Читать книгу Meteoriten - Éloise Cohen de Timary - Страница 3
Prolog
ОглавлениеWie eine Sportlerin vor dem Wettkampf geht sie im Geist den Ablauf durch. Sicher, sie hätte das lieber in der Klinik erledigt, mit dem gleichmäßigen Piepen der Geräte und dem Rattern des Servierwagens im Ohr und dem vertrauten Geruch der Desinfektionslösungen und Anästhetika in der Nase, aber die Umstände erfordern es nun einmal, dass sie es irgendwo in der Bretagne tun muss, in einem alten Haus mit feuchten Wänden und ausgetretenen, stellenweise abgesplitterten Steinfliesen. Es ist kurz vor Tagesanbruch, draußen herrscht eisige Kälte. Weißer Raureif überzieht die Fensterscheiben, die Temperatur im Haus beträgt höchstens zehn Grad.
Sie stöbert in dem großen Kirschholzschrank neben dem Eingang nach einer Wolldecke oder einem Plaid, aber sie findet nur Öljacken und Gummistiefel in allen Größen, Eimer, farbige Spaten, einen Tennisschläger mit gerissener Bespannung, und alles verströmt den Geruch von Ferien und Salzwasser. Unverdrossen geht sie zum offenen Kamin und legt ein paar Holzscheite nach. Es fällt ihr nicht schwer, sich die Kinder vorzustellen, die johlend, mit salzverkrustetem Haar, vom Strand zurückgerannt kommen, die Badeanzüge, die tropfend über der Wanne hängen, sie kann sich auch den fortwährenden Trubel in diesem Haus gut vorstellen, die Erwachsenen, die Witze reißen oder sich zoffen, die geselligen Tischrunden mit gut und gerne fünfzehn Personen, die Würstchen, die aufgereiht auf dem Grill brutzeln, die randvollen Salatschüsseln, die Flaschen, die geleert werden, eine nach der anderen, die Mahlzeiten, die sich ewig hinziehen, das letzte Glas, das man mit Blick auf den Sternenhimmel trinkt, und auf einmal drücken die Erinnerungsbilder, die nicht die ihren sind, ein wenig auf ihre Stimmung. Sie schüttelt den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben, und kehrt in die Küche zurück, wo sie den Kaffee aufsetzt. Marianne müsste bald nach unten kommen.
Im Stockwerk über ihr liegt Marianne schon lange wach. Das heißt, sie hat so gut wie gar nicht geschlafen. Aber sie möchte noch ein Weilchen für sich sein. Sie stellt sich ans Fenster, wischt die beschlagene Scheibe mit dem Ärmel ab und betrachtet den alten Pflaumenbaum am hinteren Ende des Gartens, der völlig kahl ist. Seine schlanken, windschiefen Äste heben sich wie ein Scherenschnitt vom Morgenhimmel ab. Marianne steht allein vor dem sanft heraufdämmernden Tag und fröstelt. Sie bläst ein paarmal ihren warmen Atem in die Hände und klemmt die Finger unter die Achseln. Der Morgennebel hat sich wie eine dünne weiße Decke auf die Landschaft gelegt. Aus den Schornsteinen der Nachbarhäuser quillt der erste Rauch. Die Zeit scheint langsamer zu verstreichen. Es ist vollkommen still, nichts regt sich, kein Laut dringt an ihr Ohr. Nur zwei Vögel trippeln zum Vogelhäuschen im Garten, um ein paar Sonnenblumenkörner aufzupicken, und im angrenzenden Bauernhof bereitet sich ein Kälbchen darauf vor, geboren zu werden.
Kurze Zeit später liegt Marianne lang ausgestreckt auf dem Sofa im Wohnzimmer. Von der Taille abwärts ist sie mit einer Wolldecke zugedeckt, darunter ist sie nackt. Sie schließt die Augen und kneift die Lider so fest zusammen, dass aus dem Dunkel psychedelische Farbwirbel auftauchen. Sie würde gern ein Gedicht aufsagen oder womöglich gar ein Gebet sprechen, aber ihr fällt nichts ein. Ganz präsent sind nur Virgiles Gesicht und die wenigen flüchtigen Bilder, die sie gern für immer unversehrt im Gedächtnis bewahren würde – den Abend ihrer ersten Begegnung und den Moment, in dem sie nach der Zigarette greift, die er gerade angezündet hat, als Ersatz für seine Lippen, die sie so gern berührt hätte; ihren ersten gemeinsamen Ausflug ans Meer, an einen Küstenort nicht weit von hier; das erste Mal, dass sie ihre Kleider in denselben Schrank eingeräumt und ihre Unterwäsche in dieselbe Waschmaschine gesteckt haben; das erste Mal, dass sie sich überlegt haben, wie es wäre, gemeinsam alt zu werden, und welchen Geruch ihrer beider Haut dann wohl hätte.
Marianne nimmt einen tiefen Atemzug und öffnet die Augen weit. Sie spürt, dass Virgile ganz nahe bei ihr ist. Sie kann ihn wahrnehmen, seinen warmen Atem, sein sonniges Lachen, den Zitrusduft von frischer Bergamotte in seiner Halsbeuge, und sie flüstert im Stillen allen Druiden und Zauberkundigen dieser Erde zu: Bitte macht, dass es gut geht. Macht, dass es funktioniert, ihr alle.
Die Frau neben ihr sagt etwas Ermutigendes – es klappt bestimmt, keine Sorge – und legt ihr beruhigend die Hand auf den Bauch. Dann führt sie behutsam den Katheter ein und injiziert mit sicherer, ruhiger Hand den Inhalt des kleinen Röhrchens – in diesem Moment für Marianne der Mittelpunkt des Universums.