Читать книгу Fürstenkrone 179 – Adelsroman - Louisa Rosenhagen - Страница 3
Оглавление»Tschüs, Mama!« Caroline, das jüngste der vier Kinder, schlang ihrer Mutter die Arme um den Hals und drückte sie fest. Natürlich war sie schon groß, ging immerhin in die sechste Klasse, aber für sie gehörte dieses letzte Kuscheln vor dem morgendlichen Aufbruch zur Schule einfach noch dazu.
»Tschüs, mein Schatz, bis heute Mittag! Und ich drück dir alle Daumen für die Lateinarbeit, das wird schon!«, antwortete ihre Mutter liebevoll.
»Bye, Mom!«, verabschiedeten sich nun auch die Zwillinge Jonathan und Maximilian. Sie waren sechzehn, liebten ihre Mutter von Herzen, aber Küsschen vorm Weggehen gehörten der längst vergangenen Kinderzeit an. Sie sprachen wenig und wenn, dann am liebsten amerikanisches Englisch.
Hanna, die Älteste, hatte heute nicht zu Hause übernachtet. Sie bereitete sich auf das Abitur vor und hatte nach stundenlangem Lernen bei Freundin Suse dort ihr Bett aufgeschlagen.
Mit schlechtem Gewissen genehmigte sich die Mutter noch eine Tasse Kaffee und warf einen Blick in die Zeitung. Eigentlich hätte sie gleich mit Aufräumen und Kochen anfangen sollen, denn heute musste sie über Mittag arbeiten.
Mit einem geschmeidigen Satz landete Kitty, ihr Kätzchen, auf der Küchenbank und rollte sich dort zu einem behaglich schnurrenden Fellkringel zusammen.
»Recht hast du, Kitty!«, sagte die junge Frau laut und griff zu Kaffee und Orangen. »Man kann nicht immer nur hetzen, und arbeiten muss ich heute noch genug. Wir bekommen neue Ware, noch mehr Rüschen und Pailletten, und ich muss diesen ganzen Kitschkram aufbügeln. Wenn’s doch wenigstens hübsche Kleider wären!« Sie seufzte tief und beschloss, noch nicht an die Wolken von Kunstseide zu denken, die sie heute erwarteten.
Sina Stegen arbeitete in einer schönen alten Stadt, in einem Geschäft für Brautmoden. Eigentlich liebte sie ihren Beruf, und die Arbeit hätte viel Spaß machen können, wenn nicht ihre Chefin eine ziemlich unangenehme Person gewesen wäre. Sie hatte einen barbarischen Geschmack, setzte auf Masse anstatt auf Klasse, verkaufte ohne mit der Wimper zu zucken unpassende Kleider und übte Druck auf ihre Mitarbeiterinnen aus. Alles in allem war es ziemlich anstrengend, dort zu arbeiten.
Aber Sina Stegen hatte keine andere Wahl.
Sie stand allein im Leben und musste hart darum kämpfen, ihre Zeit zwischen der Fürsorge für ihre vier Kinder und der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, gut einzuteilen. Sowohl an Zeit als auch an Geld fehlte es an allen Ecken und Enden, sosehr Sina sich auch darum bemühte.
Dafür gab es etwas anderes in ganz großem Maß: Liebe und Vertrauen. Ihre Familie war eine kleine verschworene Schicksalsgemeinschaft, die alle Härten des Lebens bestehen konnte, weil bei ihnen die Liebe wohnte. Liebe macht die Menschen stark und ist die beste Rüstung gegen alles, was einen zu Boden zwingen kann.
Und Sina hatte am Boden gelegen, damals, vor vielen Jahren …
Es war ein Nachmittag im Sommer gewesen. Der kleine Garten hinter ihrem Haus, das sie gerade gekauft hatten, hallte wider vom Gelächter und Geplapper der Kinder, die sich am Planschbecken vergnügten. Wolfgang, ihr Mann, hatte es gestern mit nach Hause gebracht. Wie hatten sie gelacht, als sich herausstellte, dass er die Luftpumpe vergessen hatte, und sie das Plastikteil mit dem Mund aufblasen mussten! Es hatte eine halbe Stunde gedauert, und sie waren knallrot im Gesicht vor Anstrengung, aber dann stand das Becken auf dem Rasenstück und leuchtete blau und wartete auf den nächsten Tag, wenn sie es mit Wasser füllen würden, das sich in der Sonne erwärmte. Hanna sollte eingeschult werden, die Zwillinge hatten ihren vierten Geburtstag gefeiert, und sie wussten gerade, dass sie noch ein Baby bekommen würden. Überraschend zwar, aber nicht unerwünscht.
Wolfgang und sie saßen an jenem Sommerabend auf der Terrasse, er hielt seine Frau im Arm, streichelte ihren noch flachen Bauch, und sie malten sich aus, wie im nächsten Jahr um diese Zeit ein Krabbelkind versuchen würde, das Planschbecken zu entern.
Aber noch war es nicht so weit. Noch waren es nur drei Kleine, die vergnügt durcheinanderwuselten, als Sina zur Gartenpforte ging, weil dort Leute standen, die mit ihr sprechen wollten. Zwei Polizisten und der Seelsorger aus der Gemeinde.
»Ja, bitte?«, fragte Sina und legte in einer instinktiven Geste ihre Hände auf den Bauch, so als wollte sie ihr Ungeborenes vor dem schützen, was jetzt auf sie zukam.
Ein Geisterfahrer hatte auf der Autobahn fünf Menschen mit sich in den Tod gerissen. Einer davon war ihr Wolfgang.
Das Haus musste verkauft werden, mit dem Gärtchen und der Schaukel und dem meerblauen Planschbecken. Wolfgangs Lebensversicherung half über die härtesten Hürden hinweg, aber es war klar, dass sie sich nur eine kleine Wohnung leisten konnte.
Und auch das war schwierig.
Wie bitte, eine Frau, allein, mit vier Kindern? Was das wohl für eine ist!
Ach, eine junge Witwe? Ja, das ist natürlich traurig, ganz traurig aber trotzdem. Ob da regelmäßig die Miete überwiesen wird? Und dann kein Mann im Haus, der sich um die fälligen Schönheitsreparaturen kümmert. Wie schnell ist dann eine Wohnung heruntergewohnt!
Schließlich fand Sina doch noch einen Vermieter, der ihr zutraute, das Leben zu meistern. Sie und ihre Kinder zogen in ein winziges Backsteinhäuschen mit einem noch kleineren Hof. Aber dessen Mauern waren mit Weinlaub überwuchert, und irgendwann stand dort auch ein Planschbecken und leuchtete gelb wie die Sonne.
