Читать книгу Liebesglück unter italienischer Sonne - Un Amore Italiano - Liza Moriani - Страница 7
Eine Frühlingsliebe am Comer See
ОглавлениеAls Petra das Foyer des kleinen Hotels in Griante betrat, war sie zunächst ein wenig überrascht. Von außen sah das graue Gebäude nämlich ziemlich in die Jahre gekommen aus – und sie war beim ersten Anblick sogar ein wenig enttäuscht gewesen –, doch hier im Inneren entfaltete sich eine Behaglichkeit, die die junge Frau so nicht erwartet hatte. Ein kleines, gemütliches Sofa direkt neben dem Eingang, ein runder Tisch, auf dem eine leicht vergilbte Häkeldecke lag und ein üppiger Blumenstrauß in einer Bleikristallvase stand, eine Theke mit einer prall gefüllten Bonbonniere und einer altmodisch anmutenden Glocke, Petra fühlte sich sogleich ein wenig heimisch. Alles nicht neu, aber mit Liebe ausgesucht – fast so, wie es früher einmal bei ihrer geliebten Oma Lotta gewesen war.
Petra wartete eine Weile im Foyer, weil kein Portier zu sehen war, und rief leise „Hallo“. Als jedoch auch auf ihr Rufen niemand erschien, um ihr den Zimmerschlüssel auszuhändigen und ihre Anmeldung aufzunehmen, drückte sie die Glocke, die einen hellen, freundlichen Ton von sich gab.
Es dauerte noch einmal eine kleine Ewigkeit, dann aber erschien er, der Rezeptionist, ein Mann um die 70 mit schlohweißem Haar. „Buon giorno, signora, buon giorno. Come sta?“, begrüßte er sie überschwänglich. „Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie habe warten lassen, ich musste erst noch meine Frau versorgen.“
„Buon giorno“, erwiderte Petra. „Ich habe ein Zimmer bei Ihnen bestellt. Für zehn Tage. Ich würde sehr gerne einchecken, mein Name ist Petra Weißenburger.“
„Aber sicherlich, Signora.“ Der alte Herr strahlte über das ganze Gesicht. „Ich habe Sie schon erwartet und freue mich, dass Sie gut bei uns in Griante angekommen sind. Herzlich willkommen! Hatten Sie eine gute Fahrt?“
Petra wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, doch mehr als ein „Ja“ kam nicht über ihre Lippen, denn der Alte fiel ihr sogleich ins Wort: „Pietro, sagen Sie Pietro zu mir. Das sagen hier alle. Ich habe ein wunderschönes Zimmer für Sie reserviert – mit Blick auf unseren wundervollen Comer See. Folgen Sie mir doch, den Rest der Anmeldung können wir auch morgen noch erledigen. Sie möchten sich doch sicherlich erst ein wenig frisch machen?“
„Aber gerne doch“, antwortete Petra und ihr ging gleich durch den Kopf, dass man sich hier sicherlich recht wohlfühlen konnte. In dieser Annahme fühlte sich die junge Frau auch gleich bestätigt, als Pietro hinter seinem Tresen hervortrat, ohne eine weitere Aufforderung Petras Koffer nahm und ihr zuwinkte, ihm zu folgen.
Im Aufzug drückte er Petra den Zimmerschlüssel in die Hand und den Knopf, der den Aufzug in den zweiten Stock bringen sollte. „Der große hier“, Pietro zeigte auf den antiquierten Bartschlüssel, „der ist für Ihr Zimmer. Und dieser hier unten, der ist für die Eingangstür an der Rezeption. Die ist von morgens 6 bis abends 23 Uhr durchgängig besetzt. Es sei denn, ich bin gerade bei meiner lieben Frau.“ Er schmunzelte. „Und nur wenn Sie später kommen oder vor 6 Uhr das Haus verlassen möchten, benötigen Sie den Schlüssel wirklich. Frühstück servieren wir Ihnen unten in unserem kleinen Speiseraum oder auch auf der Terrasse vor dem Restaurant. Und wenn Sie gerne einmal ausschlafen möchten“, er zwinkerte ihr vielsagend zu und seine Augen, denen man ansah, dass sie einem wahren Charmeur gehörten, blitzten dabei freundlich auf, „dann kann ich Ihnen das Frühstück auch schon einmal per Zimmerservice oben in Ihrem Zimmer servieren lassen.“
Auch der Aufzug gehörte nicht mehr der neuesten Generation an, denn es dauerte sicherlich zwei Minuten, bis der zweite Stock erreicht war. „So, da sind wir“, kommentierte Pietro, als der Aufzug endlich stoppte.
Nur einen Augenblick später befand sich Petra in einem wunderschönen, mit einem Himmelbett ausgestatteten Zimmer. Pietro hatte sich, nachdem er ihren Koffer mit einer Leichtigkeit, die man ihm in seinem Alter gar nicht mehr zugetraut hätte, auf die Kofferablage bugsiert hatte, alsbald mit einer Verbeugung verabschiedet und ihr noch einen wunderschönen Tag gewünscht. Sollte sie einen besonderen Wunsch haben, so möge sie sich stets vertrauensvoll an ihn wenden. Dann hatte er mit dem Satz „Pietro und Petra, wie schön“ die Tür hinter sich ins Schloss gezogen und Petra allein zurückgelassen – mit einem Ungetüm an Koffer, einer Leihgabe ihrer Mutter, der ihre Habe für die nächsten Tage barg.
Bevor Petra dieses Ungetüm auspacken wollte, schaute sie sich erst einmal um. Das Zimmer war nett hergerichtet worden. Wie schon unten im Foyer war das Mobiliar nicht mehr ganz neu, doch alles wirkte sauber und sehr gemütlich: Neben dem Himmelbett gab es einen Ohrensessel, einen kleinen Tisch, auf dem eine Schale, gefüllt mit leckeren Südfrüchten, stand, und einen alten Bauernschrank, der die junge Frau an den Schrank in der Diele ihrer Großmutter erinnerte. Wie oft hatte sie sich dahinein als Kind beim Versteckspiel vor ihren Cousinen und Cousins bei Familienfeiern geflüchtet! Das waren tolle Zeiten gewesen, doch Lotta, Petras Großmutter, war schon viele Jahre tot.
Ihr Blick ging weiter durch das Zimmer: Ein Fernseher an der Wand und ein altes Röhrenradio auf der Fensterbank komplettierten die Einrichtung. Petra musste schmunzeln, als sie das Radio ein wenig näher in Augenschein nahm. Ob dieses alte Teil wohl überhaupt noch funktionierte? Sicherlich spielte das Radio nur Lieder aus den 50er-Jahren, denn jünger war es mit Sicherheit nicht. Allerdings würde sie wohl weder den Fernseher benötigen noch das Radio, verstand sie doch gar kein Italienisch. Und außer einem freundlichen Buon giorno, einem kräftig r-gerollten Arrividerci und einem netten Ciao sprach sie auch kein Wort, was ihr übrigens in Bezug auf ihre bevorstehenden Urlaubstage sehr leidtat, aber eben nicht zu ändern war.
Dabei waren dies hier eigentlich gar keine richtigen Urlaubstage, überlegte Petra, eigentlich glich das Ganze – ihr überstürzter Aufbruch von zu Hause, die Fahrt von Memmingen hierher an den Comer See – eher einer Flucht. Ja, das war es tatsächlich, eine Flucht. Eine Flucht aus ihrem alten Leben, eine Flucht aus der Traurigkeit, die sie in den letzten Wochen und Monaten so oft verspürt und die sie gefangen gehalten hatte. Nun aber hatte sie einen Zufluchtsort gefunden, einen Ort, an dem sie Kraft schöpfen und sich auf ihr neues Leben einrichten konnte, so hoffte Petra jedenfalls.
Die junge Frau ging zur Balkontür, öffnete diese und die dahinter liegenden Fensterläden und ihr Blick erfasste genau das, was sie zu sehen erhofft hatte – den Comer See in seiner vollen Schönheit, und das direkt von ihrem Hotelzimmer aus. Der Alte von der Rezeption hatte also tatsächlich nicht zu viel versprochen – dieses Zimmer mit seinem Blick auf den See war tatsächlich wunderschön.
Petra atmete tief durch und genoss die nachmittäglichen Sonnenstrahlen, die auch jetzt schon, Ende Mai, sehr kräftig waren. Das blaue Wasser, das sich fast bis zum Horizont erstreckte, die kleine Stadt am anderen Ende des Ufers, die Berge – Petra fühlte sich in diesem Moment so glücklich wie schon lange nicht mehr. Wenn sie sich die Landkarte, die sie gestern Abend studiert hatte, um zu sehen, wie sie von Memmingen aus fahren musste, in Erinnerung rief, dann musste die kleine Stadt am gegenüberliegenden Seeufer Bellagio sein. Hier hatte sie als junges Mädchen von zehn oder elf Jahren mit ihren Eltern zwei- oder dreimal Urlaub gemacht und schon damals die gelassene Heiterkeit der Italiener bewundert.
Genau aus diesem Kindheitsgefühl heraus hatte sich Petra jetzt wieder für einen Urlaub am Comer See entschieden. Sie hoffte so sehr, hier ihre eigene Leichtigkeit wiederentdecken zu können. Eine Leichtigkeit, die sie in den letzten Jahren einfach verloren hatte.
Allerdings hatte sie sich von ihrem kleinen Gehalt und aufgrund der vielen teuren Ausgaben der letzten Monate kein Hotelzimmer in Bellagio leisten können und deshalb über ein Online-Buchungsportal dieses hübsche Zimmer in Griante gebucht. Wenn sie es jetzt so recht überlegte, war es schon etwas erstaunlich, dass sich der alte Pietro tatsächlich noch auf so eine neumodische Buchungsmöglichkeit wie dieses Onlineportal eingelassen hatte. Zumal der Computer, den Petra hinter dem Tresen an der Rezeption gesehen hatte, ähnlich alt wie Methusalem sein mochte – zumindest aber sicherlich aus dem letzten Jahrtausend stammte. Dass Pietro damit tatsächlich ins World Wide Web gelangen konnte, bezweifelte Petra arg.
Jetzt aber hatte sie nur noch einen Wunsch: ab unter die Dusche, das herrlich erfrischende Wasser auf der Haut spüren und dann einen Happen essen. Sie war seit den frühen Morgenstunden unterwegs und hatte nur an einer der Autobahnraststätten kurz hinter Bellinzona einen Espresso im Stehen getrunken. Zum Essen war sie noch gar nicht gekommen, der Appetit fehlte, Petra war viel zu aufgeregt gewesen – schließlich war das hier ihr erster Urlaub als Singlefrau seit vielen Jahren und sie hatte sich schon vor der Abreise in Memmingen eingestehen müssen, dass sie ziemlich nervös war. Obwohl es dafür eigentlich gar keinen Grund gab. Sie fuhr weder alleine nach Thailand noch hatte sie eine Dschungelexpedition geplant – ihr Ziel war ein kleines Hotel in Italien ...
***
Eine halbe Stunde später stand Petra frisch geduscht und umgezogen im Foyer des Hotels, von Pietro war wieder nichts zu sehen. „So sieht es also aus, wenn die Rezeption rund um die Uhr besetzt ist“, schmunzelte sie leise vor sich hin, war aber andererseits auch nicht sehr traurig darüber, jetzt gerade kein Gespräch mit ihm führen zu müssen.
Als sie aus der Hoteltür trat, zog die erste leichte Abenddämmerung über den See. Die Sonne senkte sich am Horizont über dem Wasser und es war längst nicht mehr so warm draußen wie noch am Nachmittag, als Petra angekommen war. So war sie froh, nun eine leichte Strickjacke dabeizuhaben, ein Mitbringsel von der letzten Reise, die sie mit Frank unternommen hatte.
Petra seufzte leise. „Frank.“ Nein, an den wollte sie gerade heute Abend beim besten Willen nicht denken. Der Urlaub sollte einen schönen Auftakt haben ... und dazu würden die Gedanken an ihren Ex sicherlich nicht beitragen.
Bei der Ankunft hatte Petra bereits aus dem Augenwinkel heraus das kleine Restaurant auf der gegenüberliegenden Seite des Hotels wahrgenommen. Hinter einer alten Steinmauer waren in einem Gastgarten kleine Tische eingedeckt und die ersten Gäste hatten Platz genommen. Alles wirkte hier unter den alten Platanen, die ihre ersten sattgrünen Blätter wie einen Schirm bereits ausgebreitet hatten, sehr gemütlich und verströmte das südländische Flair, das Petra sich für ihre paar freien Tage erhofft hatte – sogar so weit oben im Norden Italiens.
Gerade als sie auf einen der freien Tische zusteuern wollte, stellte sich Petra ein junger Kellner in den Weg. „Buona sera, meine Dame“, sagte er galant. „Kommen Sie bitte mit, ich habe einen ganz besonderen Tisch für Sie.“
Petra nickte dankbar und folgte dem jungen Mann, der ihr einen Platz direkt an der Ufermauer mit Blick auf das Wasser zuwies.
