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ОглавлениеKAPITEL 3
Tapetenwechsel
Der Umzug nach Montevideo
Vom Norden in den Süden, von der Provinz in die Metropole zu ziehen, das tut man auf der Suche nach Arbeit, für einen Traum oder einfach, um seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Den Weg aus Uruguays Hinterland in die Hauptstadt gehen viele Uruguayer, darunter auch die Familie Suárez Díaz.
Sie packten all ihr Hab und Gut auf einen Lastwagen, und zwei Tage später bestiegen Luis’ Mutter Sandra und die Kinder einen Bus, der sie entlang der Weiden mit grasenden Rindern in die Hauptstadt brachte. Dort wurden sie schon von Vater Rodolfo erwartet. Luis sollte eine Metropole kennenlernen, die heute Heimat von 1,4 Millionen Menschen ist, ungefähr 40 Prozent der Bevölkerung Uruguays.
Dort sah Luis auch zum ersten Mal den Río de la Plata, diese riesige, majestätische, ja schier endlose Wasserfläche, durch deren ockerfarbene Wellen riesige Containerschiffe schneiden, mit Kurs auf den Hafen oder den Atlantik. Das Ufer der Flussmündung verläuft entlang der gesamten Stadt und wird eingefasst von der Rambla, der Uferstraße. Sie verbindet die dort gelegenen Stadtviertel miteinander und führt an zahllosen Parkplätzen, Stränden und Hochhäusern vorbei, die steil über das Wasser ragen.
In der Ciudad Vieja, der Altstadt mit dem Hafen, umkreist die Rambla gewissermaßen die Avenida de 18 Julio, die wohl belebteste Geschäftsstraße Montevideos. Sie beginnt an der Plaza Independencia, am Übergang von der Neu- zur Altstadt. An dieser Stelle wurde 1928 der Palacio Salvo eröffnet, das damals höchste Gebäude Lateinamerikas, das nach Plänen des italienischen Architekten Mario Palanti errichtet wurde. Der exzentrische Bau ist das Wahrzeichen Montevideos und auf quasi allen Postkarten und Werbeprospekten der Stadt abgebildet. Ein berühmtes Schwarzweißfoto von 1934 etwa zeigt das deutsche Luftschiff „Graf Zeppelin“, wie es nur knapp über den 105 Meter hohen Turm hinwegschwebt.
Die Ciudad Vieja besticht durch wundervolle Gebäude aus einer Ära, in der Uruguay noch als die „Schweiz Südamerikas“ bekannt war, auch wenn sich hier längst der Zahn der Zeit bemerkbar macht. Das Viertel beherbergt außerdem den Seehafen, der nach langen Jahren des Niedergangs nun wieder auflebt (auch wenn er mit Buenos Aires nicht mithalten kann).
Ein paar Meter vom Hafen entfernt befindet sich der Mercado del Puerto, die Markthalle, die in den 1860er Jahren nach britischen Plänen entstanden ist und mit Liverpooler Stahl gebaute wurde. Vom Eingang des Marktes, der mit seinen vielen Grillständen wie ein einziges asado wirkt, fällt der Blick auf das Hauptquartier der Zollbehörde und der uruguayischen Marine. Das auffällige Gebäude würde von der Bauweise her auch gut nach Gotham City passen.
Die Familie Suárez Díaz zog ins Viertel La Blanqueada, in ein Haus an der Kreuzung von Calle Dr. Duvimioso Terra und Calle Nicaragua, zehn Autominuten von der Innenstadt entfernt. Das ganze Viertel ist komplett fußballverrückt. Etwas versteckt zwischen den flachen Häusern von La Blanqueada liegt nämlich das Estadio Gran Parque Central, in dem am 13. Juli 1930 vor 19.000 Zuschauern auch das erste WM-Spiel überhaupt stattfand: USA gegen Belgien, Endstand 3:0 für die Soccer Boys. Der Parque Central ist außerdem die Heimat von Nacional, zu dessen Fans auch Luis und seine Brüder gehören.
Nach dem Umzug von Salto nach Montevideo, aus der Provinz in die Großstadt, fiel es den Suárez-Kindern zunächst schwer, sich einzuleben. Sie hatten ihre Großeltern, ihre Onkels und Tanten, Cousins und Cousinen sowie ihre Freunde zurücklassen müssen. Und wie gewohnt von morgens bis abends auf den Straßen zu kicken, war in La Blanqueada auch nicht möglich.
