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VI

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Mathilde Albertine Jolante von Bredow, genannt Tilla, verlor alles, als sie vierzehn war. Der Geschützdonner rückte näher, der polnische Verwalter des elterlichen Gutes in Ostpreußen stand mit ruhelosem Blick neben dem gepackten Wagen und stieg von einem Bein auf das andere.

Sie hatten seit Monaten nichts von Tillas Vater oder ihren älteren Brüdern gehört. Tillas Mutter lief durch die Zimmer und jammerte, man solle ihr sagen, was zu tun sei. Der vollgestopfte Wagen stand mit laufendem Motor dampfend in der Kälte und Tilla entschied sich zur Flucht. Sie wußte nicht, was sie tat, hatte noch keinen Ort und niemanden verlassen und kannte nichts außer ihrer Heimat.

In der nahen Kreisstadt verloren sie ihr Auto an einen Offizier. Der Verwalter kaufte für einen unverschämten Preis ein Pferdefuhrwerk mit eiernden Rädern und einen schielenden steinalten Ackergaul dazu. Das Pferd war ihr Glück. Alle anderen Flüchtlinge verloren ihre, aber der knochige Alte ließ sabbernd den schaukelnden Kopf hängen, wenn schneidige Uniformierte sich ihm näherten. Und er ging nicht einen Schritt, es sei denn, der Verwalter nahm seine Zügel.

Das Pferd blieb ihnen bis zur Reichsgrenze. Dort sank es auf seine steifen Vorderbeine, schnaufte schwer und starb. Der Verwalter segnete Tilla mit polnischen Worten, verbeugte sich vor ihr und ging zurück in seine Heimat.

Sie waren allein bei minus dreißig Grad und sie gingen zu Fuß. Tilla kaufte für all ihre Wertsachen den Handkarren eines Bauern, lud die letzten Habseligkeiten darauf und gab ihn der immer noch jammernden Mutter an die Hand. Sie selbst schnürte sich die ihnen gebliebenen Lebensmittel vor die Brust, den kleinen Bruder auf den Rücken und hieß ihn, seine Arme um ihren Hals zu schlingen.

In der nächsten Nacht nahm ein Mann die Mutter.

In der folgenden verloren sie den kleinen Bruder an die Kälte.

Die Seele der Mutter starb auf dieser Flucht. Sie verlernte zu berühren und sich berühren zu lassen, begegnete den Rest ihres Lebens sich selbst und anderen mit harter, hilfloser Hand.

Drei Monate nach Kriegsende erfuhren sie in Berlin, daß auch die übrigen Söhne den Krieg nicht überlebt hatten. Als Tilla ihrer Mutter die Todesnachricht überbrachte, ging die mit einer Axt auf ihr nun einziges Kind los.

Der herbeigerufene Arzt zuckte wortlos die Schultern, gab eine Spritze und ging.

Tilla verbarg Axt, Messer und Streichhölzer vor der Mutter, schloß sie ein, wenn sie etwas zu essen organisieren mußte und hielt sie zurück, als sie sich am Apfelbaum erhängen wollte. Erst nachdem die Mutter eine Scheibe einschlug und der zurückkehrenden Tilla blutüberströmt mit einer Glasscherbe drohend gegenübertrat, brachte sie sie in eine Klinik.

Jeden Tag nach der Schule fuhr Tilla in die Psychiatrie und hoffte auf Besserung. Nach einem Jahr, in dem sich am Zustand der Gräfin nichts geändert hatte, ging Tilla zu einem Anwalt und fragte, wie sie ihren vermißten Vater für tot erklären könnte. Sie bekam Halbwaisenrente, machte Abitur und begann ein Biologiestudium. Im Sommer nach dem Vordiplom sah sie ihrer Mutter zum letzten Mal dabei zu, wie sie im Aufenthaltsraum sinnlose Gedichtzeilen auf Papierfetzen kritzelte. Am folgenden Morgen zwängte sich Gräfin von Bredow aus einer Dachluke und sprang der aufgehenden Sonne entgegen in den Tod.

Mathilde Albertine Jolante von Bredow, genannt Tilla, verlor ihre Eltern, ihre Geschwister und ihre Heimat, als sie vierzehn war. Und sie schwor sich, zu überleben.

