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Fräulein Montag und ihre Schwestern

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EINE Lehrerin des Französischen, sie war übrigens eine Deutsche und hieß Montag, ein schwaches, blasses, ein wenig hinkendes Mädchen, das bisher ein eigenes Zimmer bewohnt hatte, übersiedelte in das Zimmer des Fräulein Bürstner.

Ich muss mit einem Vorbehalt beginnen. Schon lange gelingt es mir nicht mehr, Kafka wirklich zu lesen, im Zusammenhang, ausführlich, so, wie er es verdiente. Nur vereinzelte Stellen beschäftigen mich dann doch immer wieder, und dazu gehören die wenigen Passagen über das hinkende Fräulein Montag im »Prozess«. Es spielen ja in dieses Gerichtsverfahren auch das Begehren und die Ehen hinein: Die Pension von Frau Grubach, in der Josef K., Fräulein Bürstner und eben auch das Fräulein Montag wohnen, ist eine Zone der Singles, während der erste Besuch bei Gericht den Beschuldigten gleich in eine dampfende Familienatmosphäre führt: Kindergeschrei, Essen kochen, Wäsche waschen. Wie gern hätte ich mehr über Fräulein Montag gewusst, aber hier lässt mich Kafka im Stich. Ich wünschte mir, er hätte an dieser Stelle wenigstens die knappe Notiz eingefügt, die man anderswo bei ihm findet:

»Dass Leute die hinken dem Fliegen näher zu sein glauben als Leute die gehn. Und dabei spricht sogar manches für ihre Meinung. Wofür spräche nicht manches?«1 Aber auch das bleibt unbestimmt. Montaigne hat den Hinkenden einen ganzen Essay gewidmet, in dem er den Mangel zum erotischen Triumph umdeutet, eine Passage darin ist unvergesslich: »Die Italiener haben ein Sprichwort, welches ungefähr so lautet: Der kennt nicht die Süßigkeit ganz, die Venus gewähren kann, der noch keine Hinkende erkannt hat.« Man muss nur zu Kafkas Zeitgenossen Franz Werfel gehen, dann findet man auch diese Auffassung. In Werfels Roman »Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig« gesteht der Protagonist verzweifelt seine Liebe zu einer märchenhaft benannten jungen Frau: »Die Schönheit Sinaidas war eine wesenlose Entzückung, die ihrem Kleid die süße Form gab, selbst aber Zephyr, Geist, Schwingung zu sein schien. Und doch – es war fast klar – sie hatte ein Gebrechen. Wenn auch von zarter, unauffälliger Natur. Es schien, dass sich ihr Schritt nach der einen Seite etwas neigte, kaum merklich, aber in manchen Augenblicken unverkennbar. Dieses Unregelmäßige in dem Rhythmus ihrer Erscheinung (Hinken es zu nennen wäre zu viel und zu profan), dieses zarte Gebrechen riss mich hin, brachte mich um Verstand und Bewusstsein.«2 Und später: »O Gott, ich war, ich bin verliebt in ihr leichtes Hinken, in diese süße Gebrechlichkeit.«3 Was Kafka an Fräulein Montag versäumt hatte zu empfinden und zu schildern, das übertreibt Werfel bis zur klebrigen Süße, zum Kitsch – fast möchte man sagen: Kitsch ist (diesmal jedenfalls) verdrängte Pornographie. Schlechthin zauberhaft aber ist in seinem Lakonismus der Satz von Elias Canetti: »Sie hinkt so schön, dass die Gehenden neben ihr wie Krüppel erscheinen.«4 Solcher Gedanken der Verherrlichung war Kafka nicht fähig, sein Porträt der blassen Hinkenden scheint mir tatsächlich blass, unerwartet konventionell. Der Lehrerin des Französischen blieb ich dennoch treu.

Ähnlich muss es Orson Welles empfunden haben, als er Kafkas Roman 1962 verfilmte, mit Anthony Perkins als Josef K. und Romy Schneider als Leni. Denn hier ist nun aus dem »ein wenig« hinkenden Mädchen eine schwerbehinderte Frau mit einer auffälligen Beinschiene geworden, und die Szenen, in denen sie auftritt, haben sich gegenüber der literarischen Vorlage sehr erweitert. Und sie selbst ist es, die ihre Behinderung thematisiert, als K. ihr nachts folgt oder sie – wie sie glaubt – fast verfolgt.5 Die stärkere, fast obszöne Akzentuierung mag vom Film als Gattung gefordert sein, der künstlerisch zwingend von starken Bildern her denken muss. Gedenken wir auch der Rolle, die Ginette Leclerc als hinkende Verführerin, geradezu als Vamp, in Henri-Georges Clouzots meisterhaftem Kriminalfilm »Der Rabe« (»Le Corbeau«, 1943) spielte.6 Und des Films »Die Wendeltreppe« (»The Spiral Staircase«, Regie Robert Siodmak, 1945): die junge Myrna Dell in der ebenso verführerischen Rolle einer Hinkenden, die nur in Unterwäsche zu sehen ist – vom Zuschauer und von dem Mann, der sie gleich ermorden wird. Myrna Dell erinnerte sich später:

»I was to play a cripple who gets murdered at the beginning of the picture! ›God‹, I said to Siodmak, ›couldn’t you at least take the limp away?‹ But no.«7 In Erich von Stroheims »Hochzeitsmarsch« (»The Wedding March«, 1928), spielt ZaSu Pitts die reiche hinkende Erbin Cecelia Schweisser, die Prinz Nicki (Nikolas von Wildeliebe-Rauffenburg, dessen Rolle Stroheim selber übernahm) aus finanziellen Motiven heiratet, während ihr Vater auf einen Adelstitel hofft.8 Stets gegenwärtig und auch in der Kirche während der Hochzeitszeremonie nicht endend, ist der harte Kontrast zwischen den zynischen Kommentaren der Gesellschaft und der liebenden, geradezu engelhaften Schönheit und Unschuld Cecelias. Der Filmtheoretiker Rudolf Arnheim hat bei Strohheim geradezu eine Tendenz gesehen: »His heroines are dolls of a more than American sweetness, bedecked with flowers and the bridal veil, but in their pale eyes are sleepless nights and the terrors of rape. Significantly, he frequently uses the theme of the limping woman on crutches.«9

In diesen Bildern von Fräulein Montag und ihren Schwestern, vor allem in ihren Verwandlungen, steckt eine kleine Geschichte unserer Kultur.

Beschädigte Schönheit

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