„Hier haben Sie einen schönen Blick über den See“, ergänzte er, nachdem sie sich gesetzt und er ihr die Speisekarte überreicht hatte. „Darf ich Ihnen bereits ein Getränk servieren?“
„Bitte bringen Sie mir ein Glas Vino della casa und eine Karaffe Wasser“, antwortete Petra.
Der Kellner nickte und verschwand.
Petra ließ den Blick über den See schweifen. Wie schön es hier war! Das Wasser, das sie leise an die Mauer plätschern hörte, der Blick auf die Stadt am anderen Ufer ... und natürlich die seichten Hügel, die sich ihrem Auge erschlossen – traumhaft.
Inzwischen war der junge Kellner mit den Getränken und einem Gruß der Küche zurückgekehrt – Bruschetta, so wie Petra sie liebte, mit frischen Tomaten, einem Hauch Knoblauch, jeder Menge Olivenöl, einigen Blättchen Basilikum und fein geschnittenem Parmesankäse. Ein wahrer Gaumenschmaus. So hatte sich Petra den Auftakt gewünscht – ein gutes Essen, ein Glas Rotwein – dieser Abend schien perfekt zu werden.
Als Petra dann die Hauptspeise – ein Risotto alla milanese – verzehrt und ein zweites Glas Rotwein bestellt hatte, da kamen sie allerdings doch, die Gedanken, die sie so sehr hatte vermeiden wollen an diesem ersten Abend. Wie dunkle Gewitterwolken nach einem schönen Sommertag schlichen sie sich in ihr Bewusstsein und holten aus den Tiefen ihrer Seele hervor, was sie in den letzten Wochen, ja, Monaten erlebt hatte.
Denn Petra hatte eine schmerzvolle Trennung hinter sich. 15 Jahre lang war sie die Frau an seiner Seite gewesen, an der Seite von Frank, einem heute erfolgreichen Architekten mit Beteiligung an einem Architekturbüro in München.
15 lange Jahre hatte sie diesem Mann, ihrer großen Liebe, den Rücken freigehalten, hatte ihr Germanistikstudium aufgegeben, um sein Studium zu finanzieren, weil sich sein Vater nach der Scheidung von seiner Mutter ins Ausland abgesetzt und fortan keinen Unterhalt mehr überwiesen hatte. Und weil seine Mutter fast mittellos war, denn sie hatte während der Ehe für die Schulden ihres Mannes gebürgt – und stand nach der Trennung und seinem Verschwinden vor einem Schuldenberg, den sie kaum alleine abtragen konnte. Damals hätte Frank sein Studium in Mainz fast schmeißen müssen. Und Petra hatte angeboten, ihr Studium für einige Zeit zu unterbrechen, damit Frank seines zu Ende bringen konnte, denn für sie hatte schon damals außer Frage gestanden, dass ihre Beziehung für die Ewigkeit sein sollte – auch ohne Trauschein.
„Mäuschen“, hatte Frank in den folgenden Jahren immer wieder gesagt, „ich mache mein Studium fertig. Und wenn ich fertig bin und richtig Geld verdiene, dann studierst du einfach weiter. Das kriegen wir schon hin!“
„Ja“, ging es Petra an diesem Frühlingsabend durch den Kopf, „das kriegen wir schon hin!“
Wie naiv sie doch gewesen war! Hatte tatsächlich viele Jahre lang daran geglaubt, dass Frank es ernst meinte mit diesem Versprechen. Doch nach seinem Studium wollte er erst einmal Berufserfahrung sammeln. „Mäuschen“, hatte er gesagt, „da müssen wir flexibel sein. Ich möchte gerne in verschiedenen Büros arbeiten und so viele Erfahrungen sammeln wie möglich. Da wäre es schön, wenn du mir noch zwei oder drei Jahre den Alltagskram abnehmen könntest. Aber wenn ich sicher im Sattel sitze, dann studierst du weiter.“
Wie dumm sie gewesen war, aber noch immer hatte sie an Franks Worte geglaubt. Er liebte sie ja und sein berufliches Streben würde auch ihr zugutekommen, wenn sie erst einmal richtig sesshaft geworden wären.
Denn in den Jahren nach Franks Studium ging es für das junge Paar erst einmal durch die ganze Republik – Aachen, Hamburg und zuletzt München waren die Stationen gewesen, wo Petra und Frank in den letzten neun Jahren beheimatet gewesen waren. In München hatte Frank sich schließlich in ein sehr etabliertes Architekturbüro einkaufen können. Dem Seniorchef fehlte ein Nachfolger und in Frank sah er das Potenzial, das er sich von dessen Vorgängern immer erhofft, aber nie bei ihnen gefunden hatte. Das Geld für die Teilhaberschaft hatte sich Frank bei einer Bank geliehen, sein Chef selbst war dort Kunde und hatte für den Kredit mit seinem guten Namen gebürgt.
Und Petra?
Die war nach dem Abbruch ihres Studiums durch die Berufswelt gependelt – als Bürokraft, zwischendurch auch schon einmal in einer Putzkolonne, seit fünf Jahren aber arbeitete sie als Aushilfskraft in einer Buchhandlung und konnte so wenigstens ein bisschen von ihrer Leidenschaft ausleben, die sie einst zu ihrem Germanistikstudium geführt hatte.
Petra nämlich liebte Bücher über alles – sie waren ihr Schatz, ihr Reichtum, ihr Zufluchtsort in schwierigen und traurigen Zeiten, aber auch dann, wenn sie kurzweilige Unterhaltung suchte. Mit einem guten Buch, mal anspruchsvoll, mal trivial, einen verregneten Sonntag auf der Couch zu verbringen – was gab es Schöneres?
Doch nicht nur beruflich hatte sich in den zurückliegenden Jahren viel für das Paar geändert. Von der Studentenbude aus waren sie in immer größere und schönere Wohnungen gezogen und hatten dann vor zwei Jahren in der Nähe von München, einem kleinen Ort im Ostallgäu namens Hurlach, ein wunderschönes Grundstück kaufen können.
Denn obwohl Frank inzwischen ein sehr gutes Gehalt bezog, war an ein eigenes Haus in München, der bayrischen Metropolstadt, gar nicht zu denken, selbst sein Chef hatte mit seiner Familie vor den Toren Münchens gebaut.
Klar, dass Frank auch das eigene Haus vom Feinsten und mit allen Raffinessen geplant und für Petra sogar ein eigenes lichtdurchflutetes Zimmer für ihre Lesestunden im ersten Stock vorgesehen hatte, das sie sich nach der Fertigstellung des Hauses vor einem halben Jahr ganz nach ihrem eigenen Geschmack hergerichtet hatte. Bis zum eigentlichen Umzug wären es da nur noch vier Wochen gewesen ...
„Wären!“ An diesem Wort blieben Petras Gedanken an diesem Abend hängen. „Wären ...“
Denn in diesen vier Wochen bis zum Umzug von der kleinen Münchner Stadtwohnung nach Hurlach, dem ursprünglichen Dorf im Allgäu, rund eine Fahrstunde von München entfernt, war Petras bisheriges Leben wie eine Seifenblase zerplatzt.
Peng!
Nichts war übrig geblieben. Keine Beziehung, kein Job, kein Haus. In diesen vier Wochen hatte Frank sich nicht nur von einem Tag auf den anderen von ihr getrennt, sondern ihr auch ihr Heim, ihr Zuhause, auf das sie sich so sehr gefreut hatte, genommen.
An diesem Abend, als Frank zu ihr gesagt hatte: „Mäuschen, ich denke, wir gehen jetzt getrennte Wege. Ich habe festgestellt, dass ich dich nicht mehr liebe“, da war Petra in einen Abgrund gestürzt.
Tief und immer tiefer.
Und immer wenn sie in jenem Moment gehofft hatte, aus diesem Albtraum zu erwachen, dann hatte sie feststellen müssen, dass sie nicht träumte, sondern alles um sie herum real war: Frank, der ihr gegenüber am Tisch saß, ihr mit einem aufgesetzten Lächeln erklärte, dass sie es doch sicherlich auch gespürt habe, dass ihre Beziehung eigentlich schon lange zu Ende sei. Dass sich Langeweile eingeschlichen habe, dass sie sich habe gehen lassen. Dass der Sex mit ihr keinen Spaß mehr mache.
Petra hatte geschwiegen. Kein Wort gesagt.
Nicht einmal Tränen hatte sie weinen können an diesem Abend, den Frank mit den Worten beendet hatte: „Mäuschen, ich fahr dann jetzt mal ... Ach ja, sie heißt Sonja, du kennst sie. Sie ist die Tochter vom Chef, ich habe sie dir beim letzten Sommerfest vorgestellt.“ Dann hatte er Petra ein letztes Mal angeschaut, den Mantel bereits über dem Arm. „Und bevor du es von anderen erfährst: Sonja ist schwanger. Ich werde Vater.“
So also fühlte es sich an, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Wenn mit einem Donnerschlag ein ganzes Leben beendet wurde. Wenn alles zusammenbrach, was man zuvor als sein eigenes Leben angesehen hatte.
Petra hatte natürlich in der ein oder anderen unterhaltsamen Liebesschnulze davon gelesen, wie sich eine Trennung anfühlte, aber nie vermutet, dass es tatsächlich so sein konnte. Nicht mehr essen zu können, nicht mehr denken zu können.
Leer zu sein.
Was in der Zeit nach Franks Weggang passiert war, konnte Petra später nicht mehr genau erinnern. Sie wusste nur noch, dass plötzlich mitten in der Nacht ihre Eltern in der Wohnung gestanden hatten. Während ihre Mutter sie die ganze Zeit über im Arm gehalten hatte, hatte der Vater Petras Kleidung aus ihrem Schrank im Schlafzimmer in einen großen Koffer gestopft und zum Auto getragen. „Hier bleibst du keinen Moment länger“, hatte er zuvor ganz ruhig zu ihr gesagt. Und damit war klar, dass Petra erst einmal mit zu ihren Eltern nach Memmingen fahren würde.
Die Trennung lag jetzt gut drei Monate zurück. Petra hatte ihre Zelte in München inzwischen ganz abgebrochen, hatte ihren Job in der Buchhandlung aufgegeben, nachdem sie ein langes Gespräch mit ihrer verständnisvollen Chefin geführt hatte, und hatte Quartier in ihrem alten Kinderzimmer in dem kleinen Reihenhaus ihrer Eltern in Memmingen bezogen. Mit 35 Jahren zurück in den Schoß der Eltern, ohne Ausbildung, ohne Studium – das war anfangs hart gewesen.
Aber Petra hatte sich, nachdem der erste Schmerz ihr fast das Herz zerrissen hätte, geschworen, dass sie ihr Leben nach dieser Trennung von Frank in den Griff bekommen würde. Egal, wie lange es dauern würde – in Petra war die Kämpferin erwacht, ein Wesenszug, von dem sie geglaubt hatte, ihn längst seit Jugendtagen verloren zu haben. Damals, in der Pubertät, galt sie als Rebellin, doch Frank hatte es verstanden, die Rebellin in ihr in den Jahren danach immer wieder zu unterdrücken ... und Petra hatte ihn gewähren lassen.
Und Frank?
Petra musste lachen, wenn sie an ihn dachte. Er lebte jetzt mit Sonja in ihrem Haus. Aus Petras Lesezimmer, das sie so liebevoll eingerichtet hatte, hatten die beiden kurzerhand das Kinderzimmer gemacht ... und Petras Möbel zuerst in den Keller gestellt, bevor ihr Vater sie dann mit einem Freund zusammen abgeholt hatte. Die Sachen waren jetzt in einer Scheune in der Nähe von Memmingen eingelagert.
Petra selbst hatte das Haus in Hurlach nie wieder betreten. Denn es gehörte ihr nicht, nicht einmal in Anteilen, denn auch da hatte sie ihm geglaubt, ihrem Mann, als er beim Grundstückskauf und in der Bauphase gesagt hatte: „Mäuschen, gehört doch sowieso alles uns, auch wenn Haus und Grundstück nur auf mich laufen. Ich bezahle schließlich für all das hier, aber du, du machst es uns hier so richtig schön!“
„So richtig schön!“, flüsterte Petra nun und ließ sich die Rechnung von dem jungen Kellner bringen. „So richtig schön ... werde ich es mir jetzt hier am Comer See machen.“
***
Als Petra am nächsten Morgen früh erwachte und das Fenster öffnete, lagen feine Nebelschleier über dem See. Sie hatte in dieser Nacht trotz der vielen bösen Erinnerungen am Vorabend sehr gut geschlafen, was sicherlich auch an den zwei Gläsern Vino della casa gelegen hatte, die sie zum Essen getrunken hatte. Denn eigentlich trank Petra so gut wie nie Alkohol und hatte sich auf dem kurzen Weg vom Restaurant ins Hotel am Abend zuvor schon leicht beschwingt gefühlt.
Nun aber lag ein neuer Tag vor ihr, ein Tag, den sie nutzen wollte, um den Comer See und die Umgebung zu erkunden. Beim Frühstück hatte sich Pietro zu ihr an den Tisch gesetzt und ihr einige Tipps für kurze Ausflüge mit auf den Weg gegeben.