Die Kinder wuchsen heran. Sina musste Geld verdienen, aber man bot ihr nur ganze Stellen an. Das war undenkbar, denn sie hatte niemanden, der sich um ihre Kinder kümmerte. Ihre Eltern waren im Ruhestand auf eine Nordseeinsel gezogen, und so schön Sina es dort auch fand, wollte sie nicht aus ihrer Stadt fort. Hier war sie zu Hause, hier waren ihre Kinder geboren, hier lebten ihre Freunde.
Es wurde hart, aber es ging. Sina lebte ihr Leben für und mit den Kindern. Jetzt war Hanna bereits volljährig, stand kurz vor dem Abitur und würde bald ausziehen, um auf eigenen Beinen zu stehen.
»Wie hast du das bloß alles geschafft?«, fragten ihre Freunde sie manchmal.
Dann lachte Sina und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung! Irgendwie ist es eben immer ein Stückchen weitergegangen.«
Aber das war nicht die ganze Wahrheit.
Sina hatte nämlich eine verborgene Kraftquelle, einen geheimen Rückzugsort: Sie schrieb.
Begonnen hatte es mit einem Tagebuch, das sie als Schülerin geschenkt bekommen hatte. Sie füllte es mit ihren Träumen, Gedanken und Erlebtem, und als es vollgeschrieben war, wünschte sie sich ein Neues.
So ging es weiter, Buch für Buch, bis sie viele Gedanken beschäftigten, die nichts direkt mit ihrem Leben zu tun hatten. Sina begann, kleine Geschichten zu schreiben. Irgendwann hatten sie Hand und Fuß, und sie wagte sich an Größeres, das über ein paar Seiten hinausging.
Nach Wolfgangs Tod blieben die Seiten weiß und leer. Für das, was sie jetzt erlebte, gab es keine Worte. Dann, in den folgenden Jahren, als der Existenzkampf am härtesten und die Kinder noch klein waren, fehlten ihr die Zeit, die Kraft und gute Ideen.
Aber irgendwann kam wieder der Moment, in dem sie etwas beobachtete, ihr etwas erzählt wurde oder ihr ein Gedanke durch den Kopf schoss, der es wert war, aufgeschrieben zu werden. Sina begann, sich Notizen zu machen, und übertrug sie abends, wenn sie ein Stündchen Zeit hatte, auf den PC. Manches speicherte sie nur ab, manches druckte sie aus und legte es in die Schublade.
»Mensch, Mama, warum versteckst du deine Geschichten eigentlich? Die sind so schön, schick die doch endlich mal an eine Zeitung oder einen Verlag!«, drängten ihre Kinder.
»Was meint ihr, wie viele solcher Manuskripte täglich bei denen eingehen und im Papierkorb landen? Das sind doch alles nur Hirngespinste!«, wehrte Sina ab.
»Klar, Mama, dass nix von dir veröffentlich wird, du schickst ja auch nie was ein!«, sagte Maximilian mit der ganzen Logik seines siebenjährigen Männerlebens.
So ging es die ganzen Jahre über. Sie schrieb für sich, als Trost oder zum Vergnügen. Ihre Geschichten handelten von Alltäglichem, und sie handelten von der Liebe. Mal waren sie zärtlich, mal humorvoll geschrieben, und sie hatten immer ein gutes Ende. Das Leben schrieb Geschichten, in denen Polizisten vor der Tür stehen und Unfassbares sagen, das musste Sina nicht auch noch gedruckt lesen. Ihre Erzählungen waren voller Herz und Romantik, und die Kinder gingen jede Wette ein, dass sehr viele Leute sie sehr gern lesen würden.
Wie es im Leben nun einmal so ist: Irgendwann gehen die Gedanken der Kinder eigene Wege, sie entwickeln eigene Vorstellungen und eigene Pläne.
Und genau das war auch der Grund, weshalb die Stegen-Kinder in diesen Tagen gar nicht rechtzeitig genug aus der Schule nach Hause kommen konnten, um in den Briefkasten zu schauen.
Davon wusste ihre Mutter jedoch nichts. Sie hatte keine Ahnung davon, was ihre Liebsten hinter ihrem Rücken angezettelt hatten. Und welche weiteren Ereignisse damit verknüpft sein würden, und welche Personen dabei noch eine Rolle spielen würden, davon hatten sie allesamt keine Ahnung.
Vielleicht, aber nur vielleicht, gab es ja doch irgendwo eine gute Fee, die gern zauberte, aber ebenso gern auch ein bisschen Verwirrung stiftete? Die mit schimmerndem Feenstaub einen Weg in die Zukunft malte, dabei aber auch leise kichernd einen Umweg einbaute?
Zumindest in manchen von Sinas Geschichten waren solche Feen zu finden.
In diesem Moment allerdings, an diesem ganz gewöhnlichen Dienstagmorgen, war weit und breit nichts von Feenstaub zu sehen. Nur ganz gewöhnlicher, irdischer Staub, der beseitigt werden musste, lag auf den Bücherborden, Wäsche musste gewaschen, das Essen vorbereitet und die Blumen gegossen werden.
Nach ihrer letzten Tasse Kaffee wirbelte Sina durch das kleine Haus, um mit wenigen routinierten Handgriffen die nötige Ordnung herzustellen. Ihre Kinder sollten es gemütlich haben, wenn sie aus der Schule kamen, und auch für sie sollte es schön sein, wenn ihre Arbeit im Geschäft beendet war. Ihr Tag war straff geplant, jeder Handgriff musste sitzen.
Beim Abstauben der Familienfotos blieb Sinas Blick für einen Moment an einem Bild hängen, das sie neben einem Pferd zeigte. Es war eine schöne braune Stute vom Gestüt Eichenhof, zu dem Wolfgang und sie früher oft gefahren waren. Sina war gern geritten und hatte auch manchmal an ein eigenes Pferd gedacht, aber dieser Traum war, wie so mancher andere auch, längst begraben worden.
Sie rückte das Bild gerade, das eben beim Abstauben verrutscht war, gab Kitty frisches Wasser, warf noch einen letzten prüfenden Blick in ihre Küche – Herd aus?, Kaffeemaschine aus?, Spülmaschine an?, – und verließ das Haus, um neuen Bräuten zu ihren weißen Rüschenträumen zu verhelfen.
*
Der zunehmende Mond stand als blasse, verschwommene Sichel hinter dem Dunst am Nachthimmel, ab und zu war das schwache Blinken eines Sterns zu erahnen, ansonsten herrschte Dunkelheit. Die Wälder standen als dunkle Wände beiderseits der Landstraße.
