Читать книгу Melancholie - László F. Földenyi - Страница 7

DIE EINGEWEIHTEN

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Διὰ τί πὰντες ὅσοι περιττοὶ γεγόνασιν ἄνδρες ἢ κατὰ φιλοσοφίαν ἢ πολιτικὴ ἢ ποίησιν ἢ τέχνας φαίνονται μελαγχολικοὶ ὄντες

»Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?«1 Dieser Satz, mit dem der 30. Abschnitt der in der Schule des Aristoteles zusammengestellten Problemata Physica beginnt, scheint an den Anfang unseres Gedankengangs zu gehören, und an seiner Gültigkeit hat er bis in die heutige Zeit nichts eingebüßt. Und obzwar er aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Feder jenes Theophrast von Eresos stammt, der nach Diogenes Laertios das erste, jedoch verschollene Buch über die Melancholie geschrieben haben soll, hielt die Allgemeinheit seit der Antike daran fest, die Autorschaft Aristoteles zuzuschreiben. Bleiben auch wir dabei. Die Begriffe der »herausragenden Persönlichkeit«, der »Außerordentlichkeit« und der »Melancholie« werden hier zum ersten Mal, was zunächst erstaunlich wirken kann, miteinander verwoben und in Zusammenhang gebracht. Die Melancholie, wortwörtlich die schwarze Galle (μελαινα χολή), war im ursprünglichen Sinne des Wortes ein Charakteristikum des Körpers; die Vorzüglichkeit eines Philosophen, Politikers oder Künstlers liegt aber im Geiste, und dies beides, die Zweiheit von Körper und Seele, lässt sich der neueren Anschauung gemäß höchstens mithilfe einer Metapher verbinden und zusammenziehen. Diese Metapher aber fehlt: Die Entsprechung ist bei Aristoteles nämlich direkt; aus diesem Grunde müssen wir versuchen, eine innere Beziehung der beiden Begriffe herauszuarbeiten. Die Begriffe der herausragenden Persönlichkeit und der Außerordentlichkeit sollten auf ihre ursprünglichen Bedeutungen zurückgeführt werden. (Das Verb περττεύω drückt nicht nur Reichhaltigkeit, sondern auch Überfluss an etwas aus.) Wer herausragend, außerordentlich ist, verfügt über etwas, woran es den anderen fehlt: Er ist im Besitz nichtalltäglicher Eigenschaften. Und da das »Herausragen« gleichermaßen körperliches Überragen wie auch geistige Überlegenheit bedeuten kann, ist die Frage, ob wir es als ein geistiges oder als physisches Charakteristikum betrachten, zweitrangig. (Die geistigen Folgen einer körperlichen Veränderung zeigen, dass die Außerordentlichkeit nicht nur auf das eine oder andere beschränkt werden kann.) Wer herausragend ist, sei er es als Dichter, Philosoph, Politiker oder Künstler, ist es nicht nur geistig, sondern dieses sein geistiges Herausragen ist selbst die Folge einer sich in der Tiefe vollziehenden und selbstverständlich nicht nur rein körperlichen bzw. geistigen Veränderung: Wir müssen darin die eigentümliche Beziehung des Menschen zum Leben, besser gesagt, zu seinem eigenen persönlichen Schicksal bemerken. Entscheidend ist dabei das entschiedene Sich-dem-Schicksal-Entgegenstellen, das Aufsichnehmen des Schicksals und seine gnadenlose Verwirklichung. Dies folgt aus der Einsicht, dass das Leben, dessen geistige und körperliche Merkmale zweitrangig und schwer voneinander abgrenzbar sind (wie viele sterben an ihrer Außerordentlichkeit, und wie viele große Geister gehen an irgendeinem körperlichen Gebrechen zugrunde, wie wir zu sagen pflegen, obwohl wir genau spüren, dass es sich jeweils nicht nur um den Körper bzw. nur um den Geist handeln kann), unvergleichlich ist (περισσός bedeutet in der griechischen Arithmetik so viel wie ungerade). Wer herausragend ist, hat seine Außerordentlichkeit der Einmaligkeit des Lebens (seiner Unteilbarkeit und der Unmöglichkeit, es zu vervielfachen) zu verdanken; daher scheint es verständlich, dass dieses eigentümliche Geschenk nicht Frohsinn, auch nicht vertrauensvolle Hoffnung, sondern Melancholie hervorruft. Dadurch wird der scheinbare Widerspruch des aristotelischen Satzes gewissermaßen gedämpft. Doch wie steht es mit der Melancholie, der schwarzen Galle? Selbst eine nur oberflächliche Kenntnis der griechischen Kultur reicht aus, um sagen zu können, dass die Trennung der vergangenen 2 000 Jahre von Körper und Seele, von Geist und Materie in zwei Bereiche, ihr weder als Erfahrung noch als Einsicht bekannt war, dass sie somit die körperlichen Eigentümlichkeiten der schwarzen Galle nicht ausschließlich als körperliches Merkmal betrachtete, sondern sie in die geistige Welt und damit in die Beurteilung des Ganzen des Kosmos hinüberhob; sie hatte solcherart jene Zweiheit, die wir als den Gegensatz von geistigem Herausragen und der für den Körper bezeichnenden schwarzen Galle kennengelernt haben, nicht nur nicht vollendet, sondern von vornherein auch niemals erfahren. Die begriffliche Entfaltung der Melancholie, der schwarzen Galle, verschafft uns tieferen Einblick in diese Anschauung.

Auf erste Spuren eines Zusammenhangs zwischen Galle und Geist (Gemüt) stoßen wir bei Homer, der zwar die schwarze Galle als solche nicht erwähnt, jedoch die schwarze Farbe mit der Vernebelung des Gemüts in Zusammenhang bringt. »Das finstere Herz« des wütenden Agamemnon, »von der Galle schwarz umströmt«,2 ist, obschon unausgesprochen, genauso eine Folge der Veränderung der Galle wie seines Grolls wegen der Weissagung von Kalchas. Zusammen spielen die Galle und die schwarze Farbe erst in Sophokles’ Tragödie Die Trachinierinnen eine Rolle: die »gallichtschwarze Brut«3 des Lernadrachen, die den Pfeil getränkt hat, ist nach den Worten des Dichters giftig (der schwarze Saft, auf griechisch wörtlich μελαγχόλος). Somit hielt der Dramatiker, der als Priester zugleich Arzt war, die schwarze Galle für einen schädlichen Saft, nämlich für ein Gift des Körpers. Die Beschreibung und die Beurteilung dieses Giftes, der schwarzen Galle, wird an den Namen des Hippokrates (Ende des 5. Jahrhunderts) geknüpft. »Der Körper des Menschen enthält in sich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, und diese Säfte machen die Natur (Konstitution) seines Körpers aus, und wegen dieser (Säfte) ist er krank oder gesund.«4 Hippokrates führte die Krankheit namens Melancholie zunächst auf ein Sichverfärben der Galle ins Schwarze zurück (μελαγχολία ist eine Krankheit des durch die Galle bestimmten Typs – ό χoλώδhς), nicht direkt auf die schwarze Galle wie in seinen späteren Schriften. Wenn das Verhältnis bei der Mischung der Säfte nicht ausgewogen ist, wähnte er, nachdem er den Begriff der schwarzen Galle eingeführt hatte, bzw. wenn sich einer der Säfte nicht mit den anderen entsprechend vermengt, dann wird der Körper krank. Die Konstitution des menschlichen Körpers hängt von diesem Verhältnis ab, und so bezeichneten die Griechen Beschaffenheit und Vermengung mit ein und demselben Wort: ἡ κρᾶσις. Die kosmozentrische Anschauung der Griechen betrachtete den Menschen als organischen Bestandteil des Alls, sie stellte ihn nicht diesem gegenüber. Die Vermengung, deren Begriff sich ursprünglich auf eine Verbindung der Bestandteile bezog, ist für alles verantwortlich: ebenso für den Zustand des Kosmos wie für den des Menschen, also sowohl für seine Gestalt als auch seinen Charakter, und, wie bald Ptolemäus im Tetrabiblos ausführen wird, auch für jene Kraft, durch die die Sterne beeinflusst werden. Hippokrates selbst befasst sich auffallend wenig mit der Geistigkeit der Gestalt, er wendet seine Aufmerksamkeit eher den körperlichen Komponenten zu – doch trägt jene Anschauung, die sich zur Einheit von Körperzustand und Kosmos bekennt, unausgesprochen auch die Einheit von Körper und Geist in sich. Die Melancholie, sagt Hippokrates, ist eine Krankheit des Körpers: Der dickflüssige Saft der schwarzen Galle erlangt im Verhältnis zu den anderen, dominierenden Körpersäften Dominanz und kann, da das Blut somit vergiftet ist, nun verschiedene Krankheiten, von den Kopfschmerzen über Bauch- und Leberbeschwerden bis hin zur Lepra, erzeugen. Das Blut aber ist die Wiege der Vernunft, des Geistes, so Hippokrates, und daraus lassen sich die geistigen Folgen der das Blut vergiftenden Galle erklären. Die schwarze Galle ist demnach nicht an sich schon eine Krankheit, sondern wird erst durch das schlechte Verhältnis der Mischung dazu. Die sich in erster Linie auf einen geistigen Zustand beziehende Melancholie (schwarze Galle) ist ein ganz eigentümlicher Fall schlechter Mischungsverhältnisse, bei dem sich der körperliche Zustand mit Angst und Niedergeschlagenheit vereint. Es sind die trockenen Typen, die, der Meinung des Hippokrates nach, verstärkt zu dieser Krankheit neigen, die mit dem Austrocknen und der Verdickung der Galle einhergeht, was auch jeweils unter dem Einfluss der Wetterverhältnisse und Jahreszeiten geschieht. In seiner medizinischen Abhandlung Über Luft-, Wasser- und Ortsverhältnisse schreibt er: »Wenn […] in dieser Jahreszeit [Sommer, L. F.] Nordwind herrscht, wenn sie regenarm ist und weder beim Erscheinen des Hundesternes noch bei dem des Arkturos Regen fällt, dürfte es wohl Menschen mit schleimiger Konstitution, denen mit feuchter Konstitution und den Frauen am meisten nützen, für die Menschen mit galliger Konstitution aber ist dies am schädlichsten; dann werden sie allzu trocken, und es treten bei ihnen trockene Augenentzündungen und akute sowie lange Zeit anhaltende Fieberanfälle auf, bei manchen aber auch Melancholie (μελαγχολία)«.5 Obwohl also diese, nämlich die Melancholie, eine durch die Galle erzeugte Krankheit, also körperlichen Ursprungs ist, wirkt sie sich in dem beschriebenen Fall auch auf das Gemüt aus. In dem 3. Buch seiner Epidemien behandelt Hippokrates die Melancholie körperlichen Ursprungs als gestörten Seelenzustand: Die untersuchte, erkrankte Frau leidet unter erhöhtem Schlafbedürfnis, Appetitlosigkeit und schwindenden Kräften, »ihr Gemütszustand ist melancholisch«6 (τὰ περὶ τὴν γνώμην μελαγχολικά). υώμη bedeutet gleichermaßen Gemüt, Sinn, Vernunft, Verstand, Geist, Gefühl, Neigung, Einsicht – all diese Bedeutungen sind in diesem einzigen griechischen Wort enthalten, diese Kargheit an Begriffen erinnert uns an einen relativen Reichtum: Man kann diese Fähigkeiten der Seele und des Geistes nicht verschiedenen Bereichen zuordnen, denn sie repräsentieren eine Einheit in der Seinsanschauung und dem Seinsverständnis, wenn auch im Verborgenen fest mit der vielschichtigen Welt des Körpers verwoben. Das Gemüt und die Gestalt, der Geist und der Körper, und die Melancholie ist ihre Krankheit, υώμη und κρᾶσις: die Einheit der Seele und die auch den körperlichen Zustand bestimmende Vermengung der kosmischen Elemente. Das Sichauflösen und das Erkranken dieser Zweiheit ist die Melancholie – gibt es eine ärztliche Anschauung, die großzügiger und mutiger wäre? Ihr Ursprung ist körperlicher Natur1 (Hippokrates erzählt, dass Demokrit, der nicht nur melancholisch war, sondern über diese Krankheit angeblich auch ein Buch verfasst hat, als er ihn besuchte, gerade ein Tier seziert habe, um den Sitz der Melancholie zu finden), ihre Folge aber weitgehend geistiger Natur. Und umgekehrt: Der Ursprung ist, da körperlich, zugleich kosmisch und übermenschlich (ein Ergebnis des Zusammenspiels von Wind, Land, Jahreszeit und Himmelsrichtung und sogar von Kometen und Sternen), doch zeigt sich die Wirkung im Geistigen und schlägt sich in der von jeder anderen unterschiedenen, unvergleichlichen und sich niemals wiederholenden seelisch-geistigen Individualität nieder. Die Melancholie als Krankheit ist, so Hippokrates, daher das Ergebnis einer Art von Entgleisung, das Gleichgewicht von Mikro- und Makrokosmos hat sich verlagert, die Ordnung (der Kosmos) hat sich gelockert, es hat sich eine Störung eingestellt, und die betreffende Person ist nicht mehr in der Lage, den untrennbaren Gesetzen des Alls und des eigenen Schicksals zu gehorchen. Solcherart spricht Hippokrates einmal von den Melancholikern als den aus sich selbst Heraustretenden, sich in Ekstase Befindlichen, und die Verwendung des medialen, reflexiven Verbes (ἐξισταμένοισι) deutet auf tief greifende Beobachtungen hin: Das Subjekt ist nicht nur einem ihm selbst fremden Willen ausgeliefert, sondern auch Gegenstand seines eigenen Handelns. Der Melancholiker: Er steht außerhalb der gewohnten Gesetze des Lebens, doch das Schicksal, das es so gewollt hat, ist auch sein Schicksal; sein Leben, sein Verhältnis zum Schicksal, bestimmt seinen Zustand (seine Krankheit) mindestens ebenso wie der von ihm nicht überprüfbare Kosmos. Doch sind dies nicht mehr die Worte des Hippokrates – in seiner Welt der aus sich heraus selbstverständlichen Erscheinungen wäre eine Ausführung dieser Gedankengänge fast schon verdächtig gewesen.

