Читать книгу Pfoten im Schnee - Lotti Meier - Страница 6

Zwischen Jetset und Alpenidylle und plötzlich gibt’s Huskys und noch viel mehr

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»In wenigen Minuten ist die Maschine startbereit!«, lässt uns der Flugkapitän wissen. Wir sitzen alle ungewöhnlich still auf unseren Plätzen und sind sichtbar geprägt von der vergangenen Woche und den beeindruckenden Erlebnissen. Gleich wird die Maschine abheben und uns zurück in unser altes, gewohntes, so ganz anderes Dasein bringen.

Ich sehe auf die Startbahn. Es ist früher Nachmittag in Rovaniemi, und die Sonne ist bereits wieder untergegangen. Die dichte Schneedecke, die die Stadt bedeckt, gibt nur wenige Lichter frei. Sie schimmern milchig-trüb in der Dunkelheit. Ich schließe die Augen und träume mich weg. Ich sehe Sissy vor mir, Sven und Kaisa. Ich höre das Heulen der Huskys und rieche den frisch gefallenen Schnee. Ja, man kann Schnee riechen. Hier oben habe ich es erlebt. Er riecht frisch und sauber, ein bisschen nach Seifenblasen und Blüten. Herrlich! Und der Sauerstoff der klaren Luft ist ein Jungbrunnen und pumpt jede Zelle auf. Man lebt auf, fühlt sich stark und eins mit der Natur.

Dazu die Weite, die Einsamkeit, die endlich wiedergefundene Stille.

All das wird mir fehlen. Adieu Lappland! Oder besser: Hyvästi!

Die Maschine fliegt jetzt über den Wolken, und meine Gedanken sind schon ein paar Tausend Kilometer weiter in der Schweiz.

Zu Hause erwartet mich gleich morgen wieder ein Zehn-Stunden-Tag im Büro, mit Meetings, Besuchern, Messeplanungen. Ich habe meinen Terminplan nicht dabei, weiß aber, dass Kunden aus Frankreich und ein Lieferant aus Italien kommen. Früher habe ich mich immer auf diese Besuche gefreut und bin gern mit den Leuten schön essen gegangen. Entspannter Small Talk und gezieltes Verhandeln, das hat mir gefallen, und jeder errungene Erfolg hat mich ausgefüllt, innerlich satt und zufrieden gemacht.

Und jetzt? Ganz ehrlich: Es fasziniert mich nicht mehr, es langweilt mich. Ich sperre mich sogar dagegen. Denn es erwarten mich ja Neonröhrenlicht statt Mondschein, Heizungshitze statt eiskalter reiner Waldluft. Und ein Sammelsurium an bunten Geräuschen statt dieser fesselnden Stille.

Ich mag die Alternative mehr. Gut, ich war nur eine Woche weg, und in einer heiteren Urlaubsstimmung findet man vieles schön. Aber stutzig macht mich, dass mir von meinem vertrauten Alltag nichts gefehlt hat. Nicht eine Sekunde lang habe ich etwas vermisst. Und jetzt, wo mich bald wieder die wohlige, vertraute Wärme der Gewohnheit umfangen wird, fühle ich mich abgestoßen statt willkommen. Ich habe das Gefühl, ich fliege zurück in ein falsches Leben.

Dabei war es bis vor Kurzem genau das Leben, das ich mir gewünscht habe und das ich mir mit langsamen, aber stetigen Schritten erarbeiten konnte.

Ich komme aus der Nordschweiz, genauer aus Brugg im Aargau. Meine Mutter Hanne war Hausfrau, mein Vater Hans Ingenieur. Ein Freigeist, der immer auf Montage in der ganzen Welt unterwegs war. Meine Schwangerschaft war ein Unfall, und meine Großmutter hat ihren Sohn gezwungen, meine Mutter zu heiraten, damit ich in »geordnete Verhältnisse« geboren werde. Die Ehe hielt nur zwei Jahre, vermutlich, weil sich meine Eltern kaum gesehen haben. Meine Mutter hat meinem Vater sehr nachgetrauert, ist dann schweren Herzens mit mir auf einen Bauernhof nach Visp im Wallis gezogen und hat eine Zeit lang als Magd gearbeitet. Drei Jahre später hat sie noch einmal geheiratet, Otto, den Bruder des Bauern, und ich habe noch fünf Geschwister bekommen, vier Mädels, Susi, Sonja, Ruth und Claudia, und ein Nesthäkchen, meinen 16 Jahre jüngeren Bruder Andre, der trotz seiner über 1,80 Meter Körpergröße »der Kleine« geblieben ist.

