben eingehandelt haben. Wofür, das konnte The Red nicht ohne weiteres feststellen, denn die Tauschware, die aus den Händen der Indianer in den Besitz Bens gewandert war, war nicht zu sehen. Sie befand sich sicherlich in den Zelten, die der Handelsmann aufgeschlagen hatte.
The Red beschloss, den Großspurigen zu spielen. Diese Rolle fiel ihm am leichtesten. Sie entsprach seinem Charakter. Sobald er den Fluss überquert hatte, lenkte er auf Ben zu.
»Hallo, alter zahnloser Schleicher!«
Ben nahm die Pfeife aus dem Mund und spuckte. »Ahoi, du verirrter Bandit! Lässt du dich wieder einmal bei einem Freunde sehen?«
»Gut installierter Freund bist du geworden, mein zahnloser Bekannter! Ich bin es gewesen, der dir geraten hat, dich hier niederzulassen. Guter Rat gewesen! Was gibst du mir dafür?«
»Möchte dich lieber in Kanada wissen als hier. Aber wenn du nun schon da bist – lass uns einen Drink zusammen nehmen!«
»Als Anfang mag das angehen. Ich komme!«
The Red stieg ab, führte sein Pferd zu einem Platz, wo das Gras verhältnismäßig saftig wuchs, etwas abseits der anderen Tiere, und machte es fest. Dann schlenderte er wieder zu Ben hin und betrachtete die Arbeit am Blockhaus, dessen starke Wände sich schon bis zu halber Höhe des künftigen Hauses erhoben.
»Donnerschlag, Ben, wo hast du denn das starke Holz her?«
»Vom Himmel ist es gefallen.«
»So wird’s sein. Du hast dir ein paar kräftige Kerle zugelegt.«
»Ohne die geht’s nicht.«
»Flößer und Holzfäller.«
»Flößer und Holzfäller. So ist’s.«
»Komm, gib mir mal ein paar Patronen für meine Büchse. Die Sorte musst du führen, wenn du als Handelsmann etwas taugst.«
Ben warf einen Blick auf die Waffe, für die Munition verlangt wurde. »Das Kaliber führ ich nicht.«
The Red warf die Lippen auf. »Ben, ich sag dir, lass nicht so viele unnötige Worte zwischen deinen zahnlosen Kiefern raus! Gib das Zeug her, was ich brauche, du hast es. Ich muss doch nicht dein Feind werden, an der Grenze hier.«
Ben knurrte, aber er fügte sich. »Na, dann komm!«
Die beiden gingen in eines der Zelte. Ein paar kleine Kisten waren hier gestapelt.
»Wie hast du das gemeint? Mein Feind werden?«, fragte Ben unlustig, nachdem er sich mit The Red zusammen niedergelassen hatte. »Verschenkt wird hier nichts.«
»Aber meine Freundschaft ist teuer, mein Lieber, und meine Feindschaft käme dich noch teurer zu stehen. Also rücke heraus, was ich brauche! Das ist mein letztes Wort. Wenn’s dir nicht passt, kann ich auch gehen.«
»Mann, bleib friedlich. Um ein paar Patronen ist mir’s nicht. Es geht mir ums Prinzip.«
»Das Prinzip erklär ich dir gleich, du Halsabschneider. Du bezahlst meinen guten Rat, durch den du ein reicher Mann wirst, und bezahlst meine Freundschaft. Wenn sie auch teuer ist, so sollst du sie doch billig haben, weil du nun mal ein zahnloser Esel bist und bleibst und das Höhere nicht verstehst. Also ich bekomme heute und immer von dir, was ich als schlichter Präriejäger brauche, und dafür kannst du auf mich rechnen. Heute brauche ich Munition, morgen ein Pferd, übermorgen vielleicht eine neue Büchse, ein gutes Messer und vorgestern schon neue Nachrichten.«
»Du hast dir das schön zurechtgelegt. Was heißt das, ich kann auf dich rechnen? Willst du helfen, das Blockhaus bauen?«
»Höre, Ben, wenn du wahnsinnig wirst, muss man dich einsperren oder erschießen. Du kannst auf mich rechnen, das heißt, ich mach dich und deinesgleichen nicht kalt, treibe euch nicht sämtliche Pferde weg, verrate euch nicht an andere Banditen und gebe dir hin und wieder einen guten Rat. Verstanden? Und jetzt rücke endlich die Munition heraus, oder ich werde ungeduldig.«
Ben gehorchte.
»So. Das wäre in Ordnung. Was hast du zu essen?«
»Waschbärenfilet.«
»Von mir aus. Gib her.«
Ben beeilte sich, den Gastwirt zu spielen, und The Red schmauste. Als er satt war, steckte er sich die Pfeife an. Ben wollte das Zelt verlassen, um nach dem Rechten zu sehen.
