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Letzter Winter

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Schwer und grau lastete der Winter von 1879/80 über uns allen. Durchreisende Fremde hätten meinen können, die Newastadt sei an ihrem zugefrorenen Strom selbst in Schlaf gesunken. Leerer und länger noch als sonst schienen die geradlinigen Straßen sich zu dehnen, gleichgültiger die Menschen aneinander vorüberzugehen, wie wenn starre Stumpfheit jede Lebensäußerung im Bann hielte.

Dahinter aber, hinter dieser anscheinenden Ruhe, stand etwas Ruheloses, Atemloses –. Hier und da an Plätzen und Ecken gewahrte man berittene Schutzmannschaft; ungern nur schlich sich bei Einbruch der Nacht der Hausknecht auf seine Bank am Torweg, denn schon war es geschehen, daß solch ein armer Wärter, in den Schafspelz eingemummt, am nächsten Morgen tot dagesessen hatte, erschossen von unsichtbarer Hand. Nach zehn Uhr abends durfte niemand das Haus mehr verlassen ohne gelbe Erlaubniskarte der Polizei. Noch war ein Jahr hin bis zur Ermordung Alexanders II., noch war die Detonation im Winterpalais nicht erfolgt, noch schritt man ahnungslos über heimlich unterwühlten Straßen, man deckte vielleicht Butterbedarf eben dort: in jenen neuen Butterläden zur Seite des Fahrdamms, die im Innersten ihrer Fässer hinaufgeschaufelte Erde enthielten. Afeer auf den Gemütern lag bereits der dumpfe Druck alles Kommenden.

Infolge des reaktionären Gesinnungswechsels des einst umjubelten »Zarbefreiers« gärte es immer drohender in der freiheitlich gesinnten Jugend, bis es, nach der »Volksfreundebewegung« des letzten Jahrzehnts, dem aufklärenden Wirken der »Narodniki« im Lande, zur Bildung eines revolutionären Exekutivkomitees gekommen war, zum Umschlag in den Terror. Wir hörten hie und da in Großpapas Hause von der innerpolitischen Sachlage dadurch, daß der damalige Kriegsminister Miljutin – einer der tatsächlich allerletzten aus der früher so bevorzugten Reformpartei im Regierungsdienst – sich als alter Bekannter bisweilen mit ihm traf.

Dennoch, obschon inmitten all dieser Dinge lebend, blieben wir doch auch immer ein wenig geschieden von ihnen; es ging damit wie mit dem Kriege, der erst in der Erinnerungslegende »Witalii« ein Gesicht für uns erhalten hatte. Obwohl wir von klein auf die russische Sprache beherrschten, Boris russisch gerufen wurde und ich im zärtlich verstümmelten Koserussisch, dem ein Name nicht leicht dortzulande entgeht, blieb doch immer gegenwärtig, daß unsere Heimat ganz fern in süddeutschem Lande stand, mochten wir ihr auch seit mehreren Generationen schon entrückt sein. Der Vater war es, der, obwohl mehr unwillkürlicher-, absichtsloserweise, uns das nie vergessen ließ: und wär es auch bloß die verräterische Sehnsucht gewesen, womit er ein paar verblaßte Landschaftsfotografien, als seien es Bilder teufer Angehöriger, auf seinen Schreibtisch gestellt hatte, oder die besondere Pietät, die allem galt, was aus der Zeit vor der Übersiedlung sich vererbt hatte, sei es noch so unbrauchbar und beschädigt.

So fühlten wir uns vorwiegend im Verband mit den übrigen, zahlreich vertretenden Ausländern – ja, gelegentliche Verheiratung mit »echtem Russenblut« war seltener als die unvermutetste untereinander. Ob Deutsche, Franzosen, Engländer, Holländer, Schweden, unterschieden sie sich vom Russentum mit seiner nationalen Orthodoxie am gemeinsamsten durch ihre Kirchen; die evangelischen Kirchen, zu denen die Mehrzahl gehörte, und die ihnen angegliederten Schulen bezeichneten so – trotz der ungeheuren Zerstreuung der Gemeinden über die riesig ausgedehnte Stadt – gewissermaßen Mittelpunkte einer Stadt für sich, worin die fremden Straßen wie an einer Art von Heimatstätte zusammenliefen. Dies Internationale, verbunden mit dem Großzügigen russischer Verkehrsgewohnheiten, gab dem gesellschaftlichen Leben einen gleichzeitig weltstädtischeren und natürlicheren Zauber, als es vielleicht irgendwo sonst der Fall ist, und solange meine Mutter noch lebte, nahmen wir daran teil. Mit ihrer heiteren Anmut, die jung und alt bestrickte, hatte sie verstanden, das durchzuführen, wiewohl mein Vater als simpler Magister der Physik und Mathematik an höheren Lehranstalten Luxus in seinem Hause niemandem bieten konnte. In ihr verkörperte sich von jeher alles, was in sein ernstes Gelehrtendasein Reiz oder Rausch getragen, mit ihrem Tode nahm sein Heimweh nach dem Vaterlande, das er nur von ein paar Reisen her kennenlernen durfte, im stillen überhand. Schärfer als bis dahin spürte er im weiten Zuschnitt der hauptstädtischen Ausländerkreise die im Grunde wunderlich selbstgenügsame Enge: diese besondere Art eines Philistertums sozusagen, die sich als Weltbürgertum nur anfühlt, weil es – weder im In- noch im Ausland wahrhaft heimisch – sich der Wirkungen enthält. »Überhaupt: Welch eine Stadt, mein Gott!« bemerkte er immer öfter. »Schnell hingesetzt dort, wo das Land schon aufhört: als liefe sie hinweg vom eigenen Lande, als verlöre sie einfach das Gedächtnis für alles hinter ihr – alles stets neu anfangend und erlebend, ohne Voraussetzungen, ohne Vergangenheit: Wie will sie da Zukunft haben oder auch nur Gegenwart?«

In der Abgeschlossenheit dieser grauen, schweren Winterwochen, ein Jahr ungefähr nach meiner Mutter Tode, trat zum erstenmal wieder Witalii in unser Leben.

Der Großpapa hatte ihn uns angekündigt. Witalii, bei Verwandten untergebracht, hegte die Absicht, seinen alten Herzenswunsch nachträglich zu erfüllen und das Abitur zu bestehen. Aber als er nun leibhaftig unter uns drei Geschwistern dastand, wirkte es trotz der Ankündigung namenlos überraschend und unerwartet. Wir befanden uns im Zimmer der Brüder. Augenblickslang gab niemand einen Laut von sich. Dann entführ mir, als sei die einstige Stunde der Gemeinsamkeit eine ganze gemeinsame Kindheit gewesen, ein Freudenschrei: »Witalii!«

»Musja!« kam es ebenso zurück, und das Eis war gebrochen. Boris umhalste ihn wie einen zurückgefundenen Freund, und Michael, der im Alter besser zu ihm paßte, nahm ihn als den seinen auf.

Eine Bewegung, die wir ihn mit der linken Hand ausführen sahen anstatt mit der rechten, lenkte sehr bald unser aller Augen auf den Arm, der ihm schlaff und verkürzt aus dem Ärmel hing.