Dem am Anfang unseres Gedankengangs stehenden Aristoteles-Zitat haben wir uns ein wenig genähert. Die Melancholiker sind herausragend, sagt der Philosoph, und dies knüpft an die hippokratische Vorstellung an: Wer melancholisch ist, der leidet an alles überschreitenden und sich auf alles erstreckenden Gleichgewichtsstörungen. Hippokrates betrachtet die Melancholie als Krankheit,2 Aristoteles als solch einen erhabenen Zustand, in dem der Kranke zur Hervorzauberung gesunder, den Zeitgeist überdauernder, jeden mit sich reißender Werke in der Lage ist. Aristoteles geht, getreu der hippokratischen Tradition, von der Beobachtung des Körpers aus: Auch er hält einen Überschuss an schwarzer Galle im Vergleich zu den anderen Körpersäften für ungesund, doch als ausschlaggebende, beeinflussende Kraft sieht er die Temperatur der schwarzen Galle an. Derjenige, in dem sich die schwarze Galle allzu sehr erhitzt, ist unbegründeterweise überfröhlich, er wird guter Laune (daraus resultiert auch die aus der Antike stammende Vorstellung einer Beziehung zwischen Melancholie und Manie); bei dem aber, bei dem diese Temperatur zu sehr sinkt, zeigt sich Niedergeschlagenheit und Traurigkeit. Für den Melancholiker als Typ ist bezeichnend, dass sich die Temperatur der Galle auf ein Mittelmaß beschränkt (πρός τὸ μέσον), da er aber demzufolge ein Typ des Mittelmaßes ist, ist er gesund, und da sich in ihm Wärme und Kälte optimal vermengen, ist er zu vielerlei befähigt – er kann in der Politik, in der Kunst, in der Philosophie, in der Dichtkunst Bedeutendes vollbringen, doch befindet er sich wegen der möglichen Erwärmung bzw. Abkühlung der schwarzen Galle zugleich in beständiger Gefahr. Für den melancholischen Menschen ist also ein immerwährender, außerordentlicher Zustand bezeichnend: Einerseits gibt es in ihm ein Übermaß an schwarzer Galle, und das scheint im Verhältnis zu der durchschnittlichen Verteilung der anderen Körpersäfte ungesund zu sein, andererseits ist aber gerade auch in diesem Zustand des Überschusses ein Mittelmaß, das heißt die Gesundheit als Möglichkeit, gegeben. Für die Säfte ist eine schlechte Mischung (δνςκρασία) bezeichnend, für die Temperatur aber die gute, richtige Vermengung (εὐκρασία), das heißt, das Beisammensein von Mittelmaß und Äußerstem charakterisiert den Typ des Melancholikers. Beides schließt sich nicht aus. So steht in der Nikomachischen Ethik zum Beispiel (in einem anderen Zusammenhang): »[D]er Hochsinnige stellt sich durch das hohe Maß der Selbsteinschätzung auf steile Warte. Insofern dieses Maß jedoch ein richtiges ist, trifft er die Mitte«.7 Und ebenfalls Aristoteles ist es, der über das Himmelszelt schreibend bemerkt: »Das Äußerste und der Mittelpunkt sind seine Grenzen«.8 Und ob den Melancholiker eigentlich nicht das charakterisiert, was zugleich Äußerstes und Mittelpunkt ist? Doch bedeutet dies bei Weitem keine unbedingte, friedliche Harmonie: Das Auf und Nieder zwischen den beiden schafft das Gleichgewicht, welches das Zustandebringen von großen Werken und Taten ermöglicht, doch dieses Schwanken macht auch ein beständiges Überschreiten der Grenzen unvermeidlich, ohne das große Werke und große Taten ebenfalls unvorstellbar wären. Die Ordnung des Kosmos wird so vom Melancholiker in einer beständigen Verletzung dieser Ordnung erahnt. Wer daher ein Melancholiker ist, ist keinesfalls eine durchschnittliche Persönlichkeit – aber auch seine Überdurchschnittlichkeit bedeutet nicht, dass er krank sei, ganz im Gegenteil: Wenn man so will, ist er zu gesünderem Leben fähig als der Durchschnitt. Die Kriterien dieser »herausragenden Gesundheit« (vom Standpunkt der Nüchternheit her gesehen: Krankheit) sind jedoch andere als die der durchschnittlichen Gesundheit.

Außerordentliche Persönlichkeiten sind die Melancholiker: Doch was ist es, worin sich diese Außerordentlichkeit zeigt? Darauf gibt Aristoteles keine Antwort, benennt jedoch einige sich allgemeiner Bekanntheit erfreuende Persönlichkeiten, die er für Melancholiker hält: Aias, Sohn des Telamon, Bellerophontes, Herakles, Empedokles, Platon, Sokrates und Lysander. Die drei Erstgenannten sind Helden der griechischen Mythologie, die nächsten drei Philosophen, und der Letztgenannte ist Politiker (Staatsmann). Worin sie gleich auf den ersten Blick übereinstimmen, das ist die übermenschliche Leistung, die sie vollbracht haben. Die Aufgaben von Herakles sind bekannt; ebenso die Gedankenwelten von Platon, Sokrates und Empedokles. Lysander hat den höchsten Gipfel der Macht erklommen, der zu seiner Zeit erreichbar war, Bellerophontes von Korinth hat über die Chimaira, die Solymer und die Amazonen den Sieg errungen. Aias aber, der Sohn des Telamon, König von Salamis, war einer der stärksten, ausgezeichnetsten Krieger des gegen Troja kämpfenden Heeres. Gemein haben sie die Größe, den Heldenmut, die Außerordentlichkeit – aber nicht nur das: Ihre Überdurchschnittlichkeit zeigt sich auch an den Schattenseiten ihrer Lebensläufe.

Aias erhielt noch in seiner Kindheit von Herakles die Gabe der Unverwundbarkeit. Nachdem man ihn aber, seinem Gefühl nach unrechtmäßig, der Waffen des gefallenen Achilles beraubt hatte und sie dem verschlagenen Odysseus zukommen ließ, wurde sein Geist verwirrt. Er schwor sich gegen die Griechen Rache, aber Athene trübte sein Augenlicht, und statt unter seinen Kameraden richtete er unter den in der Nähe weidenden Schafen ein Blutbad an. Als er wieder zu sich kam, war er außerstande, diese Schande zu ertragen, und beging Selbstmord. Aias, »den gefangen hält ein unnahbares Schicksal«,9 so Sophokles, trug die menschliche Natur in sich, doch war diese nicht das Maß seiner Sehnsüchte. Als stärkster Krieger übertraf er alle; wies Athenes Hilfe, darauf vertrauend, dass ihm das Kampfesglück aus eigener Kraft heraus hold sei, zurück. Diese Kraft, das herausragende Heldentum, isolierte ihn aber auch von den anderen; daher der Spott, den sie ihm angedeihen ließen, das Unverständnis, das ihn umgab. Es war nicht sein Verstand, sondern seine körperliche Kraft, die ihn berühmt gemacht hatte, und dennoch, der Überschwang an körperlicher Kraft hat ausgereicht, dass »einsam weidend in seinem Sinn«,10 wie er war, irgendetwas ihn leicht erschüttern und zu Fall bringen konnte. Denn »er liegt da, krankend an düsteren Stürmen«,11 sagen die Kameraden über den nun im Wahnsinn wütenden Aias, der, wieder zu sich kommend, erkennt, dass seine Welt unrettbar erschüttert worden ist: Die körperliche Würde vereint sich hier mit Nichtigkeit. (Ist es denn nicht als Schwäche anzusehen, wegen irgendwelcher Waffen verrückt zu werden?) Doch ist die geistige Schwäche auch ein Zeichen der Maßlosigkeit: Wer so sehr Sehnsucht empfinden kann und auch so sehr in Aufruhr zu geraten vermag, dass ihn der Wahnsinn packt, der muss auch die gewohnte Ordnung der Welt für nichtig halten. Seine Ehre hat er nicht nur gegenüber den Menschen verloren, sondern auch den Göttern gegenüber, die den Wahnsinn auf ihn herabließen. Aus Aias Sicht kann man seinen Zustand aber auch so verstehen, dass die Menschen für ihn im selben Maße aufgehört haben zu existieren, wie sie für ihn an Wichtigkeit verloren haben, und so auch die Götter. Legen wir ihm die Worte des Sophokles in den Mund: »Bin ich doch nicht mehr wert, / Weder zu der Götter Geschlecht noch dem / Der Tageswesen nach Hilfe zu schauen, der Menschen«.12 Er hat seine Beziehungen zur irdischen wie zur göttlichen Welt verloren, er befindet sich außerhalb des Alls. Εκστατικὸς ἐγένετο, sagt Aristoteles; einen ekstatischen Zustand erlangend, gelangt er aus sich selbst heraus. Die innere Störung, die mit einer Auflösung der Weltordnung einhergeht, treibt ihn zum Selbstmord.

Dasselbe gilt für Bellerophontes von Korinth. Seine Heldentaten haben ihn dazu ermächtigt, sich selbst als über-allemstehend zu betrachten. Die Folge war, dass er an der gegebenen Ordnung des Lebens zu zweifeln begann: Wer die alltäglichen Gesetze der Welt überschreitet, empfindet unweigerlich Neugier auf weitere Grenzen und unbekannte Gesetze. Bellerophontes begann, da ihm garantierte Gültigkeit und Sinn der Welt abhandengekommen waren, an den Göttern zu zweifeln. »Und da behauptet man, im Himmel lebten Götter? Dort leben keine, keine –«,13 legt Euripides ihm in seinem Dramenfragment Bellerophontes in den Mund. Mit seinem Pferd, Pegasus, steigt er gen Himmel, um den Göttern auf die Spur zu kommen, doch gelangt er nicht bis zu ihnen: Die Götter stoßen ihn zur Erde zurück. Über die Gewissheit des einfachen Glaubens hinaus sind die Götter nicht nur unnahbar, sondern auch grausam. Bellerophontes stürzt auf die Erde zurück, und das Bewusstsein von der Sinnlosigkeit des Seins nimmt in ihm überhand: »Aber nachdem auch jener den Himmlischen allen verhaßt ward, irrt’ er einsam umher, sein Herz abzehrend3 im Kummer, durch die aleische Flur, der Sterblichen Pfade vermeidend«,14 berichtet Homer, und das Wörtchen »auch« deutet an, dass Bellerophontes das Opfer irgendeiner fürchterlichen Gesetzmäßigkeit geworden ist. »Ein Gelüsten, das die Gebühr übertritt, das endet bitter«,15 schreibt Pindar mahnend. Die tief liegende Verzweiflung treibt ihn zwar nicht in den Selbstmord wie Aias, doch sein Ausgestoßensein kommt dem Tode gleich. »Ich glaube, was in aller Munde ist: Gar nicht geboren sein – das Beste ist es für den Menschen«.16 Der Chor im Ödipus auf Kolonos spricht die gleichen Worte (was später Kierkegaard mit Vorliebe zitieren wird): Am glücklichsten ist, wer gar nicht geboren wird. Das Menschenleben ist zum Misserfolg verdammt, und der Misserfolg stellt sich nicht ein, denn er ist pausenlos und fortwährend gegenwärtig. Bellerophontes spricht von jenen, für die »menschlich ist, was wir erleiden«,17 von jenen, die zwei Leben leben: das Leiden und dasjenige, welches sich darüber im Klaren ist. Der Mensch leidet nicht nur darunter, dass er Mensch ist, sondern auch darunter, dass er auf sein eigenes Menschsein herabblickt. Heldenmut und Niedergeschlagenheit zeigen sich im selben Menschen an, und ein Zweifel kommt auf; ob die Niedergeschlagenheit und der unrettbare Misserfolg, das Gefühl der Sinnlosigkeit Bellerophontes nicht darum mit sich gerissen haben, weil er zu herausragenden Taten geboren worden war?