Es war aber nicht nur die Metropole mit ihren Lichtern, dem Lärm, dem dichten Verkehr und den Abgasen oder auch der riesigen Flussmündung, auf die sie nicht vorbereitet waren – es war auch die Art der Einwohner. Die Montevideanos hänselten sie wegen ihres Dialektes, wie sie „mamá“ und „papá“ aussprachen, wegen ihrer Kleidung, ihrer ausgelatschten und aus der Mode gekommenen Schuhe und weil sie eben Landeier waren – aber auch, weil die Suárez-Kinder sich in der Mittagspause mit einem Stück Brot und Quittenpaste begnügen mussten, während die anderen torta frita oder anderes Back- und Naschwerk aus ihren Schultaschen holten.
„Wir waren eine Familie aus der Unterschicht, und wir waren eine große Familie. Luxus konnten wir uns nicht leisten“, betont auch Luis Suárez selbst immer wieder. „Ich habe meine Eltern nie gefragt, ob sie mir die Fußballschuhe kaufen können, die ich mir so sehr wünschte. Meine Eltern haben alles getan, was möglich war, und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Aber sie konnten uns nicht jeden Wunsch erfüllen, nur das Allernotwendigste.“
Rodolfo Suárez schied bald aus der Armee aus und fing anschließend in einer Keksfabrik an. Sandra arbeitete als Putzfrau im Terminal Tres Cruces, dem zentralen Fernbusbahnhof Montevideos. Luis ging wie seine Brüder auf die Schule Nr. 171 in der Calle Nicaragua. Er mochte Mathe und hatte keine Probleme mit den Hausaufgaben. Wer weiß – vielleicht wäre er ein guter Buchhalter geworden, wenn es mit dem Profifußball nicht geklappt hätte. Die ersten Monate waren laut seiner Mutter trotzdem schwierig, weil Luis keinen Sinn in Multiplikationstabellen sah. Brauchte man ja nun mal nicht zum Toreschießen. Und Fußball liebte Luis eben über alles.
Luis’ erste Idole und Vorbilder kamen aus seiner Familie: Es waren sein Vater, der Rechtsverteidiger, und sein Bruder Paolo. Letzterer spielte damals für den Club Atlético Basáñez, 1994 und 1995 kurzzeitig Erstligist. Bei seinem Bruder schaute sich Luis Bewegungsabläufe ab, gleichzeitig brachte der ihm Tricks und Finten bei. Später galt Luis’ Verehrung dem Brasilianer Ronaldo, auch bekannt als „O Fenômeno“, dann dem Argentinier Fernando Cavenaghi (seinerzeit bei River Plate in Buenos Aires aktiv) und schließlich – ebenfalls aus Argentinien – Gabriel Batistuta, der unter anderem für den AC Florenz, AS Rom und Inter Mailand spielte. Batistuta repräsentierte den Typ des modernen Angreifers und war damit ein gutes Vorbild für Luis.
„Lucho“ blickte aber nicht nur auf seine Idole, er spielte auch selbst weiterhin. Gemeinsam mit seinem Bruder Maximiliano kickte er für den FC Urreta, einen reinen Nachwuchsklub aus La Blanqueada. Quasi sofort nach dem Umzug meldete Sandra ihren siebenjährigen Sohn dort an. Sie hatte nach einem Verein für ihre Jungen gesucht, und Urreta hatte einen guten Ruf – dort hatten Generationen von Kindern Fußballspielen gelernt. Außerdem liegen die Plätze in Laufweite des damaligen Hauses der Familie.
Ricardo Artigas, bis vor kurzem der Vereinssekretär, erzählte mir die Klubgeschichte: „Der FC Urreta wurde 1958 von Adolfo Bañales und seiner Frau Blanca Gómez gegründet. Die beiden wollten einen Platz herrichten, auf dem sich die Kinder aus der Gegend austoben konnten. Keine leichte Aufgabe! Kinder und Eltern zu überzeugen war das eine. Sie mussten aber auch Genehmigungen beantragen und mit der Stadtverwaltung darum kämpfen, die Anlage dort bauen zu dürfen, wo sie sich auch heute noch befindet.“
„Stellen Sie sich vor, am Anfang war das Haus der Bañales die eingetragene Geschäftsstelle des Vereins“, schilderte Artigas die Anfangszeiten. „Außerdem fungierte es als Umkleideraum, Schiedsrichterkabine und Schlafplatz für die Kinder, die von weiter weg kamen. Die Bañales mussten etliche Probleme lösen, bevor sie den Platz eröffnen konnten, aber am Ende haben sie es gepackt. Sie haben sogar einen Sponsor aufgetrieben: die Urreta-Limonadenfabrik, die damals direkt gegenüber stand. Heute werden wir von der Nudelfirma Las Acacias gesponsert. Aber Urreta hat die allerersten Trikots spendiert und war Namensgeber des Vereins.“
Als Luis Suárez sein Probetraining bei Urreta absolvierte, war der Verein also schon längst etabliert und hatte massenweise Titel und Pokale gewonnen. Die Verantwortlichen schauten sich an, wie gut Luis mit dem Ball umgehen konnte, und nahmen ihn dann auf. Nur ein paar Tage später saß Luis, von den Trainern und Kameraden nach seiner Geburtsstadt „El Salta“ oder auch „El Salteño“ (der „Kleine aus Salto“ bzw. eben „der Salteño“) genannt, bei einem Spiel im Strandvorort Lagomar erstmals auf der Bank. Bis dahin hatte ihn niemand im Verein wirklich in Aktion gesehen, also war man lieber vorsichtig.