»Ich bin schon sehr geschickt!« versicherte Witalii. »Man muß nur erst die linke Hand üben« – und er entzog sich rasch mit Fragen nach Michaels Studium dem Versuch, ihn über seine »Kriegslaufbahn« auszuforschen. Auch später kam er niemals darauf zurück; als Boris ihn einmal dringend darum bat, sagte er unvermittelt heftig:

»Ihr müßt wissen – da war bei mir keinerlei Begeisterung dabei – nichts dergleichen – nicht für die ›russischen Brüder‹ oder gar: gegen die ›Ungläubigen‹ – nein, nein, nicht so war es! Nur ganz allein für mich selbst – nur um meinetwillen –«

Wenn es gewesen war, um sich Freiheit zu ertrotzen, so war es geglückt, und er benutzte sie ausschließlich zum Lernen. Mit Boris, dem Primaner, »büffelte« er ganz gewaltig, um Klassen zu überschlagen, doch auch Michael mußte seinen Wissensdurst löschen helfen, obschon er selber gar nicht viel für Studieren übrig hatte. Unseres eleganten Michael noch etwas schmalbrüstig aufgeschossene Gestalt überragte die Witaliis bei weitem, was dem etwas kurzgeratenen Boris entschieden angenehm war; dennoch erschien Witalii trotz seiner Schülereinstellung zwischen den beiden durchaus als der älteste von ihnen. Mich erinnerte er deutlich an den kleinen Knaben von damals, an Mund und Augen würde ich ihn überall wiedererkannt haben, besonders am Mund. Der war nicht hübsch, ein wenig aufgeworfen, aber ich stellte fest, daß dies nicht so sehr an den Lippen lag als an einem zu geradlinigen Verlauf der Gebißlinie, wodurch beim Sprechen oder Lachen die Eckzähne sichtbar wurden – was sich bald naiv, bald brutal ausnahm und zum übrigen Gesicht nicht recht passen wollte.

Die eigentümliche Zeitlage beschränkte für die Brüder manchen Verkehr auswärts und band die drei noch enger aneinander. Michaels bisheriger Freund, ein Student, der sich angeblich mit Verbreitung verbotener Schriften befaßt hatte, war gefänglich eingezogen worden; einer beargwöhnte den andern, und selbst harmloseste Zusammenkünfte zu vieren oder fünfen blieben nicht sicher vor polizeilicher Einmischung. Für mich wurden die »drei Brüder« halb zum Ersatz für allerlei Mädchenfreundschaften, die sich seit den letzten Klassen zu lockern begonnen. Von Körper und Gebärden noch backfischhaft eckig, von Natur schüchtern, verstand ich mich nur im Hause fröhlich gehen zu lassen und fand wenig Berührungspunkte mit Altersgenossinnen, von deren beginnenden Gesellschaftsinteressen mich überdies mein Trauerkleid schied. Durch Witalii indessen gelangte ich zu einer ganz neuen weiblichen Bekanntschaft: Nadeschda Iwanowna, Nadia genannt, den im Verkehr mit Russen so unwesentlichen Familiennamen habe ich nicht einmal in der Erinnerung behalten. Sie war vom Lande gebürtig, besuchte in der Hauptstadt die Bestuschewschen höheren Frauenkurse, hatte sich aber außerdem eine Art von Privatkurs ganz im kleinen eingerichtet, worin sie etlichen Fabrikarbeitern und Hausknechten, lauter Analphabeten, heimlich Unterricht erteilte. Dies volksfreundliche Tun, das Mut erforderte und sie den folgenschwersten Kämpfen aussetzen konnte, sicherte Nadia von vornherein unsere bewundernde Sympathie. Erstaunt entdeckten wir in der erwarteten heldenmäßigen Frau ein liebes, kleines, blondes Mädchen, zum Umblasen zart in ihrem abgetragenen dunklen Kleidchen, und mit den sanftesten Augen der Welt. Ich war überzeugt, sie müßte noch schüchterner sein als ich selber, und mein Herz flog ihr zu. Auch fügte es sich so, daß sie mir bald darauf Bekenntnisse machte, die sich weniger um Politik als um Liebe drehten: genauso, wie zwei Mädchen miteinander reden. Sie hatte sich vor einigen Jahren, fast noch ein Kind, mit dem Sohn einer ihrem Elternhause benachbarten Popenfamilie verlobt, der gleichfalls Pope werden wollte; die Glaubensfrage spielte dabei keine Rolle, um so mehr die des Volkswohls: Pope sein, das konnte heißen, dem Dorf ein Engel werden, besonders wo zwei Engel sich zu solchem Zweck zusammentun. Aber einmal Geistlicher, schoß ihr ehrgeiziger Spiridon über dies nächste Ziel hinaus in die höhere klerikale Laufbahn der »schwarzen« Geistlichkeit, welche zum Zölibat verpflichtet, während die » Weiße« des Popentums ja gerade Eheschließung voraussetzt. Ungewöhnlich intelligent, machte er – im Heiligen Synod, beim »Staatschef« der Russenkirche – durch wohlüberlegte Schriften von sich reden und opferte so seine ehemaligen Träume glatt der herrschenden Macht: Nadia sprach von diesem doppelten Verrat mit einer verblüffenden Sachlichkeit, als gelte der ungetreue Spiridon ihr nicht mehr als der Mann im Monde. Aber gerade hierdurch erhielt das private Leid seine erschütternde Betonung, daß sie es in eins geworfen hatte mit dem Umfassenden des russischen Menschen in ihr, dem Leid um die russische Sache: der allein sie fortan lebte und Treue hielt – die Treue für zwei.

Es war das erstemal, daß ich in so persönlicher Weise eine Liebestragödie zu Gehör bekam, und der Romantik meiner Backfischjahre entsprach sie sicherlich wenig. Andererseits näherte eben dieser Grad von überpersonaler Reife Nadias Bericht meiner Unreife: Er lieh ihr eine Art unerschlossener Mädchenhaftigkeit zurück aus diesem Jenseits menschlichen Begehrens. Und während wir einander gegenübersaßen – im Zimmer meiner Mutter, das mit seinen lichten Möbeln und geblümten Mullvorhängen ganz unverändert zur Stube der Tochter sich geeignet hatte –, wurden wir fast Schwestern in unsern schwarzen Kleidchen: wie heroisch die eine, wie kindisch die andere, doch beide zwei kleine Nonnen dem Leben gegenüber.

Einmal, als ich, wie immer nachmittags, Tee und Butterbrot ins Zimmer meiner arbeitenden »drei Brüder« hinübertrug, fand ich sie ausnahmsweise faulenzend.

Es dunkelte schon. Nur die großen Holzklötze, die Boris in den Ofen nachzuschleudern liebte, flammten hell durch die Stube, er selbst aber lag lang hingestreckt auf seinem Bett, die Hände unterm Kopf verschlungen.

»Was treibt ihr denn –? Und ohne Licht?« fragte ich.