Meine Jugend war schön. Wir Kinder hatten liebevolle Eltern, eine enge Bindung untereinander und das Glück, in der Natur mit vielen Tieren aufwachsen zu dürfen. Zu uns gehörten einige Katzen und Barry, ein Berner Sennenhund mit lustig wippenden Ohren und samtig glänzendem tiefschwarzem Fell. Er war ein großer, tapsiger Kerl, ungeheuer freundlich und unser liebster Spielkamerad. Ich weiß noch genau, dass er uns alle immer verraten hat, wenn die Kindermeute Verstecken spielte.

Meinen leiblichen Vater habe ich in all den Jahren nur selten gesehen. Ich erinnere mich kaum an ihn. Er kam ein-, zweimal im Jahr in die Schweiz, war dann auch nett zu mir, aber für eine Beziehung fehlte einfach die gemeinsame Zeit. Ich habe kaum gemeinsame Bilder von uns im Kopf und weiß so gut wie nichts von ihm. Aber ich glaube, ich habe zumindest das Fernweh von ihm geerbt. Denn als ich mit 16 Jahren den Schulabschluss in der Tasche hatte, wollte ich nur eines: weg! Ich liebte Mode und habe mich für eine Schneiderlehre in Lausanne entschieden. Es war ein Volltreffer.

Ich habe es wirklich geliebt zu nähen, war kreativ und schnell. Alles ging mir leicht von der Hand. So bin ich jeden Samstag mit einem neuen Kleid in die Disco gegangen, entworfen und geschneidert in der Nacht davor.

Außerdem mochte ich es, Französisch zu sprechen. Ich habe damals in einer Familie gelebt und hatte den Ehrgeiz, mich schnell perfekt verständigen zu können.

Die Zeit in Lausanne wurde zur Startrampe in ein spannendes Leben. »Du hast ein gutes Auge für Stil, bist fleißig und hast den Mut, etwas Neues zu wagen, eine Erfolg versprechende Mischung«, sagte damals mein Chef und empfahl mich nach dem Abschluss, den ich übrigens mit einer Auszeichnung schaffte, an die Schule für Modezeichner in Paris.

Ich war begeistert, meint Vater allerdings nicht. Denn die Schule war privat und entsprechend teuer. Erst nach einer Bedenkzeit sagte er zu, die Kosten zu übernehmen. Also ging ich von Lausanne nach Paris. Damals habe ich die große weite Welt geschnuppert, Haute Couture kennengelernt und, so gut es ging, das Pariser Modeleben in mich aufgesogen. Überall war Avantgarde, und ich wollte unbedingt dabei sein, um jeden Preis. Für ein paar feinste schneeweiße Ziegenleder-Sandalen habe ich fast zwei Monate lang kaum etwas gegessen, bis ich sie mir leisten konnte. Passend dazu entwarf und schneiderte ich mir ein komplettes Outfit – und bin dann perfekt gestylt über die Champs-Élysées stolziert. Ich habe es genossen, dass mich gefühlt jeder bewunderte.

Ich liebte Paris, das Flair, den Schick. Aber ich brauchte auch Natur und habe viele Stunden in der Woche im berühmten Jardin des Tuileries verbracht. Zum Glück nicht allein. Denn es gab Benny, eine Trottoir-Mischung mit dickem Bauch und kurzen Beinen, der bei Schwestern in einer nahe gelegenen Schule lebte. Ich durfte ihn mir ausleihen und bin fast täglich mit ihm spazieren gegangen. Dabei habe ich von einer Karriere als Kostümbildnerin geträumt. Doch mein Vater durchkreuzte die Pläne. Er wollte eines Tages nicht länger zahlen, und ich musste zurück in die Schweiz.