Und so hatte Petra kurzerhand und ganz spontan beschlossen, zunächst Bellagio, die kleine Stadt am anderen Ufer, deren leuchtend gelbe und orangefarbene Häuser sie vom Balkon ihres Hotelzimmers aus gut erkennen konnte, zu erkunden. Pietro hatte ihr den Tipp gegeben, in Griante die Fähre zu benutzen – so musste sie nicht den ganzen südwestlichen Zipfel des Sees mit dem Auto umfahren, um an ihren Wunschort zu gelangen.
Wenig später stand Petra am kleinen Fähranleger unweit ihres Hotels. Es versprach ein wunderschöner Frühlingstag zu werden – was sich auch am Kartenhäuschen der Fähre bereits in den frühen Vormittagsstunden zeigte. Offensichtlich wollten viele den Tag nutzen, um den Ort auf der anderen Seeseite zu besuchen. So löste auch Petra ihre Karte und war rund fünfzehn Minuten später am gegenüberliegenden Ufer angekommen, der See war ja an dieser Stelle nicht besonders breit.
Als Petra am kleinen Fähranleger in Bellagio von Bord ging, steuerte sie gleich auf das kleine Café am Hafen zu. Ein Cappuccino und ein süßes Hörnchen, danach stand ihr nun der Sinn. Hier hatte sie Zeit, einen ersten Blick auf die ihr doch irgendwie vertraute Stadt zu werfen, denn Bellagio präsentierte sich an diesem Tag tatsächlich genauso, wie Petra es aus Kindertagen in Erinnerung hatte.
Damals war sie durch die engen Gassen die vielen Treppenstufen hinaufgestürmt, um ins Oberdorf zu kommen. Heute, mehr als zwei Jahrzehnte später und mit einem leckeren Kaffee gestärkt, würde sie es jedoch etwas gemütlicher angehen lassen. Sie hatte ja auch den ganzen Tag über Zeit und musste erst einmal schauen, wie sie die Stunden alleine verbringen konnte.
Petra hatte so viele Jahre an Franks Seite verbracht, so viel Zeit mit ihm verbracht, dass es ihr noch immer schwerfiel, tatsächlich ganz alleine zu sein. Immerhin hatte sie nach einer so langen Beziehung kaum Übung darin, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen.
Wenn sie früher Urlaub gemacht hatte, dann immer mit Frank zusammen. Hin und wieder war sie auch mal über ein verlängertes Wochenende mit einer Freundin zusammen verreist ... aber die waren heute alle so eingebunden in ihren eigenen kleinen Familien oder in ihrer Karriere, dass keine von ihnen Zeit gefunden hatte, diese zehntägige Reise mit Petra zusammen zu unternehmen.
Was aber vielleicht auch gut war, denn Petra wollte ja zu sich selbst finden ... und das konnte man eigentlich nur, wenn man einmal ganz in sich selbst eintauchte.
Petra schlenderte durch die kleinen Gassen des Ortes. Hier gab es so viele tolle Geschäfte, sie wollte die Zeit nutzen, in vielen von ihnen zu stöbern, auch wenn ihr wohl sicherlich das Geld für den Einkauf fehlte. Aber bereichern konnte man sich auch in Gedanken, vor allen Dingen aber konnte man sich vielerlei Inspirationen holen. Immerhin wollte Petra nicht den Rest ihres Lebens im Hause ihrer Eltern wohnen, wenn die vielleicht auch ganz glücklich darüber wären, fürs Alter jemanden im Haus zu haben, der sich kümmern konnte. Sie hatten Petra sogar vorgeschlagen, den seit Jahrzehnten brachliegenden Dachboden für sie zu einem kleinen Appartement auszubauen. Dafür und für ihre ganze Unterstützung in der schweren Zeit hatte Petra ihren Eltern gedankt, ihnen aber auch unmissverständlich erklärt, dass dies keine Lösung für sie sei.
Da war sie das erste Mal wieder aufgetaucht, die kleine Rebellin, die beschlossen hatte, ihr Leben alleine in den Griff zu bekommen – ohne einen Mann an ihrer Seite oder die liebevolle Unterstützung ihrer Eltern.
Petra blieb stehen. Sie hatte die Via Giuseppe Garibaldi erreicht, wie ihr das Straßenschild zeigte. Und dann sah sie ihn, diesen kleinen, in Rosa gehüllten Laden. Sie kannte ihn! Hier hatte sie vor vielen, vielen Jahren von ihrem Taschengeld für ihre Oma Lotta ein kleines Reisesouvenir gekauft. Daran erinnerte sie sich genau, denn es war das letzte Geschenk gewesen, das sie ihrer geliebten Oma hatte kaufen können. Petra war damals 14 oder 15 Jahre alt gewesen und ihre Oma schon lange sehr krank. Oma Lotta hatte sich sehr über die Schneekugel gefreut und Petra erzählt, dass sie früher einmal jemanden aus diesem Ort am Comer See gekannt hatte. Dabei hatten ihre Augen einen Ausdruck angenommen, der Petra schon damals verraten hatte, dass dies eine besonders glückliche Zeit im Leben der Großmutter gewesen sein musste.
Bald darauf war Oma Lotta gestorben, aber die Erinnerung an sie war bis heute in Petra lebendig. Wie sehr sie diese Frau geliebt hatte, die ihr in Kindertagen so viel Wärme und Liebe geschenkt hatte.
Petra betrat den kleinen Laden und war im ersten Moment ein wenig enttäuscht. Denn es war nicht mehr das alte Geschäft mit seinem alten Interieur, auf das Petra irgendwie gehofft hatte. Stattdessen zeigte sich ein modern eingerichtetes Geschäft, das in keiner Weise mehr an den alten, etwas verstaubten Laden von früher erinnerte. Eigentlich hätte ihr ja klar sein müssen, dass auch hier die Zeit nicht stehen geblieben war.
„Kann ich Ihnen helfen?“, wurde Petra plötzlich aus ihren Gedanken gerissen. Vor ihr stand eine junge Frau, die etwa so alt wie Petra selbst sein mochte.
„Ich möchte mich nur ein wenig umsehen“, antwortete Petra freundlich und überlegte einen Moment. Dann fasste sie sich ein Herz. „Darf ich Sie etwas fragen?“, sprach sie die Verkäuferin an.
Diese lächelte. „Aber selbstverständlich doch.“
„Wissen Sie“, sagte Petra, „ich war schon einmal hier. In diesem Geschäft. Vor etwa 20, 22 Jahren. Damals sah alles ganz anders aus. Was ist aus dem alten Laden und seinem Besitzer geworden?“
Die Verkäuferin schmunzelte. „Der alte Besitzer ist mein Großvater. Nonno ist heute 92 Jahre alt und noch immer sehr rüstig. Er hat mir den Laden vor acht Jahren übergeben und ich habe ihn ein wenig – na, sagen wir mal – moderner gestaltet.“ Sie machte eine kleine Pause und schaute Petra an. „Großvater lebt nur wenige Schritte von hier entfernt. Er führt das Geschäft heute zwar nicht mehr, aber er besucht mich jeden Tag und schaut einmal kurz nach dem Rechten. Das ist wohl sein Lebenselixier, das ihn so alt hat werden lassen.“
„Sie haben hier aber auch wirklich alles sehr schön gestaltet“, erwiderte Petra sichtlich angetan von dem, was die Frau erzählt hatte. „Ich danke Ihnen sehr für die Auskunft. Nun sehe ich mich noch umso lieber hier bei Ihnen um. Und grüßen Sie Ihren Großvater herzlich von mir. Meine Oma hat sich damals sehr über mein Geschenk aus seinem Laden gefreut. Den Ausdruck in ihren Augen werde ich nie vergessen, als ich ihr damals erzählt habe, dass ich die Schneekugel hier in Bellagio gekauft habe.“
Petra schaute sich noch eine ganze Weile in dem liebevoll ausgestatteten Laden um und kaufte schließlich zwei kleine Gläser aus Muranoglas, die in ihrer künftigen Wohnung einen ganz besonderen Platz erhalten sollten.
Beim Verlassen des Geschäfts gab ihr die freundliche Verkäuferin noch einen Tipp mit auf den Weg. „Wenn Sie ein wenig abseits der Hektik hier im Ort verweilen möchten, dann sollten Sie einmal die Giardini di Villa Melzi besuchen. Ich könnte mir vorstellen, dass es Ihnen dort sehr gut gefällt.“
Inzwischen war es Mittag geworden und Petra nahm auf der Sonnenterrasse einer Pizzeria in der Oberstadt Platz. Hier war es jetzt um die Mittagszeit in den Gassen angenehm kühl. Petra ließ sich vom Kellner ein Mineralwasser und einen Salat bringen sowie ein geröstetes Brot mit Olivenöl.
So gestärkt fiel Petra der kleine Fußmarsch zur Villa Melzi nicht schwer. Während des Essens hatte sie sich ein wenig über den botanischen Garten sowie die Skulpturenausstellung dort via Smartphone informiert. Petra war zwar nicht sonderlich kunsthistorisch interessiert, aber sie mochte Orte, die eine besondere Ausstrahlung hatten – und die Villa Melzi versprach ein solcher Ort zu sein.
Und tatsächlich wurde die junge Frau nicht enttäuscht. Der Garten, der von Mitte März bis Ende Oktober für Besucher geöffnet war, war jetzt – Ende Mai und zur Mittagszeit – tatsächlich ein fast verwunschener Ort. Außer Petra waren nur wenige Touristen unterwegs, sodass sie die Schönheit dieses Ortes in vollen Zügen genießen konnte. Petra wählte zunächst den Weg am Wasser entlang zur Villa. Sie schlenderte unter den großen kräftigen Platanen hindurch und fühlte sich durch deren ausladende Äste und Blätter, die wie ein Schirm geformt waren, fast ein wenig behütet. Der Weg endete auf dem Vorplatz der Villa selbst, von dem aus man einen tollen Blick über den See genießen konnte.
„Dort drüben“, dachte Petra, „das muss Griante sein.“ Wie eine Perlenschnur reihten sich die Häuser am Ufer gegenüber auf und Petra hatte ganz urplötzlich das Gefühl, angekommen zu sein.
Sie betrachtete die vier Löwen am Treppenaufgang zur Villa und spürte die Stärke und Kraft, die von diesen steinernen Gefährten ausging. Eine Kraft, die die Luft fast zum Vibrieren brachte.
Petra setzte den Rundgang durch den Park fort, ließ sich Zeit und blieb auf der ein oder anderen Bank sitzen, um zu verweilen und den Ort auf sich wirken zu lassen. Ja, sie war angekommen, jetzt, hier und heute – in einem neuen Leben. Die Wunden der Vergangenheit begannen zu heilen. Langsam, aber stetig. Sicherlich, es würden Narben bleiben, aber die würden ihr nicht mehr wehtun, so wie es die Wunden bis jetzt getan hatten.
Als Petra drei Stunden später wieder an ihrem Hotel in Griante eintraf, war sie erschöpft und sehr glücklich. Dieser erste Tag war ganz besonders gewesen und ihn wollte sie auf ganz besondere Weise ausklingen lassen. Mit einem Glas Rotwein, ein wenig Käse, Schinken und Brot, und zwar auf dem rustikalen Balkon ihres Zimmers. Einen kleinen Laden hatte Petra schon morgens auf ihrem Weg zur Fähre um die Ecke ihres Hotels entdeckt. Hier würde es sicherlich all das geben, was sie für diesen Abend noch brauchte, um den Tag schön ausklingen zu lassen.
So betrat Petra das kleine Lebensmittelgeschäft und war erstaunt darüber, wie klein es tatsächlich war.
Einkaufswagen?
Fehlanzeige!
Durch diese engen Gänge würde auch der kleinste rollende Einkaufskorb nicht kommen. „Es ist hier fast so wie in den Gassen der Altstadt von Bellagio“, schmunzelte Petra in Gedanken und belud sich mit all den Dingen, die sie brauchte.
In dem Geschäft herrschte um diese Zeit geschäftiges Treiben, denn offensichtlich suchten viele Touristen noch nach der Kleinigkeit für den Abend. Ein buntes Stimmengewirr – deutsch, englisch, russisch, italienisch – drang an Petras Ohr und nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
Als sie sich um die Ecke des nächsten Gangs schlängelte, vorbei an einer ziemlich dicken Frau, die offensichtlich mit Händen und Füßen ihren Mann davon zu überzeugen suchte, gerade diese Pasta zu kaufen, genau da passierte es. Sie übersah den Mann, der ihr entgegenkam, lief in ihn hinein ... und all ihre wunderschönen Leckereien für den Abend nebst einer köstlichen Flasche Rotwein fielen laut krachend zu Boden. Die Rotweinflasche zerbrach, der Wein ergoss sich nicht nur über den Boden, sondern auch über die dicke Frau und ihren Mann, über Petra ... und den jungen Mann, den sie erst jetzt wirklich wahrnahm.
Augenblicklich war es still im ganzen Geschäft. Oder schien es Petra nur so? Denn als sie dem Mann, der ihr hier quasi in die Arme gelaufen war, in die Augen schaute, war es, als würde sie versinken – versinken in den Tiefen des Comer Sees, den sie heute schon zweimal mit der Fähre überquert hatte.