»Ja, das Licht, siehst du, das soll uns im Kopf aufgehen«, belehrte mich Boris. »Du ahnst ja gar nicht, harmloses Kind Gottes, was der Mensch heutzutage und hierzulande alles für Probleme erledigen muß –«

Witalii löste sich vom Fenster, woran er stand, er unterbrach Boris: »Einfach um einen der Fabrikleute bei Nadia handelt es sich.«

Michael widmete sich bereits seinem Glase Tee. »Ja, stell dir das mal vor«, erzählte er, »der aus der Seifenfabrik, der jetzt aufs Dorf zurück mußte, der hat einen ganzen Aufsatz hergeschickt – oder hergeschleudert, eine ganze Standrede wahrhaftig, schreiben kann er also schon! Aber das empört ihn nun hinterdrein gewaltig, daß er jetzt glauben soll, die Sterne, die über seinem Dorfe standen, seit er denken kann, das seien keine Engelsaugen wie früher.«

»Na ja, die verfluchte Rückständigkeit!« meinte Boris gähnend, »das liebe heilige Rußland ist eben noch Asien, das heißt, es hat nur beten gelernt, nicht denken. Diese Kleinigkeit bringen erst wir ihm bei – wir, das heißt Europa.«

»– Wenn es nur angeschulmeistert ist – – beten oder denken, einerlei: Zwang ist es dann so und so!« murmelte Witalii.

»Nein, höre mal!« Boris wurde ärgerlich. »Ihr solltet doch froh sein, daß ihr nicht die ganze Geschichte selbständig noch einmal machen müßt, die wir vor euch voraushaben – gerade auch im wissenschaftlichen Leben –, daß ihr das fix und fertig eingetrichtert kriegt. Die Konflikte, die das setzt, sind schließlich doch dieselben auch einst bei uns gewesen.«

»Nicht dieselben – nicht so naive, nicht durch so äußerlich ›Eingetrichtertes‹!« widersprach Witalii gequält. »Erst hierher kommt die Wissenschaft gleich mit so weitgereisten Ergebnissen – nicht allmählich auch hier gereift, nein, nur auf unsern Boden geworfen wie zur Explosion – ja, eine Bombe! Ein einziges Aufgerissenwerden, Wundsein! Versteh doch, daß das Lebendige dran, das einzig Eigene, eben das ist dasjenige, woraus der Mensch so kindisch schrieb – nicht die Engelsastronomie und nicht die richtigere Astronomie, sondern daß es bei ihm aus solchem Aufeinanderprall kommt, aus den unmöglichsten Gegensätzen – aus etwas, das nur er, nur alle diese – so erleben –«

Fast mitten im Satz, dem Tonfall nach, brach er ab.

»Nun, aber Nadia? Also täte sie nicht recht?! Aber was verehrst du dann ihr Tun –«, bemerkte Boris kopfschüttelnd.

»Nicht gegen sie red’ ich –; gegen mich selbst eher vielleicht, daß ich da was nicht versteh’.« Witalii sagte es mit sinkender Stimme; seine gesunde Hand hielt den rechten, schlaff hängenden Arm umklammert, wie er es manchmal tat, wenn Schmerzen unvermutet darin aufzuckten; und dies geschah nach jeder Überanstrengung.

Michael lenkte gutmütig ein. »Nun, wie du willst. Aber jedenfalls können wir nicht ganz Rußland in Ordnung bringen – wenigstens nicht gleich so auf der Stelle. – Man muß auch trachten, ans Ziel zu kommen.«

»– Ziel –?« Unruhig hob Witalii den Kopf.

»Gott, mindestens durchs Abitur, dann durch die ganze Natur, bis Gott gibt die Professur! Denn das wird mein Ziel, in aller Bescheidenheit«, antwortete statt Michaels, der etwas verlegen schwieg, Boris. Er hatte sich im Bett aufgesetzt und ließ die Beine baumeln. »Über alles ging dir doch dein Studium?! Und ausgerechnet jetzt mußt du erst ausknobeln, ob dieser Fabrikmann nicht Seelenschmerzen davon bekäme? Auf – auf! Herr Oblomow – arbeiten!«

Mir ist dies Gespräch fester im Gedächtnis geblieben als viele vor- und nachher, obgleich ich eigentlich zunächst nur den einen Ton daraus heraushörte, der mir noch nie vernehmbar geworden war: Witalii – Russe, wir – die Nichtrussen; sich und Nadia empfand er als ein »Wir« uns gegenüber. Sogar wo er jetzt einmal nicht mit ihr übereinstimmte – was mir merkwürdig angenehm war. Überdies verhielt es sich damit so, daß Nadia ihrerseits erst recht unter ihrem freigewählten Beruf litt, ungeschulten Menschen durch »wissenschaftlichen« Starstich die Augen über ihre Illusionen zu öffnen. Sie litt aber überhaupt darunter: all diese ihr von zu Hause her tief vertrauten bäuerischen Menschen zu städtischem Proletariat in dessen Erwerbskämpfen werden zu sehen. Andernteils jedoch hielt sie fanatisch fest an der in ihren Kreisen gerade erst hochkommenden marxistischen Lehre, wonach alle künftige Entwicklung mit Unerbittlichkeit nach logisiertem Schema geregelt schien – das auch Witalii abstieß, ohne doch von ihm widerlegt werden zu können.

Die Buchstaben, die Nadia ihre Analphabeten aneinanderreihen lehrte, formten sich ihr selber deshalb zu weit mehr drückenden als beglückenden Erkenntnissen, jedenfalls zu keiner der fröhlichen, getrosten »Wahrheiten« mehr, wie die gewesen, denen sie einstmals mit Spiridon, politisch wie kirchlich ganz unbekümmert, in »Jesus dem Bruder«, nachzuleben trachtete. Seit ihre Kindheit hinter ihr lag und das arme Heimatdörfchen voll Blindheit, Sonne und Schmutz, südlich im Lande – kannte sie kaum etwas anderes, als daß ihr vor wehe tuenden Gedanken der Kopf schmerzte und das Herz blutete. Ihre freudig gefaßte Haltung, wenn es galt zu helfen, zu leisten, ihre unentwegte Bereitschaft ließ das anfangs übersehen, bedeckte ihre tiefe Traurigkeit; darunter aber, unter diesem Strahlenmantel unschuldigen Opferdranges, wohnte die ursprüngliche Seele der kleinen Nadia fast ebenso verborgen, wie hinter heuchlerischer Priestermaske sich verstecken mußte die »schwarze Seele« Spiridons, des doppelten Verräters.

Ich weiß noch heute nicht zu sagen, ob Nadia irgendwie typisch war für die Frauen von Witaliis damaligem Umgang, denn er kannte ihrer mehrere, die uns fremd blieben. Hie und da schwirrte ein Name durch die Luft, einmal kam mir eine Fotografie zu Händen, welche machte, daß ich die nächsten Nachmittagsbutterbrote mit meinen Tränen salzte, dann stellte sich jedoch das Urbild als die schon vor einigen Jahren ins Ausland entwichene Wera Sassulitsch heraus, die auf den Stadthauptmann Trepow geschossen hatte, von den Geschworenen freigesprochen und vom Publikum auf den Schultern zum Gerichtssaal hinausgetragen worden war: die »erste der Terroristinnen« vor Organisation des Terrors. Witalii kam allmählich etwas seltener zu uns, benommen von Dingen, über die er uns nicht sprach – von denen aber geredet werden mochte in Nadias engem Hofstübchen, mit den gemeinsamen Freunden, so manche Nacht hindurch, während sie sich weigerten, dies bei uns zu tun: Wie sich später herausstellte aus begründeter Befürchtung, unser deutsches Haus zu einem verdächtigen zu machen.