Leiden und Tod des Herakles scheinen dies zu bekräftigen. Der von einer irdischen Mutter und einem göttlichen Vater abstammende Herakles ist eine der eigenartigsten Figuren der griechischen Mythologie: Er ist zugleich sehr menschlich und übermenschlich, sodass sein Auf-sich-allein-gestellt-Bleiben fast schicksalhaft anmutet. Er hat keine Freunde, keine Verbündeten; seine Feinde verlieren sich im Dunkel, so wie sich auch seine Frau und seine Kinder in den Hintergrund zurückziehen. Herakles steht wie eine Statue vor uns, in solchem Maße beziehungslos, dass er alles beherrscht, wo immer er erscheinen mag. Er macht die Wirklichkeit, die Welt unglaubwürdig; dort, wo er geht und seine Taten ausführt, verändert er sie märchenartig und hält das ganze Sein wie unter Zauber gebannt.4 Die zwölf Heldentaten muten selbst in der an sich schon an Märchen erinnernden Mythologie märchenhaft an: Die fest stehenden Grenzen des Seins fallen hier in sich zusammen, und im Vergleich zur fantastischen Atmosphäre der Heldentaten erscheinen die übrigen Erzählungen der Mythologie fast prosaisch. Das Lebenselement des Herakles ist die Grenzenlosigkeit: Nichts ist ihm unmöglich, und er kommt darauf (was die irdischen Menschen nicht zu ihren Erfahrungen zählen können), dass auch in der ihn umgebenden Welt alles möglich ist. Die kristallartig begrenzte, denkmalartig abgerundete Figur erweckt deshalb ein Gefühl der Unendlichkeit: Es scheint, als ob sich Raum und Zeit nach seinem Willen verhalten würden. Doch seine Kraft ist zugleich seine Schwäche: Seine Kraft, nicht nur seine physische, sondern auch seine »weltschöpfende« Macht, verdankt er dem Umstand, dass er kein Mensch, aber auch kein Gott ist, sondern ein Mittelding, ein in beiden Welten verankertes Wesen.5

Doch bedeutet das auch, dass er nirgendwo richtig zu Hause ist. »Nicht lebenswert ist heut wie immer schon mein Dasein«,18 sagt er, und das sind Worte der euripideischen Tragödie, die eines Heros unwürdig zu sein scheinen; wo dann aber auch noch Folgendes zu lesen ist: »Wer stets in Unglück weilt, der leidet nicht, dem ist sein Elend wohl vertraut«.19 Die metaphysische Heimatlosigkeit lässt sich nicht beenden. (Als Odysseus in die Unterwelt hinabsteigt, trifft er dort nur auf den Körper von Herakles, seine Seele nämlich ist in göttliche Regionen gelangt, das heißt, die Heimatlosigkeit, die Zerrissenheit findet selbst im Tode kein Ende.) Da es keinerlei Anhaltspunkte gibt, mittels deren man die Welt ergreifen und heimatlich gestalten könnte. Von woher auch ausgehen, wohin auch gelangen? Von all dem ahnt Herakles anfänglich gar nichts; wahrscheinlich erscheint das Schicksal erst vor seinen Augen, als er sich, vor seinem Abstieg in die Unterwelt, in die Mysterien von Eleusis einweihen lässt. Die einander ergänzenden Begriffe von Leben und Tod, das schicksalhafte, sich in die Grenzenlosigkeit vertiefende Vergessen, die Beklemmung in der Endlichkeit erscheinen hier das erste Mal vor ihm, und wahrscheinlich ist es diese Anschauungsweise höherer Ordnung, die er sich solcherart aneignet, die für die endlich-irdischen Wesen eine Öffnung fantastischen Ausmaßes bedeutet und die ihm jenen niemals mehr aufzuhebenden Bruch offenbart, den er seinem menschlich-göttlichen, sterblichen und ewigen Charakter verdankt. Nach seiner Rückkehr aus der Unterwelt beginnt man ihn auch bei dem Namen Charops zu nennen (dieses Namenszeichen ist jenem des Charon verwandt), was nun auf den unerwartet fürchterlichen Charakter des veränderten Herakles hinweist. Und jener Wahnsinn, der, der Einweihung in die Mysterien und dem Ausflug in die Unterwelt folgend, Besitz von ihm ergreift und der, als äußere Kraft, ihn seine eigenen Kinder hinrichten lässt, unterscheidet sich nicht vom Wahnsinn des Bellerophontes und des Aias. »Warum Zeus hast du solchen Groll auf deinen Sohn gefaßt, in solch ein Meer des Jammers ihn getrieben«,20 fragt der Chor, dem Geschehen verständnislos gegenüberstehend, im euripideischen Drama Herakles. Τὸ κακόν bedeutet neben Jammer und Gram bzw. Schwermut und Trübsinn auch Ungeeignetheit, Schwäche, das im moralischen Sinne Schlechte, Würdelosigkeit, Armut, Leiden, Elend und Unglückseligkeit. Τὸ κακόν ist nichts anderes als die jedes bezugnehmenden Vergleichs ermangelnde Nichtentsprechung. Je mehr der Mensch diesem Umstand ausgeliefert ist, desto weniger sieht er sich in der Lage zu erkennen, was dasjenige war, in Bezug auf das er gefehlt hat. »Wenn du dein Inneres öffnest, wirst du eine buntgefüllte und leidensvolle Vorrats- und Schatzkammer von Übeln (κακῶν) finden«,21 sagt Demokrit. Der Schatz, auf den er da trifft, ist sein nicht wiedergutzumachendes Verurteiltsein zu Fehlschlägen, die mit der Zeit immer schwerer wiegen. Das Meer, in das Herakles versinkt, ist im Endeffekt der Entzug von etwas überhaupt, das Meer des Mangels. Der Wahnsinn und das vom Wahnsinn hervorgerufene Leiden werden erstaunlicherweise dadurch vertieft, dass das alles überwölbende Gefühl des Mangels die Krönung dieser alles überragenden, vollkommenen Heldentaten ist. Der Wahnsinn ist die Belohnung für die alles übertreffende Außerordentlichkeit und für das Herausragen6 – zumindest scheint die Lebensgeschichte dieser drei Heronen dies zu beweisen.

Die Haltung, Wahnsinn und Melancholie in eine verwandtschaftliche Beziehung zu bringen, schließt den Problemkreis in unserer heutigen, voreingenommenen Zeit der klinischen Psychiatrie und Psychologie scheinbar kurz. Der Wahnsinn ist im vorliegenden Fall aber auch ein Teil der mythologischen Erzählungen, und wie das Ganze des Mythos, so haben auch seine einzelnen Teile tiefer gehende Bedeutung, als die traditionelle Anschauung es auf den ersten Blick annehmen möchte. Der Mythos lässt sich nicht enträtseln, höchstens endlos rationalisieren – wir sollten nicht zögern, ihn auf unsere eigene Situation zu beziehen, die sich selbst nicht von einem Labyrinth unterscheidet und deren Grund keinesfalls fester ist als jener der Mythologie. Für den Begriff des Wahnsinns trifft dasselbe zu. Verantwortlich für den Wahnsinn ist die Göttin Lyssa – sie ist es, die den Wahnsinn in den Geist des Herakles gesät hat. Die Mutter von Lyssa ist die schwarze Nacht, ihr Vater Uranos, und dieser Stammbaum zeigt, dass der Wahnsinn in einem größeren Zusammenhang zu sehen ist. Uranos ist der Gott des Himmels, so lässt sich der Wahnsinn väterlicherseits bis zum Anbeginn des Seins zurückführen. Mütterlicherseits stammt er aus der Nacht, aus dem Reich der unsichtbaren Dinge. Die Nacht hatte bei den Griechen nicht die Funktion, Dinge zu verdecken, wie die Welt des Traumes, sondern sie hat auch das Unsichtbare sichtbar gemacht.7 Nachts eröffnet sich eine neue Welt: Diese ist aber nicht irgendeine erträumte Vorstellung der Welt der Träume, sondern steht auch mit der Welt des Tages in Beziehung. In der kurzen Abhandlung Das Hellsehen betreffs des Schlafes gibt Aristoteles jener verbreiteten griechischen Vorstellung Raum, gemäß welcher sich im Traum vor dem Träumenden Grundwahrheiten offenbaren. Die Nacht ermöglicht das Gewahrwerden unsichtbarer Dinge, und daraus folgend auch das Wahrsagen. Das Weissagen ist damit dem Wahnsinn verwandt, und das findet auch im Geist der Sprache seinen Beweis: Die Worte »wahrsagen« (μαντεύω) und »im Wahnsinn wüten« (μαίνομαι) gehen auf einen gemeinsamen Stamm zurück. (Zunächst möchten wir nur kurz darauf verweisen, dass Aristoteles mit der Nacht auch die Melancholie in Verbindung gebracht hat;8 aber das lag sowieso auf der Hand: Der Kontext der im Wahnsinn wütenden und melancholischen Heroen, aber auch der noch im Detail abzuhandelnde Zusammenhang von Melancholie und Weissagen bot von jeher an, die Nacht und die Melancholie in eine innere Beziehung zu bringen.) Der Stammbaum des Wahnsinns verzweigt sich daher: Er lässt sich väterlicherseits bis zum Beginn des Daseins, mütterlicherseits bis in das Reich der unsichtbaren Dinge zurückverfolgen. So durfte Platon mit Recht sagen, »daß auch unter den Alten die, welche die Namen festgesetzt, den Wahnsinn nicht für etwas Schändliches oder für einen Schimpf hielten«,22 und an gleicher Stelle fuhr er fort: »[E]r [der Wahnsinn, L. F.] sei etwas Schönes, wenn er durch göttliche Schickung entsteht«.23 Der Wahnsinn ist eine göttliche Gabe, zumindest dann, wenn er in den oben genannten Zusammenhang hineinpasst. Platon selbst schreibt auch über jenen Wahnsinn, welcher nicht als göttliche Gabe, sondern als Vernebelung des Verstandes vom Menschen Besitz ergreift; und wie er in der Liebe zwischen dem göttlichen, dem maßvollen und dem hemmungslosen, unbändigen und zügellosen Eros unterscheidet, so vollzieht er diese Aufteilung auch beim Wahnsinn. Zugleich – und es lohnt sich, dabei einen Moment zu verweilen – hält er gerade die Melancholie für eine Form des irdischen und vernebelnden Wahnsinns. Im Timaios24 behandelt er die Leiden der Seele im Detail und gelangt dabei, ohne sie namentlich zu erwähnen, auch zu einer Bestimmung der Melancholie. In der Politeia25 und im Phaidros26 nennt er die Melancholie bzw. den Melancholiker beim Namen und verwendet die Begriffe in beiden Fällen im Sinne des erdgebundenen Narren. Der Begriff der Manie, des Im-Wahnsinn-Wütens, führt aber in die außerirdische Welt: Das von den Göttern auf uns Niedersinkende erlaubt einen Einblick in die höheren Sphären des Seins: »[D]erjenige, der bei dem Anblick der hiesigen Schönheit, jener wahren sich erinnernd, neubefiedert wird und mit dem wachsenden Gefieder aufzufliegen zwar versucht, aber unvermögend ist, nur wie ein Vogel hinaufwärts schauend, was drunten ist, jedoch gering achtend, beschuldigt wird seelenkrank zu sein«.27 Diese platonische Zweiheit des göttlichen, in den Himmel lockenden Wahnsinns und des dem Menschen an die Erde bindenden Wahnsinns (Melancholie) hat Aristoteles aufgehoben; die metaphysisch angehauchte Manie hat er mit naturwissenschaftlichem Sinn versehen, den Begriff aber des ärztlich zu verstehenden, aufgrund der körperlichen Symptome zu erklärenden Wahnsinns, der Melancholie, hat er ausgeweitet. Er hat die metaphysischen Eigenheiten der Manie mit den bezeichnenden Merkmalen der Melancholie vereint und hat damit einem völlig neuen Melancholiebegriff den Weg geebnet. Die Melancholie körperlichen Ursprungs verdankt es bei Aristoteles der metaphysischen Beziehung, dass man den Zustand des Herausragens und den der Außerordentlichkeit mit ihr begründen konnte. (Im Verlauf des Mittelalters werden wir Zeuge, wie die metaphysischen Merkmale zunehmend abgebaut werden und erst im 15. Jahrhundert bei Ficino ihre aristotelischen Rechte zurückerhalten.) Für die Melancholie sowie für den Wahnsinn ist die Ekstase, das Aus-sich-selbst-Heraustreten im weiteren Sinne des Wortes, eine Neuschöpfung der Seinsgesetze bezeichnend; zur Zeit des Aristoteles hat man das Verb »wüten« sogar in Verbindung mit der Melancholie verwendet. So wird der Wahnsinn der drei Helden zur Quelle ihrer Melancholie; doch ist der Wahnsinn – und das Ganze des Lebens jener drei Helden beweist dies – nicht an sich Ursache der Melancholie. Dazu gehört auch das Vollbringen großer Taten, das Vollstrecken übermenschlicher Handlungen, das Besiegen der Mächte des Dunkels. Die Helden sind nicht deshalb Melancholiker, weil sie wahnsinnig sind, und nicht deshalb, weil sie außerordentliche Kraft und Talente haben, sondern weil in ihnen beides voneinander untrennbar ist: Der Wahnsinn ist eine Folge der Außerordentlichkeit, ihre Außerordentlichkeit aber verdanken sie der Tatsache, dass sie die Möglichkeit des Wahnsinnigwerdens in sich tragen. Da ihre Außerordentlichkeit kein irdisches Maß hat, ist ihr Wahnsinn auch durch kein irdisches Heilmittel endgültig heilbar, es wäre sogar gerade ein solches Heilverfahren, das ihre wahre Vernichtung bedeuten würde.9 Ihr Wahnsinn hat uns das Tor zu einer neuen Welt eröffnet, und indem wir es durchschreiten, verliert die Einrichtung der irdischen Welt ihre Bedeutung, und vor uns erscheinen Horizonte, die alles Seiende in einem von Grund auf neuen Licht erblicken lassen. Über die Manie schreibt noch Platon: »Ebenso hat auch von Krankheiten und den schwersten Plagen […] ein Wahnsinn, der auftrat und vorhersagte, denen es not war, Errettung gefunden, welcher, zu Gebeten und Verehrungen der Götter fliehend und dadurch reinigende Gebräuche und Geheimnisse erlangend, jeden seiner Teilhaber für die gegenwärtige und künftige Zeit sicherte, dem auf rechte Art Wahnsinnigen und Besessenen die Lösung der obwaltenden Drangsale erfindend«.28 Die Melancholie, die bei Aristoteles (wie auch bei Hippokrates) untrennbar mit der Manie verbunden ist, befähigt die daran Teilhabenden, die allgemeinen Grenzen eines menschlichen Seins zu überschreiten, um sich den Forderungen des Alltags zu entziehen. Mit den Worten des Heraklit gesprochen, werden sterbliche Unsterbliche zu Erlebenden ihres Todes und zu ihrem Leben Sterbenden. Die Fesseln des Alltags lösen sich (die melancholischen Helden zweifeln sogar an den das Sein garantierenden Göttern), und (um uns hier der platonischen Ausdrucksweise zu bedienen) sie werden zu Beobachtern und Erleidenden des »Werdens zur Seinshaftigkeit«,29 das heißt des beständigen Wechsels von Sein und Nichtsein.