„Scusi, scusi“, stammelte sie. „Es tut mir so leid, ich habe Sie nicht gesehen. Oh Gott ...“
Bislang hatte der junge Mann noch nichts gesagt. Nun aber lächelte er Petra an. „Das ist kein Problem – questo non è un problema.“ Dann drehte er sich unvermittelt um, verließ den Laden durch eine Tür, die Petra erst jetzt sah, und kam schließlich mit einem Besen, einer Kehrschaufel und einem Eimer zurück. „Das haben wir gleich“, sagte er und begann, den entstandenen Schaden zu richten.
Während er dies tat, sprach er beruhigend auf Italienisch auf die dicke Dame ein, die inzwischen ihre Sprache wiedergefunden hatte und lauthals durch den Laden krakeelte. Was sie sprach und was der junge Mann erwiderte, konnte Petra nicht verstehen. Aber offensichtlich wurde das Problem zur Zufriedenheit der Dame gelöst, denn nach einem gewaltigen italienischen Wortschwall erschien plötzlich ein strahlendes Lachen auf dem Gesicht der Frau und sie schob sich mitsamt dem Gatten Richtung Kasse durch. Dort grüßte sie die Verkäuferin mit einem Handzeichen und einem Griff in das Pralinenregal und verließ den Laden – ohne zu bezahlen – mit einem prall gefüllten Einkaufskorb. Nun wusste auch Petra, wie die Dame beschwichtigt worden war ...
Der junge Mann, der zusammen mit Petra für das kleine Malheur verantwortlich gewesen war, wandte sich nun ihr zu. „So, die Gute hätten wir beruhigt“, lächelte er Petra an. „Und ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, dass ich Sie in diese Verlegenheit gebracht habe. Ich hätte nicht entgegen der Einkaufsrichtung durch den Laden laufen sollen.“
„Aber ich war schuld, ich ...“, versuchte Petra zu erklären, doch ihr Gegenüber fiel ihr sogleich ins Wort.
„Nichts da“, sagte er, „das war mein Fehler, nicht Ihrer. Und schauen Sie mal, was ich angerichtet habe. Ihre Hose hat überall Rotweinspritzer, die müssen wir sofort auswaschen, sonst gehen die Flecken nicht mehr raus.“
Erst jetzt hatte Petra Zeit, sich den Mann etwas näher anzuschauen. So jung, wofür sie ihn ursprünglich gehalten hatte, war er auf den zweiten Blick gar nicht mehr. In seinem dunklen Haar zeigten sich die ersten grauen Streifen und auch der Dreitagebart ließ erahnen, dass er einst einmal dunkler gewesen sein mochte. Petra schätzte ihn auf Mitte, Ende 30. Er war etwa einen Kopf größer als sie selbst und schlank. Offensichtlich kam er gerade von der Arbeit, denn er trug eine Jeans und ein T-Shirt, die ein wenig angestaubt wirkten, was im völligen Gegensatz zu seinem sonst tadellosen Äußeren stand.
„Ich sollte nicht vergessen, dass die Leute hier nicht nur Urlaub machen“, schoss es Petra durch den Kopf. Und dann blieb sie wieder hängen an diesen Augen, in denen man sich verlieren konnte.
„Wissen Sie, was wir jetzt machen?“, riss der Mann sie aus ihren Gedanken. „Wir gehen jetzt in Ihr Hotel. Ich nehme mal an, dass Sie hier am See Urlaub machen, oder?“ Doch Petra kam gar nicht dazu, die Frage zu beantworten, da schob er schon nach: „Klar machen Sie hier in Griante Urlaub, sonst hätten Sie hier nicht eingekauft.“ Er strahlte sie an. „Also, wir gehen jetzt in Ihr Hotel, Sie ziehen sich um, geben mir Ihre Hose ... und morgen früh haben Sie diese gewaschen, gebügelt und ohne Flecken wieder zurück.“
„Das kann ich nicht annehmen“, wollte Petra gerade antworten, doch dazu kam sie nicht, denn offenbar hatte ihr Gegenüber ihre Gedanken erraten.
„Widerspruch dulde ich nicht“, grinste er sie frech an und Petra ergab sich ohne Widerstand. Wer konnte bei diesen Augen schon Nein sagen?
Wenig später standen Petra und Matteo, so hatte sich ihr kleiner Unfall auf dem kurzen Fußweg zum Hotel vorgestellt, in der Lobby und sie übergab ihm eine Tüte mit der schmutzigen Jeans, die sie inzwischen in ihrem Hotelzimmer gegen eine neue Hose ausgetauscht hatte.
„Das ist aber wirklich nicht nötig“, sagte sie, doch Matteo winkte ab.
„Das ist nötig“, antwortete er mit einem Augenzwinkern. „Morgen früh komme ich wieder. Ich freue mich darauf. Nun aber noch einen schönen Abend.“ Er winkte ihr kurz zu, grüßte Pietro, der hinter seiner Rezeption stand ... und verschwand.
***
In dieser Nacht schlief Petra wieder tief und fest. Pietro hatte ihr, nachdem er von dem Zwischenfall im Lebensmittelladen gehört hatte, ein kleines Abendmahl bereiten und ihr aufs Zimmer bringen lassen, denn er hatte gesehen, dass sein Gast schon ziemlich erschöpft war. „Ein Gruß des Hauses“, hatte Pietro ausrichten lassen, „wir möchten doch, dass Sie Griante in guter Erinnerung behalten.“
Kaum aber hatte sie am nächsten Morgen an ihrem Frühstückstisch Platz genommen, da gesellte sich ihr kleiner Unfall vom Abend zuvor zu ihr. „Ihre Hose, sauber und rein“, strahlte er sie an, setzte sich unaufgefordert zu ihr an den Tisch und bestellte sogleich einen Espresso. „Vittoria, die Freundin meiner Mutter, lässt einen schönen Gruß ausrichten. Die Rotweinflecken waren so frisch, dass es kein Problem war, sie zu entfernen.“ Dann betrachtete er Petra eine ganze Weile schweigend, was ihr schon fast peinlich war, und sagte: „Als kleine Entschuldigung für meine Tollpatschigkeit gestern möchte ich dich gerne einladen. Einladen zu einer Spritztour an meine ganz persönlichen Lieblingsorte am Comer See. Hast du Lust dazu? Und Zeit?“
Petra wusste gar nicht, wie ihr geschah. Zum einen war es ihr nicht ganz geheuer, mit einem Wildfremden durch die Gegend zu fahren und sich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Sie kannte diesen Matteo ja gar nicht. Und nur weil er ihre Jeans gewaschen hatte ...
Andererseits reizte es sie, Orte am See kennenzulernen, die sie sonst vielleicht nicht besuchen würde. Sie hatte zwar einen Reiseführer dabei und von diversen Internetseiten Orte zusammengetragen, die sie während der nächsten zehn Tage besuchen wollte, aber mit einem Einheimischen, der sich am See sicherlich verdammt gut auskannte, die Gegend zu erkunden, war natürlich noch einmal etwas ganz anderes.
Nun, und dann waren da noch diese Augen, von denen Petra in der Nacht sogar geträumt hatte. Und so beschloss sie kurzerhand, das Angebot anzunehmen. „Gut“, sagte sie, „ich habe für heute weiter nichts geplant und hätte Zeit. Wenn Sie also nichts Besseres zu tun haben, als mit mir ...“
Matteo unterbrach sie. „Lass uns beim Du bleiben. Wir haben ja schon so etwas wie eine gemeinsame Vergangenheit“, lachte er, „da wäre das Sie doch sehr unpersönlich.“ Er strahlte Petra an und die konnte diesem Strahlen tatsächlich nicht widerstehen.
„Ich bin dabei“, sagte sie. „Ich hole noch meine Sachen von oben, dann können wir meinetwegen los.“
***
Fünf Minuten später stand Petra zur Abfahrt bereit vor dem Hoteleingang, als ein kleines rotes Cabrio direkt vor ihr hielt. Fast hätte sie Matteo nicht erkannt, denn er trug eine Sonnenbrille und überhaupt sah er in diesem Wagen fast wie ein perfekter italienischer Gigolo aus.
„Auch das noch“, dachte Petra bei sich. „Ob es tatsächlich so eine gute Idee ist, mit ihm diesen Ausflug zu machen?“
Irgendwie hatte sie plötzlich das Gefühl, dass Matteo nicht das erste Mal eine Frau auf diese Art und Weise „aufgegabelt“ hatte. „Sei’s drum“, fügte sie in Gedanken hinzu. „Wenn es mir nicht gefällt, steige ich unterwegs einfach aus und fahre mit Bus oder Bahn zurück zum Hotel.“ Geld hatte sie genug dabei, ein Handy auch. Was sollte also passieren?
So hatte Petra inzwischen auf dem Beifahrersitz Platz genommen und sich angeschnallt.
Matteo lächelte sie an. „Bereit für den Tag?“, fragte er. Und als Petra ihm zunickte, gab er Gas und sagte: „Ich zeige dir heute zwei oder drei Orte, die ich hier am Comer See ganz besonders liebe.“
Zunächst ging es auf die Fähre Richtung Bellagio, dieses Mal aber mit dem Auto. „Dann müssen wir nicht den ganzen Teil des unteren linken Seearms umfahren und haben mehr Zeit für die wirklich sehenswerten Orte“, erklärte Matteo bei der kurzen Überfahrt.
In Bellagio angekommen ging es von der Fähre Richtung Süden. Petra konnte auf den Ortstafeln Namen wie Vergonese oder Casate lesen. Die schmale Seestraße führte durch die kleinen Ortskerne und es ging durch die recht verwinkelten Gassen teilweise nur sehr langsam voran.
Petra genoss es, sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Sie war trotz ihrer 35 Jahre tatsächlich noch niemals Cabrio gefahren. Und als hätte Matteo dies geahnt, hatte er ihr in Bellagio, nachdem sie von der Fähre gerollt waren, ein Kopftuch in die Hand gegeben.
„Für deine schönen braunen Haare“, hatte er gesagt. „Damit sie dir beim Fahren nicht in die Augen wehen.“
Petra hatte sich für diese nette Geste bedankt und das Kopftuch ein wenig umständlich umgebunden, denn auch das tat sie an diesem Tag zum ersten Mal. Wann trug man auch sonst noch Kopftücher? Ja, sie besaß ein solches nicht einmal.
Nun aber fühlte sie sich in diesem tollen italienischen roten Cabrio schon fast wie eine dieser amerikanischen Filmdiven, die mit ihren Filmpartnern stets in solch auffälligen Autos an der französischen oder italienischen Riviera herumkurvten. Matteo hatte seiner Beifahrerin nämlich stolz erklärt, dass es sich bei seinem Gefährt um ein Alfa Romeo Spider Cabrio aus dem Jahr 1988 handelte, das drauf und dran war, sich zu einem echten Oldtimer zu entwickeln.
„Darf ich dir etwas verraten?“, fragte Petra, nachdem sie eine Weile schweigend gefahren waren.
Matteo nickte.
„Ich fühle mich gerade ein bisschen wie Grace Kelly in Über den Dächern von Nizza.“
Petra musste lachen, als Matteo antwortete: „Oh ja, und ich bin Cary Grant. Das wäre doch mal was.“
Was für ein Tag, was für ein Erlebnis, Petra fühlte sich frei und ungebunden. Sollte der Neuanfang tatsächlich hier an diesem See gelingen?
Doch ein wenig rumorte da auch etwas in ihrem Hinterkopf. Flirtete sie etwa mit diesem Matteo? Oder er gar mit ihr? Petra hatte so lange in einer festen Beziehung gelebt, dass sie ganz vergessen hatte, wie das mit dem Flirten ging.
Oder war Matteo einfach nur nett zu ihr? So nett wie zu allen anderen Leuten auch, die sie bis jetzt in seiner Gegenwart erlebt hatte? Sie wusste es nicht und letztendlich war das auch vollkommen egal.
Denn wenn Petra auf eines ganz sicherlich nicht aus war, dann auf einen Flirt mit einem Mann oder gar auf eine neue Beziehung. Nein, auf Männer hatte sie wahrlich aktuell keine Lust mehr! Sie wollte ihr Leben genießen – und das alleine. Was die Zukunft einmal bringen würde, das wusste sie natürlich nicht. Das war aber auch erst einmal egal.
Ob es erneut eine große Liebe in ihrem Leben geben würde? Den Gedanken verdrängte Petra ganz bewusst. Sie wollte im Hier und Jetzt leben und nicht wie so oft in den zurückliegenden Jahren ihr Heil im Morgen suchen.
„Willst du mir verraten, wohin die Fahrt geht, Cary Grant?“, knüpfte Petra nun an Matteos Bemerkung an.
„Gerne doch“, antwortete er. „Ich zeige dir einen Ort, der für mich eine ganz besondere Bedeutung hat. Wir biegen gleich in Nesso ab und halten an einer kleinen Grotte an. Dort erzähle ich dir mehr.“
In Nesso machte Matteo noch einen kleinen Abstecher, um Petra die Ponte della Civera zu zeigen, eine mittelalterliche Brücke, von der aus man einen herrlichen Blick auf den bekannten Wasserfall Orrido di Nesso hatte.
