Читать книгу Ein Mix über die Liebe - Lothar Mix - Страница 6
INTERNETBEKANNTSCHAFTEN Eine komplizierte Beziehung
ОглавлениеWie wird der Tag heute enden? Mit diesem Gedanken drücke ich mit zittrigem Zeigefinger auf die Türklingel von Renate Müller. In der linken Hand halte ich krampfhaft einen Blumenstrauß.
Wir haben uns im Internet bei »find your partner« kennengelernt und uns mehrmals im Café Kramer getroffen.
Gleich wird sich die Tür öffnen und ich darf ihr Haus mit Garten sehen, und sie will mir ihren dreizehnjährigen Sohn, Michael, vorstellen. Mein Puls steigt.
»Hallo Swen. Schön, dass du pünktlich bist«, begrüßt mich Renate und küsst mich auf die Wange. »Danke dir auch für die Blumen.« Anschließend zeigt sie mir stolz ihre Wohnung, aber nicht das Schlafzimmer, und ihren Garten. Ich bewundere den gepflegten Steingarten mit den verschiedenen Stauden. Nur, dass der Rasen unbedingt gemäht und bewässert werden müsste, das fällt mir zwar auf, aber ich sage es ihr nicht.
Nachdem wir von ihrem selbstgebackenen Streuselkuchen gegessen und Kaffee getrunken haben, sagt Renate zu mir: »Schatz, wenn du zum Abendbrot bleiben möchtest, dann muss ich vorher noch einkaufen.«
Was für ein schöner Vorschlag, denke ich. »Ich möchte gerne bleiben. Was gib es denn zu essen?«
»Lass dich überraschen.«
Ich glaube, sie will mich mit Michael alleine lassen und sehen, wie wir miteinander umgehen.
Kaum ist sie verschwunden, sage ich: »Michael, ich möchte mich im Garten nützlich machen und den Rasen zu Ende mähen. Hättest du Lust, die Blumen zu gießen?« Während ich den Rasen mit dem elektrischen Rasenmäher bearbeite, höre ich ab und zu ein Klicken. Weil aber der Motor weiterläuft, interessiert mich die Ursache nicht. Als ich mit der Arbeit fertig bin, rufe ich: »Michael, schließ doch den Wassersprenger an. Wir müssen den Rasen noch bewässern.«
Schock! Ich sehe mehrere Wasserfontänen aus dem Rasen schießen. Nur nicht aus dem Gerät, aus dem sie eigentlich herauskommen müssten. Eindeutig, ich habe mit dem Rasenmäher den Wasserschlauch zerstört! Was wird Renate nur von mir denken? So einen ungeschickten Freund möchte sie bestimmt nicht haben! Soll ich einfach gehen? Nein, mir fällt etwas ein: Vielleicht kann Michael mir helfen.
»Michael, ich gebe dir fünfzig Euro, wenn du mir einen neuen Wasserschlauch besorgst und ihn anschließt, bevor deine Mutter wiederkommt.
Weitere fünfzig Euro bekommst du, wenn das unser Geheimnis bleibt.«
Begeistert von meinem Vorschlag nimmt er das Geld und verlässt hüpfend das Haus. Während Michael weg ist, kehre ich das abgeschnittene Gras zu einem großen Haufen zusammen und räume im Garten auf. Etwas später erscheint Renate mit zwei vollgepackten Tragetaschen. Sofort gehe ich zu ihr hin und will ihr helfen. »Wo ist Michael? Habt ihr euch gestritten?«
»Nein, Renate. Ein Freund hat angerufen. Michael sollte unbedingt zu ihm kommen. Aber zum Abendessen will er rechtzeitig zurück sein.«
Ich bin in diesem Moment über mich selbst erstaunt, dass ich die Lüge so einfach aussprechen kann.