Von unsern Verwandten – jenen verschiedenen Onkeln und Tanten, nach denen Boris und ich unsere Ostereier benannt hatten – blieb es dennoch nicht unbemerkt, daß bei uns junge Leute aus und ein gingen, die sich ungemein »russisch« benahmen, und kopfschüttelnd wurde mein Vater darauf aufmerksam gemacht. Möglicherweise teilte er sogar diese Besorgnis; geäußert hat er es jedoch nie. Denn stärker war in ihm das Widerstreben, jemanden in Wahl oder Form seines Umganges zu beaufsichtigen. Jederzeit nahm er an, seine Söhne ständen für ihre Schwester ein, und diese wiederum für den Ton des Kreises, mochte er im übrigen sich zusammensetzen aus wem immer es sei. Ich weiß nicht, ob dieses himmlische Vertrauen meines Vaters der Zeit, worin wir damals lebten, sonderlich angemessen war, allein dies weiß ich wohl: wie anspornend, ja geradezu haltgebend es während ihrer ganzen Jugend auf meine Brüder gewirkt, wieviel feine Scham, Vertrauen zu mißbrauchen, es auch in Witaliis Kameraden weckte. Überhaupt nur wenige von ihnen kamen, und diese selten nur. Dann freilich gerieten sie in heftigen Redekämpfen aneinander – und einig doch, auch mit den Brüdern, denn leichtbewegte, begeisterungsdurstige Jugend waren sie alle. Und allen voran die zarte, schüchternblickende Nadia – mit ihrer leisen, jeden Augenblick von Husten unterbrochenen Stimme –, der niemand es gleichtun konnte. Die sanfte Bestimmtheit, womit sie Pech und Schwefel regnen ließ über des Volkswohls Widersacher und vor dem Teufel selber nicht zurückschreckte, machten den Zuhörenden atemlos. Und ich sah es vor mir, wie sie auch ihrem Spiridon als einem Schädling der Gesellschaft eigenhändig, gleichmütig eine Bombe unter den Fuß gelegt haben würde, ohne den mindesten weiblichen Rachegedanken gegen ihn im Herzen. Witalii sagte am wenigsten. Manchmal stritt er gegen Nadia, wobei sie jedoch meist ihm überlegen blieb. Nicht so sehr durch ihren Standpunkt, als weil sie einen hatte. Denn immer sichtlicher schien Witalii in zwei Hälften gerissen durch seinen leidenschaftlichen Drang nach geistiger Selbstentwicklung und der Gewalt, die, aus seinem Volk auf ihn einstürmend, aus aller Vereinzelung herausriß.

Vieles von dem, was um mich vorging, verstand ich noch nicht, aber was ich deutlich sah, war eine eigentümlich beredte allmähliche Verwandlung in Witaliis Äußern: wie abgetragen seine Kleidung wurde, wie hager sein Wuchs. Nicht nur, daß er seinen keimenden Bart stehen ließ, sein Haar wachsen, wie es wollte, nicht nur, daß die Augen oft abwesend blickten, sich röteten um das Lid, gab ihm ein ungepflegtes Aussehen. Bei den Verwandten wohnte er offenbar längst nicht mehr. Wo? Und ließ man es ihm denn von Ródinka her an materiellen Mitteln fehlen? Sowenig wie jemals von Mutter oder Heimat, sprach er zu uns darüber ein Wort.

Großpapa war seinem alten Interesse für Witalii treu geblieben, wurde auch von ihm besucht, doch zweifle ich, ob er in irgendeiner Hinsicht mehr von ihm wußte als wir. Auch der Vater fand ein entschiedenes Wohlgefallen an Witalii; ihm gefiel dessen so kampfvoll durchgesetzter Studieneifer, ja gerade das Ungemessene daran, das sich kaum für eine einzelne Wissenschaft hätte entscheiden können, aus lauter Ehrfurcht vor Wissen überhaupt – aus dem Gefühl: »wissen« heiße: alles mitwissen. Witalii gehörte zu den wenigen, die der Vater in sein Allerheiligstes hereinnahm, mit dem er sich in sachliche Gespräche ernstlich vertiefte: ungestört von den geringen Kenntnissen dieses jungen Menschen, denn als wahrer Wissender sah er – wie der Herrgott im Punkt der Moral – lediglich auf die Gesinnung: die den Fortgeschrittensten immer wieder dem Lernbedürftigsten so innig ähnlich macht.

Mitunter konnte es scheinen, als ob der Vater mit seinem dem Außenleben abgekehrten Blick wahrhaftig geneigt sei, sogar Witaliis durchgeriebene Rockknöpfe und grausliche Bartstoppeln aus der Zerstreutheit des zukünftigen Gelehrten – gleichsam nach Auffassung der damaligen »Fliegenden Blätter« – zu erklären. Wie tief irrten wir uns aber über den Vater! Daß er es so aufzufassen schien, war bewirkt durch zarteste Zurückhaltung, die Witalii nicht als solche empfinden sollte – durch Wissen also auch in diesem Punkt. Aus gleich scheinhaften Gründen nahm man ja den Vater selber für den Gelehrten »wie er leibt und lebt«, ohne zu ahnen, weshalb er in dieser weltabgewandten Einseitigkeit verharrte: weil die einzige, lebendigste Verbindung zwischen ihm und der Heimat nur noch das sein konnte, was er wissenschaftlich arbeitete und wie allen so auch in erster Linie der Heimat als sein bestes Gut schenken durfte.

Ein Zwiespalt, nicht ganz ungleich dem, der Witaliis Wesen uneinig machte, war darin mit stiller Besonnenheit zum allein möglichen Austrag gebracht.

Gegen Winters Ende verließen die nächsten Kameraden Witaliis die Stadt, und bei diesem Anlaß erst wurde mir klar, daß er ihr Obdach, ihren Hunger, ihre Schwierigkeiten alle völlig mit ihnen geteilt hatte und daß er dies unter falschem Namen und Paß getan. Auch Nadia ging fort. Erschreckend hatte ihr böser Husten zugenommen, immer fiebriger erglänzten die blauen Augen, immer verschleierter klang ihre Stimme. Wir versuchten sie zur Abreise in ihre südlichere Heimat zu veranlassen, und wirklich entschwand sie uns –. Viel später erst erfuhren meine Brüder und ich, daß sie sich Handlungen zur Verfügung gestellt, deren Folgen sie in der Schlüsselburg noch rascher dem Tod überliefert haben werden, als infolge ihrer Schwindsucht geschehen wäre.