„Dort oben gab es einst eine Mühle“, berichtete Matteo, der sich als prima Touristenführer entpuppte. „Doch seit sich das Müllerhandwerk auch hier bei uns in Italien nicht mehr auszahlt, haben die heutigen Besitzer daraus zwei kleine Ferienappartements gemacht.“
Von der Seestraße in Nesso ging es nach der Besichtigung der Brücke ein Stück zurück in den Ort und bald darauf rechts ab in das bergige Hinterland des Comer Sees. Hier war es ein wenig kühler als auf der Seeseite selbst und auch deutlich grüner. Während sich unten an der Straße Haus an Haus reihte, eng, als würden sie sich bei den Händen halten, bestimmte hier, oberhalb von Nesso und nachdem die beiden die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten, urwüchsiges Grün das Bild der Landschaft. Jetzt im späten Frühling war hier alles in satte Grüntöne getaucht. Das, so erläuterte Matteo, würde sich aber unter der sengenden Sommerhitze im Juli und August schnell ändern. Dann wäre es unten oft angenehmer als hier oben auf der Bergkette, da am See stets ein kleines Lüftlein wehen würde.
Eine Serpentine reihte sich nun an die nächste und die Kurven wurden immer enger. Obwohl Petra Matteo kaum mehr als ein paar Stunden kannte und erst wenige Kilometer mit ihm gefahren war, vertraute sie seinen Fahrkünsten voll und ganz. Er fuhr sehr umsichtig und trotz des tollen Flitzers nicht unbedingt sportlich.
Vielleicht war er doch kein Gigolo, wie sie heute Morgen noch gedacht hatte. Zu gerne hätte Petra mehr über diesen Mann an ihrer Seite erfahren. Denn je länger sie neben ihm saß, desto geheimnisvoller erschien er ihr. Er redete nicht viel, doch wenn er etwas sagte, dann sehr bedacht und stets freundlich. Und wenn er seine Sonnenbrille abnahm, dann waren es immer wieder seine Augen, die Petra nicht losließen. So wie jetzt, als er ganz unvermittelt nach einer leichten Linkskurve vor einer kleinen Grotte anhielt.
„Wir sind da“, sagte er, stieg aus, sprang um seinen Wagen herum und öffnete Petra galant die Autotür. Beim Aussteigen reichte er ihr die Hand und nun fühlte sich die junge Frau erst recht wie eine echte Diva. Petra konnte sich gar nicht erinnern, ob ein Mann ihr je die Autotür aufgehalten hatte – Frank hatte das, da war sie sich ganz sicher, auf jeden Fall nie getan.
Unterdessen nahm Matteo aus seiner Hosentasche einen Geldschein und steckte ihn in einen kleinen Schlitz am Eingang der Grotte.
„Ich zünde jedes Mal, wenn ich an diesem Ort vorbeikomme, eine Kerze für meine Lieben an, die bereits von mir gegangen sind“, erklärte Matteo und nahm aus dem Fach unterhalb der Kerzenhalter eine lange weiße Kerze hervor. „Hast du auch jemanden, an den du hier gerne erinnern möchtest?“, fragte er Petra.
Die war zwar schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten, fühlte sich aber an diesem offensichtlich heiligen Ort mit seiner großen Madonna mitten in dieser scheinbaren Einöde plötzlich sehr bewegt.
„Oh ja“, antwortete sie deshalb. „Es gibt tatsächlich jemanden, an den ich mich hier an diesem Ort gerne erinnern möchte. An meine liebe Oma Lotta, die leider schon so viele Jahre tot ist. Ja, ich sollte für sie hier eine Kerze entzünden.“
Sogleich reichte Matteo Petra eine Opferkerze, doch als diese ihre Geldbörse für den Opferstock zücken wollte, ergriff er ihre Hand. „Was ich eingeworfen habe, reicht für uns beide.“
Dann entzündeten die beiden Besucher in dieser winzigen Grotte am Straßenrand ihre Kerzen und hielten für einen Moment inne.
„Komm, wir setzen uns einen Augenblick hierhin“, sagte Matteo und zeigte auf die Bank direkt am Eingang. „Ich will dir etwas über diese Grotte erzählen. Siehst du dort die Tafel neben dem steinernen Altar? Auf der steht geschrieben ...“ Matteo hielt inne. „Sprichst du eigentlich Italienisch?“, fragte er sodann.
Petra schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht.“
„Gut, dann will ich dir übersetzen, was dort steht. Es heißt: In Erinnerung an das Ehepaar Zerboni Giovanni und Sala Angiolina, geboren in Erno und wohnhaft in Montevideo, die diese Grotte mit ihrem Opfer und ihren Gaben in eine der Jungfrau von Lourdes geweihte Kapelle verwandelt haben. Ich weiß nicht viel über diese Eheleute, aber die beiden haben wohl nach einem großen Unglück, wie man sagt, mit Gottes Hilfe wieder einen guten gemeinsamen Weg gehen können. Aus Dank haben sie diese Kapelle ausgestattet. Mein Vater ist um drei Ecken mit der Familie Sala aus Erno verwandt. Der Ort liegt hinter dem Hügel dort.“ Matteo deutete die Lage des Ortes mit seiner Hand an. „Ist ein kleines Örtchen mit ein paar Häusern. Hier an der Grotte halten oft Menschen an, die beispielsweise durch einen schweren Unfall einen geliebten Menschen verloren haben. Deshalb liegen dort oben auf dem Sims immer wieder auch Fotos von zerstörten Autos oder Motorrädern.“
„Ja, das habe ich auch schon gesehen“, warf Petra leise ein. „Es ist schön, wenn es einen Ort gibt, an dem man Hoffnung und Trost finden kann.“
„Da stimme ich dir zu“, sagte Matteo. „Und ich denke, dass hier viele Menschen Trost suchen, denn eigentlich habe ich noch nie gesehen, dass hier keine Kerze für eine verstorbene Seele brennt. Und das ist gut zu wissen.“
Petra war in diesem Moment sehr bewegt. Ob Matteo auch jemanden verloren hatte, an dessen Seele er hier gerne erinnern wollte? Doch sie kannte den Mann an ihrer Seite zu wenig, um ihm diese Frage stellen zu können. Nein, das wäre unpassend, überlegte sie, sie kannte ihn ja eigentlich gar nicht. Und diese Frage wäre ihr dann doch deutlich zu persönlich gewesen.
Aber so unglaublich es auch schien, wieder einmal machte es den Eindruck, als habe Matteo Petras Gedanken lesen können. So sagte er ganz unvermittelt: „Du fragst dich vielleicht, an wen ich mich hier erinnern möchte, oder? Daraus muss ich kein Geheimnis machen. Es ist meine Frau, derer ich hier gedenke. Sie ist vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Auf der Autobahn Richtung Mailand hat ein betrunkener Fahrer bei viel zu hoher Geschwindigkeit die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und ist in den Wagen meiner Frau gedonnert. Sie wurde in die Leitplanken gedrückt ... und schwer verletzt. Man hat sie dann ins Krankenhaus nach Milano geflogen. Wie durch ein Wunder ist unserem ungeborenen Kind bei dem Unfall nichts passiert. Aurora, meine Frau, hat unsere Tochter noch per Kaiserschnitt zur Welt bringen können. Doch ihre inneren Verletzungen waren so schwer, dass sie fünf Tage später für immer eingeschlafen ist. Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun.“
Während Matteo dies erzählte, waren Petra Tränen in die Augen getreten. Was war ihre blöde Trennung von Frank doch läppisch gegen das Schicksal dieses Mannes! Einen geliebten Menschen für immer auf solch tragische Weise zu verlieren, das war unvorstellbar.
Sie schluckte, bevor sie sich getraute zu fragen: „Dein Kind, ist es ...“ Petra fand nicht gleich die richtigen Worte.
„Meine kleine Giulia? Sie ist das Wundervollste, was mir je in meinem Leben begegnet ist. Sie wächst zwar ohne ihre Mutter auf. Doch hat sie in meiner Mutter, ihrer Oma, einen einzigartigen Menschen gefunden, der ihr all die Liebe gibt, die solch ein kleines Wesen braucht. Giulia und ich leben im Hause meiner Eltern. Obwohl, das stimmt nicht so ganz. Wir haben schon unser eigenes Haus, es befindet sich aber auf dem großen Grundstück meiner Eltern, sodass die Kleine, wenn ich arbeite, immer bei ihren Großeltern sein kann.“ Matteo blickte Petra an. „Ich habe lange um meine Frau getrauert“, fuhr er fort. „Und ich habe an diesem Ort immer wieder Kraft tanken können. Manchmal habe ich hier eine Stunde und mehr gesessen. Vor allen Dingen dann, wenn der Schmerz zu groß wurde. Irgendwann aber habe ich erkannt, dass ich weiterleben muss. Schon alleine für meinen kleinen Engel. Du müsstest sie kennen, um zu wissen, was ich meine ...“ Matteo lächelte. „Ich habe heute Morgen, als ich dich am Hotel abgeholt habe, gesehen, dass du dir nicht ganz sicher warst, ob du in mein Auto steigen sollst oder nicht. Deshalb wollte ich dir zuerst meinen Lieblingsort am See zeigen. Damit du weißt, mit wem du es zu tun hast. Und weil ich mir gut vorstellen kann, wie ich“, er ergriff Petras Hand, „mit meinem roten Alfa auf eine junge, schöne Frau aus Deutschland wirken könnte, wollte ich, dass du von Anfang an weißt, mit wem du es zu tun hast. Und nein, ich bin kein Gigolo und kein Draufgänger und kein Frauenheld. Und wenn ich noch ehrlicher sein will: Du bist seit dem Tod meiner Frau die Erste, mit der ich überhaupt einen solchen Ausflug mache.“
Matteo drückte Petras Hand noch ein wenig fester. „Ich wollte nur, dass du all das weißt. Und ich kann dir nicht mal sagen, warum ich wollte, dass du das weißt ...“
Inzwischen hatte Petra einen dicken Kloß im Hals. „Man soll eben nie nach Äußerlichkeiten gehen“, sagte sie sich in Gedanken und war insgeheim froh, dass Matteo ihr so viel über sich erzählt hatte. Sie hatte urplötzlich das Gefühl, diesen Mann schon seit Jahren zu kennen. Es hatte sich von einem auf den anderen Moment eine Vertrautheit eingestellt, die Petra so noch nie bei einem Fremden empfunden hatte.
Wer leitete die Geschicke dieser Welt und ließ zwei Menschen, die sich gar nicht kannten, in einem italienischen Lebensmittelladen unverhofft zusammenstoßen? Gab es Zufälle im Leben?
Oder sollte so etwas wie Schicksal tatsächlich existieren?
Und vor allen Dingen: Wer gab einem Menschen solche Augen, wie Matteo sie hatte?
„So, nun aber genug in Erinnerungen geschwelgt. Lass uns den Tag genießen. Ich habe noch den ein oder anderen Ort für dich, den ich dir zeigen möchte, und die, das verspreche ich, werden weniger tragische Ereignisse zutage fördern. Also komm, liebe Petra, ich habe Hunger und möchte dich mit der besten Köchin der Welt bekannt machen.“
Petra und Matteo stiegen wieder in den roten Alfa und die Fahrt ging noch einige Kilometer weiter den Hügel bergan. Hin und wieder führte eine kleine, steile Bergstraße in umliegende Ortschaften, doch großartig bewohnt schien diese Seite am Comer See nicht zu sein.
Etwa zehn Minuten später hielt Matteo vor einem unscheinbaren Steinhaus mit einer kleinen Terrasse an.
„Herzlich willkommen am Passo della Colma, der besten Küche weit und breit!“ Als Petra ihren Fahrer ein wenig zweifelnd von der Seite ansah, grinste er frech. „Glaubst du mir etwa nicht? Na, dann sieh dich vor Nonna Peppina vor! Wenn ich ihr erzähle, was du denkst, kommst du aus ihrer Küche nicht mehr raus!“
Wenig später saßen die beiden Ausflügler an einem reichlich gedeckten Tisch auf der schattigen Terrasse des beliebten Ausflugslokals auf der Passhöhe, die offensichtlich gerade auf Radfahrer eine gewisse Anziehungskraft ausübte, denn neben Matteo und Petra tummelten sich hier in der Mittagszeit vor allen Dingen sportlich aussehende Radler, die ihren Popos und Beinen eine Ruhepause gönnen wollten.
Und Matteo hatte tatsächlich nicht zu viel versprochen. Das Essen aus der Küche von Nonna Peppina war köstlich. Einfache, aber typisch regionale Köstlichkeiten hatte die betagte Köchin, die noch immer gerne selbst am Herd stand, aufgetischt.
Natürlich war Nonna Peppina nicht wirklich Matteos Großmutter, wie sich bald herausstellte. Doch irgendwie waren auch diese beiden um viele Ecken miteinander verwandt. Matteos Großmutter war die Nichte von Nonna Peppinas Mutter ... oder so ähnlich.
„Du scheinst ja mit jedem hier am See irgendwie verwandt und verschwägert zu sein“, meinte Petra, nachdem Nonna Peppina und Matteo sie über ihre Familienverhältnisse aufgeklärt hatten.