Gott sei Dank kommt Michael rechtzeitig zum Essen und flüstert mir leise ins Ohr: »Alles roger. Auftrag erfüllt.«
»Wer flüstert, der lügt«, sagt Renate und neugierig fragt sie: »Was darf ich nicht wissen?«
»Männergeheimnis!«, sage ich und um mich vor weiteren Fragen zu schützen, lenke ich Renate vom Thema ab und frage: »Sollen wir jetzt den Rasen taufen?«
»Swen, das geht leider nicht. Mein Sohn hat mit dem Rasenmäher den Wasserschlauch kaputt gemacht. Er muss zur Strafe, weil ich ihn extra auf den Schlauch hingewiesen hatte, den Schaden ersetzen.«
Ich spüre, wie sich meine Mimik verändert. Ich schaue böse in Michaels traurige, goldschimmernde braune Augen. Das gegenseitige Anstarren erinnert mich plötzlich an einen Wettkampf. Wer zuerst mit den Augenlidern blinzelt, hat verloren. Gleichzeitig schießt mir der Gedanke durch den Kopf: Hoffentlich verrät Michael seiner Mutter nicht, dass das Geld von mir stammt. Ich spüre Michaels Gedanken: Bitte Swen, verrate mich nicht. Meine Augen reiße ich weiter auf, Bilder verschwimmen. Ich verliere den ernsten Gesichtsausdruck und konzentriere mich nur auf meine Augen, kann aber ein Blinzeln nicht verhindern.
»Swen hat verloren«, sagt Michael schadenfroh und reibt mit den Fingern über seine Augen.
»Du hast gewonnen«, gebe ich zu und muss dabei lachen. »Aber lass uns in den Garten gehen und den Wasserhahn aufdrehen. Ich möchte sehen, was passiert.«
Erstaunt, dass das Wasser wieder an der richtigen Stelle herausspritzt, fragt Renate uns: »Wer war das?«
»Das waren die Heinzelmännchen«, sagt Michael lachend und sieht mich an.
Als ich mich später von Renate verabschiede, bekomme ich von ihr einen langen Kuss und sie sagt: »Danke dir. Es war ein schöner Tag. Komm bald wieder.«
Überglücklich fahre ich nach Hause.
Nach drei Tagen ruft Renate mich an: »Swen, wir müssen uns unbedingt treffen. Könntest du am Samstag ins Café Kramer kommen? Michael hat mir gebeichtet, woher er auf einmal soviel Geld hat.«
Ich höre ihre unruhige Stimme und ihr heftiges Atmen. Mir fällt in diesem Moment nichts Passendes ein und ich antworte kurz: »Ja, können wir machen, sagen wir fünfzehn Uhr. Aber komm bitte ohne Michael.«
Jetzt ist Samstag und ich sitze pünktlich im Café Kramer. Renate ist noch nicht da. Meine Sorgen tauchen wieder in meinem Gehirn auf, wie eine Luftblase im Wasser: Wenn ich eine feste Beziehung mit Renate beginne, ist Michael dann ein Sohn für mich und bin ich dann sein Erziehungsberechtigter? Darf ich meine Meinung sagen, und wird er mich akzeptieren? Wieso sind meine Gedanken nur mit Michael beschäftigt? Was ist mit Renate? Wie wird sie mein Verhältnis zu Michael sehen? Wird sie mir ein wenig die Vaterrolle zugestehen?
Meine Überlegungen werden unterbrochen, als sie in einem attraktiven Outfit auf mich zukommt.
»Swen, tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ich habe einfach keinen Parkplatz in der Nähe gefunden.«
»Es ist nicht schlimm. Ich habe noch nichts bestellt«, antworte ich.
Sie ordert bei der Bedienung für sich ein Stück Obsttorte und ein Kännchen Kaffee. Ich schließe mich ihrer Bestellung an, aber sofort kommt mir der Gedanke: Feigling, du isst doch lieber Käsesahnetorte und trinkst lieber Tee. Zu ihr sage ich jedoch: »Siehst du, wir haben den gleichen Geschmack.«
Sie geht gar nicht auf meine Bemerkung ein.
»Swen, wieso hast du Michael für sein Schweigen fünfzig Euro gegeben? Hattest du etwa Angst, ich würde mit dir schimpfen, wenn du aus Versehen den Gartenschlauch kaputt gemacht hättest? Traust du mir so eine Reaktion zu? Irgendwie bin ich von dir enttäuscht. Du hast mich völlig falsch eingeschätzt.«
Eigenartig! Ich erinnere mich plötzlich daran, dass ich als Kind bei meiner Tante Erdbeeren aus dem Garten geklaut hatte. Sie hatte mich damals sehr heruntergeputzt. Ich spüre, ich muss etwas erklären.
