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Einleitung

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Deutschland im Spätsommer 1918: Das Kaiserreich erlebt seine bislang schwerste Krise. Der Weltkrieg ist nach dem Scheitern der letzten deutschen Offensiven an der Westfront politisch sinnlos, die militärische Niederlage unabwendbar geworden. Man konnte sie nur mehr hinauszögern und günstigstenfalls eine Kapitulation abwenden. Die Demokratie hingegen ist unaufhaltsam auf dem Vormarsch, die Politisierung der unzufriedenen Volksmassen in vollem Gang. Offen bleibt, wie radikal, wie revolutionär sich diese Bewegung artikulieren wird. Der kaiserliche Machtstaat verfügt zwar noch über eine funktionierende Bürokratie, aber er besitzt schon lange keine politische Führung mehr. Mit einem regierenden Monarchen, der zum Schattenkaiser geworden ist, verliert der monarchische Gedanke an sich seine Aura.

In dieser Lage sind die politischen Akteure mit der Notwendigkeit konfrontiert, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Die überkommene Ordnung ist nur noch zu retten, wenn es gelingt, durch eine Art Volkskaisertum Vertrauen zurückzugewinnen. Dafür muss das Ansehen des Monarchen völlig erneuert oder der ›regierende Kaiser‹ durch einen geeigneteren Throninhaber ersetzt werden. Doch die Verantwortlichen scheitern daran, diese Krise besonnen zu bewältigen. Stattdessen geraten sie derart in Panik, dass sich bald Staatsführung und Herrscherdynastie wechselseitig bekämpfen und damit letztendlich ruinieren. Die unweigerliche Folge waren der gemeinsame Herr-schaftsverlust, der Einsturz der überkommenen Staatsordnung und – die deutsche Republik.

Erst knapp fünfzig Jahre zuvor hatte das Bismarckreich militärisch kraftstrotzend und politisch forsch die Weltbühne betreten und sich dort viele Jahrzehnte als Erfolgsstory verkauft. Im Sommer 1914 wähnte seine nun wilhelminische Führung sogar, es mit einer ganzen »Welt von Feinden« kriegerisch aufnehmen zu können. Jetzt aber musste der Kaiserstaat es sich gefallen lassen, von der Szene gejagt zu werden. Adieu Monarchie! Tragisch war an dieser Zeitenwende, dass es der deutschen Sozialdemokratie nicht gelang, aus jenem Prozess der Selbstbeschädigung ihrer notorischen Feinde als strahlender Sieger hervorzugehen, da die Partei bis November 1918 weder den festen Willen zur radikalen Überwindung des Kaiserreichs besaß noch das strategische Ziel einer demokratischen Republik verfolgte. Auch deshalb geriet Deutschlands Aufbruch in die Demokratie zur Sturzgeburt – mit nachhaltigen Folgen.

Diese reichlich verworrene Gemengelage gilt es, noch einmal Revue passieren zu lassen und zwar – anders als gemeinhin üblich – konsequent aus der Perspektive der damals politisch Maßgeblichen. Unser Blickfeld ist auf die Subjektivität dieser Entscheidungsträger gerichtet: Was trieb die Protagonisten an bei ihrem Handeln und – mehr noch – was lähmte sie? Wie haben sie die aufziehende Katastrophe wahrgenommen, empfunden, ihr entgegenzusteuern versucht? Warum überwarfen sie sich, statt zu kooperieren und wurden am Ende gar zu Antagonisten? Weshalb haben sie diesen internen Machtkampf so kurzsichtig und irrational geführt, dass er zur politischen Selbstvernichtung einer Herrscherdynastie führte? Und wer waren sie überhaupt, dass sie über so viel Einfluss verfügten?

Unsere Geschichte beginnt im August 1918, dem fünften Weltkriegssommer, als nach Überzeugung aller politischen Entscheidungsträger das deutsche Kaiserreich noch keineswegs verloren war. Noch gab es jede Menge Rettungspläne, ›Spindoktoren‹ und hektische Geschäftigkeit. Doch enden wird dieses Politdrama mit der fast friedlichen Machtübernahme durch die sogenannten Volksbeauftragten mit Friedrich Ebert an der Spitze, der seine wichtigste Aufgabe am 9./10. November darin sah, der ausgebrochenen Revolution ein vernünftiges Ziel, will sagen: enge Grenzen zu setzen. Eine solche Entwicklung lag zu Beginn unserer Erzählung außerhalb des Vorstellungsvermögens aller Beteiligten, und sie war auch keineswegs zwangsläufig angelegt im damaligen Weltgeist. Umso unbefangener lässt sich das Geschehen ergebnisoffen entlang der begründeten Vermutung erzählen, das deutsche Kaiserreich habe nicht ›naturnotwendig‹ so katastrophal untergehen müssen. Die historischen Akteure hatten es vielmehr in der Hand, die Dinge auch andersartig zu gestalten. Der Auszehrung und dem Verfall der Monarchie wäre immer noch entgegenzuwirken gewesen: durch sinnvolle Auseinandersetzung mit dem demokratischen Zeitalter, in dem sie unwiderruflich angekommen waren. So ›plastisch‹ wie im Betrachtungszeitraum dürfte die große deutsche Politik weder davor noch danach gewesen sein, verfügten jene an den Schalthebeln der Macht damals doch über ein operatives Potenzial von ungeahntem Ausmaß. Es war mithin vor allem anderen menschliches wie politisches Versagen, welches das deutsche Fiasko erzwungen hat, und diese Feststellung macht den Blick frei für die existenziellen Dramen, die integraler Bestandteil der Schlusskatastrophe waren.