„Nicht mit jedem“, erwiderte Matteo, „aber mit sehr vielen. Die Familie Bianchi, das ist mein Nachname, hat über Generationen hinweg immer viele Kinder gehabt. Und da bleibt es nicht aus, dass man irgendwie mit jedem und jeder hier unten am Südwestzipfel des Sees verwandt ist.“
„Wie kommt es dann, dass du so gut Deutsch sprichst?“ Darüber hatte sich Petra schon seit dem Moment ihrer ersten Begegnung gewundert.
„Nun, das ist ganz einfach erklärt“, offenbarte Matteo, „es gab da mal eine junge deutsche Studentin, die an der Hochschule einen jungen italienischen Studenten kennenlernte, sich in ihn verliebte und mit ihm an den wunderschönen Comer See zog. Kurzum, meine Mutter ist gebürtige Heidelbergerin, hat meinen Vater, der Tiermedizin studiert hat, an der Uni kennengelernt und ist nach Studienabschluss – und mit mir unter dem Herzen – nach Griante gezogen. Das ist keine spektakuläre Geschichte, aber eine schöne.“
Matteo strahlte über das ganze Gesicht, als er von seinen Eltern erzählte. Offensichtlich hatte die Familie eine enge Bindung, denn Matteo hatte ja zuvor schon an der Grotte sehr liebevoll von seiner Mutter gesprochen, sodass es Petra fast schade fand, diese Frau noch nicht kennengelernt zu haben. Aber wie sollte das auch gegangen sein, rief sie sich ins Gedächtnis, sie kannte Matteo ja noch nicht einmal 24 Stunden.
„Ich habe jetzt schon so viel von mir erzählt“, flocht Matteo nun ein. „Magst du mir auch ein wenig aus deinem Leben berichten?“
Eigentlich tat Petra dies nicht wirklich gerne, denn die Trennung von Frank war für sie tatsächlich sehr schmerzlich gewesen. Und selbst ihre beste Freundin hatte sie bis dato nicht in ihr Herz blicken lassen. Denn die war frisch verheiratet und Petra hatte in den letzten Wochen öfter einmal den Eindruck gehabt, dass Lisa momentan in ihrem eigenen Glück der Zweisamkeit das Unglück Petras nur schwer verkraften konnte.
Hier unter italienischer Sonne aber fiel es Petra plötzlich gar nicht mehr schwer, über sich und Frank, über ihre Einsamkeit und ihr Verlassenwerden zu erzählen. Es war, als würde sie mit einem Menschen hier sitzen, den sie seit Jahren kannte. Hinzu kam natürlich, dass Matteo bereits so viel von sich und seinem Leben preisgegeben hatte, dass Petra es unfair gefunden hätte, nicht auch mit offenen Karten zu spielen.
Und so berichtete sie ihrem Gegenüber von einer großen Liebe, die jäh zu Ende gegangen war. Von dem Schmerz der verlassenen Frau, die sie war. Von Ängsten, nie wieder eine Liebe zu finden, die sich immer wieder in ihre Gedanken schlichen. Von der beruflichen Perspektivlosigkeit und einem Neuanfang, den sie sich so sehr erhoffte.
Als Petra ihre Lebensbeichte beendet hatte, waren mehr als zwei Stunden vergangen. Matteo hatte sie erzählen lassen, hatte hin und wieder einmal eine Zwischenfrage gestellt und ihr aufmerksam zugehört.
Nun sagte er: „Petra, dieser Frank muss blind, taub und dumm sein, eine Frau wie dich gehen zu lassen. Wärst du meine Frau, so würde ich dich auf Händen tragen bis an dein Lebensende. Dein Wohlergehen wäre meines, und nur wenn du glücklich wärst, könnte auch ich es sein.“ Er sah ihr lange tief in die Augen und nahm ihre Hand. „Petra, wir kennen uns noch nicht wirklich lange. Aber schon beim ersten Blick in deine wunderschönen grünen Augen unten bei Petrella im Laden habe ich gespürt, dass es zwischen uns eine besondere Verbindung gibt. Und ich spüre jetzt, in diesem Moment, dass du ähnlich empfindest. Ich kann und will hier nicht von Liebe sprechen, denn zur Liebe gehört mehr als diese flüchtigen Augenblicke, die wir bislang miteinander haben durften. Aber ich denke, wir dürfen gespannt auf das sein, was auf uns zukommen wird. Denn, und auch das spüre ich ganz deutlich: Wenn ich dich heute Abend nach Hause gebracht habe, wird dies kein Abschied, sondern ein Anfang sein.“
Petras Nackenhaare hatten sich aufgestellt, so tief waren ihr Matteos Worte unter die Haut gegangen. So tief hatten sie seine Sätze berührt. Ja, sie wusste es längst, hatte es in den vergangenen Minuten und Stunden dieses so besonderen Tages gespürt: Ihr und Matteos Schicksal waren irgendwie miteinander verwoben.
Gab es Liebe auf den ersten Blick?
War das hier Liebe auf den ersten Blick?
Petra wusste es nicht – und wollte es auch noch gar nicht wissen. Die Zeit würde alle Fragen klären, jetzt galt es, den Augenblick zu genießen. Und das tat Petra in vollen Zügen.
Als sich Matteo am späten Nachmittag von ihr vor dem Hotel in Griante verabschiedete, hauchte sie ihm einen leichten Kuss auf seine Wange. Er hatte versprochen, sie am nächsten Morgen wieder abzuholen und ihr weitere Sehnsuchtsorte am Comer See zu zeigen. Leider, so hatte er beim Abschied gesagt, müsse er an diesem Abend noch ein wenig arbeiten, sonst hätte er sie gerne in ein schönes Restaurant ausgeführt. Das aber würde er gerne zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Und er hatte ihr vielsagend zugezwinkert und gesagt: „Dann entführe ich dich und zeige dir ein Lokal, das du so sicherlich nie betreten würdest. Lass dich überraschen.“
„Das tue ich gerne“, antwortete Petra. „Und ich freue mich darauf.“
***
Die nächsten drei Tage verbrachten Matteo und Petra zusammen. Matteo, der wie sein Vater Tierarzt war, konnte sich dank dessen Unterstützung für ein paar Tage aus dem Praxisalltag befreien. Sein Vater war froh, dass der Sohn nach dem tragischen Tod der Schwiegertochter offensichtlich wieder eine junge Frau getroffen hatte, die dabei war, sein Herz zu erobern. Und auch Giulia, Matteos Tochter, vermisste den Vater in diesen Tagen nicht, denn die Kleine war mit ihrer Großmutter für zwei Wochen ans Meer gefahren. Dort an der italienischen Riviera hatte die Familie Bianchi ein kleines Ferienhaus, das gerade um diese Jahreszeit, wenn die Temperaturen noch nicht zu hoch und die Touristenzahlen gering waren, Erholung pur versprach. Matteos Mutter Ute und Giulia würden erst am Ende der Woche wiederkommen, hatte Matteo Petra berichtet.
Jeden Tag, jede Stunde wurden Matteo und Petra vertrauter miteinander. Als sie am zweiten Tag einen Ausflug nach Como machten, gingen sie bereits Hand in Hand durch die Straßen der mediterranen Stadt. Mit der Seilbahn, der legendären Funicolare, ging es für das junge Paar schließlich den Berg hinauf nach Brunate.
Von dort hatte man einen fantastischen Panoramablick über die Stadt und den See. Petra genoss es, diese tollen Orte mit einem Mann zu erkunden, der die Blicke der Frauen auf sich zog und dennoch offensichtlich nur Augen für sie hatte. Zu Fuß ging es von der Bergstation Brunate bald durch den Wald und an einem alten Kloster vorbei zurück in die moderne Stadt Como, wo das Leben pulsierte und Petra und Matteo sich in einem kleinen Café an der Promenade niederließen, um sich von den Strapazen der Wanderung zu erholen.
Am dritten Tag entführte Matteo Petra auf die Halbinsel Olgiasca, wo sie nach der Fahrt über eine ziemliche Buckelpiste an einem alten, doch modern hergerichteten Kloster, der Abtei von Piona, ankamen. Außer ihnen gab es an diesem ganz normalen Wochentag keinerlei Touristen auf dem Gelände, das eine ungeheure Ruhe ausstrahlte. Ein kleiner Klosterladen bot Köstlichkeiten vor allem in flüssiger Form an.
„Hier gibt es“, so erklärte Matteo seiner Begleiterin, „jede Menge Liköre und Schnäpse, die in vielen anderen Klöstern des Landes und auch im Ausland hergestellt werden.“ Matteo sagte etwas auf Italienisch zu dem Mönch hinter dem Tresen, der ihm daraufhin eine kleine Flasche reichte.“
„Die ist für dich, meine Liebe“, sagte Matteo und bezahlte sein Geschenk. „Wenn du einmal Magenprobleme haben solltest, dann träufle drei oder vier Tropfen dieses edlen Getränks auf einen Zuckerwürfel und deine Probleme werden schnell der Vergangenheit angehören.“ Dann setzte er gekonnt ein strenges Gesicht auf und hob den Zeigefinger. „Aber auf keinen Fall mehr! Das Gesöff hat einen Alkoholgehalt von mehr als 90 Prozent.“
Über einen gepflasterten Weg gelangten die beiden bald darauf an das Ufer des Comer Sees – und von diesem Standort aus hatte man einen tollen Blick auf Gravedona, die Stadt am gegenüberliegenden Ufer. Und genau an dieser Stelle geschah es.
Plötzlich – und doch auch ein wenig erwartet – zog Matteo Petra an sich und gab ihr einen so leidenschaftlichen Kuss, dass ihr fast schwindelig wurde. Ihr Herz bebte und ihr Blut pulsierte siedend heiß durch ihren Körper. Einen solchen Kuss hatte sie noch nie erlebt. Nicht einmal in den stürmischen Zeiten mit Frank. Damals, als sie noch jung und wirklich sehr verliebt gewesen waren.
Wie lange Matteo und Petra sich küssten, das vermochte danach keiner von beiden mehr zu sagen. Waren es nur Sekunden oder gar Minuten gewesen? Eines aber wussten von diesem Augenblick an sowohl Matteo als auch Petra: Sie gehörten zusammen. So kurz ihre gemeinsame Geschichte bis dahin auch war und so wenig, wie sie sich und ihren Alltag kannten, dennoch wussten sie, dass sie Seelenverwandte waren und keinen Tag mehr ohne den anderen verbringen wollten. Sie hatten sich nicht gesucht und trotzdem gefunden und der See, ihr Comer See, hatte ihr gemeinsames Schicksal besiegelt.
So gab es am Abend auch keine langen Fragen oder Erklärungen, als sie sich in Petras Hotelzimmer zu lieben begannen. Zuerst erkundeten sie ihre Körper sehr langsam und zärtlich, um später immer fordernder zu werden. Jede Berührung seiner Hände verzauberte Petra, ließ sie abgleiten in eine Welt voller Liebe und Leidenschaft.
Als sie gemeinsam ihren ersten Höhepunkt erreichten, war es weit nach Mitternacht und sie seit Stunden im Liebesspiel vereint. Arm in Arm schliefen sie schließlich erschöpft ein und hielten sich so noch immer gegenseitig, als sie am nächsten Morgen gemeinsam erwachten.
Matteo musste an diesem Tag wieder in die Praxis, weil sein Vater einen Termin in Mailand hatte, und so verabschiedete er sich von Petra bereits vor dem Frühstück. Aber nicht, ohne sie noch einmal zärtlich in seine Arme zu ziehen und ihr für die schönste Nacht seines Lebens zu danken.
„Wir sehen uns heute Abend, ich hole dich gegen 19 Uhr ab“, hatte er ihr beim Abschied noch ins Ohr geflüstert. Petra hatte ihn zärtlich geküsst und war dann wieder in ihr warmes Bett gekrochen, das noch immer Matteos männlichen Duft und seine Wärme verströmte.
***
Als Petra zwei Stunden später erwachte, lag ein traumhaft schöner Tag vor ihr. Sie hatte sich vorgenommen, gemütlich zu frühstücken und sich ein wenig an den kleinen Strand unweit des Hotels zu legen. Sie hatte in den letzten Tagen so viel gesehen und erlebt, dass sie diese kleine Auszeit tatsächlich herbeisehnte. Ein gutes Buch lag bereits auf dem Nachttisch – eine irische Familiengeschichte einer ganz jungen Autorin, auf die Petra durch einen kurzen Presseartikel in der örtlichen Zeitung aufmerksam geworden war.
Jetzt nur noch eine schöne, warme Dusche und der Tag lag vor ihr, ein Tag, den sie sich noch vor einer Woche so nicht hatte vorstellen können.
Im Badezimmer öffnete Petra zunächst die Fensterläden, um ein wenig Morgensonne in den Raum zu lassen. Das Badezimmer lag zur Hofseite des Hotels, wo sich auch der kleine hoteleigene Parkplatz befand, auf dem Petra ihr Auto abgestellt hatte. Ein kurzer Blick nach unten ... und Petra hätte fast der Schlag getroffen.