»Renate, du hast ja recht. Dieser Bestechungsversuch war unüberlegt. Ich wollte mir wohl Michaels Freundschaft erkaufen. Schimpfe nicht mit mir. Ich hatte noch nie eine Beziehung zu einer Frau mit Kind.«
Renate räuspert sich und ihre Stimme klingt jetzt für mich nicht mehr so aggressiv: »Entschuldige, wenn ich dich verletzt habe. Aber noch etwas anderes: Es geht um Michael. Wir besaßen bis vor kurzem noch einen alten Fernseher. Mein Sohn nervte mich immer wieder mit seinem Wunsch, einen Flachbildfernseher zu kaufen. Ich hatte dafür kein Geld. Michael musste dann heimlich irgendetwas mit dem alten Gerät angestellt haben, denn der Fernseher funktionierte auf einmal nicht mehr. Michael bat Bernd, deinen Vorgänger, den Apparat zu reparieren.«
Als sie das Wort »Vorgänger« sagt und Bernd damit meint, spüre ich ihren Blick und erahne ihren Gedanken: Was wird Swen jetzt von mir denken.
Ich höre ihr weiter zu und bin gespannt, wie die Geschichte weitergeht.
»Ich kam spät von der Arbeit nach Hause und hörte einen lauten Streit zwischen Bernd und meinem Sohn. ›Du hast unseren Fernseher kaputt gemacht. Bernd, du musst uns einen neuen kaufen. Einen Flachbildfernseher wollen wir!‹ Bernd hatte ihm geantwortet: ›Michael, du bist bekloppt. Ich habe doch nur ein paar Schrauben gelöst. Ich habe noch nicht alles untersucht, warte doch ab.‹«
»Swen«, sagt Renate und schaut mich an, »kannst du mich verstehen? Als ich das Wort bekloppt hörte, drehte ich völlig durch und schrie: ›Bernd! Spinnst du? Wieso hältst du meinen Sohn für bekloppt? Du bist nicht sein Vater.‹
Außerdem sah ich, wie Michael dem Bernd die Zunge rausstreckte. Bernds Gesicht wurde rot wie eine Tomate, und er brüllte: ›Dein Liebling ist kein Engel. Er ist ein verzogener Rotzlöffel.‹
Das war zu viel für mich. Ich habe Bernd die Tür gezeigt und er ist freiwillig gegangen.
Aber nach zwei Wochen hatte er uns einen neuen Flachbildfernseher geschenkt und mir einen Abschiedsbrief geschrieben. Den Inhalt werde ich dir nicht verraten.« Mit ernstem Gesicht beobachtet sie meine Reaktion. Ich glaube, ich habe die Kontrolle über mein Gesichtsausdruck verloren. »Swen, habe ich dich geschockt?« Ich weiß nicht, was ich in diesem Moment denken oder sagen soll. Ich bin froh, als ich die Bedienung mit Kaffee und Kuchen sehe. Irgendwie haben wir es dann geschafft, über weniger ernste Themen zu sprechen. Wir reden über Wetter und Kuchen. Ist ja auch einfacher.
Ich bezahle die Rechnung und begleite Renate zu ihrem Auto. Sie gibt mir einen flüchtigen Kuss und schaut mich mit feuchten Augen an und fragt: »Sehen wir uns wieder?«
Auch mich hat der Nachmittag nachdenklich und irgendwie traurig gemacht und ich antworte ihr: »Ich ruf dich an.« Mit dieser Botschaft setzt sie sich in ihr Auto und fährt los.
Ich glaube, meine Antwort hat sie nicht glücklich gemacht. Mir fällt plötzlich ein, dass ich ihr nicht gesagt habe, wann ich anrufen werde.
Zwei Wochen später, als ich von der Arbeit nach Hause komme, freue ich mich auf das Surfen im Internet.
Ich besuche das Internetportal »find your partner«, wo ich auch Renate getroffen hatte. Eine Ruth interessiert mich besonders. Wir chatten mehrmals und möchten unsere Hobbys, wie das Tanzen und das Wandern, bald in der Praxis verwirklichen, uns aber vorher mal in einem Museum treffen. Wir wollen uns gerade auf morgen einigen, als es mehrmals an der Tür schellt. Ich unterbreche unseren Chat und öffne ärgerlich die Tür.
»Das ist wirklich eine Überraschung! Michael, komm rein«.