Aber ich hatte Glück im Unglück, bekam eine Anstellung in einem guten Atelier in Lausanne und durfte in einem kleinen Team feinste Kollektionen entwerfen. Ein Traumjob, der mich in der Modeszene bekannt machte. Ich war erst 24 Jahre alt, als ich von einem berühmten Schweizer Familienunternehmen ein reizvolles Jobangebot bekam. Ich sollte an ihrem Firmensitz in Basel eine hochwertige Unterwäscheabteilung aufbauen, und man versprach mir weitgehend freie Hand.

Eine riesige Chance, die ich unbedingt nutzen wollte. Obwohl ich damals in Lausanne frisch verliebt war, bin ich wegen des neuen Jobs nach Basel gezogen. Ich dachte, die Fernliebe mit dem gleichaltrigen Ingenieur würde klappen. Aber das war ein Irrtum. Die Liebe kränkelte schneller als erwartet. Frederik setzte mir die Pistole auf die Brust: entweder der Job oder ich. Ich musste nicht lange überlegen und habe mich für die Arbeit entschieden und danach auch nur noch für meinen wirklich aufregenden Modealltag gelebt.

Es war eine herrliche Zeit. Jeden Tag passierte etwas Neues, noch Aufregenderes. Meine Entwürfe kamen an, ich hatte auf der ganzen Linie Erfolg, und das verlieh mir Flügel.

Ganz schnell war ich in der Modewelt international unterwegs, verdiente gut, konnte mir entsprechend viel leisten: eine schicke Wohnung, ein flottes Auto, aber auch das Zusammensein mit in der Schweiz bekannten, wohlsituierten Freunden. Mein Leben war so bunt und faszinierend wie die Mode, die ich entwarf. Doch ich hatte schnell das Gefühl, mich selbst zu überholen, und in mir wuchs der Wunsch, mich wieder zu erden.

Als ich bei einer Skitour mit Freunden im knapp 1.500 Meter hoch gelegenen Kippel ein altes Haus entdeckte, das man dauerhaft mieten konnte, wusste ich sofort: Das ist es, mein Refugium. Es gehörte früher dem Baumeister und Künstler Alex Murmann und war berühmt für seine wunderbaren Kerbschnitte innen und außen.

Ich habe die Chance, in so einem kunstvollen Ambiente zu leben. Das muss ich nutzen, schwärmte ich mir damals vor, und setzte alles daran, den Zuschlag zu bekommen.

Es klappte, und ich war Mieterin eines Bergtraums mit großem Ofen in der Wohnstube, einer holzvertäfelten Küche und zahlreichen kleinen Schlafzimmerchen. Die Decken waren niedrig, die Fenster klein, die Treppenstufen knarrten. Man konnte Tradition atmen, was in diesem Fall auch »einfach« und »wenig Komfort« hieß.

Meine Familie vermochte die Faszination nicht nachzuvollziehen. Sie schüttelten alle innerlich verständnislos den Kopf, als ich ihnen stolz meinen Alpentraum präsentierte.

»Hier ist ja die Zeit stehen geblieben«, meinte meine Schwester Sonja, und in Anspielung auf mein Modeleben ulkte sie: »Ich dachte doch immer, du bist uns allen eine Saison voraus!« Sie hatte damals gerade angefangen, als Hebamme zu arbeiten, und fühlte sich in Kippel »ein bisschen weggesperrt vom Leben«.

Doch genau das reizte mich. Ich wollte ein zweites, ein anderes Leben ohne Tempo führen und fand in Kippel das, was mir fehlte: Ruhe, Rückzug, Einfachheit.

Von nun an packte ich an fast jedem Wochenende meine beiden Katzen Zora und Charly ins Auto und machte mich auf den Weg in die unverfälschte Bergwelt. Wir waren ein glückliches Trio. Zora lag während der Fahrt immer auf der Hutablage, und Charly liebte es, in seinem komfortablen Katzenkörbchen zu reisen.

Oft war ich ganz allein dort oben, genoss die Ruhe, die Idylle, die frische Luft. Ich liebte es, morgens auf der Vorbank zu sitzen, mit meinen Katzen zu schmusen und den Tag vorbeiziehen zu lassen. Häufig waren aber auch Freunde zu Besuch da, oder wir reisten gleich im Tross an, und auch das konnte ich genießen. Wir waren ein buntes Völkchen aus Künstlern, Designern und Medienprofis, und uns verband die Liebe zur Natur und die Freude am Feiern, oft ausgelassen und feuchtfröhlich. Tagsüber ging’s auf die Skipisten oder zum Wandern in die Berge, abends statt in In-Kneipen in den »Goldenen Löwen« oder ins Gemeindehaus. Wir haben getrunken, getanzt, geflirtet. In Jeans, Shirt und Turnschuhen, ohne Nagellack und Lippenstift.