»Halt, halt, mein Lieber! Widme dich noch ein wenig deinem so selten sichtbaren Freund Red Jim.«
»Was denn noch? Bist du unersättlich?«
»Nach Neuigkeiten, ja. Was erzählen denn deine Indianer, die du da draußen mit dem schlechtesten Branntwein abgefertigt hast, der je zwischen Prärie und Gebirge gerochen wurde?«
»Feines Getränk, Mann, feines Getränk! Mir scheint aber, du hast eine schlechte Nase. Was sollen die übrigens erzählen? Sie wissen selbst nichts. Vorläufig herrscht Friede im Land.«
»Das ist alles?«
»Ich weiß schon, wonach du schnüffelst, rothaariger Bandit. Aber wenn ich was von Gold gehört hätte, würde ich es mir selber längst geholt haben.«
»Wenn das so einfach wäre.«
»Eben darum, weil’s nicht einfach ist, hast du auch noch nichts gefunden.«
»Du weißt immer mehr über andere Leute als diese von sich selbst. Wer sagt dir, dass ich nichts finde?«
»Siehst nicht danach aus!«
»Das ist auch gut so. Aber hast du nichts über Sitting Bull gehört?«
»Den roten Zauberkünstler? Nichts, was der Rede wert wäre. Aber ...« Ben stockte und schluckte.
»Aber?«
»Komm, ich muss mal nach dem Blockhaus sehen!«
The Red überlegte einen Augenblick, dann gab er nach. Man musste sich flexibel zeigen.
Ben und Jim gingen ohne Eile zu dem Neubau, an dem noch zwei Mann arbeiteten. The Red betrachtete sich das Haus, wie es entstehen sollte, ein rechteckiges starkes Blockhaus, dessen Türöffnung nach Osten ging und dessen Wände keine Fenster, sondern nur Schießluken haben würden. An der hinteren Breitseite sollte offenbar noch ein kleiner Anbau entstehen.
»Nicht übel, lieber Ben. Und wie willst du zu Wasser kommen, wenn die Roten dich mal belagern und mit Brandpfeilen schießen?«
»Man kann innerhalb des Hauses auf Grundwasser graben.«
»Das lässt sich hören. Na, kümmere dich noch ein bisschen um diesen Bau. Und überleg dir, wie es mit einem geheimen Fluchtweg zum Fluss wäre!«
Ben stutzte. »Wieso denn Fluchtweg? Im tiefsten Frieden? Ich bin schon ein wohlbekannter Handelsmann!«
»Das seh’ ich. Wer hat dir das Geld dazu gegeben?«
»Was geht das dich an?«
»Gar nichts. Will auch keins haben. Macht nur abhängig. Aber was den Frieden anbetrifft – du hast Rosinen im Kopf, Mann!«
»Wieso?« Ben wurde ängstlich. »Hast du was gehört?«
»Wenn ich darauf immer warten wollte. Selbst muss man denken, alter Esel, im Voraus kombinieren!«
»Aber warum soll denn geschossen werden?!«
»Du denkst doch nicht, dass die Dakota das Land behalten werden, in dem sie jetzt ihre Büffeljagden abhalten?«
»Was kümmert mich das?«
»Sehr viel. Wenn es den Dakota an den Kragen geht, werden sie gehässig, darauf kannst du dich verlassen.«
»Na aber ... na ja ... Aber damit hat es doch noch Zeit, und dann mache ich mich eben rechtzeitig davon. Vielleicht schlage ich noch etwas auf die Preise auf; man muss den Weizen schneiden, wenn er gerade reif ist, und nicht zu spät. Komm, wir setzen uns noch ein bisschen ins Zelt!«
»Meinetwegen!« The Red lachte in sich hinein.