»Hi, Swen, da staunst du. Ich bin es.«
Richtig, auf einmal erinnre ich mich. Ich wollte doch Renate anrufen, habe ihr nur nicht gesagt, wann. Hat sie ihren Sohn vorgeschickt, um so unsere Beziehung auf den Prüfstand zu stellen?
»Michael, warum besuchst du mich? Hat dich deine Mutter geschickt?«
»Nein! Meine Mami hat einen neuen Freund.«
Das geht aber schnell, denke ich. Michael fährt fort. »Der Neue will mich erziehen. Ich darf fast gar nichts mehr. Er geht mir jetzt schon auf den Keks.«
Ich denke: Das kann ich verstehen, spreche es aber nicht aus und sage stattdessen: »Michael, bleib im Wohnzimmer. Wenn du möchtest, kannst du fernsehen. Ich gehe in die Küche und schmiere uns ein paar Brote.« Kaum bin ich in der Küche, rufe ich Renate an: »Hallo Renate.«
»Wieso rufst du jetzt erst an? Ich habe auf deinen Anruf gewartet.« Irgendwie klingt ihre Stimme traurig. Ich möchte in diesem Augenblick nicht mit ihr diskutieren, denn ich weiß, dass sie recht hat.
»Michael ist bei mir.«
»Was? Was will er bei dir?«
»Weiß ich nicht. Kannst du ihn nicht bei mir abholen? Ich bereite inzwischen das Abendbrot vor. Ich würde mich freuen, wenn du kommst.«
»Ja, Swen, ich bin froh, dich wiederzusehen.«
» Dito«, sage ich und beende das Gespräch.
Pfeifend bereite ich ein »Luxus«-Essen vor, das heißt: mit kleinen Gurken, Tomaten und Radieschen, mehreren Käsesorten und Aufschnitt. Als Krönung für den Abend stelle ich eine Flasche exquisiten Rotwein mit Kristallgläsern auf den Tisch.
Ich gehe ins Wohnzimmer und sehe, wie Michael meinen Laptop zuschlägt. Ich Idiot, warum habe ich das Gerät nicht ausgestellt? Was hat er gesehen und gelesen? Schreckliche Gedanken flitzen in mein Gehirn. Wird Michael mich bei seiner Mutter verpetzen? Ich versuche einen Bluff.
»Michael, du hast mich belogen. Deine Mutter hat keinen neuen Freund.«
»Ja, weiß ich. Ich wollte nur sehen, wie du reagierst. Ich mache dir einen Vorschlag: Wenn du Mami nicht sagst, was ich dir erzählt habe, dann werde ich ihr auch nichts von Ruth erzählen. Außerdem brauchst du mit Ruth nicht mehr zu chatten. Den Termin mit dem Museum habe ich für dich erledigt.«
»Was hast du gemacht? Wieso schaust du meine Internetseite an? Hast du noch nichts von Privatsphäre gehört?«
»Ich habe Ruth nur gemailt, dass du morgen nicht ins Museum gehen kannst, weil deine Frau Geburtstag hat. Bleib ruhig. Ich habe sie zum Geburtstag eingeladen. Du wirst ja sehen, was sie geantwortet hat.«
Ich werde wütend und will mit Michael schimpfen. Aber in diesem Moment schellt es und ich sehe Michaels ironisches Lächeln. Ich gehe zur Tür und öffne sie.
»Tag Swen. Ich habe eine Flasche Rotwein mitgebracht. Zur Versöhnung.«
»Danke Renate, dass du so schnell gekommen bist. Komm, wir gehen ins Esszimmer. Ich habe schon alles vorbereitet. Michael, wo bleibst du? Wir wollen essen.«
Vielleicht durch den Weingenuss und weil Michael den Namen Ruth bis jetzt nicht erwähnt hat, kann ich mich allmählich entspannen.
»Swen, ich bin so glücklich.« Renate steht von ihrem Stuhl auf und gibt mir einen längeren Kuss. Meine Nase registriert einen dezenten Maiglöckchenduft und meine Hand berührt ihre Hüfte. Ich kann den Kuss nicht so heiß wie ich es möchte erwidern, weil ich Michaels Gesichtsausdruck mit halb geschlossenen Augen analysieren muss. Er schaut nicht weg. Ich kann nicht erkennen, was er in diesem Moment denkt. Mit kurzen, heftigen Atemzügen setzt sich Renate auf ihren Stuhl und ordnet ihre Frisur.