Die Zeit in Kippel wurde in den kommenden Jahren mein zweites Leben, ganz ohne Schickimicki und Trends, dafür mit Einfachheit und Dorfidylle. Mich und auch einige meiner Großstadtfreunde faszinierte das.

Aber es gab eben auch den großen Reiz des Erfolges, den Wunsch nach Herausforderung und das Zauberwort Karriere.

Mit 32 griff ich nach den Sternen und träumte von einem eigenen Label. Ich habe in meinem Betrieb gekündigt, um mir mit einem Kollegen ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Wir wollten »unsere« Mode auf den Markt bringen. Er sollte den Vertrieb machen, ich die Stoffauswahl und die Entwürfe. Näherinnen hatten wir reichlich an der Hand.

Aber das Ganze endete als Flop, denn mein Kollege warf mitten in der Planungsphase alles hin. Er hatte Angst bekommen, sich vor finanziellen Unsicherheiten gefürchtet und kurzerhand einen Job als Vertreter bei einem Konkurrenzunternehmen angenommen.

Ich war damals sehr enttäuscht und verletzt. Denn ich hatte an das Projekt geglaubt und musste nun alles absagen. Ausgerechnet ich musste aufgeben, und jeder, der mich kannte, wusste, wie sehr ich das hasste!

»Du bist eine Kämpfernatur«, hatte schon meine Mutter immer gesagt, wenn ich mich als Kind verbissen in etwas hineingekniet hatte.

»Du gibst nie auf«, meinte später mein Chef. »Wenn du etwas willst, versuchst du auf allen nur erdenklichen Wegen zum Ziel zu kommen …«

Beide hatten recht. Wenn mir etwas zuwider war, dann, etwas aufzugeben. Doch dieses Mal musste ich mich geschlagen geben. Ich konnte allein nicht weitermachen. Doch ich krachte zum Glück nicht hart auf dem Boden auf, sondern fiel ganz sanft. Denn ich konnte dorthin zurück, wo ich mich auskannte: zu meinem Familienunternehmen in Basel. Mein ehemaliger Chef verzieh mir den Ausbruch und wollte mich zurückhaben. Er bot mir erneut einen Job in der Leitungsebene an, dieses Mal für die neu eingeführte Sparte Herrenunterwäsche. Ich hatte zwar etwas Geld verloren und Kratzer an meinem Stolz abbekommen, saß aber wieder fest im gut gepolsterten Sattel. Ich war zufrieden.

Auch privat lief es damals gut. Ich war fest liiert mit Thomas, einem Autohändler, und lebte mit ihm fast schon ein Jetset-Leben. Thomas kam aus betuchten Verhältnissen, besaß ein Haus am Thunersee mit Bootssteg, und am Wochenende vertrieben wir uns die Zeit mit Wasserskifahren und Party.

Es ging mir insgesamt gut, richtig gut. Zumal mein Aufstieg in der Modeszene nach der unfreiwillig kurzen Pause ungebremst weiterging. Was das hieß, nahm ich gern mit: viele Reisen, schöne Hotels, spannende Messebesuche.

Und doch war beim zweiten Anlauf etwas anders: Ich fand das plötzlich alles nicht mehr so prickelnd. Die Entwürfe zu machen und umzusetzen, das war nach wie vor toll. Aber das ganze Drumherum begann mich erst zu langweilen, und später sträubte ich mich sogar dagegen.

Erklären konnte ich das nicht, aber ich fühlte mich, um in der Begrifflichkeit der Modebranche zu bleiben, als sei mein Leben nicht mehr maßgeschneidert, sondern von der Stange und einfach schlecht zugeschnitten.

Und so, wie man einen Kleiderschrank sortiert und die Teile von der Vorsaison ausmustert, habe ich dann mein Leben aufgeräumt.