Das erklärt die von den Alten beobachtete und aufgezeichnete, erstaunlich genaue Befähigung zur Weissagung seitens der Melancholiker. In der erwähnten Schrift lenkt Aristoteles unsere Aufmerksamkeit darauf, dass Melancholiker mit erschütternder Genauigkeit weiszusagen vermögen; in seinen jungen Jahren, als er noch an den göttlichen Ursprung der Träume glaubte, brachte er dies auch mit dem Schlaf in Zusammenhang: Die Melancholiker haben verschwimmende Träume, und sie werden von Vorstellungen wie die Fieberkranken gequält – doch werden uns durch sie tiefere Zusammenhänge des Seins eröffnet. Den Wahrsager muss man sich deshalb nicht im heutigen Sinne als jemanden vorstellen, der in der Gegenwart stehende Aussagen zu irgendwie beschaffenen Ereignissen der Zukunft macht, sondern als einen Menschen, der außerhalb der Zeit an sich steht. Über Kalchas, den Wahrsager, schreibt Homer: »Wieder erhub sich Kalchas, der Thestoride, der weiseste Vogelschauer, der erkannte, was ist, was sein wird oder zuvor war«.30 Für Kalchas besteht kein entscheidender Unterschied zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft: Wer sich über alles im Klaren ist, der hört und sieht alles gleichermaßen,10 das heißt, die Bedeutung der Zeit wird für ihn zweitrangig. So verkündet Xenophanes, dass auch die Zeit Teil des Scheinmeinens und der Welt der Doxa sei, die die Wahrheit erkennende Vernunft aber sei der Zeit nicht ausgeliefert: Im Verhältnis dazu, dass etwas war oder sein wird, ist es unvergleichlich wichtiger, dass es Teil des Zeit schaffenden Seins ist. Denn das Sein, das IST (ἔστιν), ist das, was nach Parmenides »ungeboren ist […] auch unvergänglich, denn es ist ganz in seinem Bau und unerschütterlich sowie ohne Ziel und es war nie und wird nie sein, weil es im Jetzt zusammen vorhanden ist als Ganzes, Eines, Zusammenhängendes«.31 Jenseits der Welt des Scheins findet der Wahrsager seine Heimat; dort, wo er kein Gefangener irgendwie gearteter grammatikalischer Zeiten ist und wo er deshalb die durch die Zeit gebildeten Grenzen der Dinge ungestraft überschreiten darf. Der Wahrsager bewegt sich frei in Raum und Zeit; statt auf Meinungen und Aberglauben richtet sich sein Augenmerk immer auf die Wahrheit, die sich nicht nur auf Wirkung seines Blicks hin auftut, sondern die es ohne diesen Blick eigentlich gar nicht gäbe. Als ob das Wort des Wahrsagers direkt aus dem Inneren des Seins hervorbräche. Nicht umsonst hielt man das Orakel von Delphi für den Nabel der Erde, an dem jeder Sterbliche erfahren konnte, was ist und was sein wird. Dieser Nabel aber ist der Sitz des Auserwählten, den sowieso nur derjenige zu erkennen vermochte, den die Götter für würdig hielten. »Denn weder war mitten auf der Erde ein Nabel«, schreibt Epimenides, »noch auf dem Meere; wenn es einen gibt, so ist er nur den Göttern offenbar, den Sterblichen aber unsichtbar«.32 Man muss zum Gott werden, um den Nabel erblicken zu können; ein Auserwählter der Götter zu werden, ist die Voraussetzung dafür, auf dem Nabel sitzend wahrsagen zu können. Deshalb sind die Wahrsager geheimnisvoll und furchterregend, so wie die Sibylle, die, wie Heraklit schreibt, »mit rasendem Munde Ungelachtes und Ungeschminktes und Ungesalbtes redet […]. Denn der Gott treibt sie«.33 Das Wüten ist die Manie, die den Wahrsager emporhebt; und im Verlaufe dieses Emporgehobenwerdens entfaltet sich die Wahrheit der zurückgelassenen irdischen Welt. Sie nimmt die Form »gottbegeisterter Weissagungen […] göttliche[n] Gesicht[s] oder Wort[es]«34 an, schreibt Platon. Doch es erhebt sich ein Zweifel, ob das nicht nur deshalb, weil die erkannte Wahrheit das Geheimnis selbst ist, möglich sei. Der Wahrsager überschreitet die Grenzen, und die restlose Fremdheit nimmt in seiner Persönlichkeit Gestalt an. Und da er selbst nicht Gott, sondern lediglich göttlich ist, wird die sich in ihm verkörpernde Fremdheit zur Quelle des Schmerzes. Aus diesem Grunde verfügt der wahre Weissager über einen doppelten Blick: Mit menschlichen Wörtern verkündet er die nichtmenschliche Wahrheit; er wird von Gott ergriffen, und dennoch ist er selbst es, der spricht; wegen seines menschlichen Schicksals ist er weniger als Gott, doch wegen seines göttlichen Wissens mehr als die Menschen – gleichsam wie der melancholische Herakles. Das Schicksal des Wahrsagers ist das Durchleben der vernichtenden Kraft, der Heimatlosigkeit, der Unfassbarkeit. »Dich heget ew’ge Nacht«,35 das sind des Ödipus Worte über den Wahrsager Tiresias, womit er sich nicht nur auf die erblindeten Augen des Wahrsagers bezog. Der Wahrsager hat an einer Erhellung teil, doch ist dieses Erstrahlen das Licht der Nacht. Platon hält den göttlichen Enthusiasmus für eine Quelle der Seherkraft; und daran anschließend schreibt Philon von Alexandrien das Folgende: »Immer wenn göttliches Licht erstrahlt, geht das des Menschen zur Neige […]. Das tritt bei der Art der Propheten ein […], sobald der göttliche Strahl erscheint (πνεύματος). Und wenn der von dannen zieht, erscheint erneut unserer; da es nicht gestattet ist, dass der Sterbliche mit dem Unsterblichen zusammenruhe. Darin liegt der Grund, dass das Zurneigegehen des Argumentierens (λογισμός), was von der Dunkelheit begleitet wird, die Ekstase und die göttliche Manie zeigt«.36 Philon stempelt die Melancholie als Krankheit ab; und dennoch: Er bringt die Ekstase nicht nur mit dem Enthusiasmus göttlichen Ursprungs in Verbindung, sondern auch mit der Melancholie, und macht damit den Zusammenhang zwischen der Fähigkeit des Wahrsagens und der Melancholie spürbar. In der Ekstase gelangt der Mensch aus sich selbst heraus, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, woher das Hinaustreten kommt und wohin es führt. Wie könnte er auch, ist sie doch die Verdichtung des Augenblicks, jener xenophanisschen Zeit, in dem der Richtungen und Plätze einnehmende Raum, in dem die Zeit zu nichts zusammenschrumpft. Der Melancholiker empfindet sein Leben als aus einer Reihe solcher Augenblicke bestehend und legt, die Welt aus dieser Position heraus betrachtend, von seiner Fähigkeit des Weissagens Zeugnis ab. Aus dieser seiner eigentümlichen Position heraus versinkt er im Werden zur Seinshaftigkeit, von woher er zu uns spricht, die lediglich Beobachter dieses Vorgangs sind und ihn immer nur im Nachhinein, nach der Erstarrung einzelner Momente desselben zu deuten in der Lage sind. Für den Wahrsager ist dieses Werden kein Gegenstand, da er selbst darin versinkt, und auch das Sein selbst keine Anhäufung seiner Gebilde, sondern ein beständiges Verändern und Werden. Der Name des düsteren und geheimnisvollen Heraklit erscheint vor uns; desselben Mannes, der, wenn man Diogenes Laertios glauben darf, einen Teil seiner Werke aufgrund seiner Melancholie unvollendet und den Magikern und Wahrsagern große Verehrung zukommen ließ; jenen Heraklit, der die Zufälligkeit eindeutiger Dinge erblickte, den Kampf von Sein und Nichtsein verzweifelt erkannte und daran litt, können wir im tieferen Sinne des Wortes auch als Wahrsager bezeichnen. Da, wo er schreibt: »Für die Menschen wäre es nicht besser, wenn ihnen alles zuteilwird, was sie wollen«,37 legt er von seiner tiefen Begabung zum Weissagen Zeugnis ab, denn wer am Werden zur Seinshaftigkeit teilhat, der wird unvermeidlich zum Augenzeugen schicksalhafter Vergänglichkeit. Nicht jener Vergänglichkeit, die irgendwann einmal zur gegebenen Stunde eintritt, sondern jener beständig drohenden und jeden Moment unseres Lebens gestaltenden Vergänglichkeit. So schreibt Heraklit über die, die das Leben der Sterblichen und den Tod der Unsterblichen erleben: über die Relativität von Leben und Tod, über die Instabilität. Zum echten Weissagenden wird nicht der, der kundtut, was morgen ist, sondern der sagt, was jetzt ist; derjenige, der uns unser ureigenes Innerstes eröffnet, und jener, der uns unser sich irgendwann verwirklichendes Ich entgegenhält. Γνῶθι σεαυτόν steht auf der Fassade des Orakels von Delphi: Die Zukunft ist in uns, nicht außerhalb von uns; wir selbst machen das Kommende zur Zukunft, die Zeit zur Zeit, das heißt mit anderen Worten, wir sind nicht der Zeit, sondern einzig und allein uns selbst ausgeliefert. Über den echten Wahrsager wird der Bruder Leo folgende Lehre vom heiligen Franziskus empfangen: »[E]r könnte […] nicht nur künftige Dinge, sondern auch die Geheimnisse der Gewissen und Seelen kundtun«.38 Und aus diesem Grunde stellt Empedokles bei der Aufzählung der vier bedeutendsten menschlichen Berufe den des Wahrsagers an die erste Stelle, ihm folgen die Dichter von Hymnen, die Ärzte und die Herrscher – jene also, die auf ihre Art die Ausformung ihres gegenwärtigen Lebens und das Aufdecken seiner Gesetzmäßigkeiten als die Aufgabe ihres Lebens ansehen. Deshalb verwendet Platon das Verb wahrsagen (μαντεύω) im Zusammenhang mit der Dichtung und der Philosophie im Passiv: Mit der infinitiven Verbalform (μαντεύεσθαι) verweist er auf jene innere Begeisterung, jene innere Verklärung, dank welcher der Philosoph zur Aufdeckung der in der Tiefe verborgenen Wahrheiten, nicht der kommenden Ereignisse gelangt. Der Wahrsager ist in dem, worüber er spricht, mitenthalten, erleidet dasselbe und steht ihm nicht neutral, wie von außerhalb gegenüber,11 und deshalb ist er, besser als irgendein anderer, geeignet, ins rätselhafte Dasein, das für den alltäglichen Menschen eine jede Rätselhaftigkeit entbehrende Gegebenheit12 ist, zu schauen. Der Wahrsager (μάντις) ist nicht nur etymologisch, sondern auch schicksalsmäßig ein Verwandter des Wahnsinnigen (μανικός), der wiederum ein Zwilling des Melancholikers ist – diese engen Beziehungen zeigen, dass alle drei Teile eines Zusammenhangs sind, der in unserer Kultur schon in Vergessenheit geraten ist: Heute sehen wir den Wahrsager als Scharlatan, den Wahnsinnigen als geistesgestörten Kranken, den Melancholiker einfach als Trübsinnigen an.

Der Melancholiker steht im Grenzbereich von Sein und Nichtsein – solcherart haben wir bisher den Wahnsinnigen und den Wahrsager charakterisiert, und so können wir auch die melancholischen Heroen bestimmen. Der Fall des Bellerophontes zeigt aber, dass diese Grenzsituation den Melancholiker mit Wissen, Einsicht und Weisheit ausrüstet. Vergleichen wir dies mit dem, was wir über den Wahrsager und über den von den Göttern abstammenden Wahnsinn gesagt haben, dann dürfen wir dieses Wissen als ein tieferes betrachten und darin auch den Ursprung der Philosophie sehen. In einem in seinen Jugendjahren verfassten und uns fragmentarisch erhalten gebliebenen Dialog über die Philosophie verfolgt Aristoteles die Liebe zur Weisheit historisch bis zur urhellenischen Theologie, zu den orphischen Lehren und bis zu den persischen Magiern zurück und hält den Vorgang der Verinnerlichung der Philosophie für verwandt mit dem des Eingeweihtwerdens in die Mysterien (denken wir nur an Herakles, der infolge der Einweihung wahnsinnig, melancholisch – und tief blickend wurde), und ähnlich wie Platon bezeichnet er die in die Mysterien Eingeweihten als Philosophen. Wir haben gesehen, dass Platon der Verklärung der Wahrsager durch den Gebrauch des Verbes »wahrsagen« in der Passivform Ausdruck verleiht, und auch der junge Aristoteles betrachtet die Passivität als den für die Einzuweihenden bezeichnenden Zustand (das heißt derjenigen, die der Weisheit zugänglich sind und zur philosophischen Sicht vorbereitet werden sollen). »Jene, die eingeweiht werden, sollen die Dinge nicht aufgrund ihres Sinnes zu erfassen suchen (μαϑεῖν), sondern sich eine Art inneren Zustand zu eigen machen (μαϑεῖν)«.39 Das Pathos bedeutet gleichsam Leidenschaft, Schicksal, Leiden und Erleben – das heißt, im Gegensatz zu der Mathesis, zum Erkennen, meint es keine objektive, rationale Erfassung der Dinge (wobei der Ausdruck »rational« kaum dazu angetan ist, diesen Hergang zu charakterisieren), sondern die innerliche Vereinigung mit denselben, ihr Erleiden im weiteren Sinn des Wortes. Das Pathos, bzw. seine Ausübung, führt zu jener Erleuchtung, die bei Platon der Schlüssel zum Erblicken der Ideen, bei Aristoteles der zum tieferen Verständnis des Seins geworden ist (ἔλλαμψις). Der echte Philosoph ist daher auch ein Wahrsager, da ihn aber dadurch, dass er auch Wahrsager ist, gewisse Stränge an den Wahnsinn binden, ist er gleichzeitig ein Melancholiker. Auch er steht im Grenzbereich zwischen Sein und Nichtsein und ist, wie der Wahrsager Heraklit, gezwungen, immer wieder an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren: zur Negativität nämlich; die aber nicht das Gegenteil eines als positiv empfundenen Seinszustands darstellt, sondern das Sein selbst, die vollkommene, einzige Wirklichkeit ist. Ich weiß, dass ich nichts weiß – dieser Ausdruck des melancholischen Sokrates (denn auch ihn hielt Aristoteles für einen Melancholiker) ist nicht etwa eine Wortspielerei, sondern vielmehr ein Ausdruck der Ironie, der auf Bestürzung und Betroffenheit folgt. Und als er auf die Frage, ob es sich lohne, in den Ehestand zu treten, den Aufzeichnungen des Diogenes Laertios zufolge,40 antwortete: Egal was du auch tust, du wirst es bereuen, legte er wiederum von der tieferen Berufung des Philosophen Zeugnis ab: den Lernbegierigen an die Grenzen von Sein und Nichtsein zu verbannen, nicht, um ihn der Verzweiflung preiszugeben, sondern damit er mit sich selbst ins Reine komme. (Die teuflische Schlussfolgerung, dass wir gerade dann der Verzweiflung anheimfallen, wenn wir mit uns selbst ins Reine gekommen sind, ist schon das Werk der barocken Seinsauffassung bzw. des treuesten Sokrates-Schülers Kierkegaards.) »Was verdiene ich zu erleiden oder zu erlegen, weshalb auch immer ich in meinem Leben nie Ruhe gehalten, sondern unbekümmert um das, was den meisten wichtig ist, um das Reichwerden und den Hausstand, um Kriegswesen und Volksrednerei und sonst um Ämter, um Verschwörungen und Parteien, die sich in der Stadt hervorgetan, weil ich mich in der Tat für zu gut hielt, um mich durch Teilnahme an solchen Dingen zu erhalten, mich mit nichts eingelassen«.41 (Aufzeichnungen über den anderen melancholischen Philosophen, Empedokles, zeigen ebenfalls, dass er die Freiheit liebte, jede Art der Macht verachtete und das ihm angebotene Amt des Königs zurückgewiesen hat.)