»Swen, ich habe morgen Geburtstag und ich lade dich herzlich ein. Du musst kommen.«
In meinem Gehirn hämmert es und was mache ich mit Ruth? Irgendwie muss ich Zeit zum Überlegen gewinnen, registriere Michaels Grinsen und frage mich, was er Ruth gemailt hat.
»Renate, warum hast du mir nicht früher gesagt, wann du Geburtstag hast? Dann hätte ich mehr Zeit gehabt, mir für dich eine Überraschung auszudenken.«
»Das Geschenk ist für mich nicht wichtig. Hauptsache ist, dass du kommst. Die Überraschung können wir verschieben. Ich habe dir nichts gesagt, weil ich mir noch nicht so sicher war, was ich für dich empfinde. Jetzt kann ich mir vorstellen, dass wir eine Familie werden, oder?«
»Oh, das ist eine Aussage! Darüber werde ich nachdenken.«
Was mache ich mit Ruth, überlege ich.
»Renate, leider kann ich morgen nicht kommen. Ich bin mit meiner Schwägerin Ruth im Museum verabredet. Tut mir leid.«
»Schatz, bring sie doch einfach mit. Ich würde mich freuen, noch jemanden aus deiner Familie kennenzulernen. Außerdem habe ich genug zum Essen eingekauft.
»Das ist eine gute Idee. Ich werde Ruth fragen.«
»Es wäre schön, wenn ihr gegen sechzehn Uhr kämt. Wo ich wohne, weißt du. Komm Michael, wir müssen gehen.« Ich bringe die beiden zur Tür und gebe Renate nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange, was sie mit einem erstaunten Gesichtsausdruck registriert. Michael gebe ich zum Abschied keine Hand. Erleichtert schließe ich hinter ihnen die Tür.
Mit einem Glas Rotwein schleppe ich mich ins Wohnzimmer und öffne meinen Laptop. Ich sehe, dass ich immer noch online mit Ruth verbunden bin und lese auf meinen Bildschirm: »Spinnst du! Was soll das denn?! Wieso bist du plötzlich verheiratet?«
Mit zittrigen Fingern bearbeite ich die Buchstabentasten und schicke ihr meine Botschaft.
»Oh Gott! Heute hat mich mein Neffe Michael besucht und dir die schreckliche Botschaft geschickt. Er wünscht sich, dass seine Mutter Renate und ich ein Paar werden. Seine Mutter und ich hatten mal eine kurze Affäre. Ich glaube, er ist eifersüchtig und möchte, dass ich sein neuer Vater werde.«
Ich bin in diesem Moment stolz auf meine Lüge. Hat der Wein mir geholfen? Denn kaum habe ich die Nachricht abgeschickt, überlege ich, ob er mich wirklich als Vater akzeptieren würde und ich ihn auch als Sohn haben möchte? Ich habe keine Zeit, über ein Ergebnis nachzudenken, denn Ruths Antwort erscheint auf dem Bildschirm:
»Das Kind kann ich gut verstehen. Aber glaube mir, ich werde mich so verhalten, dass dich deine Renate und ihr Sohn in Zukunft in Ruhe lassen. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Träume von mir. Ich freue mich auf Morgen.«
»Dito«, ist meine Antwort und ich schließe meinen Laptop, trinke die Weinflaschen leer und torkle ins Bett in der Hoffnung auf einen schnellen, ruhigen Schlaf.
Beim Zähneputzen schaut mich am nächsten Morgen jemand aus dem Spiegel an, mit dem ich sofort Mitleid empfinde. Das soll ich sein?
Die Frage, was ich zum Geburtstag anziehe, lenkt mich ab. Nach einer längeren Überlegung entscheide ich mich für eine schwarze, frisch gebügelte Leinenhose, schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe. Gut, dass ich noch ein neues weißes Hemd in Reserve habe.
Angezogen sitze ich unruhig auf dem Küchenstuhl. Das Käsebrot, garniert mit Radieschen, hat noch die gleiche Größe, wie vor einer Stunde. Die Zeiger der Küchenuhr wollen sich nicht bewegen.