Irgendwann tauchten zur linken Hand gerodete Flächen auf, die zu Feldern urbar gemacht worden waren, hinter denen sich weite Wiesen und Weideflächen erstreckten. Es war so dunkel, dass man die Gebäude, die hinter diesen Grünflächen lagen, nicht erkennen konnte. Ein einziges Licht erhellte ein edel gestaltetes Schild, das auf die Zufahrt zum Reiterhotel des Gestüts Eichenhof hinwies.
Auf der einsamen Landstraße war zu dieser Zeit weit nach Mitternacht nur ein einziges Auto unterwegs. Es war ein alter Wagen, an dem man herumgeschraubt hatte, mit riesigen Lautsprecherboxen, die den Fahrer mit wummernden Bässen zudröhnten. Jetzt allerdings hatte er auf strenge Anweisung seines Auftraggebers keine Musik angestellt.
Das Auto fuhr an der Zufahrt zum Gestüt vorbei, bog in einen Forstweg ein und hielt. Jemand stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. Im Schein des aufflackernden Feuerzeugs konnte man ein sehr junges männliches Gesicht erkennen. Es war mager und kantig zugleich, einige dünne Haarsträhnen fielen in die Stirn, und die blassen grünlichen Augen waren geringschätzig zusammengekniffen. Alles in allem wirkte dieses Gesicht weder besonders intelligent noch vertrauenerweckend.
Eichenhof! Wie es ihm zum Hals heraushing! Pferdemist und Heugabeln und diese Riesenviecher, um die hier ein Aufstand gemacht wurde, den er absolut bescheuert fand. Die quatschten sogar mit ihren Gäulen! Und mit ihren blöden Kötern auch.
Und dann die Leute! Benahmen sich so, als wäre es eine Auszeichnung, für diesen Grafen Holdt und dessen scharfe Braut zu arbeiten. Als ob Ausmisten und den Gäulen die Hufe auskratzen dadurch angenehmer würde, dass man es ›im Team‹ erledigte. Teamarbeit, er könnte k…, wenn er das Wort nur hörte. Jeder für sich allein und für den eigenen Vorteil, das war schon immer seine Devise gewesen.
Dumm war nur, dass er sich jetzt ein bisschen zu weit aus dem Fenster gelehnt und sich verschätzt hatte. Dieser Luca Freder, der in letzter Zeit in Ravenhorst ganz groß in Immobilien machte, hatte ihm einen Job auf dem Bau angeboten. Und prompt dabei erwischt, als er einige der Materialien zur Seite schaffte.
Es hatte eine kräftige Abreibung gegeben, aber keine Anzeige. Freder folgte seinen eigenen Vorstellungen. Auf Eichenhof hatten sie doch alle so eine starke soziale Ader, da würden sie sicher einem Praktikanten, der schon ein paarmal wegen Kleinigkeiten mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, eine Chance geben.
Und das wiederum war Freders Chance, sozusagen ferngesteuert seine dreckigen Finger in die Geschäfte Eichenhofs zu stecken.
Der Junge hatte seine Zigarette aufgeraucht, trat den Stummel nachlässig im Gras aus und machte sich auf den Weg. Er musste schnell sein, damit nicht einer der verdammten Köter auf ihn aufmerksam wurde.
*
Durch das geöffnete Fenster des Giebelzimmers drangen das Licht und die Geräusche eines sehr frühen Sommermorgens. Das vielstimmige Konzert der Vögel zum Tagesbeginn war bereits verstummt. Vereinzeltes Wiehern drang von den Weiden herüber, und von der Landstraße hörte man ganz leise das Geräusch der Autos, die schon so früh unterwegs waren.
Die beiden in dem breiten Bett unter der Dachschräge schliefen noch. Der Mann lag auf dem Rücken. Seine blonden Haare waren zerzaust, die herabgerutschte Decke entblößte breite Schultern und einen muskulösen Brustkorb, über den ein schlanker Arm gebreitet lag.
Die junge Frau neben ihm schlief auf dem Bauch, den Kopf mit den kurzen schwarzen Haaren tief in ihr Kissen gekuschelt. Einen Arm hatte sie unter ihrem Kissen abgewinkelt, den anderen zärtlich über die Brust des Mannes gelegt.
Die beiden Schlafenden waren Hagen von Holdt, der Gestütsbesitzer, und Bea Winter, seine große Liebe. Bea war als Oberstallmeisterin auf das Anwesen gekommen und hatte sein Herz im Sturm erobert. Für sie beide hatte es auch schon harte Zeiten gegeben, aber dadurch waren sie nur noch tiefer miteinander verbunden.
Beide liebten die Arbeit mit den Pferden und wollten das Besondere, das Eichenhof ausmachte, bewahren. Das Gestüt war ein alter Familienbetrieb, der sich seit vier Generationen der Zucht und Ausbildung edler Pferde verschrieben hatte.
Die Zeiten waren hart, und Hagen von Holdt hatte schwer zu kämpfen, um sein Gestüt über Wasser zu halten. Ohne diese Frau an seiner Seite, und ohne seine fähigen und engagierten Mitarbeiter, wäre es wohl kaum möglich gewesen.
Hagens Schlaf begann sich zu verflüchtigen. Er bewegte den Kopf zur Seite, und seine Augenlider flatterten. Ohne wirklich wach zu sein, schien er irgendwelche Signale aufzufangen, die ihn beunruhigten.
Dann drang scharfes Hundebellen an sein Ohr, zwei Pferde wieherten, er hörte schnellen Hufschlag und saß senkrecht im Bett! Auch Bea fuhr in die Höhe. »Was ist los?«, fragte sie blinzelnd.
Hagen von Holdt war schon an der Tür. »Keine Ahnung, Merlin schlägt an!«
Das Fenster des Schlafzimmers ging nach hinten auf die Gärten hinaus. Sie hatten die Geräusche nur hören, aber nicht sehen können, was die Ursache für den Lärm war. Das Fenster des anderen Zimmers öffnete sich zum Gestüt, und Hagen sah seinen Collie Merlin, dessen scharfes Gebell die beiden anderen Hunde auf den Plan rief. Außerdem galoppierte gerade eine dunkelbraune Stute über den Hof, die zu dieser Zeit an diesem Ort absolut nichts zu suchen hatte!
»Verdammt!«, fluchte Hagen, war mit einem Satz drüben im Schlafzimmer und schlüpfte in Rekordzeit in seine Kleider. »Pferde sind ausgebrochen!«
Auch Bea fuhr hoch und war in Sekundenschnelle angezogen. Beide stürzten nach unten und trafen dort auch schon auf die Stallwache und den pensionierten Oberstallmeister Alfred Buddevoss, der auf dem Gestüt lebte.
»Die Pferde von der äußeren Weide sind ausgebrochen!«, informierte sie Karsten Broder.
»Alle acht?«, fragte Hagen sofort zurück.