Ja, Dramen: Die zentrale Aufgabe, die im Spätsommer 1918 im politischen Raum stand, war prinzipiell lösbar. Einem verantwortungsbewussten Krisenmanagement jedoch entgegenstand, dass es an der Spitze des Reiches schon lange keine auch nur halbwegs handlungsfähige und machtbewusste politische Führung mehr gab, nur mehr ein Ensemble von schwachen Persönlichkeiten mit großen Machtbefugnissen; von Menschen, die eine mehr oder weniger glänzende Vergangenheit hatten, aber plötzlich eine ungewisse Zukunft vor sich sahen und sich nun provoziert, ja kopflos fühlten. Damit jedoch besiegelten sie ihr Schicksal, schrieben ihr Wesen und ihre Befindlichkeit Geschichte. Die Rede ist von Leichtsinn und Dummheit, von Angst und Trotz, von Blindheit und Arroganz, von Feigheit und Versagen. Auch eine gehörige Portion Selbstzerfleischung war mit im Spiel. Es ist nicht gerade häufig, dass sich reale Politik wie die Handlung eines mitreißenden Romans entfaltet. Doch was im Herbst 1918 mit dem deutschen Kaiserreich geschah, seine rasante Selbstauflösung innerhalb weniger Wochen, kommt daher wie das fulminante Finale eines Stücks großer Literatur.

Die menschliche Seite der deutschen Zäsur von 1918 freizulegen, diese Aspekte der Politikgeschichte mit situativer Genauigkeit einzufangen, ist erklärtes Ziel dieses Buches. Dafür muss es seine Leser mit den maßgeblichen Akteuren ›persönlich‹ bekannt machen, in deren Porträts deutsche Politikgeschichte schärfer denn je hervortreten soll. Das Buch lädt ein zu einer Entdeckungsreise an die Schauplätze, wo sich vor hundert Jahren Dramatisches abgespielt hat. Es zeigt, wie und warum es zu diesem beispiellosen Untergang einer vermeintlich so unverwüstlichen Institution wie der Monarchie hat kommen können. Ohne eindringliche Blicke in die Hinterzimmer des Politikgeschehens und über die Schultern der Entscheidungsträger ist das nicht möglich. Wir müssen tief eindringen in die Welt derjenigen, die damals für sich in Anspruch nahmen, Staat und Volk zu führen oder doch führen zu können. Wir müssen ihre Mentalität kennenlernen, ihre Denk- und Sprechweise, ihre Anschauungen. Das Buch will die damalige Welt der Großen Politik, beziehungsweise die Lebenswelten ihrer führenden Repräsentanten noch einmal neu vermessen und zwar entlang von zuvor verschütteten Handlungsalternativen und Möglichkeiten – ohne blinde Flecke und tote Winkel auszusparen, die auf dem Weg in die Instinkt- und Besinnungslosigkeit entscheidend waren. Die historischen Akteure werden in das Spannungsfeld von Persönlichkeit und Politik zurückversetzt, um ihre inneren Konflikte in allen, oft hochemotionalen Dimensionen zu ermessen. Gleichwohl ist es die Pflicht eines redlichen Historikers, diese ebenso von außen zu interpretieren und in den weitreichenden Konsequenzen auszudeuten. Insofern sind die Protagonisten immer wieder auch aus kritischer Distanz zu betrachten.

Auf diese Weise ist es möglich, zum Kern einer deutschen Katastrophe vorzudringen, die sich noch auf weit mehr bezog als das politische Überleben der gekrönten Häupter. Es geht in diesem Buch um Deutschland, um einen epochalen Einschnitt in seine Geschichte, eine Weichenstellung für das ganze 20. Jahrhundert. Weil der unerwartete Einsturz des Kaiserreichs eine politisch-kulturelle Leerstelle hinterließ, die keine der diversen politischen Kräfte 1918/19 aufzufüllen vermochte, musste das Ende der monarchischen Welt erst einmal ein primär negatives Ereignis bleiben. Die Frage, warum es die Demokratie im 20. Jahrhundert gerade in Deutschland so schwer hatte beziehungsweise warum sie sich hier so schwertat, hängt ganz wesentlich damit zusammen.


Am 28. November 1918 unterzeichnet Wilhelm II. nach dreißig Jahren als oberster Repräsentant des Deutschen Kaiserreichs seine Abdankungsurkunde. Sie beinhaltet nicht allein den Verzicht der preußischen Dynastie auf jedweden Herrschaftsanspruch. Sie ist zugleich die Todesbescheinigung für die Monarchie in Deutschland.

Kaisersturz

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