Die zwei Frauen gehen mir nicht aus dem Kopf. In meiner Fantasie sehe ich auf einmal eine unfassbar große Waage mit zwei Waagschalen in gleicher Höhe. Aber was ist das? In der linken Schale befindet sich Renate und winkt mir zu. In der rechten Schale liegt Ruth auf einem Sofa und berührt ihre Lippen verführerisch mit der Zunge. Ich schaue mir Renate jetzt genauer an und sehe, dass sie mir ein Plakat zeigen will. Darauf lese ich: Haus, Garten, Familie, Ruhe, Frieden. Beim Lesen bemerke ich, wie die linke Schale steigt. Neugierig schaue ich auf die rechte Schale und konzentriere mich auf Ruth. Sie hat ebenfalls eine Botschaft für mich: Kunst, Bücher, Kultur, Musik, Abenteuer. »Hilfe!«, höre ich Ruth schreien, als sie merkt, dass ihre Schale sich senkt und sich im Gleichstand eingependelt hat.
Verstört von meinen Gedanken schaue ich auf meine Armbanduhr. Registriere dreizehn Uhr und überlege: Warum habe ich nicht meine Beziehung per SMS beendet? Aber welche? Ich habe doch beide im Internet getroffen, dann kann ich auch die Beziehung im Internet beenden. Oder soll ich noch nach einer neuen Bekanntschaft suchen? Wäre ich doch 24 Stunden älter!
Ich fahre mit meinem Auto zu einer Konditorei und kaufe die größte und teuerste Pralinenpackung. Was für ein einfallsloses Geschenk! Ich habe keine Zeit darüber nachzudenken und schaue auf die Uhr. Herrgott, der kleine Zeiger hat bald die drei erreicht. Kann jemand die Zeit für mich anhalten? Ich habe doch noch keine Blumen gekauft. Endlich stehe ich in einem Blumengeschäft und sehe rote Rosen, bunte Orchideen, Strelitzien. Renate würde sich riesig über diese Blumen freuen. Aber was wird Ruth dann von mir denken? Ich entscheide mich für einen einfachen, preiswerten, bunten Blumenstrauß.
Geschafft! Ruth steht noch nicht an der Bushaltestelle, wo wir uns treffen wollten. Doch jetzt erkenne ich sie, wie sie mit energischen Schritten auf mich zukommt. Für mich sieht sie mit ihren schwarzen, spitzen Schuhen, ihrem schwarzen Rock und der cremefarbenen Rüschenbluse sehr konservativ aus. Ich winke ihr zu und denke: Kommt dort mein Glück oder Unglück?
»Tag Swen«, und ich bekomme einen Begrüßungskuss auf den Mund. Meine Zunge berührt vorsichtig meine Lippen und ich schmecke den feuchten Lippenstift. Ruth errät meine Gedanken und sagt lachend: »Swen, soll ich dir einen dicken Schmatzer auf die Wange drücken, dann weiß Renate über uns Bescheid. Wir sind doch ein Paar, oder?«
Mir wird schlecht und ich sage: »Komm, wir wollen doch pünktlich sein.« Nach einer schweigsamen Fahrt erreichen wir das Ziel.
Renate öffnet uns die Tür in einem bunt karierten Kleid und weißen Sandalen. »Schön, dass ihr da seid. Wir können in den Garten gehen. Ich habe wieder den Streuselkuchen gebacken, den du so liebst.« Mit einem beklemmenden Gefühl überreiche ich ihr das Geburtstagsgeschenk. Als Renate die Blumen auspackt, bemerke ich ihre Enttäuschung. Ich bin mir sicher, dass sie auf rote Rosen gehofft hatte. Den traurigen Blick von Renate halte ich nicht aus und gehe in den Garten, wo bereits Ruth gemütlich auf einem Gartenstuhl, vor einer Tasse Kaffee und Kuchen, Platz genommen hat. Was für ein Glück für mich, dass Michael nicht anwesend ist. Kurz darauf erscheint Renate mit einer Schale frisch geschlagener Sahne. Ich bin froh, dass wir nur über belanglose Themen wie Wetter, Urlaub und Beruf reden. Allmählich fange ich an, die friedliche Situation zu genießen und beobachte, wie die Bienen im Staudenbeet den Rittersporn und Fingerhut besuchen. Während die beiden Frauen sich über Stricken und Nähen unterhalten, kommt mir die Idee, zweigleisig zu fahren. Meine Träume stoppen, als ich im Hintergrund Ruths Frage höre: »Wo ist denn dein Sohn Michael?«
Alarm, Alarm!, höre ich in meinem Gehirn und meine Ohren erkennen Renates Stimme.