Zuerst habe ich mich von Thomas getrennt. Ich hatte genug von seiner ganzen Bussi-Bussi-Gesellschaft. Dann habe ich die Partyszene gemieden, mich auf wenige enge Freunde konzentriert und nur noch die Dinge unternommen, die mir etwas bedeuteten: lange Spaziergänge in der Natur, gute Gespräche und gemütliches Lesen auf dem Sofa. Was blieb, war mein Rückzugsort Kippel. Eigentlich war ich nur noch dort glücklich, und jeden Montagmorgen fiel es mir zunehmend schwerer, meine Sachen inklusive Zora und Charly ins Auto zu packen und zurück nach Basel zu fahren.

Ich wollte viel lieber bleiben, allein durch die Berge stromern, abends in meiner einfachen Küche etwas Leckeres kochen und vom Wohnzimmer aus den Ausblick auf das Bietschhorn genießen.

Mein zweites Leben war mein erstes geworden, und all die Begleiterscheinungen in Basel wollte ich immer weniger. Ich verspürte auch immer weniger Lust, mir Gedanken über mein Äußeres zu machen. Trends, denen ich bislang voraus sein wollte, holten mich plötzlich ein. Erst übersah ich sie nur, dann verpasste ich sie. In meinem Badezimmer stand die komplette Kosmetikpalette eines Luxusherstellers, in meinem Kleiderschrank türmte sich teure Designer-Kleidung, aber ich maß dem Ganzen kaum noch Bedeutung bei.

Eigentlich war es vor diesem Hintergrund nur folgerichtig gewesen, dass ich dann diese ungewöhnliche Reise in den hohen Norden wagte. Ich hatte eben vieles satt, zu vieles. Der Reiz meiner Karriere, die Faszination meines Alltags, all das hatte sich im Laufe der zurückliegenden Jahre verflüchtigt und dem Wunsch nach einem anderen Leben Platz gemacht. Aber diese Sehnsucht war lange so schemenhaft, so wenig greifbar. Ich wusste, dass ich etwas suchte, aber ich wusste nicht, was. Ich hatte keine Vorstellung von dem, was ich wollte …

»Liebe Fluggäste, wir werden in wenigen Minuten auf dem Flughafen Zürich landen«, ertönt da die Stimme der Stewardess und holt mich aus meinen Gedanken. »Bitte stellen Sie die Rücklehnen in die ursprüngliche Position. Wir wünschen Ihnen eine gute Zeit und hoffen, Sie bald wieder an Bord einer unserer Maschinen begrüßen zu dürfen.«

Ludger stupst mich an. »Hey, Lotti, du warst aber ganz weit weg. Vermutlich unterwegs mit Sissy«, flachst er. »Ich muss übrigens heute noch in die Praxis und ein paar liegen gebliebene Abrechnungen fertig machen. Drück mir mal die Daumen, dass ich das packe.«

»Wer sich in Lappland bewährt, schafft das spielend«, necke ich ihn jetzt auch und denke dabei daran, dass ich noch eine Verschnaufpause habe und der ganze Marathon zum Glück für mich erst morgen früh wieder losgeht.

Als wir in Kloten am Kofferband stehen, warten wir auf unser Gepäck, jeder schon auf seine eigenen Angelegenheiten konzentriert – und eilen dann schnell auseinander. Das geschäftige Leben nimmt uns wieder gefangen, kaum, dass wir Schweizer Boden unter den Füßen haben. Wir müssen alle wieder los, in unseren hektischen Alltag zwischen Geld, Karriere und großem Programm.

Nachdenklich steige ich ins Taxi und murmle meine Adresse. »Lassen Sie sich Zeit«, schiebe ich schnell hinterher und fühle mich wie eine Revoluzzerin, denn ich habe mir vorgenommen, Hektik und Zeitdruck künftig aus meinem Leben zu verbannen. Es ist nicht wichtig, ob ich zehn Minuten früher oder später nach Hause komme.

Und ich habe von nun an etwas, auf das ich mich unbändig freue: meine nächste Reise nach Finnland!