Neben ihrem alten Wägelchen stand doch tatsächlich ... Franks Porsche! Den hätte Petra sogar vom Kilimandscharo aus erkannt, also dann erst recht von ihrem Hotelzimmer im zweiten Stock am Comer See. Denn mitten auf Franks Porschedach prangte schon seit einer ganzen Weile eine mittelgroße Beule, für die die Nachbarkinder in München beim ausgelassenen Spielen gesorgt hatten. Unverkennbar zierte diese Beule den Wagen ihres ehemaligen Lebensgefährten.
Und dann sah Petra auch ihn – ihren Ex. Frank hob genau in dem Moment seinen Kopf, als sie ihn erblickte, und rief, als sei in den letzten Monaten nichts, aber auch rein gar nichts passiert: „Mäuschen, da bist du ja. Endlich! Warte, ich komme hoch.“
Petra war viel zu perplex, um zu antworten. Aber eines wusste sie genau: Hier in diesen Räumen, in ihrem Zimmer, in dem sie eine so wundervolle Nacht mit Matteo verbracht hatte, wollte sie Frank, wollte sie ihr altes Leben auf keinen Fall empfangen.
Dass sie nicht umhin konnte, ihn zu treffen, das war ihr klar – auch wenn sie an diesem wundervollen Morgen überhaupt keine Lust auf eine Begegnung mit Frank hatte. Aber weil sie wusste, wie hartnäckig der seine Ziele verfolgte, sie kannte ihn immerhin lange genug, zog sie sich schnell eine Jeans und ihr T-Shirt über und lief die Treppe nach unten. Sie konnte Frank gerade noch vorm Einsteigen in den Fahrstuhl abfangen.
„Was willst du hier?“, schleuderte sie ihm entgegen.
„Na, dich sehen, Mäuschen“, entgegnete er völlig ungerührt und zog sie an sich. „Ich weiß jetzt, dass ich einen Fehler gemacht habe. Lass uns reden.“
Inzwischen war auch Pietro auf das Paar aufmerksam geworden. Ihm hatte Frank bereits erklärt, dass er seine Frau hier am See besuchen wolle, nur deshalb hatte der Rezeptionist ihm überhaupt gesagt, in welchem Zimmer Petra untergekommen war.
„Herr und Frau Weißenburger, wenn Sie möchten, serviere ich Ihnen in unserem kleinen Separee neben der Küche einen leckeren Kaffee und ein paar süße Kleinigkeiten. Dort können Sie ungestört reden.“
Wie dankbar Petra für dieses Angebot war, konnte Pietro nur erahnen.
Völlig unverständlich war das jedoch für Frank. Der sagte: „Mäuschen, wir können doch in deinem Zimmer reden!“
„Nein, das geht jetzt nicht“, antwortete sie sogleich betont, worauf Frank erwiderte: „Hast da oben wohl einen Italian Lover?!“ Dazu grinste er fast unverschämt. „Ach was, mein Mäuschen doch nicht!“
„Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher“, wollte Petra ihrem Ex fast ins Gesicht schreien, beherrschte sich aber im letzten Moment und sagte: „Einer? Lieber Frank, damit gebe ich mich heute nicht mehr zufrieden.“
Kurze Zeit später saßen Frank und Petra in dem besagten Raum, der allerdings mehr einer ausgelagerten Backstube denn einem Separee glich. Als die Bedienung gegangen war, fragte Petra unverhohlen: „Frank, was willst du hier? Und woher weißt du überhaupt, dass ich hier am Comer See bin?“
„Beginnen wir mit deiner zweiten Frage“, griff Frank das Gesagte auf. „Ich habe deine Freundin Lisa angerufen. Die hat mir den Ort und den Namen des Hotels genannt, in dem du abgestiegen bist.“
Es stimmte, Petra hatte Lisa tatsächlich vor ihrer Abfahrt diese Infos gegeben. Sie wusste nicht einmal genau, warum sie das getan hatte.
„Und um deine erste Frage zu beantworten, Mäuschen“, fuhr Frank fort, „ich möchte, dass du zu mir zurückkommst.“
Das schlug dem Fass tatsächlich den Boden aus! Sie sollte zu ihm zurückkommen! Wer war es denn gewesen, der gegangen war? Doch nicht sie!
Petra wurde fuchsteufelswild. „Ich bin nicht gegangen“, entfuhr es ihr, „du hast mich verlassen! Darf ich dich daran erinnern, dass in unserem Haus nun ein Mäuschen sitzt, das meinen Platz dort eingenommen hat?“
„Ja, gerade darüber will ich mit dir reden. Weißt du“, nun klang Frank ein wenig kleinlaut, „Sonja und ich, wir haben uns getrennt. Um nicht zu sagen, ich habe sie aus dem Haus geworfen.“ Er schaute Petra an. „Und es tut mir leid, was ich dir angetan habe. Aber jetzt weiß ich endlich, dass du schon immer meine Traumfrau warst ... und immer sein wirst. Komm zu mir zurück!“
Petra wusste nicht, was sie denken sollte. So viele Wochen hatte sie sich gewünscht, dass Frank genau diese Worte zu ihr sagen würde. Und jetzt, da er sie gesagt hatte, wollte sie sie gar nicht mehr hören. Die Gefühle in ihr fuhren gerade mächtig Achterbahn – was sollte sie tun?
Dann aber fiel ihr ein: „Bist du nicht Vater geworden? Ich meine, so etwas vor zwei Wochen von meiner Mutter gehört zu haben. Sie hat wohl einen Anruf von deiner Mutter bekommen.“
Plötzlich lachte Frank lauthals los. „Vater geworden, pah! Dieses Luder hat mich von Anfang an gelinkt. Ich weiß nicht, wer der Vater von diesem kleinen Bastard ist, ich bin es jedoch auf keinen Fall. Als das Balg auf der Welt war, habe ich einen Vaterschaftstest machen lassen. Und weißt du was? Die Alte hat mich beschissen. Ich bin mit hundertprozentiger Sicherheit nicht der Vater dieses Kindes.“
Petra war erschrocken über Franks Ausdrucksweise. Wie verächtlich der von der Frau sprach, mit der er bis vor Kurzem Tisch und Bett geteilt hatte.
„Ob er nach der Trennung von mir auch so gehässig gesprochen hat?“, fragte sich Petra gerade selbst. Und laut sagte sie: „Frank, ich möchte das alles eigentlich gar nicht hören, denn es geht mich nichts an.“
„Und ob es dich was angeht!“ Frank sprach nun sehr betont. „Ich habe dich für dieses Luder verlassen. Sie hat mir schöne Augen gemacht. Na ja, da konnte ich nicht widerstehen. Bin ja auch nur ein Mann. Und bei uns war eben alles schon ein bisschen eingefahren. Na, du weißt schon. Im Bett und so. Aber als ich mit Sonja das erste Mal in der Kiste war, da muss sie schon schwanger gewesen sein. Hat bei der Geburt noch so getan, als würde das Kind zu früh kommen, denn die neun Monate, die so eine Schwangerschaft üblicherweise dauert, waren ja vor zwei Wochen noch lange nicht rum. Ich habe also mit dem Arzt gesprochen, den ich vom Golfen her kenne. Und der hat mir gesagt, dass der Kurze auf keinen Fall zu früh auf die Welt gekommen sei. Ich habe dann mal ein bisschen gerechnet und festgestellt, dass mein erstes Mal mit Sonja mindestens sechs Wochen nach der tatsächlichen Zeugung des Kindes stattgefunden hat. Also habe ich auf einem Vaterschaftstest bestanden. Und? Nix Vater. Die wollte mich nur für Zahlemann und Söhne haben! Diese dumme Kuh!“
„Trotzdem habe ich nichts damit zu tun“, antwortete Petra.
„Doch, hast du.“ Frank klang fast wie ein trotziges Kind. „Ich will dich zurück. Ich liebe dich doch, Mäuschen. Das weiß ich erst jetzt wirklich. Du gehörst zu mir ... und ich gehöre zu dir. Willst du meine Frau werden?“ Er grinste wieder. „Das ist doch die Frage, die du all die Jahre von mir hören wolltest, oder?“
Ja, gestand sich Petra ein. Das war genau die Frage, die sie 15 Jahre lang hatte hören wollen. Doch jetzt kam sie nicht mehr dort an, wo sie hätte ankommen müssen. Nämlich in ihrem Herzen. Jetzt wollte sie diese Frage nicht mehr hören.
Nicht von Frank.
Nicht von ihm!
Als Petra auch nach mehreren Minuten nicht geantwortet hatte, nahm Frank dies als Zustimmung. „Und damit du mir glaubst, was ich dir sage“, er stand auf, ging um den Tisch herum, fiel vor Petra auf die Knie und zog einen Ring aus seiner Jackentasche, „halte ich jetzt ganz offiziell um deine Hand an. Mäuschen, ich liebe dich.“ Mit diesen Worten zog Frank Petra an sich und küsste sie.
Kurz bevor sich ihre Lippen berührten, sah Petra an der Tür zum Separee einen Schatten. „Das kann doch nicht ...“ Sie verwarf den Gedanken sofort wieder, denn Matteo war ja in seiner Praxis. So erwiderte sie Franks Kuss ohne Leidenschaft und eigentlich eher aus Gewohnheit, empfand aber rein gar nichts dabei.
„Dann ist ja jetzt wieder alles gut zwischen uns“, folgerte Frank. „Gehen wir nach oben und holen deine Sachen. Und dann ab nach Hause. Oder ... vielleicht können wir ja noch dein Bettchen zusammen testen und erst morgen fahren. Dann hat Sonja auch sicherlich unser Haus verlassen.“
Das war das Stichwort, das Petra aus ihrer Lethargie riss. Da war sie wieder, diese selbstgefällige Art von Frank, die ihr früher gar nicht so aufgefallen war, aber jetzt mit dem Abstand einiger Monate, in denen sie sich nicht gesehen hatten, umso deutlicher bewusst wurde. Er, der Lenker, der Bestimmer. Sie, Petra, das Mäuschen.
Kuschend und klein.
Ja, vor einigen Wochen, vielleicht sogar noch vor ein paar Tagen wäre diese Situation, die sie gerade hier in diesem kleinen Hotel erlebte, ihr größter Wunschtraum gewesen. Frank und sie wieder vereint. Zurück ins alte Leben, zurück in eine Beziehung, von der Petra über Jahre hinweg gedacht hatte, sie wäre perfekt gewesen.
Doch heute, da wusste sie, dass sie dieses alte Leben nicht zurückhaben wollte. Wusste, dass sie Frank nicht zurückhaben wollte. Wusste, dass sie nie wieder das Bett mit ihm teilen wollte. Dass sie ihn nie wieder lieben konnte ... und nie wieder lieben wollte.
Die letzten Tage hatten ihr gezeigt, was Leben und Liebe wirklich bedeuten konnten. Diese Tage mit Matteo, die waren so einzigartig gewesen, so sinnlich, so zärtlich, so verdammt gut. So und nicht anders wollte Petra künftig leben. Matteo nahm sie wahr, nahm sie ernst. Sie war ganz Frau an seiner Seite, auf Augenhöhe. Sie war bei ihm in den wenigen Tagen mehr Partnerin gewesen, als sie es je in 15 Jahren bei Frank gewesen war. Bei ihm war sie immer nur Mäuschen gewesen. Eigentlich wusste sie schon gar nicht mehr, wann Frank sie zuletzt bei ihrem richtigen Namen gerufen hatte. Selbst als er sie verlassen hatte, war sie es ihm nicht wert gewesen, dass er sie Petra nannte. Auch da war sie nur Mäuschen gewesen. Ob er Sonja wohl auch so betitelt hatte?
Ohne es zu merken, hatte Frank ihr den Verlobungsring an den Finger gesteckt. Zu sehr war Petra mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. Nun saß er ihr wieder gegenüber auf dem Stuhl und sie betrachtete nachdenklich den Reif an ihrem Ringfinger. Langsam und bedächtig zog sie den Ring ab und legte ihn vor Frank auf den Tisch.
Dann sprach sie: „Ich habe dich sehr geliebt, Frank. Und ja, ich habe mir immer gewünscht, dass du mir diese eine Frage stellst.“ Petra hielt kurz inne in ihrer Ansprache, denn das, was jetzt aus ihrem Mund kommen würde, war der endgültige Schlusspunkt. Und der wollte wohlformuliert sein.