»Michael spielt mit seinen Freunden Fußball.«
Gott sei Dank hat Ruth nicht Swens Neffe gesagt. Ich muss jetzt schnell handeln.
»Wann will er wiederkommen?«, frage ich neugierig. »Er wird gleich kommen. Er hat ja gesehen, wie ich den Kuchen gebacken habe und er hat bestimmt Hunger.«
Bitte nicht!, sind meine Gedanken. Ich muss mit Ruth hier schnell verschwinden, ohne dass es wie eine Flucht ausschaut und stehe vom Stuhl auf: »Bitte Ruth, wir haben Renates Zeit genug in Anspruch genommen, wir müssen gehen.« Renates Antwort stürzt mich in den Abgrund.
»Setz dich bitte, wir wollen auf Michael warten. Er hat auch mir gesagt, dass er Ruth sehen und mit ihr reden möchte.«
Herrgott, wie kann ich meine Probleme schnell lösen? Think quick! Meine Gedanken werden durch ein heftiges, kurzes Türklingeln unterbrochen.
»Das ist bestimmt Michael. Ich mache die Tür auf.«
» Hi Mami, sind die Gäste schon da?« Während sich die Mutter mit ihrem Sohn im Flur unterhält, sagt Ruth zu mir: »Wenn man vom Teufel spricht …« Ich ergänze: »… dann kommt er persönlich«, sage ihr aber nicht, wie sehr recht sie hat.
Renate packt Michaels Hand und sie kommen in den Garten.
»Michael, darf ich dir Swens Schwägerin Ruth vorstellen? Mein Blick zu Michael ist flehender, als der von Marie Antoinette kurz vor ihrer Hinrichtung.
Michael geht zu Ruth, gibt ihr brav die Hand und sagt: »Nein, ich weiß, dass Sie nicht seine Schwägerin sind. Swen hat zu mir gesagt, dass er keine Geschwister hat. Er ist ein Einzelkind, wie ich.«
Mauseloch zu mir!
Sofort keift Ruth Renate an: »Welche Rolle spielst du hier im Affentheater?«
»Ich bin seine Verlobte.« Danke, Renate, guter Einfall, denke ich. Mit unruhiger Stimme höre ich sie Ruth fragen: »Und in welcher Beziehung stehen Sie zu Swen?«
»Mir hat der Mistkerl ein Kind angedreht. Ich bin in der sechsten Woche.«
»Was!«, schreie ich. »Glaubst du an Windbestäubung? Ich war mit dir noch nie im Bett.«
»Ruth, ich mach Ihnen einen Vorschlag«, mischt sich Michael in die grässliche Diskussion ein. »Ich rufe Bernd an.«
»Wer ist Bernd?«, unterbricht Ruth. »Er ist Mamis Ex. Er hat viel Kohle. Er hat uns einen Flachbildfernseher geschenkt. Nimm den, anstatt Swen. Dann kann sich Mami wieder um Swen kümmern und alles ist wieder in Butter.«
»Michael! Verschwinde hier sofort! Geh auf dein Zimmer.« Ich habe Renate noch nie so zornig gesehen. Michael gehorchte seiner Mutter widerstandslos.
»Es ist jetzt wohl besser, wenn ich mich von den Damen verabschiede«, stammele ich.
»Sehe ich auch so, ruf mich bitte nie wieder an!« Renates Aussage kann ich verstehen. Ebenso auch die Bemerkung von Ruth: »Hau ab. Ich will dich nicht wiedersehen. Renate, würden Sie mir ein Taxi rufen?«
Leise schließe ich die Haustür und gehe zu meinem Wagen.
Jetzt ist es schon über einen Monat her, seit ich Renate das letzte Mal gesehen habe. Ich vermisse sie sehr, sogar auch Michael. Ist das Liebe, frage ich mich? Ich verspüre keine Lust mehr, im Internet nach neuen Bekanntschaften zu suchen. Ich muss einen Weg finden, meine Traumfrau wiederzusehen. Ich muss etwas unternehmen, aber was? Doch dann habe ich eine Idee.