Der melancholische Sokrates, der besessene Erforscher der Wahrheit – sein Wahnsinn, seine Liebe zur Weisheit (Philosophie) und die daraus folgende schwere Melancholie erlauben es ihm, verborgendste Geheimnisse zu schauen. Der Vorwurf, den die Athener gegen ihn vorgebracht haben und der bei Sokrates folgendermaßen Niederschlag fand: »mich […] beschuldigt haben ohne Grund, als gebe es einen Sokrates, einen weisen Mann, der den Dingen am Himmel nachgrübele und auch das Unterirdische alles erforscht habe«,42 war im tieferen Sinne richtig: Hat Sokrates selbst nicht mehrmals betont, dass sein Geist (δαίμων) ihm immer das Kommende verkünde? Doch der Dämon, der sich erst viel später als böser Geist entpuppte, ist nicht nur für das Zukünftige verantwortlich, sondern auch Ursprung der Besessenheit – und Ursache seiner Melancholie ist vielleicht gerade diese nie endgültig geklärte Beziehung zur außerirdischen Welt. Dies führte bei Bellerophontes zum Wahnsinn, dieses unnahbare Schicksal verstörte Aias, und die Heimatlosigkeit des zwischen dem göttlichen und dem irdischen Sein Stehenden führte Herakles zuerst in den Wahnsinn, später dann auf den von ihm selbst errichteten Scheiterhaufen. Und dasselbe beunruhigte den sizilianischen Empedokles, dessen Name ebenfalls unter den von Aristoteles aufgezählten melancholischen Philosophen zu finden ist: »Denn sie [die Gottheit, L. F.] ist auch nicht mit menschenähnlichem Haupte an den Gliedern versehen, nicht schwingen sich fürwahr vom Rücken zwei Zweige, nicht Füße, nicht schnelle Knie, nicht behaarte Schamglieder, sondern ein Geist, ein heiliger und übermenschlicher regt sich da allein«.43 Dies war es, was den Geist des Bellerophontes vernebelte, und auf seine Art ist auch Empedokles als Besessener zu betrachten, der zwar nicht an den Göttern zweifelte, ihr Sein aber so weit auflöste, dass er gezwungen war, den Pfad in Richtung Mystik einzuschlagen. Er selbst rief sich zum Gotte aus, der als Sühne seiner im früheren Leben begangenen Sünden lange Zeit außerhalb der Welt der Götter, auf dem mühseligen Pfad des Lebens wandelnd, verweilen musste: »[M]ehr bin [ich] als die sterblichen, vielfachem Verderben geweihten Menschen«:44 unsterblicher Gott (Θεός ἄμβροτος), der sich über alle Rätsel des irdischen Lebens im Klaren und diese aufgrund seines Wissens von außen zu betrachten in der Lage ist: »Denn engbezirkt sind die Sinnes Werkzeuge, die über die Glieder gebreitet sind; auch dringt viel Armseliges auf sie ein, das stumpf macht die Gedanken. Und schauten sie in ihrem Leben vom (All)leben nur kleinen Teil, so fliegen sie raschen Todesgeschicks wie Rauch in die Höhe getragen davon, von dem allein überzeugt, worauf jeder einzelne gerade stieß bei seinen mannigfachen Irrfahrten, und doch rühmt sich jeder das Ganze gefunden zu haben. So wenig ist dies für die Menschen erschaubar oder erhörbar oder mit dem Geiste umfaßbar«.45 Das Leben des Menschen ist ewiges Leiden: »O ewiges Geheimnis! was wir sind und suchen, können wir nicht finden; was wir finden, sind wir nicht«.46

Das sind schon Hölderlins Worte in seinem über Empedokles verfassten Drama, und wie die Heroen irrt auch Empedokles am Grenzrain jenseits des Menschseins, aber diesseits des Gottseins umher. Sein Wissen berechtigt ihn, über alles ein Urteil zu fällen, doch ist es gerade dieses Wissen, das ihn aus dem Rahmen des irdischen Seins verbannt hat: Wer alles durchschaut, dessen Heimat ist die Unendlichkeit oder, besser gesagt, die Heimatlosigkeit. Ob Empedokles, diese historische Figur, wirklich alles gewusst hat, bleibt als offene Frage stehen (seine Zeitgenossen meinten »ja«, und auch Lukrez schrieb später über ihn: »Ut vix humana videatur stirpe creatus«47 – als ob sein Vater kein Sterblicher gewesen wäre); wichtiger aber ist, dass er selbst in dieser Überzeugung gelebt hat. Diese Überzeugung aber reichte aus, dass ihm das gleiche Schicksal zuteilwurde wie den Heroen: Seine übermenschliche, außerordentliche Leistung (er war der ausgezeichnetste Arzt seiner Zeit), sowie die Zerklüftung seiner Seelenbereiche (er war Philosoph, das heißt Wahrsager, demzufolge Wahnsinniger bzw. Ekstatiker) sind voneinander nicht zu trennen. »So ward auch mir das Leben zum Gedicht«,48 legt ihm wiederum Hölderlin in den Mund, nicht ohne eine gewisse romantische Voreingenommenheit einer scheinbaren Abrundung gegenüber (denn was von außen gesehen als Dichtung erscheint, erscheint von innen her als eine Anhäufung prosaischer Zerrissenheit). Es gibt aber keine Abrundung: Auf dem Empedokles darstellenden Gemälde von Luca Signorelli im Dom von Orvieto scheint der die Sterne beobachtende Philosoph aus dem Bilde herauszufallen, womit die geschlossenen Regeln der Renaissance-Perspektive ziemlich zerstört werden. Das ist der Fall des Empedokles (natürlich auch bei Hölderlin), und er war es, dem sich Hölderlin verwandt fühlte, auch Novalis, und über den – und zwar in alle Maße entbehrender Prosa – Nietzsche eine Tragödie verfassen wollte. Seine Melancholie ist eine vielfach zusammengesetzte: Der Glaube an seine eigene Göttlichkeit machte ihn im platonischen Sinne zum Besessenen; die Erforschung der Vergänglichkeit führte ihn über die Grenzen des Seins hinweg: Seinem Schüler Pausanias vermittelte er, wie der Scheintote ins Leben zurückzuholen sei, und den Erzählungen des Herakleides Pontikos zufolge hat er viele Menschen aus dem Reiche Persephones zurückgebracht; an die Grenzen von Sein und Nichtsein gelangend, erhielt er Einblick in die Rätsel des Seins. Deshalb ist auch sein Tod kein alltäglicher: Wer das Leben und den Tod zu relativieren vermag, für den ist auch der Tod kein Tod als solcher, sondern eine Vervollkommnung. Nicht im christlichen Sinne, sondern dem griechischen Gedankengut entsprechend: Im Verhältnis zur Ausschließlichkeit des Seins werden Leben und Tod zweitrangig. Das Sein beansprucht uns auch jenseits des Todes; die Erkenntnis dieses Tatbestandes ist für den Menschen zugleich erhebend und niederschmetternd. Notwendigerweise sind uns auch über den Tod des Philosophen zwei Berichte überliefert worden. Dem einen zufolge haben ihn seine Genossen am Morgen nach dem Opferfest nicht mehr aufgefunden. Ein Diener berichtete ihnen, dass er gegen Mitternacht von der Stimme des Empedokles aufgeweckt worden sei und, sich von seinem Lager erhebend, ein loderndes, fackelartiges himmlisches Licht erblickt habe. Pausanias, der Schüler von Empedokles, habe dann das Rätsel entwirrt; die Götter hätten Empedokles zu sich gerufen, und er habe die Welt nicht als Mensch, sondern als Gott hinter sich gelassen. Dem zweiten Bericht zufolge haben die Götter Empedokles nicht zu sich gerufen: Er selbst habe seinem Leben ein Ende bereitet und sich, um seine Göttlichkeit zu beweisen, in den Krater des Ätna hinabgestürzt. Doch auch dieser Sprung hat seinen tieferen Sinn: Einerseits betrachteten die Griechen den Sprung in die Tiefe als eine Form der Ekstase und somit als einen schönen Tod (εὺJάνατος) (denken wir hier an die göttliche Verbindung von Melancholie und Ekstase), andererseits aber brachte das Verbrennen im Feuer Reinigung. Von der irdischen Schlacke wird der Sterbliche im Feuertod gereinigt (καJάρσιον πῦρ), und deshalb ist das Feuer auch die Bedingung zum Eintritt in ein Leben höherer Ordnung.13 Dem griechischen Denken gemäß sicherte der Feuertod des Herakles, der eine unvermeidliche Konsequenz seiner Melancholie war, ihm ebenso die Unsterblichkeit wie dem Philosophen Empedokles.14 So wird das Feuer zur Quelle eines Lebens höherer Ordnung: es ist Geist, Logos (Heraklit).15 Der selbst gewählte Feuertod des Philosophen Empedokles vollzog sich im Banne des »Auferstehens« und führte ihn aus jener irdischen Welt heraus, die für Platon Gefängnis, für Empedokles aber Hölle war. (So Schiller über den vergeistigten Herakles, der den Feuertod erlitt: »Er ist des Irdischen entkleidet.«) Dem Tode folgte aber nicht unbedingt ein Auferstehen; wie der echte Wahrsager außerhalb der Zeit stehend auf die Beschaffenheit der menschlichen Zeit herabblickt, so ist auch die Auferstehung kein sich innerhalb der Zeit vollziehender Akt. Er überschreitet das Leben ebenso wie den Tod. Wie aber der Tod nicht für jeden die Auferstehung bedeutet, so haben auch nur wenige schon im Leben an der Auferstehung teil. Die Auferstehung ist, wie schon der Begriff andeutet, eine seelisch-körperliche Erscheinung; ihre griechische Entsprechung (ἔγερσις) bedeutet auch Erwachen, was so viel wie Heraustreten aus einem vorangehenden Zustand ist. Und da dieses Heraustreten (ἔκστασις) an einen Augenblick geknüpft ist, hat es (nicht nur grammatisch gesehen) absolut gegenwärtigen Charakter. Aus unserem bisherigen Gedankengang folgt, dass die Auferstehung jenen zuteilwird, die nicht nur die Gesetze des Innerzeitlichen, sondern auch die über die Zeit hinausgehenden erkennen und die deren Möglichkeiten und Grenzen erblicken. Das sind: die Wahrsager, die Wahnsinnigen, die außerordentlichen Menschen, die Philosophen – mit einem Wort, jene, die wir Melancholiker nennen dürfen.