Jakob sah dem Professor zu, wie er versuchte, sich mit dem Programm seines PCs auf eine Sprache zu einigen. Seine Stirn war konzentriert gefaltet, der Mund stand leicht offen.

Tillas früherer Kollege Professor Dr. Schmerkert war in Weiß gekleidet, als wäre er einer von Hannas Krankenhauskollegen. Ein Labormensch, sogar mit weißen Schuhen. Ohne Laborratten allerdings. Kein Getier weit und breit, keine Pflanzen. Jakob erinnerte sich an das gemütliche Bürostübchen des Biologen Werner im Botanischen Museum. Seine Sorgenpüppchen und die Webdecke aus Guatemala auf seinem Stuhl. Bei Professor Schmerkert würde Jakob nie auf die Idee kommen, seine Schuhe abzustreifen. Wie hatte die wilde ostpreußische Tilla hierher gepaßt? Weißer Kunststoff überall, sirrende Festplattenventilatoren, aseptisches Licht aus Neonröhren und Kabelgebirge unter den Tischen.

»Ich habʼs gleich«, sagte Schmerkert. Seine Nase krauste sich, er kniff die Augen zusammen. »Die Testreihe will nicht so wie wir.« Er hackte mit den Fingern auf der Tastatur herum. Jakob betrachtete sein ergrauendes Haar. Der Mauerfall und Tillas Verschwinden waren über zwanzig Jahre her.

Der Professor seufzte. »Das wird heute nichts mehr.« Er wies auf den PC. »Sie wollten etwas über Tilla wissen? Das ist keine Umgebung für sie, lassen Sie uns aufʼs Dach gehen.«

Sie stiegen eine Wendeltreppe hoch auf das Institutsdach. Schotter knirschte unter ihren Schuhen. Es gab eine Bank, dahinter versuchten einige Gräser und Pflanzen am extremen Standort zu überleben. Man sah immerhin den Himmel. »Hat Tilla hier gearbeitet?«, fragte Jakob.

»Schon, aber das sah damals alles ganz anders aus. Die Westberliner FU war eine verschnarchte linke Einrichtung. Wir Biologen haben der Dritten Welt unter die Arme gegriffen und alles zu retten versucht.«

Werner, dachte Jakob. »Und dann fiel die Mauer«, sagte er.

»Die Veränderungen begannen schon vorher durch die aufkommende Gentechnik. Die unsere Gräfin übrigens ablehnte. Sie hatte so eine romantische Ader in der Biologie.«

»Das heißt?«

»Sie hat gern ganz altmodisch Dinge gekreuzt.« Er lachte. »Nicht nur im Beruf. Haben Sie Ihre Töchter gesehen?«

»Ich kenne nur eine.«

»War damals Institutsgespräch, wenn Sie auf Empfängen mit ihrer Schar auftauchte. Regenbogenfamilie würde man heute sagen. Aber alles ihre.«

»Und bei der Arbeit?«

»Hat sie gemendelt. Träumte von irgendwelchen Urrassen, die man nur ausbuddeln müßte. Etwas arg rückwärtsgewandt. Der Flachs war so ein Ding. Hatte wohl mit Ostpreußen zu tun. War ihre Traumpflanze, unerschöpfliche Anwendungsmöglichkeiten. Haben später die Ökos aufgegriffen, vor dem Hanf. Diese knitternden Leinenhemden, das ist Flachs. Aber das war nach Tillas Verschwinden. Hat sie nicht mehr miterlebt.«

»Schade.«

»Ja, zumal sie darüber geforscht hat, wie man Flachs produktiv anbauen kann. Ist ziemlich empfindlich, das Zeug.«

»Erinnern Sie sich an ihre damaligen Projekte?«

»Oh ja, sie hat sich für eine Samenbank in der DDR interessiert.« Er lachte. »Jetzt gucken Sie nicht so gekringelt, ich rede von Pflanzensamen. Die DDR hat in ihrer Abschottung einiges probiert. Zusammen mit den Bruderstaaten. Bau auf, bau auf, Sie wissen schon. Die Arbeiterklasse will was zum Futtern haben.«