Dieses Sterben, das wir erlebten, barg sich so in seinem eigensten Geheimnis. Aber wieviel verlor auch ich schon mit Nadias persönlichstem Entschwinden! In all ihrer fanatischen Drangabe ans Politische lag doch ein Zug, der uns nicht nur unterschied, sondern auch einander anglich – ja fast als verbürgerliche er Nadia in größtem Stil an eben ihrer Familienlosigkeit. Nur daß ihre Brüder, nach Abertausenden zählend, ihr straßauf, straßab begegneten – nur daß sie zu Vater und Mutter trat, sobald sie eintrat bei Bauern im Dorf oder überarbeiteten Weibern in Fabriken – dehn, suchte sie sie auch ein wenig zu belehren zu allerlei Nutz und Frommen: Noch weit mehr grüßte sie sie in ihrem Herzen mit der stillen Ehrerbietung der Tochter, die ihnen nachzuleben trachtet.

Nie kann ich mich aber jetzt ihrer rührenden Gestalt erinnern, ohne gleichzeitig der seltsamsten Kunde zu gedenken, die uns nach Jahren, in Deutschland, durch eine Zeitungsnotiz über den Popensohn Spiridon zukam. Hiernach war dieser als Geistlicher terroristischer Propaganda verdächtigt und, zur Zeit ungezählter Hinrichtungen, gehenkt worden. Sein geistliches Wirken schien er nur betrachtet zu haben als die geeignetste Sorte Dynamit in einem Volke, dem der Aufruhr durch den Unglauben abstoßend werden kann, der ihn predigt. Ob hier von Beginn an Nadia gegenüber ein heroisches Schweigen vorlag, das ihn sie im Stich lassen hieß um des Wagnisses willen – das blieb uns für immer Geheimnis. Gewiß erscheint diese Möglichkeit auch reichlich phantasievoll, aber wußte nicht vielleicht der sehr intelligente Mensch, daß Nadia – ihrer Sache treu bis in den Tod auch ohne ihn – zu dem einen dennoch nicht imstande gewesen wäre: zu seinem furchtbar stummen Umweg – zu diesem Teufelspakt des Gottesdieners –?

Die tiefe Dunkelheit jedenfalls, darin das ausschlaggebende Motiv des Popensohnes für uns auf alle Zeit verborgen blieb, trug dazu bei, daß in den späteren Jahren seine dramatische Erscheinung unsern Gedanken noch fester eingeprägt blieb als die Erzengelgestalt seiner Braut, die soviel lauterer als er, und soviel lauter auch, nach des Teufels Hilfe rief, ohne den Teufel ganz zu kennen.

Während der russischen Fastenwochen kam es zu einem Umschwung der Stimmung bei uns: Eines Tages erschien Witaliis Bruder Dimitrii in der Hauptstadt. Alarm erregte er schon, noch ehe er den Pelz ganz abgeworfen hatte und in leuchtend blauseidenem Hemd dastand, mit schwarzsamtenen Pluderhosen über den hohen Schaftstiefeln und schön gleich einem jungen Gott. Alle schrien durcheinander. »Wie ein Bauer!« – »Nein: wie ein Fürst!« – »Nein: wie aus dem Theater!« Dimitrii selbst sagte: »Ihr wißt wohl gar nicht mehr, was einzig und allein russisch ist in diesem traurigen Stadtloch?« Und dann behauptete er weiter, ich müsse als Bojarin umgekleidet werden; ob ich wisse, was das sei? Es stellte sich heraus, daß ich es nur wenig genau wußte. Ungesäumt vertiefte er sich in jede Einzelheit weiblicher Bojarentracht, durch seine Lebhaftigkeit und Darstellungsgabe alle dafür mitgewinnend, bis wir für die neue Gewandung sogar die Farben ausgewählt hatten: Lachsrot sollte sie sein und verbrämt mit nichts Geringerem als Silberfuchs.

Etwas Festliches geriet mit Dimitrii in unser Beisammensein. Man konnte plötzlich wieder lachen, man sah, allen Finsternissen zum Trotz, die Welt auf einmal doch herrlich. Offenbar hatte dieser rasend schöne Mensch alles Zeug für die helle Seite des Lebens: Und das war etwas, worauf Boris – wenn er Dimitrii auch um manches im stillen beneidete – schon aus Temperament einging; Michael dagegen tat es aus Prinzip, indem er sich durch Witalii und der Zeiten Schwere allzu ausgiebig »alteriert« fand; vielleicht fühlte er sich durch den andern Wolujew zu ausgewachsen und urteilsernst werden.

Ich überdies bekam in Dimitrii meinen ersten Verehrer: denn so reiche Poetengaben besaß der, daß sie Dinge und Menschen fort und fort beschenkten: keineswegs brauchte man einer jungen Bojarin zu gleichen, um als solche vor ihm dazustehen. Meine drei »Brüder« stellten fest, mit dem nachsichtigsten Lächeln, daß der vierte Bruder bedenklich aus der Rolle falle.

Nun, ein so prachtvoller Verehrer und der erste obendrein: Wie man das Ding auch wendet, es bleibt ein angenehmes. Dimitrii war ja auch weder oberflächlich in seiner Heiterkeit noch ein Geck, dem’s um seidene Hemden ging: Er ging herum, erfüllt vom Schönsten, was russische Erde je hervorgebracht, er machte uns ihre großen Dichtungen lebendig, die wir fast nur auf der Schulbank kennengelernt, und andere, uns noch unbekannte, ihm längst vertraute, schienen auf seinen Lippen erst zu entstehen. Er zuerst führte mich in das Land ein, an dessen äußerster Grenze ich Wohnte, ohne doch in Rußland zu wohnen; und wenn die vergangenen Monate mich in ein wirres Mitleid mit dessen ungeahntem Elend gestoßen hatten, so weckte er dicht daneben unbändige Sehnsucht nach ungeahnter Herrlichkeit.

Mehrere Wochen gingen hin in einem fast rauschhaften Lebenswohlgefühl. Da, eines Nachmittags, während ich neben dem Zimmer der Brüder über einer Näherei saß, kam Witalii heraus und stellte sich neben mich ans Fenster.

»Ich werde auf eine Weile nach Hause müssen!« sagte er.

Die Nadel stellte sich steil auf und fiel aus dem Faden. Nie hatte ja Witalii vor uns sein »Zuhause« oder damit zusammenhängende Verhältnisse erwähnt.

»Hat denn deine Mutter –«, versuchte ich zu fragen, erschrak dann vor dem totgeschwiegenen Wort und stockte.

»Dimitri hat mir mancherlei erzählt –«, erklärte Witalii wortkarg. Doch nach kurzer Pause kam er selbst auf das Wort zurück:

»Meine Mutter – die geht gerade soeben nach ›Krassawitza‹, unserm andern Gut; – es ist das Wolujewsche Stammgut. – Daher könnte ich jetzt in ›Ródinka‹ Wohl Eudoxia sehen – mein Schwersterchen.«

Richtig: sein Schwesterchen, er hatte sie uns genannt, schon damals, in der kurzen Stunde der Kinderbekanntschaft. Ich mußte lächeln, als ich mich entsann, wie steif wir uns gegenübergestanden hatten, wir drei, und unsere Geschwister gegeneinander ausgespielt wie Besitztümer.