Dem Melancholiker wird in jedem Augenblick seines Lebens die Auferstehung zuteil – aus diesem Grund stirbt er nicht, zumindest nicht im körperlichen Sinne. Das die Auferstehung einbeschließende Leben ist ein ganzes Leben, und somit wird es nicht vom Tode, sondern vom alltäglichen Leben bedroht, das die in jedem gegebenen Augenblick mögliche Auferstehung, die Ekstase zurückweist. Deshalb hassten die melancholischen Heroen die Menschheit (schon als Heroen unterscheiden sie sich von allen übrigen Menschen), und die Philosophen verachteten sie, wenn sie sie auch nicht ausgesprochen hassten, da sie in Unwissenheit und Dunkel stecken blieb. Wenn nämlich die Seele in den Zustand des Wissens gelangt, dann wird sie vollkommen, mit Platons Worten: »[S]olcher Erinnerungen also sich recht bedienend, mit vollkommener Weihung immer geweiht, kann ein Mann allein wahrhaft vollkommen werden«.49 Wer an der Auferstehung teilhat, erhebt sich aus der Welt der irdisch Seienden in Richtung auf das wahrhaft Seiende (εἰς τὸ ον οντως).50 Dieses Sicherheben müssen wir aber, dem platonischen Anamnesisgedanken ähnlich, metaphorisch, über den wörtlichen Sinn hinausgehend verstehen und auf das irdische Sein als solches beziehen: zur Entfaltung und zum Erkennen unseres »hiesigen« Lebens. Dies ist aber, wie wir gesehen haben, nur mit gewissen Fähigkeiten Versehenen gegeben – Auserwählten, die, da sie über alles hinwegzusehen vermögen, von den anderen isoliert und wegen ihres Wissens und Sehvermögens zu Ausgestoßenen werden. Dieses Ausgestoßensein ist ein zweifaches: Sie werden nicht nur von der Welt der Übrigen ausgeschlossen, sondern müssen auch aus sich selbst heraustreten. Ihr Wissen ist daher nicht erhebend, sondern niederschmetternd und bedrückend. Sie sind einfach nicht fähig, so zu leben wie die anderen – und da sie alles sehen, ist ihnen auch die Fähigkeit zu vergessen genommen.16 Die über göttliches Wissen verfügenden, aber im irdischen Schicksal verhafteten Wahrsager, die sich in der Welt des Unsichtbaren heimisch fühlenden, aber von verschiedenen Krankheiten bedrohten Wahnsinnigen, die die Welten des Seins und Nichtseins, die sich mit- und ineinander verweben, suchenden Philosophen, mit anderen Worten, all jene, die melancholisch sind, sie sind zugleich einsam; und da sie nicht nur Teil des menschlichen, sondern auch des übermenschlichen Seins sind, bereitet ihrer Einsamkeit auch der Tod kein Ende.

Diese Einsamkeit ist nicht die der Romantiker: Die Welt der griechischen Alltäglichkeit hat versucht, diesen aus Einsamkeit gebauten Panzer der Melancholiker zu durchbrechen und im Gegensatz zur Neuzeit zu verinnerlichen oder doch zumindest ihre Sehweise zu verstehen. Die Möglichkeit einer vom melancholischen Seinsverständnis untrennbaren Auferstehung in dieser Welt gaben die Mysterien; und obwohl sie mit der Melancholie scheinbar nichts gemeinsam haben, deuteten Sehweise und Wissen der Eingeweihten in Richtung auf die Melancholie.17 Die Mysterien sind deshalb als die gefährlichsten Experimente der griechischen Kultur anzusehen: Tausende wollten sie an jenem Wissen teilhaben lassen, das den Menschen zum Melancholiker (das heißt zum Wahrsager, Wahnsinnigen, Philosophen) machte. Doch gestattet das grundlegendste Gesetz des menschlichen Zusammenlebens nicht, dass ein jeder allwissend, alles sehend und letztlich zum isolierten Einsamen werde. Es ist daher, wenn die Melancholie einen Einzelnen vernebeln soll, notwendig, dass die anderen keine Melancholiker sind; damit er in der Wahrheit lebe, ist es notwendig, dass ihn eine Welt der Nichtwahrheit umgebe;18 und um tiefschürfend sein zu können, ist es notwendig, dass es irgendwas in der Tiefe gebe, es muss also Oberfläche und Tiefe geben. Die Wahrheit und das Wissen bilden nicht den Besitz eines jeden, sie sind so besehen nicht demokratisch – im Gegensatz zu den Mysterien, die sowohl im Hinblick auf ihre politische wie ihre geistige Intention »demokratische Institutionen«19 sind. Gerade deshalb sind sie die geheimnisvollsten Gebilde der griechischen Kultur: als ob man versucht habe, Wasser und Feuer zu vermengen. Doch heben sie sich in den Mysterien nicht auf: Nur ein ganz kleiner Teil der Eingeweihten wurde zum Melancholiker (und fügen wir hinzu, dass der, der von sich aus melancholisch war, sozusagen notwendigerweise zum Eingeweihten wurde), das heißt, dass sich die Mysterien als solche nicht auf die Melancholie ausrichteten, doch für die Eingeweihten die Möglichkeit enthielten, zu Melancholikern zu werden. Aber nicht nur dies, denn sie deuten auch jenen Beziehungszusammenhang an, in dem sich die Melancholiker hoffnungslos verirren. Wir haben es im Falle der Heroen gesehen: Ihre Melancholie hatte keine greifbare Ursache, hätte sie eine, wäre sie ja sogar heilbar. Doch gibt es Situationen, die eine im verborgenen schwelende Melancholie zum Ausdruck bringen können: Aias werden die Waffen des Achilles genommen, Bellerophontes erhebt sich gen Himmel, Herakles besucht die Unterwelt etc. Die Mysterien sind in diesem Sinne ebenfalls Grenzsituationen. Die Einweihung – zumindest ist Dion Chrysostomos dieser Ansicht – hat die gleiche Wirkung wie die Betrachtung des Universums,20 oder anders gesagt, es wird den Eingeweihten der Einblick in möglichst tief greifendes Wissen gewährt. Platon zufolge waren wir vor Beginn des irdischen Daseins Teilhaber an einer Glückseligkeit bringenden Einweihung, das heißt, dass die irdische Einweihung schon der mittlere Aufzug eines riesigen Schauspiels ist: die Heraufbeschwörung des außerirdischen, pränatalen und postmortalen Seins. Im Verlauf dieser Heraufbeschwörung erinnert sich die Seele an alles, was sie einst erblickte, als sie noch mit der göttlichen Seele gemeinsam einherschritt, und »daher« – denken wir nur an die eigentliche Bedeutung des Wortes Philosophie – »wird mit Recht nur des Philosophen Seele befiedert: denn sie ist immer durch Erinnerung soviel als möglich bei jenen Dingen, bei denen Gott sich befindend eben deshalb göttlich ist«.51 Echtes Wissen kann nur derjenige sein eigen nennen, der seine Erinnerungen richtig gebraucht, nur er kann ein ganzer Mensch sein, und nur er kann an einer vollständigen Einweihung teilhaben (τελέομς ἀεὶ τελετὰς τελούμενος). Sie macht den Menschen zum Wissenden; das höchste Wissen aber kennt die Grenzen des irdischen Seins nicht: Es zieht die Welt des Außerirdischen, das der Geburt vorangehende und das dem Tode folgende Sein in seinen Kreis hinein. Und so erinnert das Eingeweihtwerden in gewisser Weise an das Wahrsagen und Auferstehen; dieser Vorgang versetzt den Eingeweihten in ein Außerhalb der Zeit und vereint Geburt und Tod zu einem einzigen Augenblick, in dem er gleichsam der Lehre des Thales gehorcht, gemäß der sich Tod und Leben nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden und sich in der Gegenüberstellung wechselseitig relativieren. Deshalb hält Sophokles für die Glücklichsten jene, die in die Mysterien eingeweiht sind: Sie erkennen nämlich nicht nur den Tod im Leben, sondern erblicken das Leben im Tode. Das Wort »Einweihung« (ή τελευτή) selbst verweist auf dieses Heraustreten aus dem gewohnten Rahmen: Es ist dem Verb »beenden«, »sterben« (τελευτάω), verwandt,21 und seinen Stamm bildet das Wort τὸ τέλος, das gleichermaßen Ziel, Ende, Grenze, Entscheidung und Erfüllung bedeutet. Derjenige, der eingeweiht wird, stirbt in einem gewissen Sinne oder gelangt zumindest in eine intime Beziehung zum Tode. Der im 4. Jahrhundert lebende und den Mysterien feindlich gesonnene Firmicus Maternus nennt den in die Mysterien einzuweihenden Menschen Homo moriturus. Da aber der Tod ihn in die »wahrhaft seiende« Welt der Dinge hinwegführt, wird er auch neu geboren: Er kehrt seinem bisherigen Leben den Rücken. Den in die eleusischen Mysterien Eingeweihten wird das außerirdische, glückliche Leben garantiert, doch Gnade kann man nur unter der Voraussetzung einer symbolischen und freiwilligen Aufsichnahme des Todes erlangen.22 Der Tod selbst ist das wichtigste Mysterium; in seinem Werk über die Seele schreibt Themistios: »Wenn der Moment des Todes eintritt, erfährt die Seele etwas Derartiges wie jene, die in die großen Mysterien eingeweiht wurden. Deshalb besteht zwischen den Verben ›sterben‹ und ›eingeweiht werden‹ und den durch sie bezeichneten Handlungen eine Ähnlichkeit«.52 Sokrates meint, dass das rechte Philosophieren aus einer Vorbereitung auf den Tod bestehe, und Pindar schreibt über die, die in die Mysterien von Eleusis eingeweiht werden sollen: »Glückselig ist, wer […] den Weg unter die Erde betritt: er kennt das Ende des Lebens und dessen von Zeus gegebenen Anfang«.53

Vor den Eingeweihten erscheint die Zeit in neuen Farben: Das Vergehen und Entstehen, das Leben und der Tod folgen nicht zeitlich aufeinander, sondern vereinen sich im Augenblick. Die Zeit selbst ist nur das Ergebnis praktischer Trennungen. Empedokles vertritt die Ansicht, dass die zwei wichtigsten Triebfedern des Seins die Liebe und der Streit sind (φιλία und νεῖκος), das heißt Vereinigung und Trennung, die jedwede Erscheinung der Natur durchdringen. In den eleusischen Mysterien verehrten die Eingeweihten Demeter und Persephone, ihre Tochter, und diese zwei Gottesgestalten symbolisieren auch selbst das Sich-aneinander-Schmiegen von Leben und Tod. Demeter ist zum einen die Göttin des Korns, das heißt der Fruchtbarkeit, zum anderen auch die Verkörperung der unendlichen Traurigkeit: Nachdem Hades ihr die Tochter genommen und mit sich in die Unterwelt geführt hatte, irrten ihre Gedanken beständig in der Unterwelt umher. (In Athen ist der kultische Name der Toten: δημήτριοι) Persephone ist in ihrem Lebenswandel ebenfalls Gefangene dieser Zweiheit: Einen Teil des Jahres ist sie genötigt, im Hades zu verbringen, den anderen Teil aber darf sie, mit Erlaubnis von Zeus, zwischen den oberen Göttern verleben. Einerseits ist sie die Göttin der Unterwelt (eine mögliche Bedeutung ihres Namens ist: Durch-Mord-Vernichtende: πέρJειν + φόνος),23 andererseits steht sie, gleich ihrer Mutter, ebenfalls mit dem Ertrag der Blumen und des Korns in Beziehung. Als Göttin des Todes und der Fruchtbarkeit umfasst sie das All, und Liebe und Zwist erscheinen gemeinsam in ihrer Gestalt.24 Als Mitglied der göttlichen Welt verkörpert sie, ähnlich den übrigen chthonischen Göttern, die Gegensätze in einer Person; aber wie auch die Göttin der Erde ist sie doch eher eine Vertreterin der Schattenseiten des Lebens. Deshalb verlangt der Lebensweg der Eingeweihten Opfer: Der Tod ist nicht nur Erlösung, sondern auch das Vergehen von irgendetwas. Eben deshalb erzeugt das Wissen der Wahrsager, Wahnsinnigen und Philosophen Melancholie, weil es den Menschen an den Punkt des letztendlichen Unwissens, der ihm entzogenen Geheimnisse führt. In ihnen nimmt diese Unauflösbarkeit, die auch für die in den Mysterien verehrten Götter bezeichnend ist, Gestalt an; ihr Sein verdichtet alle Aspekte des menschlichen Seins zu einem Augenblick. Die zwölf Aufgaben des Herakles sind nicht ohne Grund auch so verstanden worden, dass sie den zodiakalen Übergängen der Sonne entsprechen. Der mit den chthonischen Göttern gemeinsam verehrte Herakles ist gleichermaßen im Winter und in der Nacht heimisch wie im Sommer und im Tageslicht; er errettet Theseus und Alkestis aus dem Reich der Unterwelt, doch bringt er selbst den Tod über seine nächsten Blutsverwandten.