»Hat sie nach Mauerfall dort Kontakte geknüpft?«

»Sie kannten Tilla nicht. Sie war sehr schnell und sehr überzeugend. Sie ist einfach hingefahren in die DDR, gleich nachdem sie von der Samenbank gehört hatte. Sachsen-Anhalt. Das Institut gibt es noch. Vielleicht hat die Stasi sie abgegriffen.«

»Warum das denn?«

»Na ja, die DDR war noch zu, als sie zum ersten Mal hin ist. Und natürlich ist sie nicht mit leeren Händen zum Westberliner Klassenfeind zurückgekehrt. Sie wissen ja, sie hatte einen Hang zu fremdem Samen.«

»Sie hat die DDR beklaut?«

»Diebstahl von Staatseigentum, wenn auch zu wissenschaftlichen, also hehren Zwecken. Aber fragen Sie mich nicht, was genau sie da geklaut hat. Ich interessiere mich nicht so für Botanik. Außerdem schrieb ich gerade meine Doktorarbeit.«

»Wohl nicht bei Tilla?«

Er schüttelte den Kopf. »Mein Fach ist die Gentechnik. Das war zwar damals ein sehr übersichtliches Feld, erforderte aber hohe Konzentration. Vom Mauerfall habe ich nicht viel mitbekommen.«

»Können Sie mir die neue Adresse der Samenbank geben?«

»Das ist die alte. Nur mit einem Haufen Westgeld aufgebrezelt. Sollte mich nicht wundern, Sie finden dort noch ein paar der alten Leute. Ist eine Gegend, in der sich nicht viel ändert. Nördliches Harzvorland. War ein ziemlicher Skandal damals in der DDR. Da rollten wohl auch Köpfe, weil einige der Gräfin zu treuherzig alle Türen geöffnet haben.«

»Waren vielleicht froh, daß sich jemand aus dem Westen für ihre Forschung interessiert.«

»Und Tilla war wirklich sehr gewinnend. Erst recht, wenn sie etwas wollte.«

»Und was hat sie erforscht mit den geklauten Samen?«

»Gar nichts, dafür hatte sie ihre Doktoranden. Alles Ökos. Ein Projekt zur Rückzüchtung alter Pflanzenarten. Ach ja, und da gab es eine Verbindung nach Niedersachsen. Tilla war öfter dort in der zweiten Hälfte der Achtziger. Auf einem Bauernhof. Bio, glaube ich, irgendwas mit Sternen oder Sonne kam im Namen vor. Das waren echte Seelenverwandte. Mehlige Äpfel, winzige Pflaumen, mehltauanfälliges Getreide, so was. Schrecklich.«

»Sie sind wirklich kein Botaniker.«

»Da lobe ich mir meine Gensequenzen. Sauber, kalkulierbar und kein Ungeziefer weit und breit.«

»Die Adresse in Niedersachsen …«

»Finde ich auch noch. Aber ob es die noch gibt, weiß ich nicht. Die in Sachsen-Anhalt sind mit der Zeit gegangen, aber die Ökos? Obwohl ich wegen Tillas Verschwinden eher auf die Stasi tippe. Sie ist vorsichtshalber nach dem Skandal nicht mehr über die Transitstrecke nach Westdeutschland gefahren, sondern nach Hannover geflogen. Aber man hört ja oft, die hätten die Leute entführt. Oder nach Mauerfall wollte sich irgendwer von denen rächen, die ihretwegen in Sachsen-Anhalt ihren Job verloren haben an der Samenfront. Wer weiß, das Harzvorland ist eine sehr spezielle Gegend.«

Jakob patschte mit nassen Füßen von der Dusche direkt zur Wohnungstür, drückte auf den Haustürsummer und öffnete sie. Bis sein Besuch oben war, hatte er genug Zeit, das Duschwasser abzurubbeln. Nicht genug Zeit sich anzuziehen.

»Du hast ja immer noch so einen Adoniskörper.« Oskar drückte Jakob an seine Brust, es quatschte auf seinem Hemd. »Verdammt, Du bist ja naß.« Oskar hielt seinen Freund eine Armlänge entfernt fest. »Aber der Keller hat Dir bisher noch nicht sichtbar geschadet.«

Jakob grinste schief.