Zwei Wochen später, als ich mir gerade im Fernseher den Tatort anschaue, klingelt das Telefon. »Swen, du musst mir unbedingt helfen!« Ich höre Renates aufgeregte Stimme.
»Renate, beruhige dich. Ich stelle den Fernseher aus, dann können wir uns besser unterhalten.«
»Swen, stell dir vor, Michael ist abgehauen. Ich weiß nicht wohin. Er hat mir einen Zettel hinterlassen. Er würde erst wiederkommen, wenn wir uns vertragen haben. Du bist der beste Vater, den er sich vorstellen kann.«
»Ich weiß«, unterbreche ich sie.
»Wieso?«, kommt ihre Antwort.
»Weil ich ihm den Brief diktiert habe.«
»Was! Was hast du gemacht? Bist du bekloppt?
Hast du ihn entführt? Ist Michael bei dir?«
»Nein, komm zu mir, dann werde ich dir alles erklären.«
»Bin schon unterwegs.«
Ich bereite ein erstklassiges Abendessen vor. Kaum habe ich die Kerze auf dem Tisch angezündet, höre ich ein langes Türschellen. Nervös öffne ich.
»Hallo, schön dass du so schnell gekommen bist. Komm, wir gehen in die Küche. Ich habe das Abendessen schon vorbereitet.«
»Habe keinen Hunger«, knurrt Renate. »Sag mir lieber, wo Michael ist.«
»Bleib locker«, sage ich und fülle unsere Weingläser mit Rotwein. »Prost, auf einen schönen Abend.« Nach dem zweiten Glas Wein bricht ein Staudamm in mir. »Renate, als du letztes Mal bei mir warst, hast du wörtlich gesagt, dass wir jetzt eine kleine Familie sind. Das kann ich nicht vergessen. Ich möchte, nein ich wünsche mir, dass unser Streit beendet wird. Ich habe Michael angerufen und ihn gefragt, ob er mich als Vater akzeptieren würde.«
»Hat er?«, unterbricht mich Renate und ich bemerke, wie sich ihr Gesicht verändert und stelle ihr die Gegenfrage: »Und du?«
»Swen, das beantworte ich dir später. Sage mir lieber, wie es weitergeht.«
»Michael hatte zugegeben, dass er mich öfters in peinliche Situationen brachte, die er als Prüfung verstand. Da ich nicht wie Bernd nach der ersten kritischen Situation das Handtuch geworfen hatte, habe ich die Probe bestanden und er hat meine Frage positiv beantwortet. Ich musste mir nur einen Plan ausdenken, wie wir dich wieder aktivieren. Da ist mir dann die Idee mit dem Zelt eingefallen.«
»Was für ein Zelt? Was meinst du damit?«
»Ist doch einfach. Wir wollen eine kleine Familie sein. Ich sehe das Zelt deshalb als Prüfung an. In der Hoffnung, dass wir auch auf dem engsten Raum nicht streiten. Ich habe vor kurzem eine teure Campingausrüstung mit zwei Schlafkabinen gekauft. Heute Morgen habe ich mit Michael das Zelt aufgebaut. Außerdem ist er gespannt, wie du auf den Brief reagierst.«
»Und was ist mit Ruth?« Bei dieser Frage sieht sie mich neugierig an. »Renate, glaube mir oder frage Michael. Er hat Ruth eingeladen. Ich wollte nur nicht alleine ins Museum gehen, deshalb habe ich im Internet recherchiert.«
»Aha, daher hat Bernd die Adresse von Ruth.«
»Wie meinst du das?«
»Ich habe Ruth und Bernd vor ein paar Tagen beim Einkaufen getroffen. Übrigens, ich soll dich von Ruth grüßen.«
»Ruth interessiert mich nicht mehr. Auf den Gruß kann ich gut verzichten.« Aber irgendwie bewundere ich Michaels Reaktionen auf bestimmte Situationen. Ungeduldig frage ich: »Wie entscheidest du dich? Michael wartet schon!«
Langsam steht sie auf, bläst die Kerze aus, kommt direkt auf mich zu und flüstert: »Zeige mir dein Schlafzimmer. Dann siehst du die Antwort.«
»Und Michael?«, stottere ich.
»Der kann auf uns warten. So einfach möchte ich es ihm nicht machen.«
»Einverstanden«, hauche ich in ihr Ohr.