In einem Jahr wird die Maschine wieder abheben, Richtung Rovaniemi. Zu Sissy und Sven …


Der Himmel ist saphirblau, die Luft kristallklar. Vor mir breitet sich wie ein endlos weites, glatt gezogenes Betttuch ein zugeschneiter See aus. Ich trage einen dicken Schneeanzug mit festgezurrter Kapuze, eine Schneebrille und habe mein Halstuch bis unter die Nase gezogen. Nur die Wangenknochen sind noch frei. Mein vierbeiniges Team unter der Führung meiner heiß geliebten Sissy rast durch die finnische Winterlandschaft. Ich kann nicht genug davon bekommen und spüre mein Herz vor Freude hüpfen. Die kleinen Hügel, gesäumt von dick eingeschneiten Tannen, ziehen an mir vorbei. Ich höre das Keuchen meiner Hunde und das gleichmäßige Knarzen meines Schlittens auf der festgefahrenen Schneedecke. Immer weiter und weiter und weiter. Sven ist mir etwas voraus, sodass ich ganz allein durch diese verzauberte Wildnis zu gleiten scheine. Was für ein Abenteuer. Was für ein erhabenes Gefühl!

Seit drei Tagen bin ich wieder in Finnland. Wir haben unseren Traum wahr werden lassen und sind zurückgekommen: sechs Schweizer, die ihr Herz an den hohen Norden, den Schnee, die Einsamkeit und die Hunde verloren. Und ich vielleicht auch ein bisschen an Sven, denn ich spüre, dass wir uns näher sind, als es vielleicht sein sollte.

Ich mag diesen ungeheuer patenten und intelligenten Kerl mit den wilden Abenteuern im Kopf und dem großen Herzen für die Hunde. Ich mag diese Liebe zur Natur, die Art, wie er sich in unwirtlichem Gelände bewegt, und die Sorgfalt, mit der er unsere Gruppe führt. Er übernimmt Verantwortung, lenkt uns sicher und gekonnt durch dieses für uns neue, ungewohnte Terrain.

Bei unserem Wiedersehen auf der »Ice Lodge« bin ich natürlich zuerst schnurstracks zu Sissy gegangen und habe mein Tier geherzt und gedrückt. Sie hat mich erkannt, ganz sicher. So wie sie mich abgeschleckt hat, wusste sie genau, dass ich es bin.

Ich habe bestimmt eine Stunde mit ihr verbracht. »Pass auf, dass du ihr das Fell nicht wegstreichelst«, hat Ludger noch spaßeshalber zu mir rübergerufen, und Sylvia meinte, ich solle sie doch am besten adoptieren und mit nach Zürich nehmen. Sven hat dann aber sofort ganz erschrocken »No« signalisiert – und wir haben alle herzlich gelacht.

Ich war einfach zu froh, sie wiederzusehen, meine süße Sissy, und bin noch lange bei ihr geblieben. Irgendwann stand dann Sven neben mir. Er hatte mich bei den anderen Gästen vermisst und nach mir Ausschau gehalten.

»Wenn du mit Sissy fertig bist, wäre es ganz schön, wenn wir uns auch begrüßen!«

Dann hat er mich herzlich umarmt und fest gedrückt. In meinen Augen etwas zu fest. Aber vielleicht bin ich auch nur dem »Skilehrer-Virus« erlegen. Man kennt es aus den Urlaubsregionen in den Alpen: Den Skilehrer bewundert man. Niemand ist auf der Piste so gut wie er. Er ist der King im Ring. Das mögen wir Frauen. Aber er kümmert sich auch, ist fürsorglich und passt auf. Bei ihm fühlt man sich sicher und vor dem Leben und seinen Gefahren geschützt. Das macht den Reiz aus, das fasziniert. Und rasch möchte man die Zuwendung nicht mehr teilen und die eine, die Auserwählte sein. Ist es das?

Ich weiß es nicht. Aber es ist auch nicht wichtig, wenn es kribbelt. Es ist nicht mehr als ein leises, sanftes Gefühl. Denn Sven ist vergeben, und das ist auch gut so.


Der Sternenhimmel spannt sich wie eine Glocke über unseren Köpfen. Das Thermometer zeigt minus 23 Grad. Es ist 21 Uhr, und ich liege dick eingemummelt auf einem wärmenden Rentierfell im knirschenden Schnee.

In einiger Entfernung ist eine kleine Übernachtungshütte. Wir alle haben dort gerade eben noch Lachs und Kartoffeln gegessen, dazu wieder den starken finnischen Lakritzschnaps getrunken – und ich, ich gebe es zu, auch heute wieder ein paar Gläschen zu viel. Ich wollte dann wie die anderen meinen Schlafsack für die Nacht fertig machen, als plötzlich Sven hinter mir stand. Ich spürte seinen heißen Atem im Nacken, hörte seine tiefe, raunende Stimme.