Ich sagte aber nichts, mir fiel nicht eine Silbe ein unter dem Andrang der Erinnerung und der Freude, daß er plötzlich von sich sprach; ich horchte nur, den nadellosen Faden angestrengt um meinen Finger wickelnd.

Witalii fuhr auch fort. Immer aus dem Fenster auf die Straße blickend, als erzähle er einen Vorgang, der sich dort unten abspiele:

»Es ist nämlich so: Nach dem, was ich durch Dimitrii erfahre, zieht die Mutter Eudoxia ganz an sich. Das geht nicht. Eudoxia darf mir nicht entfremdet werden. Muß mir folgsam werden – nicht all dem verhaßten Aberglauben und Zwang.«

Da entfuhr es mir wider Willen: »O Witalii, reiße sie nur nicht mit hinein – dein Schwesterchen, in all diese Kämpfe –, lehr sie nicht auch so hassen. Geh lieber nicht!«

Er kehrte den Kopf vom Fenster ab und mir zu, ich sah einen aufs tiefste erstaunten Blick.

»– Hassen –? nein, eben das soll sie nicht erlernen, wie ich es lernen mußte – denn man erlernt es durch Zwang. Ich muß hingehen, sehen, wodurch ich sie überlegen machen könnte darüber. Weiß noch nicht wie – aber die Mutter soll nicht auch Eudoxia noch verlieren – wie mich.«

Ich dachte jäh: »Er liebt sie! Liebt sie! Liebt sie ja doch, seine Mutter – die er haßt!« Mein Denken verwirrte sich. Zu Boden glitt die Näherei. Ganz benommen stellte ich mich zu Witalii ans Fenster. Von nebenan hörte man die drei andern laut plaudern und streiten; wenn Boris’ Stimme sich im Eifer im hellsten Diskant überschlug, wurde gelacht. Ich hörte mechanisch zu: Am liebsten wäre ich jetzt mit nach »Ródinka« gereist.

»Ich möchte sie kennen! Möchte deine kleine Schwester sehen. Arme kleine Eudoxia.«

Über Witaliis Gesicht ging ein Lächeln, ein gutes, frohes.

»– Arm ist die nicht –. Der wird es nichts anhaben, hoff’ ich. Die ist noch so: Sie liebt – einfach.« Er brach ab, zögerte ein wenig und hob dann wieder an:

»Als sie noch klein war, lief sie hinter der Mutter her wegen der Wunder- und Heiligengeschichten. Da fing ich Eudoxia selber ein mit Geschichten, und da lief sie mir nach. Das war unser erster Kampf um Eudoxia – und nur Eudoxia schien er harmlos. Märchen mußten es sein. Die Mutter war sehr viel reicher daran! Und von solchen, die auch sie kannte, mochte ich nichts nehmen. Da erfand ich mir zuletzt selber welche.

»– Du?!« rief ich staunend. Wenn Dimitrii das noch getan hätte! Witalii traute ich es nicht zu. »Ach, erzähl mir davon – weißt du nicht noch eins?«

»Eudoxias Lieblingsmärchen weiß ich noch gut, das will ich dir erzählen«, sagte er, »hör zu, das war so: Einer, der kam von weither, eine Waise war er. Und kam in ein Reich, darin herrschte eine wunderschöne alte Königin. Alle wurden ihre Vasallen, und auch er mußte ihr dienen. Aber ihm mißfiel sehr die gleißende Pracht, in die sie sich kleidete, das Gold ihrer Gewänder, durch das sie selbst ihm fast unkenntlich wurde, und sogar die Krone, die schwere unförmliche Krone, ihr auf Stirn und Kopf gedrückt. Darüber geriet er in Streit mit ihr und ihren Leuten, und im Streit schlug er sie alle tot, sowohl sie wie ihre Leute. Wie sie nun aber so tot dalag und die ganze Pracht von ihr abfiel und die Krone auch, da kam darunter hervor sein Mütterchen, das er längst gestorben geglaubt hatte. Und da küßte er sie ins Leben zurück, und sie erhob sich und sprach: ›Mein lieber Sohn, ich danke dir, daß du mir aus der Verzauberung herausgeholfen hast, an der ich bald erstickt wäre, denn kein goldener Popanz bin ich, sondern dein Mütterchen bin ich und gehe mit dir. Und es macht mir nichts, daß alle die tot sind, die mir dienten, da gräm dich nicht weiter drüber.‹ Da liebte er sie sehr und hob sie auf den Arm, damit ihre Füße den Boden nicht berühren sollten, und griff nach seinem Wanderstecken und sagte: ›Nein, freilich macht das nichts, tot mögen sie bleiben, denn fortan werde ich sein, der dir dienen wird, von dieser Stunde bis an unsern Tod.‹«

Witalii erzählte langsam und genau, den Blick aus dem Fenster gerichtet; als ließe kein Wort sich ohne weiteres hinzu- oder hinwegtun, so sagte er es her. Jedem Wort hörte man an, daß es fest geworden war durch Gewöhnung, wie ein Ding von Holz oder Stein und wie eine unverkürzte Wirklichkeit.

Als das Allerschönste daran erschien mir, daß ein Mütterchen dahintersteckte. Sonst waren es in den Märchen immer nur die Königinnen oder Prinzessinnen ihrerseits, welche entzaubert werden mußten. Sich sein Mütterchen erlösen, das, fand ich, sei viel mehr.

Witalii bemerkte auf dieses Urteil befriedigt:

»Ja, geradeso meinte es Eudoxia auch.«

Hierauf verstummten wir beide gänzlich. Allein ich spürte es wohl: Dies war nicht eine Mitteilung gewesen wie irgendeine sonstige, mit einem Schlußpunkt nach dem Gesagten. Es war das erste Wort eines mit mir geteilten Inhalts, ein Beginn –. Und ich – ich hatte nicht geahnt, daß, während ich Dimitrii zuhörte, dies Vertrauen zu mir unterwegs war! Ich fühlte, wie ich brennend errötete. Jetzt fiel mir erst Witaliis nachsichtiges Lächeln ein, womit er manchmal Dimitrii und mich gestreift. Ach gewiß: Die Mädchen und Frauen, die er hier kennen mochte, Märtyrerinnen, Heldinnen, wie anders betrugen die sich wohl! Aber – über wie vieles er auch gegen uns schwieg, namentlich jetzt in seines Bruders Beisein: Über dies war er zu ihnen allen stumm geblieben, von diesem sprach er zum allererstenmal; zum allerersten Menschen –

Als abends Dimitrii uns wieder vorlas, vorsprach aus den geliebtesten seiner Dichter, lauschte ich so inbrünstig wie nur je. Nur, daß sich mir Bilder und Gestalten aus Ródinka unterschoben, zu Dichtungen daran wurden – wie wiederum das Gedichtete sich dran belebte zu einer unaussprechlichen Wirklichkeit. Und mein Herz brannte, sie zu erleben, und kaum unterschied ich mehr, welche es sei: Witaliis Wirklichkeit oder die seines Landes.