»Kann ich noch nicht sagen, ich bin eben erst durch die Hunde und Semiramis, die hier vorbeigeprescht ist, gewarnt worden!«, antwortete Broder hastig.
»Also los!« Hagen und Bea setzten sich Richtung Weide in Bewegung, Broder lief hinter Semiramis her, instinktiv verteilten sich die Hütehunde auf dem Gelände, und Buddevoss wählte den kürzesten Weg hinunter zur Landstraße.
Eichenhof war ein sehr gut geführter Betrieb, und es gab Notfallpläne für gewisse Situationen, in denen schnelles und gezieltes Handeln nötig war. Kopfloses Gerenne hätte nur die Aufregung unter den Pferden verstärkt und das Zurückführen in sichere Areale erschwert.
Am gefährlichsten war die nahe Landstraße! Sie war zwar nicht stark befahren, vor allem nicht zu so früher Stunde, dennoch waren natürlich Autos und LKWs unterwegs. Es könnte zu einem grauenhaften Unfall kommen, wenn die Pferde auf die Straße liefen! Für solche Situationen hatte Hagen seine Leute trainiert, und jeder wusste, was er zu tun hatte.
Auch die ältere Frau, die ebenfalls von dem Lärm geweckt worden war und ihren Kopf aus dem Fenster gesteckt hatte. Rosa Dalhues war die ehemalige Kinderfrau und Hausdame des Grafen und lebte ebenso wie Buddevoss nach ihrer Pensionierung auf dem Gestüt. Auch sie zog sich in Windeseile an und lief auf das Gelände.
Alfred Buddevoss hatte trotz der erforderlichen Eile durch einen Schulterblick mitbekommen, dass Rosa aus dem Fenster schaute. Ihre dunklen, von Silberfäden durchzogenen Locken standen in einem wilden Gespinst vom Kopf ab, und ihre noch immer hübschen runden Schultern zierte ein Paar elegante cremefarbene Spitzenträger. Natürlich war es nur ein kurzer Eindruck, sozusagen ein Streiflicht, das Alfred Buddevoss da von seiner lebenslangen Freundin eingefangen hatte, aber es beschäftigte ihn dennoch. Donnerwetter, dachte er überrascht, wer hätte gedacht, dass Rosa solche Nachthemden trägt!
Wie Hagen und Bea feststellen mussten, stand das Gatter der äußeren Weide weit offen, und alle acht Pferde waren weg. Sie verließen sich auf den Instinkt ihrer Hunde und folgten den Collies, die sehr schnell drei junge Stuten aufgespürt und eingekreist hatten. Die Tiere waren zum Glück nicht panisch, sondern ließen sich problemlos auf die Weide zurückführen.
Broder führte Semiramis am Halfter zurück, und somit hatten sie schon die Hälfte der Tiere wieder hinter dem sicheren Zaun.
Buddevoss traf eines der Tiere, eine rötliche Schönheit namens Cora, die am Graben längs der Landstraße stand und friedlich lange Grashalme ausrupfte und genüsslich zermalmte. Er umging sie in einem Bogen und näherte sich dem Tier mit langsamen Schritten von vorn.
»Na, du bist mir vielleicht eine!«, sagte er ruhig und streckte die Hand nach dem Halfter aus. »Frisst hier das Gras, in dem sich alle Abgase der Autos abgesetzt haben, und könntest etwas viel Besseres auf deiner schönen, abgelegenen Weide haben. Wir beide gehen jetzt mal zurück, und du rupfst dort dein Futter aus, meine Hübsche. Und bis dahin habe ich hier etwas für dich, das dir den Weg versüßen wird.« Er zog eine Rübe aus seiner Tasche, Cora ließ sich mit diesem Leckerbissen bestechen und willig auf die Weide zurückführen.
Ein Gast des Reiterhotels, der zu einer sehr frühen Joggingrunde aufgebrochen war, kam in Begleitung eines weiteren Pferdes zurück.
Miranda, eine hochbeinige Braune mit weißen Fesseln, stand erwartungsvoll vor der verschlossenen Futterkiste mit Hafer. Rosa entdeckte sie dort, belohnte sie für ihre Ruhe mit einer Handvoll des Getreides und führte sie dann wieder zurück.
»Gut, somit haben wir immerhin schon sechs Ausreißer wieder eingefangen!«, stellte Buddevoss fest.
»Sieben!«, korrigierte Rosa erleichtert und deutete auf die Pferdepflegerin Katharina, welche ein weiteres Pferd am Zügel führte.
»Sie stand am Brunnen im ersten Hof«, berichtete die junge Frau, »und hat mit ihrem Maul die silbernen Schwimmkugeln angestupst. Offensichtlich hat ihr das viel Spaß gemacht.«
»Ja, unsere Fiona war schon immer ziemlich verspielt«, stellte Buddevoss fest und zauste liebevoll die Stirnlocke der jungen Stute. »Wie schön, dass du dir das trotz allem nicht abgewöhnt hast!« Zufrieden entließ er das Pferd, das vor einiger Zeit eine gefährliche Krankheit überstanden hatte, auf die Weide.
Leider war von dem achten Tier, einer hellbraunen Stute mit seidiger dunkler Mähne, weit und breit nichts zu sehen. Nordwind schien ihrem Namen alle Ehre gemacht und sich weit entfernt zu haben. Zwei Mitarbeiter wurden auf beiden Seiten der nun stärker befahrenen Landstraße postiert, um das Pferd abfangen zu können, und Hinweisschilder warnten die Autofahrer. Broder suchte jetzt mit Merlin jenseits des Flusses, vielleicht war Nordwind über die Brücke in Richtung des Dorfes galoppiert.
Bea und Hagen sattelten ihre Pferde und machten sich im weiteren Umkreis auf die Suche, leider erfolglos. »Hoffentlich ist sie nicht ins Moor gelaufen!«, sagte Bea sorgenvoll. Sie suchten nach frischen Hufspuren, konnten aber keine entdecken, und auch die Hündin Victoria, die sie begleitete, schlug nicht an. Inzwischen war auch die kleine Polizeistation im Dorf benachrichtigt worden, und im Verkehrsfunk lief eine Warnung an alle Autofahrer auf dieser Strecke. Mehr konnten sie im Augenblick nicht tun.
*
Unter den Autofahrern, welche die Warnung für diese Strecke gehört hatten, war ein Mann namens Martin von Lindholm. Er kam aus Flensburg und war aus beruflichen Gründen auf dem Weg nach Eichenhof. Martin war grundsätzlich ein umsichtiger Autofahrer, der sich und andere nicht um Kopf und Kragen raste. Nachdem er die Nachricht wegen des Pferdes gehört hatte, fuhr er besonders wachsam und ließ die Straßenränder nicht aus den Augen.