Zur Pause lag Urreta 0:2 zurück. Dann entschied der Trainer, dem Neuzugang eine Chance zu geben. Luis streifte sein Trikot mit den orangenen Rauten über, das dem der Niederländer um Marco van Basten und Ruud Gullit bei der EM 1988 nicht unähnlich war, und kam mit der Rückennummer 14 auf den Platz. Prompt drehte der Neue das Spiel – der Knipser schoss drei Tore. Die Folge: Urreta gewann die Partie und „El Salta“ das Vertrauen seines Trainers.
Bei seinen Recherchen im Vereinsarchiv hatte Artigas die Mannschaftsliste des Jahrgangs 1987 gefunden und las sie mir vor. Auch die Liste der Titel von damals hatte er aufgetrieben, darunter die Liga Prado oder der Metropolitano Circuito 1 und 2, außerdem Fotos von den Spielen und den anschließenden Partys. Eines zeigte den kleinen Suárez übers ganze Gesicht strahlend und mit einem Pokal in der Hand. „Es gibt da aber jemanden, der noch viel mehr weiß als ich“, sagte Artigas, „nämlich Florean Neira, sein erster Trainer.“
Als ich Neira besuchte, war er gerade von seinem Nachmittagsspaziergang zurückgekommen, bei dem er wie so oft den Kindern im Park beim Fußballspielen zugesehen hatte. Neira, bei unserem Gespräch schon über 80 Jahre alt, hatte sich noch gar nicht richtig zum Abendessen hingesetzt, da begann er schon zu erzählen: „Mir hat es immer Spaß gemacht, den Steppkes das Einmaleins des Fußballs beizubringen – wie man den Ball führt, dass man den Kopf oben behalten muss, dass man den Ball abspielen muss und nicht versuchen darf, das Spiel im Alleingang zu gewinnen.“
Er habe „immer das Ziel gehabt, dass sie sich weiterentwickeln und Karriere machen“, erklärte er mir. „Ich war 17 Jahre Kindertrainer beim Club Deportivo Oriental. Aus dem Verein sind Leute hervorgegangen wie Carusini, Filomeno, Dario Pereira Vicar oder Carmagna. Alles Leute, die den Platz rauf und runter beackert haben. Dann bin ich dank der Vermittlung eines Freundes bei Urreta gelandet.“
Natürlich erinnerte er sich auch an Luis Suárez: „Ja, Suárez, ‚El Salteño‘, der war mein Spieler. Der war schon ein außergewöhnlicher Bursche. Starker Charakter, hatte vor nichts Angst und zankte sich auch schon mal mit seinen Gegenspielern. Er liebte die Pommes, die meine Frau Luz Divina immer gemacht hat, und er war oft zum Essen bei uns. Er war ein toller Stürmer, hat prima gespielt und viele Tore geschossen. Für uns war er ein ganz wichtiger Mann.“
Seine Erinnerungen fand ich durch einen Artikel vom 6. September 1996 in einer der Lokalzeitungen Montevideos bestätigt. Im Bereich „Kindersport“ berichteten Magdalena Horta und Gustavo Acevedo von drei Spielen Urretas gegen den Club Las Flores in den Jahrgängen 1987, 1988 und 1989: „Im dritten Spiel des Tages gewann Urreta mit dem Jahrgang ’87 mit 3:2. Den ersten Treffer markierte Luis Suárez. Nur wenige Minuten später konnten die Orangenen den Vorsprung durch einen traumhaften Freistoß von Martín Píriz ausbauen. Die erste Halbzeit schien schon gelaufen, da kam Flores durch zwei Tore von Marcio Núñez und Fernando Reyas zurück. Zur Halbzeit stand es 2:2. In der zweiten Hälfte war die Partie von beiden Seiten hart umkämpft, aber quasi mit dem Schlusspfiff markierte Luis Suárez das Siegtor für die Heimmannschaft.“
Fazit der Berichterstatter: „Urreta konnte sich auf seinen Vollblutstürmer Luis Suárez ebenso verlassen wie auf Martín Píriz, der trotz seines jungen Alters bereits ein echter Freistoßspezialist ist. Diese beiden Spieler waren ausschlaggebend für Urretas Sieg in einem spannenden Match.“ Auf dem Platz und beim FC Urreta lief es also für Luis. Sein Name stand in der Zeitung, sein Glücksbringer – ein Ein-Peso-Stück, das er vor einem Spiel gefunden und in seinen Stutzen gesteckt hatte – leistete ganze Arbeit. Seitdem er damit einen Dreierpack erzielt hatte, spielte er nicht mehr ohne.