Als die beiden wieder im Zelt saßen, fragte Ben unvermittelt: »Kannst du mir eine größere Summe geben?«
»Ich? Dir? Wozu denn?«
»Bevor es Krieg gibt. – Wenn ich schnell noch etwas einkaufe, kann ich noch ein paar Geschäfte machen. Und im Krieg würden die Dakota Flinten sehr hoch bezahlen.«
»Halsabschneider bist du. Wende dich doch an Bacerico.«
»Wer ist denn das?«
»Einer in Mexiko. Aber den findest du doch nicht. Lassen wir das. Mit barer Münze ist jetzt nichts zu machen, kriegst du nicht von mir, Lieber. Aber Ratschläge, gute Ratschläge kannst du haben.«
»Nichts als Worte! Schade. Du bist ein Gauner.«
»Ein kluger Gauner, du zahnloses Geschöpf. Hast du mal einen Narren gesehen, der mit einem Cheyenne zusammen in der Prärie herumreitet, um Häuptlinge zu malen?«
»Mann, den verrückten Morris?«
»Ja. Du kennst ihn? Hast du den bei dir gehabt und einfach wieder laufenlassen?«
»Er hat gut bezahlt.«
»Die paar Kröten! Hättest ihn ausnehmen sollen, dann wäre jetzt Geld genug in deinem Beutel.«
»Du meinst ... du meinst doch nicht etwa ...«
»Ich meine nicht, ich sag’s nur so.«
»Das ist aber gefährlich.«
»Für mich nicht.«
»Für dich ... es geht doch um mich.«
»Lassen wir das Spintisieren, denn der Herr Maler mit dem dicken Beutel ist leider nicht mehr da. Sonst was Neues?«
»Eine wilde Geschichte!«
»Und die wäre?«
»So’n Hirngespinst. Bei den Dakota soll es eine Gruppe geben, die Gold hat, und der Häuptling soll von ungeheuren Schätzen wissen!«
The Red spitzte die Ohren. »Was für ein Häuptling?«
»Ist ja doch regelmäßig Unsinn, was erzählt wird. Ich hab mir den Namen nicht gemerkt. Aber man sagt, der Stamm hat ihn ausgestoßen, weil er im Suff geschwatzt hat. Sein Sohn soll ihn in die Verbannung begleitet haben.«
»Der Junge ist doch erst zwölf Jahre alt.«
»Wa ... was? Zwölf Jahre? Du kennst ihn also, du Bandit?«
Red schalt mit sich selbst. Wie hatte ihm das herausfahren können! Ben brauchte von seinem Erlebnis im Zeltdorf der Indianer nichts zu wissen. »Kenne ihn nicht!«, log er.
»Aber die Geschichte wird doch schon an allen Lagerfeuern erzählt.«
»Dann brauchst du mich nicht erst danach auszuhorchen. Haben sich die beiden nicht mal bei dir sehen lassen?«
»Was sollten sie denn hier bei mir?«
»Verbannte pflegen Munition zu brauchen.«
»Das ist wahr.«
»Wenn sie also mal herkommen ...«
»Möchtest du sie wiedersehen?«
»Kennenlernen!«
»Wiedersehen. Du kennst sie doch schon.«
»Dummes Zeug. Dann brauchte ich nicht bei dir nach ihnen zu fragen.«
»Oder vielleicht gerade.«
»Eben nicht. Ich sage immer die Wahrheit, merk dir das!«
»So siehst du aus, alter Räuber. Da, ich schenke dir eine Prise Tabak.«
»Wird angenommen.«
Das Gespräch verlor sich in Belanglosigkeiten.
Als der Tag zu Ende ging und es dunkel wurde, begab sich The Red zu seinem Pferd, um bei diesem zu schlafen. Die Nachrichten, die er zuletzt erfahren hatte, beschäftigten ihn sehr. Wenn der Häuptling, um den es sich hier handelte, wegen seines angetrunkenen Zustandes und seiner undeutlichen Plapperei von seinem Stamm geächtet worden war, so bestand Aussicht, sich noch einmal an ihn heranzumachen. Ein aus einem frei lebenden Stamm ausgestoßener Indianer war das unglücklichste Geschöpf der Welt, denn die freien Indianer gehörten in ihren Verbänden aufs Engste zusammen, enger, als ein Weißer es überhaupt nachempfinden und verstehen konnte.
The Red schlief nur wenige Stunden, und als er vor Morgengrauen wach wurde, ritt er fort, ohne sich von Ben zu verabschieden. Er ritt in südwestlicher Richtung und strebte zu den Lagern der Bahnvermessungsarbeiter. Vielleicht kursierten dort fassbarere Gerüchte über den Aufenthalt des Verbannten, den aufzuspüren The Red entschlossen war. Die Ereignisse, die zu der Katastrophe für den Häuptling geführt hatten, hatten sich zwischen Nord- und Südplatte am Pferdebach abgespielt. The Red wusste sehr genau darum.
Wie gut, dass er damals sofort aus dem Häuptlingszelt entflohen war! Aus dem, was er jetzt von Ben erfahren hatte, war zu schließen, dass es wirklich Lauscher gegeben hatte. Wer würde sonst die Anklage gegen den Häuptling erhoben haben?
The Red trieb sein Pferd an. Nach gewissen Anzeichen der Vegetation auf der ausgedörrten Prärie und nach der Bahn der Sonne zu urteilen, neigte sich der Hochsommer schon zum Herbst. Im Winter war das von Schnee bedeckte, den Stürmen preisgegebene Hochland zu unwirtlich. Was The Red im Sinn hatte, musste er möglichst noch vor dem ersten Schneefall ausführen.