Das war auch gut so, denn direkt hinter einer Kurve erwartete ihn eine braune Stute, die ihn aus dem Straßengraben heraus abschätzend musterte! Lindholm bremste vorsichtig – jetzt bloß keine Hektik! – und setzte den Wagen in einen Forstweg, der sich glücklicherweise an der richtigen Stelle befand. Er stieg aus und näherte sich langsam, aber ohne zu zögern dem grasenden Tier.
Es war eine Stute mit hellbraunem Fell und tiefdunkler Mähne. Sie hatte weiße Fesseln und trug auf der Stirn eine auffällige Blesse, die wie ein Spiralnebel geformt war. »Hallo, du Hübsche«, sagte Lindholm und streckte ruhig seine Hand nach dem Halfter aus. »Du stehst hier nicht besonders gut, meinst du nicht auch? Ich wette, du gehörst nach Eichenhof, und dort will ich auch hin. Wir sollten den Weg zusammen gehen.«
Nordwinds Ohren spielten aufmerksam. Sie war menschliche Stimmen, die freundlich und bestimmt mit ihr sprachen, gewohnt, deshalb schreckte sie vor dieser nicht zurück. Der Mann, der sich im Umgang mit Pferden auskannte, machte nicht den Fehler, an ihrem Halfter zu zerren, um sie aus dem Graben zu bekommen. Er sprach einfach ruhig weiter mit ihr und streichelte ihre Nüstern, um sie an sich zu gewöhnen.
»Jetzt habe ich ein Problem, das ich nur zusammen mit dir lösen kann«, sagte er. »Ich bin mit dem Auto unterwegs, und das nützt uns jetzt nichts. Bis ich mein Abschleppseil aus dem Wagen geholt habe, um dich anzubinden, hast du vielleicht schon wieder das Weite gesucht. Nach Eichenhof sind es noch gut zehn Kilometer, die möchte ich nicht laufen, wenn ich ein Pferd bei mir habe. Also werde ich auf dir reiten!«
Nordwind schnaubte und stupste ihren Kopf gegen Lindholms Schulter. Er lachte leise. »Schön, dass wir einer Meinung sind!«, sagte er. »Und damit du siehst, dass du es gut bei mir hast, habe ich hier etwas für dich.« Er zog ein Zuckertütchen von der letzten Raststätte aus seiner Jackentasche und ließ die Stute den Inhalt auflecken. Dann tat er etwas, das ziemlich albern aussah, aber notwendig war: Aus seinem Gürtel und seiner Krawatte bastelte er improvisierte Zügel. »So weit in Ordnung«, stellte er zufrieden fest. »Und nun wirst du mich auf deinen Rücken lassen und zu euch nach Hause tragen!«
Als Nordwind den unbekannten Reiter auf ihrem ungesattelten Rücken spürte, zuckten ihre Muskeln, und sie legte kurz die Ohren an. Es war ganz deutlich, dass sie überlegte, ob sie sich diese Behandlung gefallen lassen wollte oder nicht!
Aber Martin Baron von Lindholm war ein sehr erfahrener Reiter mit einem großen Gespür für die Tiere. Seine Körperhaltung war eindeutig, und seine Stimme ruhig und fest. Nordlicht beschloss, dem Fremden zu vertrauen. Sie ließ sich aus dem Graben lenken und trabte Richtung Eichenhof.
Auf dem Gestüt war die Erleichterung groß, als das Letzte der Tiere den Hof erreichte! Unter dem Schmunzeln der Belegschaft entfernte der Mann den außergewöhnlichen Zügelersatz und stellte sich vor.
»Herr von Lindholm, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar wir Ihnen sind!«, antwortete Graf Hagen. »Die Gefahr eines Unfalls war wirklich sehr groß. Was für ein Zufall, dass es ein so besonnener Reiter war, der die Stute gefunden hat. Und ich muss schon sagen, dass ich Ihre Idee mit den Zügeln genial finde!«
Lindholm lachte. »Ja, mein Cowboy-Auftritt gibt bestimmt Stoff für eine gute Geschichte. Vielleicht kann einer unserer Autoren etwas damit anfangen.«
»Autoren?« Graf Hagen horchte auf. Erst jetzt, nachdem sich die ganze Aufregung wegen der Pferde gelegt hatte, konnte er umdenken. »Moment, dann sind Sie der Herr von Lindholm vom Melchior Verlag, der diesen Autorenwettbewerb ausgeschrieben hat?«
»Genau. Da ich noch Resturlaub habe, wollte ich ein paar Tage in Ihrem Hotel verbringen, ausspannen und endlich mal wieder reiten, ehe unsere Preisträger hier eintreffen.«
»Wir sind schon alle sehr gespannt auf den Abend mit den Lesungen, Herr von Lindholm. Mit Sicherheit haben Sie auch Zuhörer aus Eichenhof. Aber bis dahin ist ja noch Zeit, die Sie für sich nutzen können. Am wichtigsten ist jetzt wohl, dass jemand Sie zu Ihrem Auto bringt, damit Sie hier richtig ankommen können«, meinte Bea.
Alfred Buddevoss brachte den Mann zu seinem Auto zurück, und dann konnte Martin von Lindholm endlich an seinem Urlaubsort sein Hotelzimmer beziehen.
Graf Hagen und Bea statteten den Pferden auf der Weide noch einen Besuch ab. Zum wiederholten Mal untersuchte der Graf das Gatter und die Verriegelung. Sie war völlig in Ordnung, wies keinerlei Verschleiß auf und verschloss das Tor zuverlässig.
Graf Hagen knirschte mit den Zähnen. »Jemand muss das Tor absichtlich geöffnet haben, es gibt keine andere Erklärung«, sagte er finster. »Wäre etwas nicht in Ordnung gewesen, hätten wir es bei unserer letzten Runde bemerkt.«
»Oder Alfred Buddevoss, als er das Torhaus verschlossen hat«, fügte Bea sorgenvoll hinzu.
Es war ein unangenehmer, beängstigender Gedanke, dass jemand sich bei Nacht auf das Gelände geschlichen und das Gatter geöffnet hatte! Sie waren mit dem Schrecken davongekommen, denn offensichtlich hatten die Pferde erst am Morgen die Weide verlassen und konnten schnell wieder eingefangen werden.
»Es nützt nichts, auch wenn es umständlich ist, werden ab sofort alle Gatter abgeschlossen«, erwiderte Hagen von Holdt. Sein Gesicht wurde hart. »Und das auf unserem eigenen Grund und Boden!«, grollte er.