Abseits des Platzes, in der Familie, war die Lage indessen weniger erfreulich. Gegenüber dem französischen Fußballmagazin So Foot bekannte Maximiliano viele Jahre später: „Mein Vater war Alkoholiker. Wenn er bei unseren Spielen am Spielfeldrand stand, hat er Leute angebrabbelt und rumkrakeelt. Wir haben uns total unwohl gefühlt. Zu Hause war es genauso. Mein Vater und meine Mutter haben sich ständig gestritten. Ich habe mich öfter dazwischenstellen müssen.“ 1996, Maxi war acht und Luis neun Jahre alt, trennten sich Rodolfo und Sandra. Die beiden Brüder waren zu jung, um das Ganze zu verstehen. Sicher ist nur, dass sie die Trennung nur schwer verarbeiteten und sie Spuren bei ihnen hinterließ.
Rodolfo kündigte seinen Job in der Keksfabrik und zog in den Osten Montevideos. Von dort war es nicht weit zu seiner neuen Arbeit. Er war jetzt Portier in einem Gebäude gegenüber der schicken Anlage des Sportvereins Club Biguá de Villa Biarritz. Seine Söhne sahen ihn nur selten, brachen den Kontakt aber nicht völlig ab, wie Luis später einmal erzählte. Es waren harte Zeiten, da das uruguayische Recht damals noch keinen Unterhalt vorsah. Sandra, die erst einige Jahre später einen Bauarbeiter kennenlernen, erneut heiraten und mit ihm ein weiteres Kind bekommen sollte, musste gezwungenermaßen noch mehr schuften, um alle satt zu bekommen. In einem zweiten Job arbeitete sie nun zusätzlich in einem Krankenhaus als Putzfrau und Hilfskraft.
Trotz ihres Einsatzes reichte das Geld hinten und vorne nicht, wie Maxi sich erinnerte: „Wir wohnten in einem 15-Quadratmeter-Zimmer mit einer winzigen Küche. Monatelang gab es nur Reis und Würstchen, weil das eben billig war.“ Luis, Maxi und Diego, das Nesthäkchen der Familie, waren meist allein zu Hause. Um sie kümmerte sich bald María Josefa, die Großmutter mütterlicherseits. Sie zog nach Montevideo und fand einen Job in einem Laden, ebenfalls im Terminal Tres Cruces.
Wie bei allen Kindern in diesem Alter gab es auch unter den drei Brüdern gelegentlich Streit. Dennoch standen sie einander bei und unterstützten sich gegenseitig, wenn jemand in der Schule, auf der Straße oder beim Kicken Zoff mit einem von ihnen suchte. Luis, der Älteste, übernahm die Vaterrolle. Sie gingen gemeinsam zu Fuß oder fuhren mit dem Bus zum Training. Luis wartete dann auf die anderen und geleitete sie abends wieder nach Hause.
Luis Suárez musste also nicht nur auf, sondern auch neben dem Platz schnell erwachsen werden. Er war gerade einmal elf Jahre alt, als Nacional auf ihn aufmerksam wurde. Florean Neira erinnerte sich: „Wir trainierten öfter mal am Gran Parque Central. Irgendwann sah ihn ein Trainer der Bolsos und fragte mich: ‚Wer ist denn der Knirps da? Kannst du den vielleicht zu uns geben?‘ Und ich: ‚Natürlich. Wenn ihr ihn bei euch haben wollt, kein Problem.‘ Ich habe nie ein Kind aufgehalten, das den nächsten Karriereschritt machen konnte. Also habe ich ihn freigegeben.“
So jedenfalls hat es sich nach Erinnerung von Florean Neira zugetragen, aber wer weiß, ob es tatsächlich so war. Luis’ Vater wurde auch von Danubio, einem anderen Klub aus Montevideo, wegen eines möglichen Transfers des Jungen kontaktiert. Danubio soll sogar Geld geboten haben. Doch seit Luis acht Jahre alt war, träumte er davon, das Trikot von Nacional zu tragen. Er wollte darin uruguayischer Meister werden. 1998 rief ihn dann der Vater seines Mannschaftskameraden Martín Píriz an, als Luis gerade in den Ferien an der Küste war: Er solle zu einem Probetraining für Kinder bei Nacional kommen. Der Traum war Realität geworden.