»Komm noch mal mit raus. Ich möchte dir etwas zeigen.«

Ich musste nicht überlegen, nickte nur und ging wie an einem unsichtbaren Band gezogen hinter ihm her.

Lisbeth lag schon in ihrem Schlafsack, lächelte mir aber verschmitzt zu, und Ludger drehte sich bewusst diskret zur Seite, damit er ja nichts mitbekam. Ich glaube, alle wussten, was unser kleiner Ausflug bedeutete: Sven wollte mit mir allein sein. Und ich wollte es auch.

Wir stapften nebeneinander durch den festen Schnee. Unsere Kopflampen erleuchteten unsere Schritte bis zum Lagerfeuer, das noch ein bisschen vor sich hin flackerte. Die Hunde schliefen in der Nähe und schienen die Wärme zu genießen.

»Komm, wir legen uns hin und warten ein bisschen. Vielleicht sehen wir die Polarlichter …«

»Polarlichter? Wirklich? Darauf lauere ich schon seit Tagen«, antwortete ich. »Meinst du, heute kann es klappen?«

»Ich hoffe es nicht nur, ich weiß es«, verkündete Sven selbstbewusst.

»Ja klar, mein Held hat auch Einfluss auf die Sonne«, alberte ich und knuffte ihn mit meinen dicken Handschuhen spielerisch in die Seite. »Dann gib mal das Startzeichen an deine himmlischen Kontakte.«

Sven antwortete nicht, sondern rollte stattdessen ein Fell aus, das er mitgenommen hatte, und legte sich darauf.

»Komm her«, meinte er und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich – und ich rutschte nur zu gern an seine Seite und schmiegte mich an ihn.

»Es ist so kalt«, flüsterte ich leise. »Und du bist so warm.«

Sven legte daraufhin den Arm um mich und streichelte mich ganz sanft …

Und so liegen wir jetzt also hier, eng aneinandergekuschelt, und während ich neugierig in den Himmel starre, reden wir: über unser Leben, was uns bewegt und was wir uns wünschen.

»Wovon träumst du?«, fragt Sven, und ich bin überrascht, wie einfühlsam dieser auf den ersten Blick so grob wirkende Bär von einem Mann sein kann.

»Von einem anderen Leben als das, was ich jetzt führe«, sage ich und merke, dass ich nicht in Worte fassen kann, was gerade in mir tobt.

Und während wir reden, passiert es. Der Himmel färbt sich in ein sagenhaftes Hellgrün in unterschiedlichsten Abstufungen. Ich starre fasziniert auf dieses Naturspektakel und fühle mich unendlich klein angesichts dieses Phänomens.

»Du hast ihn wirklich, den direkten Draht zur Sonne«, flüstere ich Sven zu, ganz ergriffen von den unfassbaren Eindrücken.

»Weißt du, woher diese faszinierenden Lichterscheinungen kommen?«, fragt Sven, und als ich mit dem Kopf schüttle, gibt er mir gleich eine kleine Nachhilfestunde.

»Polarlichter entstehen, wenn elektrisch geladene Teilchen der Sonne auf Gasteilchen der Luft treffen, und je nachdem, um welche Art es sich handelt, entstehen verschiedene Farben.«

»Sind sie nicht immer grün?

»Die üblichen Farben des Polarlichts sind rot, grün und blau. Daraus entstehen dann Mischfarben wie Violett, Weiß und manchmal auch Gelb.«

Ich weiß, dass es eine simple physikalische Erklärung dafür gibt. Aber erklären und erleben ist etwas ganz anderes. Hier wirkt die Natur so unwirklich schön und ergreifend, dass man sie für unecht halten muss.

»Und? Was denkst du?«, fragt Sven in diese Stille.

»Dass das Leben schön und dieses Fleckchen Erde fantastisch ist«, erwidere ich leise.

Ich sehe, wie sich der Hauch unseres Atems vermischt und wir eins werden, und ich spüre Svens Handschuh auf meinem. Romantik nördlich des Polarkreises, so sieht sie aus.