»Und halt das Handtuch um Deine Hüften schön fest.«

Jakob lachte. »Komm endlich rein, Du Schwätzer. Was macht die überirdische Kripoarbeit?«

Oskar streifte die Schuhe ab und ging ins Wohnzimmer. »Dreht sich im Kreis, weil der beste Kripokommissar Berlins seine Tage in Gesellschaft von Schimmelsporen und Kellerasselpipi verbringt.«

Jakob hustete.

»Angeber.« Oskar ließ sich auf die Couch fallen.

»Willste Wein?«

Oskar winkte ab. »Hab noch keinen Feierabend. Focke hat uns eine russische Razzia eingebrockt. Lächerlich, irgendein Schmieröl wird es ihnen längst gesteckt haben. Keine Ahnung, wen er damit beeindrucken will.«

»Die Medien?«

»Das müßte dann ohne Bildchen sein. Sein Auge ist noch grün-violett. Kommt im Fernsehen nicht so gut.«

»Also biste nur auf einen Sprung da?«

»Du sollst noch mal an den Georgierfall ran. Guck nicht so kraus, kriegst nur die Rosine.« Oskar zwinkerte. »Wir haben ein Problem mit der rassigen Tochter. Sie springt uns ständig an, es ginge ihrem Vater schlecht, wir müßten ihn finden.« Oskar verdrehte die Augen.

»Wart ihr denn schon bei dem Russen, dem Vater ihres Sohnes?«

»Der ist ʼne ganz heiße Nummer in der Berliner Unterwelt. Hat eine riesige Akte bei uns, wir ackern uns gerade durch. Tanja und ich wollen gut vorbereitet zu ihm. Bei dem Schwiegersohn ist es nicht sicher, ob es Guram Geladse überhaupt noch geht. Glaube nicht, daß Jurij Iwanow Geduld für eine Geiselnahme hat.«

»Dann ist Alikas Angst um ihren Vater berechtigt.«

»Gut, daß Du so viel Verständnis für sie hast. Der Grund, warum ich hier auf Deiner Couch sitze, ist nämlich«, er senkte den Kopf und sah Jakob schräg von unten an, »sie will mit Dir reden. Nur mit Dir. Du würdest sie verstehen, Du hättest eine Verbindung zu ihr und deshalb würdest Du ihren Vater finden. Wie machst Du das, Alter?« Oskar schüttelte den Kopf. »Hast so gut wie nichts gesagt in ihrer georgischen Boulettenbude, saßt da wie ein Beutel Falschgeld. Als könntest Du es nicht erwarten, endlich wieder wegzukommen. Und was sagt die schöne Alika? Ihr habt eine Verbindung.«

»Das müßt Ihr ohne mich machen.«

»Wieso?«

»Ich habe keine Zeit.«

»Spinnst Du? Deine Kellerasseln können warten.«

»Falsch. Meine drei Tage diese Woche sind um. Ich habe jetzt vier Tage frei. Und die nutze ich, um Hannas Mutter zu suchen.«

»Das kann auch warten. Alika hat …«

»Das wartet sicher nicht.«

»Was soll das Alter? Dieser Fall ist Deine Chance aus dem Keller. Mach bloß keine Zicken.«

Jakob stand auf, nahm die Gießkanne und goß seine Pflanzen. »Ich habe Hanna versprochen, ihre Mutter zu suchen. Das ist sehr wichtig für Hanna. Und Hanna ist wichtig für mich.«

»Die ist seit über zwanzig Jahren futsch, da wird es auf einen Tag mehr nicht ankommen.«

Jakob goß schweigend die Pflanzen. Oskar sah ihm dabei zu. »Was rennst Du so durch die Wohnung? Hast Du neuerdings ein Problem mit der Prostata?«

»Die Blumen sind durstig.«

Jakob holte frisches Wasser. Als er zurückkam, stand Oskar in der Tür. Er nahm ihm die Kanne ab und führte ihn zur Couch. »Was ist los?«

Jakob sah aus dem Fenster.