Bea schob ihre Hand unter seinen Arm und lehnte kurz ihre Stirn an seine Schulter. Es war wirklich sehr beunruhigend, dass ein gesichtsloser Fremder versuchte, ihnen zu schaden. Das Paar erinnerte sich an die Vergangenheit, in der man schon wiederholt versucht hatte, dem Gestüt Schaden zuzufügen. Sollte das jetzt wieder losgehen?
»Wir müssen wachsam sein«, sagte sie bedrückt.
»Ja.« Graf Hagen zog sie in seine Arme. Die Bedrohung wurde nicht geringer durch Beas verständnisvolle Gegenwart, aber sie war leichter zu ertragen. »Wie gut, dass du bei mir bist!«
Beas Hände glitten über sein Gesicht, glätteten die Sorgenfalten und zogen sanft seinen Kopf zu sich heran. Und dann endlich konnten sie den Guten-Morgen-Kuss nachholen, für den vorhin in der allgemeinen Hektik keine Zeit gewesen war.
Rosa Dalhues hatte inzwischen auf der Küchenterrasse des Gutshauses ein beeindruckendes Frühstück aufgefahren, zu dem nach und nach alle Mitarbeiter kamen. Bea hatte auch Martin von Lindholm eingeladen, der im Handumdrehen den Spitznamen ›Pferdefänger‹ weg hatte.
Und weil sie jetzt hier alle zusammensaßen, verlegte Hagen von Holdt die wöchentliche Dienstbesprechung kurzerhand nach draußen an den Frühstückstisch.
»Wir müssen über besondere Vorsichtsmaßnahmen nachdenken«, eröffnete er die Runde. »Für diejenigen, die heute nicht so früh hier waren: Das Gatter der äußeren Weide wurde geöffnet, und alle acht Stuten waren ausgebrochen.«
»Ach, echt? Geil!«
Diese Bemerkung brachte dem neuen Praktikanten einen von Hagens berühmten Gewitterblicken ein. »Mit dieser Einstellung kommst du hier nicht weit, Marlon!«, sagte von Holdt scharf. »Und achte in Zukunft gefälligst auf deine Wortwahl!«
Wie – Wortwahl. Er hatte doch gar nichts gesagt! Und zu etwas bringen wollte er es auf diesem bescheuerten Ponyhof sowieso nicht, da hatte der Chef aber völlig falsche Vorstellungen! Marlon zuckte geringschätzig mit den Achseln und bediente sich noch einmal reichlich von der Wurstplatte. Allerdings tat er das nicht mit der Vorlegegabel, sondern mit den Fingern, und das rief Rosa auf den Plan. Sie schnappte sich sein Handgelenk, und buchstäblich im Handumdrehen landeten die Wurstscheiben nicht auf seinem Teller, sondern auf dem Fußboden, direkt vor Victorias Schnauze.
»Da du schon fertig mit Essen bist, darfst du aufstehen, Marlon«, sagte sie zuckersüß und räumte seinen Teller zur Seite.
Der Junge starrte sie einen Moment mit offenem Mund an. Er schluckte den Fluch, den er auf der Zunge hatte, vorsichtshalber hinunter und stand auf. Das würde die Alte ihm büßen!
»Wir werden die Gatter in Zukunft abschließen«, fuhr Graf Hagen fort, als habe es keine Unterbrechung gegeben. »Um die Schlösser kümmert sich Alfred. Ich überlege auch, noch mehr Bewegungsmelder und Überwachungskameras anzubringen.«
Seiner Stimme war anzuhören, wie verhasst ihm diese Maßnahmen waren. Bea konnte seine Gedanken förmlich hören: Wenn das so weitergeht, wird aus Eichenhof bald ein Hochsicherheitstrakt!
»Hagen, und du bist sicher, dass es kein Versehen war? Dass tatsächlich jemand mit Absicht das Gatter geöffnet hat?«, meldete sich Clarissa Koellner zu Wort.
Sie war eine Jugendfreundin des Grafen, arbeitete auf dem Gestüt und hegte den abwegigen Traum, die nächste Gräfin Holdt zu werden.
»Leider ja«, antwortete ihr angehimmelter Chef. »Bea und ich wissen, dass das Gatter am späten Abend ordnungsgemäß geschlossen war.«
Ach, das habt ihr bestimmt bei einem eurer Mondscheinspaziergänge, natürlich Händchen haltend, bemerkt, dachte Clarissa giftig. Nach außen zeigte sie einen angemessen betroffenen Gesichtsausdruck und sagte: »Du weißt, dass du dich auf uns alle verlassen kannst, Hagen!«
»Ja, danke dir, Clarissa.« Er schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln und ging dann zum nächsten Thema über, dem Besuch des Hufschmieds.
Clarissas Gedanken schweiften ab. Das Gatter war geöffnet worden, ehe die Hunde Wind davon bekamen und anschlagen konnten. Das hieß, dass derjenige sich auf dem Gestüt gut genug auskennen musste, um schnell handeln zu können. Sie schaute in die Runde und wusste sofort, dass niemand der Anwesenden dafür infrage kam.
Ihr erster Gedanke war sofort zu Luca Freder gegangen, ihrem heimlichen Liebhaber. Freder war ein Erzfeind Hagens und wollte unbedingt Eichenhof in seine Hände bekommen, deswegen hatte er schon eine Menge Ärger angezettelt. Allerdings war er nicht der Mann, der sich selber die Hände schmutzig machte. Wen also mochte er auf das Gestüt angesetzt haben?
Richtig: Diesen Hänfling mit der großen Klappe, Marlon! Er hatte die Pubertätspickel noch nicht ganz überwunden und machte auf cool. Seine Arbeit hier war alles andere als befriedigend, und es war klar, dass die Chefs sich das nicht mehr lange mit ansehen würden. Über die Wege, auf denen Freder und Marlon sich begegnet sein mochten, machte Clarissa sich keine Gedanken. Es war nur gut, dass sie so schnell auf diese Fährte gekommen war, dann konnte sie dem dummen Bengel ein bisschen auf die Finger schauen.
Luca Freder würde ihre Aufsicht wahrscheinlich zu schätzen wissen. Vielleicht mit einer kleinen Aufmerksamkeit, für die sie seine Kreditkarte benötigte. Beispielsweise diese schwarzen Stiefel mit den nadeldünnen Absätzen und dem kleinen Brilli am Knöchel …
Erst als Clarissa Rosas Stirnrunzeln bemerkte, fiel ihr auf, dass sie wahrscheinlich selig vor sich hin gelächelt hatte, und das ging bei der gegenwärtigen Gefahrenlage ja nun überhaupt nicht! Sofort schaltete sie auf besorgte, hochkonzentrierte Mitarbeiterin um und unterstützte Hagen mit aufmunternden Blicken.