Anschaulich wird der zweifache Charakter der Einweihung durch den Helden des apuleischen Romans Der goldene Esel charakterisiert: »Ich ging bis zur Grenzscheide zwischen Leben und Tod. Ich betrat Proserpinens Schwelle, und nachdem ich durch alle Elemente gefahren, kehrte ich wiederum zurück. Zur Zeit der tiefsten Mitternacht sah ich die Sonne in ihrem hellsten Lichte leuchten; ich schaute die Unter- und Obergötter von Angesicht zu Angesicht und betete sie in der Nähe an«.54 Apuleius erwähnt ganz bewusst die um Mitternacht glitzernd strahlende Sonne: Er dachte an die ägyptischen Mysterien. Den dortigen Vorstellungen nach folgen die seligen Toten dem Sonnengott, der ebenfalls das Reich der Toten (Eingeweihten) betritt. Auch den Griechen war diese Auffassung nicht fremd; Pindar zum Beispiel meint, dass die Sonne nachts das Reich der Toten erleuchte.25 Im Mithras-Mysterium wird Helios, einem erhalten gebliebenen Text der Mithras-Liturgie zufolge, als Gott der Unterwelt angerufen: »Helios […] wohnst du wirklich im Grunde der Erde, im Totengefilde«.55 Gleichzeitig wusste Apuleius als eingeweihter Fachmann der Magie, dass die Babylonier den ständig an seiner Stelle stehenden Planeten Saturn als die nächtliche Entsprechung der Sonne verehrten. Obwohl sein Licht schwach ist, nannten sie ihn strahlend und leuchtend, und dies wurde auch von anderen Kulturen übernommen: Den Aufzeichnungen Plutarchs zufolge hielten die Ägypter ihn für den nächtlichen Wächter (νυκτοὔπος), die Griechen nannten ihn den Sichtbaren (δ Φαίνων), riefen ihn Sonnenstern, die Inder aber verehrten in ihm den Sohn der Sonne. Der römische Astrologe Manilius setzte die Sonne und den Saturnus an die beiden Enden der Weltachse, und seiner Meinung nach erscheint vom Saturn aus gesehen die Welt im entgegengesetzten Blickwinkel. Dies erlangte aber erst dadurch wahre Bedeutung, dass zur Zeit des Hellenismus, im Rom des 1. und 2. Jahrhunderts, die Astrologen und Philosophen eine tiefe Entsprechung zwischen der Melancholie und dem Planeten Saturn entdeckt hatten (all jene, die im Zeichen des Saturn geboren werden, sind Melancholiker) – als also Lucius im Verlauf seiner Einweihung in die Mysterien am Erlebnis des Anblicks der mitternächtlichen Sonne teilhatte, da wandte sich Apuleius, ohne überflüssige Worte zu verschwenden, an die Verstehenden: Er verwies auf die tiefe, nie ganz zu fassende Beziehung zwischen den Mysterien und der saturnischen Melancholie bzw. machte durch die Erwähnung des Saturn das, was für die Griechen als Möglichkeit in den Mysterien schwelte, offensichtlich.26 Und als die Römer im letzten Monat des Jahres, im heiligen Monat des Saturn, die Todesgötter feierten, machten sie den Zusammenhang Saturnus-Melancholie-Mysterium noch eindeutiger: Dem römischen Glauben nach eröffnet sich zu dieser Zeit das innere Wesen der Welt, am 17. Dezember aber, am Tage der Saturnalien, erscheinen die Seelen der Toten; zusammen mit allem, was in der Erde ruht, kommen sie hervor, und mit dieser Auferstehung bricht auf der Erde eine dämonische Kraft los, die keinerlei Gesetze kennt.27 Saturnus (den Plutarch zu den chthonischen Göttern zählte) hat seine griechische Entsprechung in Kronos, und die Griechen feierten seinen Tag, an dem ebenfalls alle Dämme brachen, ähnlich: Für die Zeit des Hellenismus entwickelte sich die Vorstellung, dass Kronos nicht Sohn des Helios, sondern des Uranos und somit, väterlicherseits, auch Halbbruder der Lyssa, der Göttin des Wahnsinns, sei. Und was könnte – um den Zusammenhang noch weiter zu fassen – für die griechische Glaubenswelt und für das darin enthaltene Seinsverständnis bezeichnender sein, als jene Tatsache, dass der orphischen Theologie nach der melancholische Kronos über Seherfähigkeit verfügte: Promantis, das heißt, er sagt die Geheimnisse des Seins voraus. (Zur Zeit des Hellenismus verbreitete sich die Vorstellung, dass, wer wahrsagen kann und die esoterischen Riten der Mysterien kennt, im Zeichen des melancholischen Planeten geboren ist.) Es erscheint das logisch kaum nachzuvollziehende und dennoch zusammenhängende und unzerreißbare Netz, das die Melancholie umgibt und dessen Knoten das Wahrsagen, der Wahnsinn, die Philosophie, das Eingeweihtsein in die Mysterien, das Relativwerden von Leben und Tod und die im Sinne der Antike verstandene Auferstehung sind.

Der, der im Besitz des Wissens ist, wird vom Nichtwissenden isoliert; der Wahrsager spricht zu jenen, die unklar sehen; der Wahnsinnige verlässt den Rahmen des Seins; in die Mysterien führt für alle ein gemeinsamer Weg, doch gegen Ende der Einweihungen in die Mysterien fängt die Menge an, sich aufzulösen, und bei ihren letzten Akten geht jeder für sich allein seinen eigenen Weg. Die Mysterien sind demokratisch, und dennoch können, dürfen die Eingeweihten mit Recht von einem Auserkorensein sprechen. Der Weg steht allen offen, doch nicht jeder erreicht sein Ende.28 Das Ende ist, wie wir wissen, der Anfang selbst. Der Kenner der Weisheit hat in alles Einblick, die Dinge offenbaren ihm ihre verdeckten Gesichter und heben den Eingeweihten in eine neue, von allem Bisherigen sich unterscheidende Welt hinüber. Die mit der dionysischen Ergriffenheit einhergehende Lethargie führt nach Nietzsche zu Folgendem: »Der Grieche wollte absolute Flucht aus dieser Welt […]: er vertröstete sich kaum auf eine Welt nach dem Tode, seine Sehnsucht gieng höher, über die Götter hinaus, er verneinte das Dasein sammt seiner verführerischen Götterspiegelung«.56 Das Verleugnen des Seins ist aber kein absolutes Leugnen; die offene Welt der Sehnsucht ist ein neues, wenn auch nie sich erfüllendes Sein. Dieses unterscheidet sich qualitativ von allem Seienden: In ihm stürzen die Abgeschlossenheiten in sich zusammen, und da es der tiefe Einblick ist, der alles lenkt, gibt es nichts, das sich vor dem Angesicht des Beobachters mit dem Anschein des Bleibenden ausrüsten könnte. Der Kenner der Weisheit, der Wahrsager, der Wahnsinnige, das heißt der Melancholiker als solcher, ist nicht wegen seiner Sehnsucht nach einer Abtrennung einsam, sondern weil er gar nicht anders leben kann: Wer einmal durch etwas hindurchgeblickt hat, dem kostet es außerordentliche Kraftaufwendung, seine Augen zu verschließen und den Anschein zu erwecken, als ob es darüber hinaus nichts gäbe. Wer etwas weiß, kann nur zum Schaden seines eigenen Geistes den Nichtwissenden spielen. Selbst das Wort, die verdinglichte Verbindung des Geistes wird aufgelöst: Es verliert seine Endgültigkeit, und so, wie das Wort für andere eine Möglichkeit darstellt, wird es für den Melancholiker eher zum Hindernis. »Wenn du dich hütest, auf feste Namen Wert zu legen, wirst du dich im Alter reicher an Einsicht zeigen«,57 schreibt Platon. Wer in die inneren Rätselhaftigkeiten des Seins Einblick gewinnt, für den verlieren die Wörter an Bedeutung, sie zerbersten, werden rissig und enthüllen ihre eigene Hinfälligkeit. Der Melancholiker wird zum Schweigen gezwungen. Selbst Aristoteles wurde auf die äußeren Zeichen dieses Tatbestandes aufmerksam: »Denn einige verstummen völlig, und zwar besonders diejenigen von den Melancholikern, die in Ekstase geraten«.58 Diese äußere, dem horchenden Fremden auffallende Ruhe führt uns aber zum Wesentlichen der Mysterien: Die Eingeweihten müssen über all das, was sie erblickt haben, schweigen (das Wort »Mysterium« selbst stammt von dem Verb μμεῖν: »zumachen«, »verschließen«). Über die Zeremonien der Demeter schreibt Homer: »Heilige Bräuche, die keiner verraten, verletzen, erforschen darf: denn heilge Scheu vor den Göttern bindet die Stimme. Selig, wer von den irdischen Menschen je sie gesehen! Wer aber unteilhaftig der Weihen, der findet ein andres Schicksal, wenn er verblichen weilt im dumpfigen Dunkel«.59 Das im Mysterium empfangene Wissen ist unaussprechlich (ἄρρητος), sogar die Namen jener Priester, die die Zeremonien vollzogen, waren heilig und durften nicht ausgesprochen werden. Selbst in amtlichen Schriften wurden nur die Namen ihrer Väter und ihre Geburtsstätten erwähnt. Die wichtigsten Lehren der Mysterien wurden auch nicht wörtlich weitergegeben, sondern durch Veranschaulichung (ἐποπτεία). So bedeutet der Name der Priester wortwörtlich auch Zeigen (ἱεροάντης).29 Der Befehl zum Schweigen kommt von außen – doch wer am Wissen wirklich teilhatte, der bedurfte dieses Befehls nicht. Sein Schweigen war kein Sich-in-Schweigen-Hüllen vor den Horchenden und Neugierigen, sondern wurde für ihn zu einem inneren Bedürfnis. Plutarch: »Von Menschen lernt der Mensch zu reden, von den Göttern zu schweigen.«60 30 Das innere Schweigen, das Bedürfnis nach Ruhe lassen die Welt so sehr verkarsten, dass sie sich wie im Nichts verliert; wir nähern uns der Mystik, deren Vertreter, und dies ist nicht dem Zufall zuzuschreiben, überwiegend ebenfalls aus den Reihen der Melancholiker stammen: »Nimm heilige Opfer des Gebetes entgegen […] du Unaussprechlicher, Geheimer, durch Schweigen Tönender«,61 steht in der zu Beginn der Zeitrechnung entstandenen hermetischen Schrift Poimandres. Das unendliche Wissen um Gott (Liebe) führt zur Unaussprechlichkeit Gottes, und das tiefe, ehrliche Durchleben dieser Unaussprechlichkeit kann in die Lage versetzen, Gott selbst vernichten zu müssen: »Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier: / Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir«,62 schreibt Angelus Silesius später. Der Grund des Seinsverständnisses der griechischen Melancholiker wird von diesem Erlebnis der Unfassbarkeit durchzogen: Wenn der Mensch zugleich mehr und weniger als er selbst ist, wenn das Sein die Bürde des Nichtseins trägt, die Gegenwart die der Zukunft, das Leben die des Todes, dann ist die Möglichkeit, über die Welt zu sprechen, nicht gegeben, weil es nichts gibt, worüber man sprechen könnte. Dies ist die größte Gefahr der Mysterien in Bezug auf den griechischen Alltag: Wer nicht bis zur Erkenntnis der Relativität von Leben und Tod gelangt, für wen die Sehnsucht nicht zur Ausschließlichkeit wird, dem muss das Schweigen befohlen werden; wer aber dahin gelangt, der bedarf des Befehls nicht; der ist im ewigen Schweigen versunken, der erkennt im Entstehen die Vergänglichkeit, im Ganzen den Mangel. Für die übrigen Menschen ist er rettungslos verloren.

Der griechische Arzt Aretaios betrachtete die Furcht vor den Göttern und Dämonen als ein Zeichen der Melancholie. Das Leben der melancholischen Helden und Philosophen aber beweist, dass der den Göttern zuteilwerdende Hass noch stärker als die Furcht vor den Göttern ist. »Der Notwendigkeit […] sträuben sich auch Götter nicht«,63 sagte im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung Pittakos, und vielleicht ist das der bezeichnendste Zug in dem halbherzigen Verhältnis der griechischen Melancholiker zu ihren Göttern. Der Mensch ist einerseits das unvollkommene Abbild des Gottes, andererseits aber, dank seines Geistes, selbst ein göttliches Wesen. So formuliert, scheint dieser Gedanke christlich inspiriert zu sein, jedoch war der Gedanke des irdischen Jammertals auch den Griechen nicht fremd. Nach Empedokles entstammt alles dem der Welt halber erlittenen Leiden, der der menschlichen Ungerechtigkeit halber empfundenen Traurigkeit. Die alten Traker empfingen ihre Neugeborenen weinend und veranstalteten zu Ehren ihrer Verstorbenen ein Freudenfest – die Lebensanschauung der Melancholiker war ihnen wohl kaum fremd. Angesichts der Menschheit überkam den melancholischen Heraklit das Weinen, den ebenfalls melancholischen Demokrit aber das Lachen. Doch war es für den griechischen Geist, Sokrates verweist darauf am Ende des Symposions, selbstverständlich, Tragödie und Komödie in einer engen Beziehung zueinander aufzufassen. Weinen und Lachen haben ihre auf alles sich erstreckende Ursache in der Verzweiflung. Der Mensch ist sterblich, obgleich er weiß, was die Unsterblichkeit bedeutet – doch trotz der inneren Verwandtschaft von Sterblichkeit und Unsterblichkeit lassen sich beide nicht verwechseln. Dem griechischen Denken nach lassen sich Tod und Unsterblichkeit nur innerhalb der Grenzen dieser geschlossenen Welt vorstellen, und es gibt nichts Neues in dieser Welt.31 Darin wurzelt die Melancholie der Heroen und Philosophen: Ihr Geist richtet sich auf die Unendlichkeit, auf die Auflösung jedweder Gebundenheit und Begrenzung, auf die im weitesten Sinne des Wortes zu verstehende Unordnung, doch macht die Abgeschlossenheit der Welt, die letztendliche Begrenzung des Seins und seine Ordnung dies nicht möglich.32 »Die Notwendigkeit verknüpft unser Sein zwar, aber weder mit irgendeinem anderen noch mit uns selbst«, sagt Sokrates in Platons Dialog Theätet:64 Während sich alles kreisförmig zu einem verbindet, erfährt der Mensch seine eigene Einmaligkeit ebenso als Ausschließlichkeit wie als Ausgeliefertsein. Seine innere Grenzenlosigkeit erweckt sein Empfinden nicht nur für die Eingrenzung seines Lebens, sondern auch für die damit einhergehende Bürde: dafür, dass die Willkür einer unbekannten Macht ihn dem Sein ausgeliefert hat. Diese Willkür, das notwendig als Zwang empfundene Schicksal, vor dem er sich – Leben von ihm empfangend – nur auf Kosten seines Lebens erretten kann, wacht furiengleich über seinem Leben. Der orphischen Vorstellung zufolge verhält sich die Göttin der Notwendigkeit und des Zwanges, Ananke, wie eine Furie. »Als Dasselbe und in Demselben verharrend ruht es für sich und so verharrt es standhaft an Ort und Stelle. Denn die machtvolle Notwendigkeit (Ananke) hält es in den Banden der Grenze, die es rings umzirkt […]. Es ist ja nichts und wird nichts anderes sein außerhalb des Seienden, da es ja die Moira daran gebunden hat, ein Ganzes und unbeweglich zu sein […], da eine letzte Grenze vorhanden ist, so ist es vollendet von (und nach) allen Seiten, einer wohlgerundeten Kugel Masse vergleichbar, von der Mitte her überall gleichgewichtig […]. Sich selbst […] ist es von allen Seiten her gleich, gleichmäßig begegnet es seinen Grenzen«.65 Doch wenn es außerhalb dieses Seins nichts gibt und auch nichts geben wird, ist es dann vorstellbar, dass die Bande der Grenze es umwickeln? Obwohl das, was jenseits der Grenzen ist, nicht ebenso zum Sein gehört? Und wenn sich jenseits der Grenzen einzig und allein Ananke aufhält, die das gesamte Sein in ihrer Macht hält, bedeutet es so nicht, dass das Ganze des Seins von Ananke durchdrungen ist? Für den Melancholiker verdichtet sich das Ganze zu Ananke; und dies ist der Augenblick, da ihn die Sehnsucht überkommt, ihrer Macht zu entfliehen, aus dem Sein herauszutreten, und dies ist auch der Augenblick jener Erkenntnis, dass eine Flucht vergeblich wäre, denn auch dort, in seinem Herzen, nistet Ananke. Dadurch, dass er dem Sein ausgeliefert ist, ist er auch sich selbst ausgeliefert.