Wäre Sven nicht gebunden und das alles nicht so fern meiner Lebenswirklichkeit, dann … aber ich bin kein Mensch für »wäre«, »hätte«, »könnte«.

Ich mag den Konjunktiv nicht.

Ich lebe im Hier und Jetzt und nehme an, was ist.

Ich bin hier mit einer Reisegruppe inmitten einer atemberaubend schönen Schneelandschaft. Und ich bin eine Frau und empfänglich für Romantik. Das ist es, nicht mehr.

Der ganze Himmel färbt sich jetzt in sagenhaftes Hellgrün. Dazwischen funkeln die Sterne heller als je zuvor, und das alles ist ein Bild, das mich innerlich richtig erfüllt. Ich möchte, dass die Welt einfach stehen bleibt und ich diesen Moment festhalten kann. Er soll sich fest einbrennen in mein Gedächtnis und, ich gebe es zu, auch in meinem Herzen.


Als wir dieses Mal Abschied nehmen von unserer »Ice Lodge«, sind wir stiller als das letzte Mal. Denn wir haben nicht mehr die Verheißung eines Wiedersehens vor Augen: Sven und seine kleine Lodge wird es bald nicht mehr geben. Denn er will weg, für immer.

»Ich gehe zurück nach Alaska, baue mir dort ein anderes Unternehmen auf. Ich habe etwas Neues, Großes vor«, hat er uns am letzten Abend verraten.

Wir waren geschockt, aber auch neugierig.

»Wirst du wieder Hundeschlitten-Touren anbieten?«, hat Ludger gefragt, und Martin wollte wissen, ob wir auch dorthin kommen könnten.

»Ja, ganz sicher, und ihr werdet überrascht sein, was ich auf die Beine stelle, etwas ganz Aufregendes, Spannendes.«

Er blickte uns bedeutungsschwer an, so als wollte er Spannung erzeugen, und schüttelte dann lachend den Kopf.

»Aber mehr wird nicht verraten, Freunde …«

Wir sahen uns lächelnd an, und dann sprach Sylvia aus, was wir alle dachten: »Na, dann auf nach Alaska!«

Die Hunde wird er selbstverständlich mitnehmen, und damit werde ich auf der anderen Seite des Atlantiks hoffentlich bald auch Sissy wiedersehen.

Bevor der Bus losfährt, möchte ich Abschied nehmen von Sissy, und wieder laufen mir die Tränen über die Wangen, als ich neben ihr im Schnee knie.

»Leb wohl, mein wunderbarer Hund. Du hast mir den Zauber der Wildnis nahegebracht und mich auch jetzt wieder sicher und verlässlich nach Hause gebracht. Ich werde dich nicht vergessen.«

Und dann nehme ich ihr Köpfchen in beide Hände und sehe ihr ganz fest in die erdbraunen Augen.

»Wir sehen uns wieder, hörst du. In Alaska. Ganz sicher.«

Der Busfahrer hupt ungeduldig. Wir müssen los. Noch einmal ziehe ich Sissy an mich, kuschle mich in ihr Fell, und dann laufe ich los. Ich bin auch dieses Mal die Letzte, die einsteigt. Kaisa steht am Bus, streckt mir freundlich die Hand entgegen, die ich unbekümmert nehme. Ich habe ein reines Gewissen. Meine Gefühle tun niemandem weh.

Dann kommt Sven auf mich zu. Er schließt mich fest in seine Arme. Ich schnuppere den männlichen Duft seiner Haut. Und ich spüre seine kräftigen Pranken, die mich auch dieses Mal wieder länger umarmen als üblich. Ich bin sicher, ich werde auch ihn wiedersehen.

»Kommt mich also besuchen«, ruft er uns zum Abschied hinterher, als der Bus bereits losgefahren ist. »Ich halte euch auf dem Laufenden, wo ich bin!«

»Wollen wir?«, fragt Ludger später auf der langen Rumpelfahrt zur Hauptstraße.

Wie schon zuvor antworten wir wieder einstimmig im Chor mit »Ja«! Aber ich bin mir diesmal nicht sicher, ob ich noch einmal mit dabei sein werde. Nicht, weil ich es nicht möchte – ich habe vielmehr ein feines Bauchgefühl, und das sagt mir: »Es kommt alles anders …«

Pfoten im Schnee

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