*
Caroline Stegen war heute als erstes der Geschwister zu Hause. Sie leerte den Briefkasten. Eine blöde Werbezeitschrift, die Rechnung des Telefonanbieters, eine Postkarte von einer Freundin ihrer Mutter, die gerade in Frankreich war – und ein Brief vom Melchior Verlag!
Jetzt musste Caro sich setzen! Sie drehte den großen Umschlag aufgeregt zwischen den Händen. Dass Kitty angeschnurrt kam und zärtlich ihr Köpfchen unter Caros Kinn rieb, half auch nicht viel. Die Versuchung, den Umschlag zu öffnen und nach dem Inhalt zu schauen, war einfach riesengroß! Das Mädchen schloss ihre Augen und setzte sich auf die Hände, um nicht in Versuchung zu geraten. Die Geschwister hatten sich gegenseitig das Versprechen gegeben, den Brief ganz bestimmt nur zu öffnen, wenn wirklich alle mit dabei waren.
Also wartete Caroline gefühlte drei Ewigkeiten, bis endlich auch Hanna und die Jungen durch die Tür kamen, ihre Rucksäcke fallen ließen und bereit waren, ihr zuzuhören. »Guckt mal, was ich habe!«, verkündete sie triumphierend und hielt den braunen Umschlag in die Höhe.
Für einen Augenblick herrschte absolute Stille, und dann brach der große Trubel los! Ob sie den Umschlag tatsächlich öffnen sollten, wie sie es besprochen hatten? Ob das mit dem Wasserdampf wohl wirklich so eine gute Idee war? Wie man den Brief wieder gut verschließen konnte? Ob ihre Idee tatsächlich so toll war, wie sie gemeint hatten?
Vor einigen Wochen hatten sie in einer Zeitschrift von einem Autorenwettbewerb gelesen, den der Melchior Verlag ausschrieb. Es gab tolle Preise, und dem Hauptgewinner winkten die Veröffentlichung, sagenhafte fünftausend Euro und ein Urlaub auf dem Reiterhof Eichenhof, wo auch die Preisverleihung stattfinden sollte.
Hanna, welche den Artikel zuerst gelesen hatte, war wie elektrisiert und steckte mit ihrer Begeisterung sofort ihre Geschwister an. Daran musste ihre Mutter sich unbedingt beteiligen!
Aber Sina lehnte ab und ließ sich auch nicht überreden. Sie fand, sie habe sowieso keine Chance, ihre Sachen seien nicht anspruchsvoll genug, das wäre alles nur für den Hausgebrauch und Ende der Diskussion!
Die Kinder drängelten noch ein bisschen und gaben dann scheinbar auf. In Wirklichkeit suchten sie Sinas bestes Manuskript heraus, vervollständigten es mit den persönlichen Daten ihrer Mutter und sandten die Geschichte ein. Was konnte schon passieren?
Entweder es kam überhaupt keine Antwort, dann hatte sich die Sache von allein geregelt.
Oder es kam ein Brief, und den mussten sie abfangen und vorsichtig öffnen. Wäre er eine schriftliche Ablehnung der Geschichte, würden sie ihn vernichten, und ihre Mutter hätte keine Enttäuschung erlebt.
Wäre er aber eine Gewinnbenachrichtigung, gäbe es für Sina eine große Überraschung.
Vier Augenpaare saugten sich an dem großformatigen Schreiben fest. Ein vierstimmiger Jubelschrei brachte die Gläser zum Klirren! Vor dem ausgelassenen Gekreische floh Kitty entsetzt unter die Küchenbank. Die Rucksäcke blieben an der Garderobe liegen, jetzt hatte niemand Zeit für Hausaufgaben! Die Geschwister warfen ihr Geld zusammen, und Hanna lief durch die kleine Holzpforte im Hofgarten zu ihrer Nachbarin und Freundin Marie Weidenthal. Ihre beiden Grundstücke grenzten aneinander, und man war ganz schnell im ›Fleur de Lys‹, dem traumhaft schönen Blumengeschäft Maries. Hier kaufte Hanna für ihre Mutter einen fantastischen Blumenstrauß aus hellen Rosen, Ranunkeln, Anemonen und Freesien, alles in zartem Rosé und Crème. Marie vervollständigte den Strauß mit filigranen Gräsern und wand ein Atlasband zwischen den Blüten hindurch. Das Gebinde sah aus, als sei es aus einem kostbaren Gemälde zum Leben erwacht.
Inzwischen hatten die drei anderen den Brief wieder verschlossen, den Tisch gedeckt und das Essen gewärmt. Jetzt musste bloß noch ihre Mutter kommen!
Und die ließ auf sich warten.
Nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen. Eine Kundin konnte sich überhaupt nicht für ein Kleid entscheiden und redete und redete und drehte sich vor dem Spiegel und wollte nun doch noch einmal das mit den rosa Perlen anziehen, bitte schön!
Sina blieb freundlich und rüschte und räumte und zupfte und wünschte sich nichts sehnlicher als den wohlverdienten Feierabend gemeinsam mit ihren Kindern! Endlich fiel der Kundin ein, dass sie sich heute noch gar nicht entscheiden musste, die Hochzeit war ja erst in einem Jahr, und Sina konnte endlich nach Hause eilen.
Als sie die Tür öffnete, schlug ihr der einladende Duft nach Essen entgegen. »Hallo, ihr Lieben!«, rief sie, schleuderte ihre Schuhe von den Füßen und ließ sich mit einem erleichterten Seufzer in den Korbsessel am Küchentisch fallen. »Ist das schön, bei euch zu Hause zu sein! Meine Kundin eben hat mir den letzten Nerv geraubt, ich wollte nur noch weg! Wie schön, dass ihr alle hier seid und das Essen gemacht habt.«
Sina machte sich im Bad frisch, tauschte ihre Arbeitskleidung gegen ein bequemes Sommerkleid und setzte sich wieder an den Tisch. Sie wollte sich gerade aus der großen Salatschüssel bedienen, als Caro meinte: »Mama, willst du nicht erst mal einen Blick auf die Post werfen?«
»Och, nö, das sind bestimmt alles nur Rechnungen, die können bis nach dem Essen warten«, sagte sie und bediente sich mit Feldsalat und geröstetem Brot.
»Ja, aber deine Freundin Lena ist doch in Frankreich, vielleicht hat sie dir eine Karte geschickt? Mir war so, als hätte ich da was Buntes zwischen der Post gesehen«, warf Jonathan ein.
»M-mh«, machte Sina und aß seelenruhig weiter.
Es war zum Verzweifeln! Die Kinder wechselten beredte Blicke. »Erwartest du nicht Post vom Finanzamt? Vielleicht kriegst du eine dicke Steuerrückzahlung«, schlug Maximilian vor.