»Komm zurück, Geisterseher. Ich rede mit Dir.« Oskar tätschelte ihm den nackten Oberschenkel. »Sieh mich an, mein Freund.« Jakobs Kopf drehte sich in Zeitlupe. »So istʼs fein. Und jetzt erzählst Du direkt in Oskars Visage, wo das Problem ist.«

»Ich will nicht und ich kann nicht.«

»Du bist verknallt.« Oskar sprang auf. »Du bist in Alika verknallt. Ich fasse es nicht.« Oskar schlug mit der Faust an die Wand. Jakob zuckte zusammen. »Hast Du keine anderen Probleme?«

Jakob schwieg.

»Verdammte Scheiße.« Jetzt lief Oskar durch das Zimmer, immer von einer Bücherwand zur nächsten. »Nicht, daß es mich was angeht, aber war Hanna nicht eben noch die Liebe Deines Lebens?«

»Das ist sie auch.«

»Ach ja, aber dann hattest Du noch Spitzen frei für Alika? Kannst Du Deinen Königstiger nicht mal erziehen? Als sie in Amerika war, hätte ich das ja noch verstanden, aber jetzt?« Er warf sich in den Sessel, die Fäuste lagen geballt auf den Armlehnen. »Wenn man nicht immer auf Dich aufpaßt, rennst Du wirklich direkt in die Scheiße.«

»Und was schlägst Du vor, soll ich anders machen?«

»Das fragst Du mich? Keine Hanna, einen Königstiger mit Arthrose und vergucke ich mich in die schöne Alika? Nee.«

»Du stehst auf Blondinen.«

»Jetzt bring mich nicht raus. Ich will sauer sein.«

Jakob verließ das Zimmer und kam angezogen zurück. Ein tiefrotes Wildseidenhemd über einer Jeans, die gerade eng genug war, um seine langen, wohlgeformten Beine anzudeuten. Das dunkle Haar fiel chaotisch um seinen Schädel.

»Mannomann, wie Du aussiehst.« Oskar schüttelte den Kopf.

Jakob stand vor ihm. »Ich kann nicht an dem Fall mitarbeiten.

Ich darf sie nicht wiedersehen.«

»Da gibt es nur ein kleines Problem. Wir haben das Leben von Alikas Vater durchleuchtet, so weit es öffentlich ist. Er ist eine Friedenstaube, die am großen Rad dreht. Politik, Mafia, Russen, alles da. Lauter Diplomaten und unberührbare Kriminelle. Der ist ʼne richtig große Nummer. Und ihn hat der Erdboden verschluckt. Er ist einfach verpufft. Um weiterzukommen, brauchen wir mehr Informationen von Alika. Und sie will Dich, sonst niemanden.«

Jakob schwieg.

»Sie will, daß Du in ihr Atelier kommst. Eigentlich ist sie nämlich Malerin, wußtest Du das? Die Bilder im Restaurant sind von ihr.«

»Diese riesigen, sinnlichen, erotischen Bilder sind von ihr?«

»Exakt.«

Jakob stöhnte.

»Und dieser Fall wird Dich zurück an meine Seite bringen. Nie wieder Kellerloch. Und Du wirst da hingehen und die Finger von Alika lassen, so wahr ich Oskar Blum heiße. Sie hat eine Narbe auf der Stirn, die ihr Gesicht teilt. Sie ist überhaupt nicht so schön, wie alle sagen. Eigentlich sieht sie aus wie der Glöckner von Notre Dame.«

Jakob stöhnte wieder.

»Meinetwegen nimm vorher eine Baldrian oder zieh einen Schlüpper von Hanna an, mit Vorhängeschloß, aber Du gehst hin in das Atelier vom Glöckner.«

»Verlang das nicht von mir.«

»Du kannst gar nicht ausweichen, das weißt Du. Ich kann ausweichen, vor bösen Geistern, Tretminen, notfalls mein ganzes Leben. Aber Hagedorn, mein Jakob, die Geisterlatte, der Frauenversteher, nee, Du faßt in den Honigtopf, mit beiden Armen, bis an den Grund. Und wenn Du dann festklebst, bist Du in Deinem Element.«

Im Stationsflur versuchte seit drei Tagen eine Neonröhre flackernd zu sterben. Unter ihr saß ein magerer alter Mann in grauen Pantoffeln. Er trug einen Frotteebademantel, die nackten Beine steckten in Wollstrümpfen. In der Rechten hielt er einen Laufzettel, den ihm eine Schwester vor zwei Stunden auf seiner Station gegeben hatte. Er hatte den Fahrstuhl gefunden, nach einigen Umwegen auch die richtige Station. Ihre Zahl stand über der Tür, die zusätzlich im gleichen Blau gestrichen war wie sein Laufzettel. Das fand er hilfreich für einen so alten wie klapprigen Mann, auch wenn für seinen Grauen Star das Blau und das Grün ununterscheidbar waren.