So verging die winterlichste Zeit. Schon begann der harte klingende Frost sich zu mildern. Brausende Stürme brachten Schneemassen, die weich und breit liegen blieben; bei Tag und Nacht gab’s zu tun, die Fußsteige freizubekommen, und im Schnee, der dabei auf den Fahrdamm geworfen wurde, sanken die Schlitten ein – lautlos; kein Hufschlag auf dem Holzpflaster mehr hörbar, alle Geräusche abgedämpfter als in der Luft hohen Frostes, und selbst das Schlittengeklingel über den weißen Straßen tönte nur ganz traumhaft durch die grauverhangene Luft.

Dimitrii war längst abgereist, Witalii von »Ródinka« zurückgekommen. Der arbeitsame Alltag einte uns in altgewohnter Weise abends im Zimmer der Brüder. Da geschah es einmal, daß unerwartet der Vater unter uns erschien. Dies war außerhalb der Mahlzeiten ein seltenes Ereignis, und überrascht sprangen wir alle auf, als er hereintrat.

Ihm schien der kleine Lärm, den er verursachte, höchst unangenehm zu sein, und im peinlichen Gefühl, ihn gleich noch vermehren zu müssen, hob er abwehrend beide Hände.

»– Es ist wahrhaftig gar nichts, obgleich – aber erschreckt nicht unnütz darüber: es ist – es scheint, daß ich nach Hause – ich meine, daß ich berufen bin – eine Professur in Freiburg, wißt ihr –«

Aus lauter Furcht vor der Aufregung, die diese Freudenbotschaft nach sich ziehen konnte, wagte er sie nur so vorsichtig von sich zu geben wie eine Trauernachricht.

Ein Hurrageschrei. Ihm gellten die Ohren. Wie Indianern ausgeliefert, sah er sich von seinen Kindern umringt.

»Hoch soll er leben! Er lebe hoch – hoch!« schrie Boris wie besessen. »Endlich, was dir zukommt! Endlich haben deine wissenschaftlichen Arbeiten es ihnen gesteckt!«

»Drei Küsse, Papa! Nein: die russischen drei!« beharrte Michael, der sich sonst Liebkosungen empört entzog; er hielt den väterlichen Kopf fest wie zu einer chirurgischen Operation, bis er auf den Mund und jede Backe den Kuß am richtigen Platz abgesetzt hatte.

Ich streichelte diese Wangen, die blaß aussahen, übernächtigt wie das ganze Gesicht, das einen ständigen Ausdruck der Überanstrengung trug. Denn was die lehrstundenerfüllten Tage nicht hergaben, das mußten, zu wissenschaftlicher Sammlung, Nächte leisten.

»Jetzt wollen wir dich schon zu wahrem Posaunenengel herausfüttern! Jetzt nur schnell aus all der Schererei fort und aus dem elenden Klima!«

Mit gebücktem Kopf hatte er den ersten Sturm über sich ergehen lassen. Ganz ermattet setzte er sich auf den nächstbesten Stuhl. Aber nun freute auch er sich. Unsere stolze Mitfreude tat ihm hinterdrein wohl, und das aufregendste Stück war ja nun glücklich überstanden.

»Ja, nicht wahr, Musja, Kind? Meine Gesundheit, die soll jetzt schon noch herhalten! Denn nun will ich ja erst – ich meine: Jetzt möchte ich was leisten!«

Witalii hielt sich abseits, ohne auch nur an Glückwunsch zu denken; nur sein Blick, seine ganze Haltung drückten aus, wie er am Vater hing. Dieser stets tief beschäftigte, im sachlich Abstrakten ohne jeden Eigennutz aufgehende Gelehrte mit seinem durchgeistigten Kopf, dem man die Gedankenfreude ansah, trotz der Schwermut, die den Mund gezeichnet hatte: Das war für Witalii eine in seinen häuslichen wie kameradschaftlichen Kreisen neue Erscheinung gewesen, an der ihn etwas ihm Unerreichliches vielleicht am stärksten anzog.

»Also ausgerückt wird! – das heißt, Großpapa tut wohl nicht mit – na, und Boris so nahe am Abitur – und schließlich ich: das Bergchor nächstens erledigt« – bemerkte Michael, und sein Ton ging von der Freude zum Zweifel über.

»Alles egal! Nur erst packen – ja, wir packen uns! Ist denn nicht in Deutschland ohnehin alles besser?« schrie Boris noch im Taumel.

Da fuhr Michael ihn an: »Pfui, das ist undankbar! Wenn auch nicht Vaterland – Vaterstadt ist uns das hier doch –. Und was das Land betrifft – ich für meinen Teil: Wo fände ich solche berufliche Verwendung – für den Bergingenieur, da ist hier doch Raum, Zukunft –«

Boris warf sich fast auf ihn: »Was, du willst überhaupt – du bleibst?! Du allein von uns – und ich – ich« –

Der Vater hob entsetzt, abwehrend die Arme. »Laß – Boris! Natürlich darf er! Jeder, wie er will. Natürlich!« Schon sah er im Geist die zärtliche Übererregung umschlagen in Streit und Gereiztheit. Und vielleicht, wer konnte es wissen, unterdrückte seine Erlaubnis einen leisen Schmerz, daß nicht, wenigstens eine Stunde lang, nur allein die alte Heimat siegte –

Heimat! Ich stand noch neben ihm, umschlang ihn mit meinem Arm. Das Wort ging mir durchs Herz, in einem ganz sichern Sinn, wie Blicke in ein sich entschleierndes Land: gleich dem auf des Vaters Schreibtisch. Hügel sah ich, Bergrücken, Tal, Schluchten, quellendurchrieselt, immer wieder bebautes Feld, geschonte Waldung, immer wieder auch Dorf und Stadt, und wär es kleinstes Städtchen mit seinem steinernen Brunnen auf dem Marktplatz, malerischen Gassen aus der Zeit, wo die Häuser sich schutzbedürftig aneinanderdrängten – jeder Blick Neues, Bezauberndes streifend; Natur in ihrem reichsten Wechsel, die doch allüberall von ihren Menschen redete.

Menschen – wenn ich versuchte, sie an den hiesigen Bekannten abzuheben, fielen mir hartnäckig bloß die bunten schwäbischen Mützen ein, die ich in der Peterhofer Kolonie gesehen hatte, wo vor Jahrhunderten eingewanderte Schwaben Sommers Landhäuser vermieteten. Auch wir hatten schon dort gewohnt. Sie trugen noch ihre Tracht, sie sprachen noch ihr Schwäbisch, sogar aus ihrem mangelhaften Russisch hörte man es heraus. Mir war, als müsse ich sofort hinfahren, Grüße von ihnen mitnehmen ins deutsche Land –. Mir war, als stände ich dort, wie in jenem Sommer, in der russischen Ebene, am Bach unter Birken, die herb aufdufteten in abendlicher Feuchtigkeit. Und sah, wie wir von den Kolonistenwiesen Heu zu Haufen rafften, die Haufen anzündeten und in die Strömung schleuderten – sah, zum Greifen deutlich, wie sie hinabtrieben, hochflackernd und erlöschend im Wasser, das um sie leuchten blieb vom Abendrot.

Nur in Rußland sah ich so tun; Kinder und Große warfen brennendes Heu in die Flüsse an warmen Sommerabenden und sahen ihm nach in Entzückung.