»Na, höchstens eine Steuernachzahlung!«, meinte Sina und nahm sich das nächste Brot. Dann schaute sie ihre Kinder an. Lauter erwartungsfreudige Gesichter! Jetzt wurde sie hellhörig. »Sagt mal, woher kommt eigentlich euer plötzliches Interesse an meiner Post?«
»Och, nur so«, antwortete Caro gedehnt. Sie stand kurz vorm Platzen!
»Na gut, meinetwegen«, antwortete Sina und griff nach den Briefen, die neben ihrem Teller lagen. »Tatsächlich, Lena hat geschrieben.« Sie überflog die Karte. »Ich soll euch grüßen.«
Jetzt nahm sie den großen Umschlag und schaute auf den Absender. »Ach, der Melchior Verlag. Wahrscheinlich ein Katalog mit Lesetipps für die Ferienzeit«, meinte Sina und legte den Umschlag ungeöffnet aus der Hand.
»Mama, kann ich mal reingucken? Ich liebe Bücherkataloge!«, erklärte Caroline.
»Klar!« Ihre Mutter schob ihr den Umschlag zu, den sie jetzt ganz offiziell öffnete, aber dann wusste sie nicht weiter.
Hanna sprang ein, indem sie ihrer Schwester über die Schulter schaute und dann sagte: »Nein, das sind keine Buchempfehlungen, das ist ein persönliches Schreiben an dich.«
»So? Was wollen sie denn von mir?«, fragte Sina, mäßig interessiert, und nahm den Brief entgegen.
Und das war höchstwahrscheinlich der Moment, in dem zum ersten Mal in ihrem Leben Feenstaub unsichtbar über ihr in der Luft tanzte.
Sina las den Brief. Und las ihn noch einmal. Und runzelte verwirrt die Stirn. Und schaute ihre Kinder an. »Ich versteh das nicht!«, sagte sie. »Hier steht, ich hätte an einem Schreibwettbewerb teilgenommen. Das habe ich aber gar nicht!«
»Doch, Mama, hast du!«, antwortete Hanna.
»Mit der Kurzgeschichte ›Nebelfrau‹«, erklärte Caroline.
»Deiner besten Erzählung«, ergänzte Maximilian.
»Aber ich verstehe immer noch nicht! Woher haben denn die meine Geschichte?«, fragte Sina.
»Weil, äh, wir sie unter deinem Namen eingereicht haben«, antwortete Jonathan.
Jetzt hielten alle Kinder die Luft an.
»Ihr habt – was getan?« Sina wurde laut.
»Ehe du dich aufregst, Mama, lies mal weiter!«, sagte die vernünftige Hanna.
Sina warf einen Blick in die Runde, der nichts Gutes versprach. Sie las weiter. Und wurde sehr blass. Ließ irgendwann das Schreiben sinken und schaute ihre Kinder an. »Ich habe gewonnen. Ich verstehe es zwar immer noch nicht, aber ich habe den ersten Preis gewonnen. Den ersten Preis!«
»Siehst du, Mama, du bist eben doch die Allerbeste!«, rief Caro und fiel ihrer Mutter um den Hals.
Jetzt gab es auch für die anderen kein Halten mehr, und das Häuschen hallte wider von fröhlichem Lärm, der Kitty mal wieder unter die Küchenbank trieb. Sina hopste und tanzte um den Tisch herum, schwenkte den Brief durch die Luft, küsste jedes ihrer Kinder mindestens ein Dutzend Mal, und dann plötzlich musste sie weinen.
Nachdem Lachen und Tränen, Freude, Schock, Unglaube und Stolz sich endlich ausreichend Raum verschafft hatten, kehrte wieder so viel Ruhe ein, dass die Kinder in vernünftiger Reihenfolge von ihrem Vorgehen erzählen konnten.
»Ich fass es nicht!«, sagte Sina wohl zum fünfzigsten Mal. »Da geht ihr einfach an meine Sachen, sucht etwas heraus und schickt das ein!«
»Mama, du bist doch nicht böse, weil wir an deiner Schublade waren?«, fragte Hanna ernst. »Du empfindest das nicht als Vertrauensbruch? So war es nämlich ganz und gar nicht gemeint!«
»Das weiß ich doch!«, entgegnete ihre Mutter liebevoll. Sie gab ihrer Ältesten einen Kuss und strich ihr die dunklen Haare aus dem Gesicht. Dabei spürte sie wieder die verrinnende Zeit. Mein Mädchen ist erwachsen geworden, dachte sie bewegt, sie ist eine junge Frau! »Ich weiß, dass ihr das nur getan habt, um mir eine Freude zu bereiten. Ihr würdet nie in meinen Sachen herumschnüffeln, genauso wenig wie ich in euren!«
Vertrauen war das oberste Prinzip in ihrer Familie.
Inzwischen waren die Suppe kalt und der Salat ein wenig schlaff geworden, aber das störte niemanden. Sie setzten sich endlich an den Tisch und feierten die große Überraschung.
Plötzlich fiel Sina etwas ein. »Was hättet ihr eigentlich gemacht, wenn der Verlag mein Manuskript abgelehnt hätte?«
»Davon hättest du gar nichts erfahren müssen«, antwortete Jonathan. »Das wäre dann eine Sache zwischen dem Melchior Verlag und uns geblieben.«
Sina schüttelte den Kopf, seufzte glücklich und musterte ihre Kinder über den schönsten Blumenstrauß ihres Lebens hinweg. »Was wäre ich nur ohne euch!«
»Falsch! Die Frage muss lauten: Was werde ich nun mit euch?«, korrigierte Maximilian.
Die Antwort kam von Caroline. »Eine erfolgreiche Schriftstellerin!«
*
Aber bis dahin ist es ein langer, mühsamer Weg. Ein erster Preis in einem Schreibwettbewerb bedeutet noch lange nicht den Beginn einer großen Karriere.
Das wusste Sina natürlich, was ihre Freude aber in keiner Weise dämpfte. Sie freute sich riesig über ihren Erfolg – und auch über die Möglichkeit, nach vielen Jahren endlich einmal wieder Urlaub machen zu können! Die Zeit auf Eichenhof würde herrlich werden!
Allerdings erforderte das auch einige Neuanschaffungen, denn für derartige Extras wie Reitstiefel oder festliche Garderobe hatte Sina nie das Geld ausgeben können. Anlässlich der Preisverleihung sollte es auch eine Autorenlesung geben, und dafür kaufte Sina das klassische Kleine Schwarze und die ersten wirklich hochhackigen Schuhe seit Langem. Und weil sie jetzt schon einmal dabei war, auch noch hauchfeine, seidenfeine Strümpfe mit Naht.