Mit der Linken umklammerte er seinen Galgen, den er, wenn wieder ein Mensch im weißen Kittel an ihm vorbeihastete, an sich zog. Hin und wieder kratzte er vorsichtig an der Schmetterlingskanüle auf seinem Handrücken, der gerötet und etwas geschwollen war, und sah hoch zu der Nährlösung, die weit über seinem dünnen Haar baumelte.

Eine Tür schräg gegenüber wurde vom Hinterteil einer Putzfrau aufgeschoben. Rückwärts ging sie durch die Tür, zog ihren Wischeimer hinterher und drückte den Feudel im Wischwasser aus. Unendlich langsam wischte sie den Gang. Aber sie war gründlich, den Ecken widmete sie sich mit besonderer Hingabe. Der alte Mann gähnte, die Neonröhre flackerte. Da öffnete sich zischend die Flurtür. Ein Arzt lief über den Flur, den Blick am Boden. Der alte Mann hob seinen Laufzettel, der Arzt rannte fast die Putzfrau um, wich fluchend aus und stürzte weiter.

»Verzeihung«, krähte der alte Mann, aber der Arzt war schon durch die nächste Tür, der entstehende Luftzug bewegte die dünnen Haare des Alten. Er schob die Füße zusammen, sah auf seine von Adern durchzogenen nackten Beine, die Wollstrümpfe, die grauen Pantoffeln, zog den Bademantel über die Knie und ächzte. Die Putzfrau kam rückwärts näher.

»Verzeihung«, sagte er. Die Putzfrau sah ihn an. Eine Asiatin mit Kopftuch. Gab es bei denen auch Moslems? Sie war hübsch und jung, vielleicht würde sie ihm helfen. Er hielt ihr seinen Laufzettel hin und griente freundlich.

Die Flurtür öffnete sich wieder, zwei lachende Ärztinnen durchmaßen den Flur. Der alte Mann zog sich am Galgen hoch. Er stand und hielt ihnen den Laufzettel entgegen.

»Und dann fragt der Typ, was ich beruflich mache«, sagte die eine Ärztin.

»Und weg war er«, sagte die andere.

»Nee, ein zäher Unternehmensberater und außerdem hab ich gesagt, ich bin Krankenschwester.«

»Hervorragend. Mit weißer Haube.« Beide kicherten.

Sie waren jetzt auf der Höhe des Alten mit dem Galgen angelangt und machten einen Bogen. »Verzeihung«, sagte der.

»Geht schon«, sagte die eine Ärztin.

»Nach einer halben Stunde hatte ich seine Handynummer«, sagte die andere.

Die Tür am Ende des Flurs schloß sich hinter ihnen. Der Alte stand neben seinem Galgen. Es war still. Die Putzfrau nahm ihren Wischeimer und setzte ihn einige Meter weiter wieder ab. Das Wasser schwappte über. Sie spülte ihren Feudel aus, ihr ganzer Oberkörper bewegte sich dabei ruckartig. Der Alte setzte sich. Eine Schwester kam aus einem Zimmer.

»Verzeihung«, sagte der Alte, schon etwas lauter.

Die Schwester hob den Kopf. »Es kommt gleich jemand.«

»Ach so«, sagte der Alte.

»Schon gut«, sagte die Schwester und verschwand.

Die Putzfrau wischte. Auch die Ecken. Auf und ab, auf und ab.

Die Schwester kam zurück, einen Kaffeebecher jonglierend. Nahm im Gehen einen Schluck und verzog das Gesicht. Wischte den Rand des Bechers mit ihrem Kittel ab, ging zurück in das Zimmer und schloß die Tür.