Mein innerer Blick blieb haften an diesem Bild mit den schwäbischen Kolonisten in unserer Mitte: Aber ich wußte nicht mehr, welches das Land sei, wonach er ausschaute.

Große Hast und Geschäftigkeit ließ die folgenden Wochen im Fluge vergehen, denn das Sommersemester sollte uns schon nach Deutschland übergesiedelt finden. An meine jugendliche Tatkraft wurden so viele Anforderungen organisatorischer und häuslicher Art gestellt, daß ich ein bißchen von Kräften kam, denn unbedingt wollte ich täglich noch Zeit erübrigen für den weiten Weg zu Großpapa.

Großpapa und mich verband von jeher eine stille Zärtlichkeit. Und seit ich halb erwachsen war, hatte er ein ganz eignes liebes Benehmen mir gegenüber angenommen, ein altfränkisch galantes beinahe, das vollsteckte von hundert kleinen feinen Verwöhnungen und das alle beide gleicherweise entzückte – den ritterlichen Kavalier wie seine sehr junge Dame.

Noch immer hatte er die umfangreiche Wohnung inne, die uns schon als Kindern so oft zur Verfügung gestanden, und ungeachtet der verhältnismäßigen Ungemütlichkeit so wenig benutzter Räume und des höheren Mietpreises hielt er hartnäckig daran fest.

»Immer muß Raum um mich bleiben – Raum für euch alle!« versicherte er auch noch jetzt, wo wir alle ihn verlassen sollten. »Immer muß ich das Gefühl behalten: Um mich muß sein können, was ich je geliebt habe – auch wenn es augenblicklich nicht um mich ist. Türen müssen ihm offen bleiben auf allen Seiten. Ist es erst eng um mich geworden, dann erst bin ich wirklich einsam geworden –. Die verengerte Wohnung, das ist der beginnende Sarg.«

Obwohl er nicht mit uns übersiedeln wollte, nur Sommers zu Besuch kommen, »solange die alten Knochen noch hielten«, freute er sich doch mit uns der veränderten Sachlage und riet dringend, die Abreise zu beschleunigen, um noch Zeit für eine gehörige Erholung irgendwo herauszuschlagen. Dadurch ging es zuletzt tatsächlich etwas fieberhaft beeilt bei uns zu, und ich redete mir ein, ich dürfe überhaupt keinen andern Gedanken mehr in mir aufkommen lassen als den an die vorliegenden Tagespflichten:

An einem Abend, als ich von Großpapa fortgehen wollte, faßte er an mein Kinn und hob mein Gesicht ein wenig. Mit seinen großen stahlblauen Augen – den Augen, die wir als Kinder immer so gern für unsere »mißfarbenen«, die zwischen blau, grau und braun spielten, eingetauscht hätten, betrachtete er mich lange stumm.

Ich hatte sicherlich kein schlechtes Gewissen, aber es war manchmal gar nicht zu glauben, was alles unter Großpapas stahlblauen Augen sich unvermutet im Inwendigsten regte.

»– Hör einmal, Kind –. Ist es wirklich allein die Arbeiterei, daß du darüber ganz dünn und spitznasig geworden bist, ganz bläßlich und häßlich? – Musja – ist es mit dem Packen so arg –?«

Ohne meine Hände von seinem Hals zu lassen, den ich zum Abschiedskuß hielt, senkte ich das emporgehobene Gesicht und versteckte es an seinem Rockärmel.

»Sieh mich nicht so an, Großpapa –. Es ist ja doch die Freude –«

»Ist es Freude – Musja? Oder ist es auch, weil es dir nicht ganzleicht fällt, fortzugehen?«

Bei diesem Wort erzitterte ich, und Herzklopfen machte mich atemlos. Fest klammerte ich mich an ihn, ich stammelte: »Ach Großpapa – nicht – nicht –!«

»Doch, mein Kind, sage es mir«, flüsterte er, mich an sich haltend, auf mein Gesicht niedergebückt, »es ist besser, es ist nötig für dich –.«

»Ich kann wirklich nicht, Großvater! Ich weiß es ja nicht – es ist ja nur etwas so Schweres, das immer da ist – es ist so schwer für die Freude« – antwortete ich mühsam, denn mir schien, wenn ich auf das Schwere hinblickte, dann mußte es sich wie ein über mir schwebender Felsblock lösen und mich zerschmettern. Ich hob mit plötzlicher Verzweiflung den Kopf. »Großvater, manchmal denke ich: ob der Tod denn schwerer ist? Ich möchte bei der Mutter sein.«

Ihn durchfuhr ein Ruck. Er suchte sichtlich nach einer harmlosen Entgegnung, fand keine, und, mein Gesicht wieder an sich drückend, streichelte er mich, so zart, als vermöchten diese Hände über das verletzlichste Spinnweb noch hinzugleiten, ohne es zu reißen.

Du liebe teure Hand.

»– Wenn ihr nur erst irgendwo euch erholen werdet – der Vater und du im schönsten Süden irgendwo –, wird es dann nicht doch herrlich sein? – Dort, wo es jetzt schon blüht, Margot!«

»Ja, Großpapa«, sagte ich gehorsam.

Hin und wieder nur rief er mich mit meiner Mutter Namen, den ich von ihr hatte; und stets war es dann, als dränge sich in die Zärtlichkeit solcher Minuten auch noch der ganze Reichtum seiner Liebe zu ihr mit herauf und lösche die Zeit und sprenge die Jahre.

»Und denk mal, was mir jetzt manchmal durch den Kopf geht! Sitzt denn nicht in Kiew die liebste unserer baltischen Verwandten? Und ist nicht Vaters befreundetster Kollege an der Charkower Universität?«

»Ja, Großpapa.«

»Nun paß mal auf: Könntet ihr denn nicht gleich in Rußland diesen Süden aufsuchen, ehe ihr ganz fortgeht? Wie wär denn das? Wenn Großpapa hilft?«

Wie das wäre? Sollte ich russisches Land sehen in seiner ganzen Weite, ehe ich es verließ? Ich blickte dem Großpapa starr und erwartungsvoll ins Gesicht. Aber würden der Vater und ich es auch richtig ausfindig machen – das, was ich meinte? Würden wir Uns nicht im Russischen verlaufen?

Großpapa sah wohl die aufsteigende Hoffnung, sah Scheu, Bedenken, höchste Spannung deutlich genug in meinem Blick. Aus dem seinen stahl sich ein Lächeln, fein, so fein, daß es sich den Zügen gar nicht mitteilte.

»Margot, Kind«, sagte er plötzlich und küßte mich. »Ich möchte doch, daß jemand mir erzählen könnte, ob du auch dort unten im schönen Süden noch ebenso spitznasig, so häßlich und bläßlich bleibst. Was meinst du –? Wenn ich mir da einen Berichterstatter hielte – zum Beispiel in Kiew um die Osterzeit? Du weißt, wie gut ich dem Witalii von Kindesbeinen an bin; ich glaube, den Gefallen tät er mir.«

» Ach – Groß–papa –«, machte ich atemlos.

»Margot, mein Herzchen.«

Rodinka: Meine russische Kindheit

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