Die Erkenntnis dessen hat die Melancholiker in die Verzweiflung gestürzt, sie aber auch zur Vollbringung atemberaubender Taten veranlasst. Bellerophontes wollte sich über alles hinweg erheben, doch seiner Hybris33 und seines Übermuts wegen musste er büßen. So schreibt Pindar über ihn: »Ein Gelüsten, das die Gebühr Übertritt, das endet bitter«,66 und fügt an anderer Stelle hinzu: »Gott zu sein verlange nicht, […] Menschen ziemt menschliches Teil«.67 Bellerophontes wollte aus den zirkelnden Bewegungen des maßhaltenden Seins hinaustreten, wahrscheinlich aus ähnlichen Überlegungen heraus, aufgrund derer der Sophist Antiphon das Leben für armselig hält: »Das ganze Leben ist leicht anzuklagen […], denn es enthält nichts Überschwengliches (περιττός), nichts Großes und Erhabenes, sondern nur Kleines, Schwaches, Kurzdauerndes und mit großen Schmerzen Verbundenes«.68 Bellerophontes wollte an das Nichtsein der Götter glauben – und nachdem diese ihn auf die Erde zurückversetzt hatten, lebte dieser Glaube als die Empfindung eines Mangels in ihm fort: Nicht der Mangel eines so oder so geratenen Seins war es, den er empfand, sondern das irdische Sein als solches wurde zu einem Mangel. Man kann nicht wissen, um was für einen Mangel es geht; die geschlossene Welt, die alles umgreift, ist in der Lage, auch den Mangel erfolgreich zu verdecken. Für Bellerophontes aber wird dieser Mangel zur ausschließlichen Lebenssituation – ohne ihn aber auch nur andeutungsweise zu beruhigen; im Gegenteil, sie macht ihn, wenn man so will, noch unglücklicher. Unendlich ist die Tiefe der Schlucht, in die er hineinstürzt. Die Erklärung für sein Empfinden eines Mangels können wir, die Kinder einer späteren, aber nicht minder bedrückenden Epoche, ähnlich wie für die Empfindungen der übrigen Melancholiker, nur erahnen: Es war die Abgeschlossenheit ihrer Welt, die sie bedrückte und handlungsunfähig machte. (Der spartanische Lysander wurde zum Melancholiker, weil er, nachdem er alle Macht an sich gerissen hatte, nicht mehr wusste, was anzufangen.) Antiphon vermisste im Leben zu Recht, was überschwänglich ist (περιττός); der melancholische Empedokles schrieb auch: »Und nichts vom All ist leer noch übervoll (περισσός)«.69 Die Melancholiker sind gerade deshalb herausragend, weil das Leben in ihnen den Zustand der Überfüllung erreicht: Das Sein quillt durch sie über sich hinaus. Dies erklärt auch ihr nicht zu linderndes Empfinden eines Mangels: Ist die Welt des Maßes einmal verlassen, ist ein Überquellen ohne Entleerung nicht vorstellbar. Solcherart erleidet das All in ihrer Persönlichkeit einen Bruch. Daher stammt das Gefühl des Auserwähltseins der Melancholiker, aber auch der bis zur Selbstvernichtung sich steigernde Hass. Darin sind sie stark, hervorragend, aber auch am hinfälligsten. Ihre Kraft ist unendlich, da sie das Ende kennengelernt haben, doch sind sie unglücklich, zumal sie, die Vergänglichkeit des Menschen erfahrend, ihr Vertrauen in das Sein verloren haben. Ihre Kraft und ihre Hinfälligkeit, ihr Unglücklichsein und ihr Heldenmut lassen sich nicht voneinander trennen. Dies führt uns wieder an den Anfang unseres Gedankengangs, nämlich zu der aristotelischen Frage nach der Melancholie der herausragenden Persönlichkeiten zurück: »Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?«

1So sehr, dass zum Beispiel nach Hippokrates die Melancholie, wenn sie mit einer Entzündung des Zwerchfells einhergeht, den Heilungsprozess von Hämorrhoiden positiv beeinflusst.

2Obwohl er, ohne viele Worte darüber zu verlieren, den melancholischen Typ erwähnt (μελαγχολικός) und, die spätere Anschauung vorwegnehmend, die Krankheit im Falle bestimmter Menschen für allgemeingültig hält und somit aus dem Zirkel der Krankheiten heraushebt.

3ὃν θυμὸν κατέδων. θυμός bedeutet gleichermaßen geistige Kraft, Gemüt, Mut, Zorn, Seele und Sinn.

4Vielleicht erklärt diese metaphysische Einsamkeit, dass Homer Herakles in seinen Epen, die das gesellschaftliche Wohingehören der Menschen so plastisch schildern, eine ganz untergeordnete Rolle zukommen lässt.

5Herodot wird darauf aufmerksam, dass Herakles wegen seiner zwiespältigen Natur sowohl als Heros als auch als Gott gefeiert wurde, und Diodorus Siculus benennt sogar noch die Schauplätze: in Opus und in Theben wurde er als Held, in Athen aber als Gott verehrt.

6Das auch von Aristoteles gebrauchte περιττότης bedeutet zugleich Außerordentlichkeit und Unmäßigkeit.

7Die Orphiker hielten die Ratschläge der dunklen und unbeleuchteten Nacht für die tiefsten Quellen der Weisheit.

8In Also sprach Zarathustra erklingt das Lied der Schwermut ebenfalls mit dem Eintreten der Nacht.

9Es geht um die melancholischen Helden; gegen die Melancholie der »alltäglichen« Wahnsinnigen haben die Alten zahlreiche Medikamente verschrieben. (Das bekannteste unter ihnen ist die sogenannte schwarze Nieswurz [elleborus niger], der man auch noch im 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle zuschrieb.) Die mythologische Analyse der Melancholie und des Wahnsinns verweist auf die in der Melancholie und im Wahnsinn verborgen liegende Unauflöslichkeit und »Unheilbarkeit« und ist als Anschauung in die engere, auch heute noch gültige Melancholieauffassung einzubauen.

10»Ich habe noch Augen und Ohren« (Od.XX.365), sagt der Seher Theoklymenos in der Odyssee; dem Mysterienglauben gemäß ist die Fähigkeit des Sehens und Hörens eine besondere Gabe der Eingeweihten.

11Aristoteles drückt die in uns gepflanzte göttliche Gesinnung ebenfalls mithilfe des Verbs »wahrsagen« aus: μαντεία περί τόν ϑεόν.

12In der Poetik führt Aristoteles aus, dass der Dramatiker, um die Leidenschaften seiner Helden nachempfinden zu können, selbst am Leiden teilhaben muss: Der Dramatiker sei μαντικός, das heißt Wahrsager (1455a), was so viel bedeutet wie, dass die höchste Aufgabe des Wahrsagers auch hier nicht das Voraussagen zukünftiger Ereignisse ist, sondern das Aufdecken der Gesetze des Seins.

13In seiner Geographie beschreibt Strabon den Fall jenes indischen Brahmanen, der sich in Eleusis lachend ins Feuer stürzte und dessen Grabinschrift folgendermaßen lautet: »Hier ruht der aus Bargose stammende Zarmonokhegas, der sich nach alter Sitte der Inder unsterblich gemacht hat« (XV.1.73). Ähnlich bereitete der Lydier Kroisos (der sich im Übrigen als einen Nachkommen des Herakles ansah!) seinem Leben ein Ende, ebenso Hamilkar aus Phönizien oder Sardanapal – so hofften sie, für sich und ihr Volk die Auferstehung zu erlangen.

14Den Ritus des selbst gewählten Feuertodes nennt Josephus die »Auferstehung des Herakles« (7) (ή τοῦ Ἠηρακλέους ἔγερσις) (Antiqu. Jud. VIII. 5.3). Fügen wir hinzu: An gewissen Orten wurde Herakles auch als Sonnengott verehrt.

15Die Auffassung ist vom Christentum beibehalten worden: Im Neuen Testament wird Jesus die Menschen mit dem Heiligen Geist und, nach einigen Varianten, mit Feuer taufen: πνεύματι ἀγίω καὶ πυρί (Mk. 1, 8).

16Die Wahrheit – griechisch: ἀλὴθεια – bedeutet wörtlich das, was dem Vergessen nicht ausgesetzt ist, was sich der Macht Lethes entzieht.

17Nach Galen ist die Galle »organum plenum mysterii« – gleichwie die Melancholie, die in ihrer Rätselhaftigkeit selbst ein Mysterium ist.

18Heidegger ist, wenn auch in anderem Zusammenhang, auf den Charakter des Privativen der Wahrheit aufmerksam geworden.

19Schopenhauer, der das Ziel der antiken Mysterien darin sah, dass Auserwählte durch sie von der Masse getrennt werden, hat nur bedingt recht. Er ist bemüht, die auf eine Elite gerichtete Anschauung seiner Epoche in der Antike zu entdecken.

20Dies bezieht sich wortwörtlich auf die Mithras-Mysterien: Die Eingeweihten erheben sich symbolisch durch die Sphären der Planeten hindurch zum Sonnengott.

21Der frühe Tod bedeutet griechisch: προτελευτή.

22Setzen wir hinzu: Über eine allgemeine Erlösungslehre haben die Griechen nicht verfügt.

23Ihren Namen bringt Hölderlin auf der Basis des Wortes περσέφοσσα mit dem Licht in Beziehung.

24Für Persephones Sitz wurde Akragas auf Sizilien – der Geburtsort von Empedokles – gehalten.

25Antonin Artaud wird die Sonne später für den Gott des Todes ansehen; doch ist die wahre Erscheinung der absolute Tod der Sonne, das heißt des Lichts, der »zum Ritus der schwarzen Nacht und des ewigen Todes der Sonne« führt und von da aus zur das Leben bis zur Unerträglichkeit steigernden Ekstase (Artaud, Tutuguri, S. 58).

26In seinem Werk Über die Mysterien schreibt der neuplatonische Jamblichos über die Heraufbeschwörung des Lichts oder die Erweckung des Lichts, was er für einen Zustand der Erhellung hält und was von der neueren Theosophie als das Erblicken des nächtlichen Lichts der Sonne bezeichnet wird.

27Einigen Sagen nach ist der auf dem römischen Forum befindliche Saturnus-Tempel von Herakles/Hercules selbst gegründet worden.

28Die Mysterien waren in ihrem Beginn auf Kreta noch öffentlich; von da aus haben sie sich auf die übrigen Gebiete Griechenlands verbreitet, wo sie zu Geheimnissen wurden.

29»Wo die Liebe zu großen Geheimnissen vorherrscht«, schreibt Aristophanes über die Mysterien in den Wolken (299–300), »und am Tage des Festes der Erdenmutter, das Aufzeigen heiliger Geheimnisse.«

30Die Ägypter verehrten das Krokodil als das Symboltier des göttlichen Schweigens, weil es keine Zunge hat; und dieses mystische Schweigen hatte auch einen eigenständigen Gott; nämlich den seinen Zeigefinger auf dem Mund haltenden Harpokrates.

31Aristoteles zum Beispiel bestimmte die Vorstellung als eine der Wahrnehmung ähnliche, als ihr Ergebnis entstehende Bewegung (De anima, 427).

32Der Kosmos bedeutete ursprünglich nicht nur das Weltall, sondern auch Ordnung – Homer verwendet dieses Wort noch im Sinne der Schlachtordnung und als solche verweist es im Wesentlichen auf die Geschlossenheit. Obwohl der Begriff der Unendlichkeit dem griechischen Denken nicht fremd war, unterscheidet Aristoteles die aktuelle und die potenzielle Unendlichkeit, und nur die Letztere ist es, die er anerkennt. Die im Sinne der Unbestimmbarkeit verstandene Unendlichkeit ist aus der Sicht der menschlichen Vernunft Unvollkommenheit, so Aristoteles, und deshalb ist es ausgeschlossen, dass dieses Denken über die unendliche Kette von Ursache und Wirkung zur Unbestimmbarkeit gelange. Die Melancholiker, und dies muss wohl kaum erwähnt werden, betrachteten die Kette von Ursache und Wirkung als menschliche Anschauung, als eine, aber nicht als ausschließliche Form des Seinsverständnisses, und sahen deshalb auch in der Unbestimmbarkeit nicht die bloße Unvollkommenheit.

33Die Hybris lässt sich etymologisch auf die indogermanischen Stämme d = »empor«, »hinauf«, sekundär auch »hinaus«, sowie ger = »schwer« zurückführen, deren gemeinsame Bedeutung so etwas wie: mit aller Macht und allem Kraftaufwand etwas beginnen, alles auf eine Karte setzen, ausmacht.

Melancholie

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