„Ich habe dich sehr geliebt. Und ich war sehr traurig, als du mich verlassen hast. Du warst mein Leben. Aber jetzt, Frank, jetzt bist du nicht mehr mein Leben. Ich liebe dich nicht mehr. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann weiß ich nicht einmal mehr, ob ich dich in den letzten Jahren, die wir zusammen waren, überhaupt noch geliebt habe. Oder ob du einfach so selbstverständlich warst wie das tägliche Brot. Liebe, Frank, ist deutlich mehr als das, was wir zusammen erlebt haben. Das weiß ich heute. Das weiß ich, seitdem mir klar ist, dass man nur sein eigenes Leben leben kann, nicht aber das eines anderen. Ich habe gerade gesagt, du warst mein Leben. Ja, das warst du. Und das war nicht gut. Ich will mein Leben leben. Mein ureigenstes Leben. Nicht deines. Ich will nicht mehr zu dir und deiner Welt gehören. Ich will nicht mehr klein sein. Ich bin kein Mäuschen, Frank! Ich bin Petra! Eine Frau aus Fleisch und Blut. Mit Wünschen und Bedürfnissen. Mit Träumen und Hoffnungen. Wann hast du mich zuletzt gefragt, was meine Träume sind? Was ich mir fürs Leben wünsche? Ich kann mich nicht daran erinnern.“ Sie sah ihn an und schaute in seine Augen, wobei sie nichts, aber auch rein gar nichts empfand. „Frank, es ist vorbei.“
Dann stand Petra auf, reichte ihm die Hand und fügte hinzu: „Andere sagen an dieser Stelle: Lass uns Freunde bleiben. Das sage ich nicht. Ich möchte nicht, dass du künftig zu meinem Leben dazugehörst. Ich möchte nicht, dass wir Freunde sind. Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt. Und ich sage dir ...“ Petra unterbrach sich noch einmal. „Ich sage dir Lebewohl ... für immer.“ Dann drehte sie sich um und ließ einen ziemlich erstaunt dreinblickenden Mann zurück.
Frank rief ihr nach: „Mäuschen, du kannst doch nicht ...“, doch das hörte Petra schon nicht mehr. Für sie hatte in diesem Moment die Zukunft begonnen. Mit der Vergangenheit hatte sie endgültig abgeschlossen.
Franks Abfahrt bekam Petra nicht mit. Nach einer Weile vergewisserte sie sich nur mit einem Blick aus ihrem Badezimmerfenster, dass sein Auto den Parkplatz verlassen hatte. Jetzt war sie frei. Petra packte ihre Schwimmsachen, ihr Buch und eine Decke ein und verbrachte den Tag so, wie sie ihn ursprünglich einmal – vor Franks unerwarteter Ankunft – für sich geplant hatte.
Als sich der Tag dem Abend zuneigte, erwartete Petra mit großer Sehnsucht Matteo. Doch er kam nicht. Sie wartete eine Stunde und dann noch eine und eine dritte. Inzwischen war es 22 Uhr geworden und sie noch immer alleine.
Sollte sie sich so in Matteo getäuscht haben?
War sie doch nur ein flüchtiges Abenteuer gewesen?
Eine Frau, die er hatte erobern wollen?
Oder hatte sie im Bett seinen Erwartungen nicht entsprochen?
Es stimmte, sie hatte nicht wirklich viel Erfahrungen mit Männern, Frank und eine flüchtige Beziehung namens Thomas, die sie einmal mit 17 gehabt hatte, waren bis gestern die einzigen Männer gewesen, mit denen sie verkehrt hatte.
Und Frank? Hatte er nicht heute Morgen erst noch zu ihr gesagt, der Sex mit ihr sei zuletzt ziemlich langweilig gewesen?
Da waren sie also wieder, diese Selbstzweifel. Petra ging ins Bett, doch einschlafen konnte sie nicht.
Und dann fiel ihr diese Bewegung an der Tür wieder ein, die sie aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen hatte, als Frank sie küsste. War das vielleicht doch Matteo gewesen? Dann wäre es verständlich, warum er heute Abend nicht gekommen war ...
In dieser Nacht schlief Petra verdammt schlecht. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere, wachte jede Stunde einmal auf, weil böse Träume sie verfolgten, und stand am Morgen wie gerädert auf. Immer wieder hatte sie über die Bewegung an der Tür nachgedacht. Sie musste wissen, ob das Matteo gewesen war. Sie musste ihm erklären, was da zwischen ihr und Frank passiert war.
Nachdem Petra sich, so gut es ging, erfrischt hatte, lief sie die Treppen ins Foyer hinunter. Dort ging Pietro bereits seiner Arbeit nach und grüßte freundlich.
„Pietro, wissen Sie, wo der Tierarzt Dr. Bianchi seine Praxis hier in Griante hat?“, fragte sie ihn.
„Das weiß im Ort jeder, natürlich kann ich Ihnen sagen, wo Sie unsere Tierärzte finden“, schmunzelte der Alte und Petra wusste nicht gleich, warum. Doch dann fiel ihr ein, dass Pietro sie und Matteo gemeinsam in den Aufzug hatte steigen sehen, als sie ihre erste Nacht gemeinsam in diesem Hotel verbracht hatten.
„Er hat sie gestern Abend versetzt, oder?“, fragte der Alte nun ganz ungeniert. Und als Petra nickte, fügte er hinzu: „Ja, das habe ich mir gedacht. Matteo war gestern noch einmal hier. Als Sie mit Ihrem Mann in unserem Separee gesessen haben. Aber Matteo kam sehr, sehr schnell wieder zurück ins Foyer ...“
Also hatte Petra doch recht gehabt! Matteo war noch einmal ins Hotel gekommen und hatte sie zusammen mit Frank gesehen. Klar musste er nach diesem Kuss – hatte Petra ihn überhaupt richtig erwidert? – denken, dass sie und Frank wieder zusammengefunden hatten.
Matteo hatte schon einmal in einem Gespräch gesagt, man solle seine Vergangenheit nicht unterschätzen, sie hätte oft genug Auswirkungen auf die Gegenwart. Wenn er nur wüsste, was sie wirklich mit Frank besprochen hatte ...
„Machen Sie sich keine Gedanken, Frau Weißenburger“, hörte Petra den alten Mann nun sagen. „Ich habe Matteo noch mit auf den Weg gegeben, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Und glauben Sie mir, er wird darüber nachdenken. Ich kenne Matteo seit Kindertagen. Er ist der Neffe des ersten Mannes meiner Frau.“ Er lächelte Petra vielsagend an. „Kommen Sie, Mädchen, ich mache uns einen leckeren Espresso und dann reden wir ein bisschen über die Liebe und das Leben. Und bald werden Sie sehen, dass alles gut wird.“
Mit diesen Worten verschwand er hinter einem Vorhang, der die Rezeption vom privaten Bereich des Mannes abtrennte. Petra vermutete schon seit ihrer Ankunft, dass Pietro hier auch selbst wohnte, in einigen Räumen im Erdgeschoss des Hotels.
Wie recht sie damit haben sollte, stellte sich schon wenige Minuten später heraus, als Pietro Petra selbst hinter seinen Vorhang bat.
Wie erstaunt war Petra jedoch, als sie dort nicht nur Pietro vorfand, sondern auch eine alte Dame, die sie freundlich lächelnd von einem Krankenbett aus musterte.
„Darf ich vorstellen, das ist Anna. Meine über alles geliebte Frau“, stellte Pietro die alte Dame vor. Und an diese gewandt sagte er: „Anna, das ist die junge Frau aus Deutschland mit den traurigen Augen, von der ich dir vor ein paar Tagen erzählt habe. Deren Augen erst wieder leuchten, seitdem sie unserem Matteo begegnet ist.“
Petra war sprachlos. Sie hatte zwar gewusst, dass Pietros Frau hier irgendwo im Hotel den Tag verbrachte, dass sie aber quasi den ganzen Tag über an seiner Seite weilte, eben nur durch einen Vorhang getrennt, und schwer krank war, das hatte sie nicht geahnt.
„Es tut mir leid“, begann sie ihren Satz, doch Anna unterbrach sie: „Papperlapapp, Ihnen muss nichts leidtun. Ich hatte ein wunderschönes Leben mit meinem geliebten Pietro. Heute bin ich krank, aber daran ist niemand schuld. Das ist jetzt eben so. Mit einem Mann wie Pietro an der Seite muss man auch das nicht fürchten. Liebe ist mehr als das, was man in jungen Jahren dafür hält. Liebe ist das, was ihn und mich heute verbindet. Ich liege zwar hier hinter dem Vorhang, damit unsere Gäste durch meinen Anblick nicht gleich abgeschreckt werden, aber ich bekomme alles mit, was hier im Hotel vor sich geht. Ich habe verdammt gute Ohren, wenn ich auch nicht mehr ganz so scharf sehen kann wie früher.“
Wie zur Unterstützung blinzelte sie mit beiden Augen und die Fältchen drumherum begannen zu hüpfen. Sie zeugten tatsächlich von einem sehr fröhlichen Leben, das die alte Frau einst geführt haben musste.
„Mein Pietro ist immer für mich da. Es gibt keinen besseren Mann. Er ist den ganzen Tag über an meiner Seite und lässt, wie Sie selbst es bereits an Ihrem ersten Tag bei uns erlebt haben, auch schon mal einen Gast warten, weil er mit meiner Pflege beschäftigt ist.“
Die alte Dame zeigte auf einen Stuhl. „Setzen Sie sich doch bitte, Pietros Espresso ist einmalig – ich verspreche Ihnen, wenn Sie zwei oder drei davon getrunken haben, wird die Welt für Sie wieder ganz freundlich aussehen.“
Petra fand Anna so sympathisch und offen, dass sie diese unverhoffte Einladung nicht ausschlagen konnte. Und sie musste gestehen, Pietros Espresso war, wenn auch recht bitter, doch ausgesprochen lecker. Kaum hatte Petra den ersten getrunken, stand auch schon der zweite vor ihr.
„Auf einem Bein kann man nicht stehen, sagt man das nicht so bei euch in Deutschland?“, grinste Pietro sie an.
Petra nickte und fühlte sich im gleichen Augenblick sehr leicht und frei.
„Nun, mein Kind, dann will ich Ihnen mal ein wenig von der Liebe erzählen“, begann Anna. „Den besten Mann der Welt habe ich. Doch gleich nach ihm kommt mein Neffe Matteo. Den haben Sie ja kennengelernt. Matteo ist ein feinfühliger Mann, der nur eine ebensolche Frau verdient hat. Dass er schon mal verheiratet war, wissen Sie sicherlich, oder?“ Anna sah Petra mit großen Augen an. „Ja, das wissen Sie“, gab sie sich gleich selbst die Antwort. „Mit Aurora. Gott hab sie selig ... diese alte Hexe.“ Sogleich bekreuzigte Anna sich und nickte Petra freundlich zu. „Verzeihen Sie meine Offenheit. Aber in meinem Alter und in meiner Situation redet man nicht mehr um den heißen Brei herum. Ich trete bald vor den Herrgott, da hat man fürs Schönreden keine Zeit mehr. Also zurück zu Aurora. Was hat Matteo Ihnen erzählt? Dass sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist? Ja, das ist sie. Und er hat erzählt, dass sie von der Fahrbahn gedrängt wurde von einem Betrunkenen. Ja, auch das hat er Ihnen gesagt, das sehe ich an Ihren Augen, liebe Petra. Das darf ich doch sagen ... Petra, oder?“
Die Angesprochene bejahte die Frage nur ganz kurz. Inzwischen hatte ihr Pietro den dritten Espresso serviert und sie fühlte sich mittlerweile sehr beschwingt. Was mochte nur das Geheimnis dieses umwerfenden Kaffees sein, der so fürchterlich bitter und scharf ... und dennoch irgendwie köstlich schmeckte?
„Nun, da hat Ihnen mein lieber Neffe nicht ganz die Wahrheit gesagt. Denn Aurora ist nicht von einem Betrunkenen von der Fahrbahn abgedrängt worden. Der Betrunkene hat selbst am Steuer gesessen und war Auroras Liebhaber. Und der Vater ihres Kindes, das sie unterm Herzen trug. Aurora und ihr Liebhaber waren auf dem Weg nach Milano, wo der feine Herr ein großes Appartamento unterhalb vom Dom gemietet hatte. Für sich, Aurora und das Kind, das sie erwartete. Meinen Neffen hatten die beiden erst zwei Wochen vorher davon in Kenntnis gesetzt, auch darüber, dass er gar nicht der Vater des Kindes war, auf das er sich nach zehn Jahren Ehe mit Aurora so sehr gefreut hatte. Kurzum: Auroras Liebhaber hatte vor der Fahrt nach Mailand einen überaus lukrativen Geschäftsabschluss gefeiert – er war Rechtsanwalt – und bei dieser kleinen Feier wohl den ein oder anderen Prosecco zu viel getrunken. Das hinderte ihn aber nicht daran, sich trotzdem ans Steuer seines schnellen Wagens zu setzen. Auf der Autobahn ist es dann passiert. Bei einem Überholmanöver kam der Wagen wegen erhöhter Geschwindigkeit und nasser Fahrbahn ins Schleudern und landete in der Leitplanke. Der Mann war sofort tot, Aurora starb wenige Tage später im Krankenhaus. Die Ärzte konnten Gott sei Dank das Leben des Ungeborenen retten. Aurora kam nur noch einmal kurz zu Bewusstsein. In diesem Moment nahm sie Matteo, der trotz alledem an ihrem Krankenbett verzweifelt wachte, das Versprechen ab, sich um ihr Kind zu kümmern, das nicht seines war. Und dieses Versprechen gab Matteo seiner sterbenden Frau, die er einst tatsächlich sehr geliebt hatte. Die kleine Giulia, die ja, weil sie ehelich geboren wurde, offiziell als Matteos Kind gilt, ist seit dem Tod von Aurora sein ganzer Lebensinhalt. Er hat seitdem nie wieder sein Herz einer anderen Frau geschenkt.“