Die Flurtür öffnete sich, die zwei Ärztinnen kamen zurück.

»Bin ich Schneiderin, oder was?«, fragte die linke und zog eine Augenbraue hoch. »Eins-Nuller-Abitur, sieben Jahre studiert, und dann darf ich zunähen.«

»Plan B mit dem Unternehmensberater.« Sie gackerten.

»Er fährt ein Cabrio.«

»Das kann geleast sein.«

»Du nun wieder.«

Der Alte stand im Weg mit seinem Galgen.

»Was?«, fragte die eine Ärztin unwirsch.

»Ich soll mich hier melden«, sagte der Alte. Seine Linke leuchtete rot am Galgen. Der Ärmel des Bademantels war zurückgerutscht. Eine rote Spur zog sich den Unterarm entlang.

»Aber ja wohl kaum bei mir«, sagte die Ärztin. »Fragen Sie eine Schwester.«

»Ach so«, sagte der Alte und zog den Galgen zu sich.

Die Ärztin schob ihn zur Seite. »Also bei mir war es damals ein Lamborghini.«

»Aber geleast?«

»Ich bin ihm beim Fahren an die Hose …«

»Nein.«

»Und er fährt rechts ran.«

Die Flurtür öffnete sich zischend.

Da fiel der Putzfrau der Wischeimer um. Mit einem lauten Klatschen ergoß sich das dunkelgraue Wischwasser über die Füße der Ärztinnen. Quiekend sprangen sie zur Seite. Ihre weißen Krankenhausschuhe, ihre weißen Krankenhaussocken, ihre weiße Krankenhaushosen und ihre weißen Krankenhauskittel waren voller dunkelgrauer, schmieriger Wasserflecken.

»Das gibt es doch nicht«, rief die eine.

»Blöde Putze«, die andere.

»Das bezahlst Du.«

Die Putzfrau lief mit kleinen Trippelschritten auf die eine Ärztin zu, einen großen Wischlappen in der Hand, fremdsprachlich wimmernd. Vor der Ärztin ging sie auf die Knie und wischte hektisch Schuhe, Socken und Hose ab. Sie zog winselnd an deren Kittel, stand unter Verbeugungen auf und versuchte, der Ärztin die Jacke auszuziehen.

»Was zum Teufel macht die denn?«, rief die. »Nimm Deine dreckigen Finger weg.«

Die andere sprang kreischend aus der Armlänge der Putzfrau auf die Flurtür zu. »Jetzt laß die doch«, rief sie, »weiß der Teufel, aus welchem anatolischen Dorf die gekrochen ist.«

Die Ärztin schlug nach den Händen der Putzfrau und lief der anderen hinterher. Mit einem Zischen schloß sich die Tür hinter ihnen und es war wieder still.

Der Alte starrte die Putzfrau mit offenem Mund an, die jetzt plötzlich völlig ruhig und aufrecht, mit normal großen Schritten ihren Eimer nahm, ihn mit frischen Wasser füllte und den Flur erneut wischte. Auf der Höhe des Alten angekommen, stellte sie den Feudel ab, nahm seinen Laufzettel und las ihn.

»Sie sollen zum Röntgen«, sagte sie in klarstem Hochdeutsch. »Das ist einen Stock tiefer. Aber um die Zeit ist da niemand mehr. Was halten Sie davon, wenn ich Sie zurück auf Ihre Station bringe?«

Sie nahm seine Linke vorsichtig in ihre Hand. Trotzdem zuckte der Alte zusammen.

»Nein, wir gehen zur Notaufnahme, da läuft was richtig schief.« Sie sah ihn an. »Aber mit denen reden müssen Sie schon allein, ich bin hier nämlich nur die blöde Putze.«

»Was soll ich denn sagen?« Der Alte hielt sich an seinem Galgen fest.

»Blutvergiftung. Und zeigen Sie Ihren Arm.« Sie sah dem Alten streng in die Augen. »Und keine Entschuldigung vor- oder hinterher, ist das klar?«

Der Alte nickte. »Sie sind aber eine dolle Putzfrau.«

»Falls Sie eine suchen, ich hab grad keine Spitzen frei.«

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