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Kapitel 3

Der Kleinste von allen

Ein Sommernachmittag im Jahr 1992

Auf dem Fußballplatz von Grandoli gibt es beinahe keinen Rasen, nur ein paar Fleckchen Gras an der Seitenauslinie, ansonsten viel nackte Erde. Die Torpfosten sind in einem jämmerlichen Zustand, genau wie der Zaun und die Gebäude mit den Duschen und Umkleidekabinen. Im übrigen Viertel sieht es nicht viel besser aus: provisorische Autowaschanlagen an jeder Ecke der Straße Gutiérrez, Gebrauchtreifenhändler und Schilder mit der Aufschrift „Ankauf von Metallen“, mit anderen Worten: Schrott. Eine Papptafel weist sogar auf einen Hundefrisör hin. Im Hintergrund Hochhäuser, Typ sozialer Wohnungsbau. Sie sehen irgendwie verlassen aus, auch wenn sie es nicht sind. Daneben kleine, niedrige Häuser, die ihren einstigen Charme verloren haben. Aus den Rissen im Asphalt wachsen Pflanzen, in der Sonne schmort Müll vor sich hin, auf der Straße sind Männer und alte Menschen, die nichts zu tun haben, und Kinder auf zu kleinen Fahrrädern. „Die Leute in der Gegend haben sich verändert“, sagt der Älteste der Senioren und fügt hinzu: „Bei Nacht muss man hier Angst haben.“ Das Verbrechen hat sich eingenistet.

Um drei Uhr nachmittags ist kaum eine Menschenseele zu sehen. Der Fußballplatz liegt verlassen da. Die Kinder aus den benachbarten Schulen, die im Sportzentrum „Instituto Superior de Educación Física Nº 8 Abanderado Mariano Grandoli“ – benannt nach einem Freiwilligen des Krieges von 1865, der für sein Land starb – Schulsport treiben, sind bereits fort. Die Fußballer kommen nicht vor fünf Uhr nachmittags. Die einzige Person auf dem Areal ist ein Lehrer in weißem T-Shirt, blauem Trainingsanzug und Sportschuhen. Er zeigt mir den ungefähr 150 Meter weiten Weg zum Haus von Señor Aparicio, dem ersten Trainer Lionel Messis.

Mit nassen Händen öffnet Aparicio die Tür. Er bereitet gerade das Essen für seine blinde Frau Claudia zu, bittet den Gast aber dennoch, einzutreten und es sich gemütlich zu machen. Im kärglich eingerichteten Wohnzimmer, das von einem alten Fernseher dominiert wird, befinden sich vier Sessel sowie ein riesiger weißer Hund, und es riecht ein wenig muffig. Salvador Ricardo Aparicio ist 78 Jahre alt und hat vier Kinder, acht Enkel und vier Urenkel. Sein Gesicht trägt die Züge des Alters und den Schatten eines Bartes; sein Körper ist verdreht wie ein Stück Stacheldraht, und seine Stimme und Hände sind zittrig. Er hat sein Leben lang bei der Eisenbahn gearbeitet. Als junger Kerl spielte er mit der Nummer 4 für den Club Fortín, und seit mehr als 30 Jahren trainiert er auf dem 7,5 mal 40 Meter großen Platz von Grandoli den Nachwuchs.

Er hat Aberhunderte von Nachwuchsspielern ausgebildet, darunter auch Rodrigo und Matías. Der Älteste der Messis war ein schneller und kraftvoller Mittelstürmer, während der Zweitälteste in der Abwehr spielte. Jeden Dienstag und Donnerstag begleitete Großmutter Celia sie zum Training. Und eines Sommernachmittags hatten sie Leo im Schlepptau.

„Mir fehlte noch einer, um eine Jahrgang-86-Mannschaft voll zu kriegen. Mit dem Trikot in der Hand wartete ich auf den letzten Spieler, während die anderen sich schon aufwärmten. Aber er kam nicht. Dafür war da dieser kleine Junge, der fortwährend den Ball gegen die Tribüne kickte. Die Uhr tickte, und ich sagte mir, verdammt noch mal … Keine Ahnung, ob der schon Fußball spielen kann, aber … Also ging ich hinüber, um mit dieser wirklich fußballverrückten Großmutter zu reden, und sagte zu ihr: ‚Leih ihn mir für eine Weile aus.‘ Sie wollte ihn nämlich auf dem Platz sehen und hatte mich schon oft gebeten, ihm eine Chance zu geben. Immer wieder erzählte sie mir vom Talent des kleinen Mannes. Doch die Mutter oder die Tante, das weiß ich nicht mehr so genau, wollten nicht, dass er spielt: ‚Er ist so klein, und die anderen sind so riesig.‘ Um sie zu beruhigen, versprach ich: ‚Ich stelle ihn hier hin, und wenn sie auf ihn losgehen, werde ich das Spiel unterbrechen und ihn wieder vom Platz nehmen.‘“

So jedenfalls lautet Señor Aparicios Version der Geschichte. Die Familie Messi-Cuccittini stellt die Ereignisse etwas anders dar. „Celia brachte Apa dazu, ihn aufzustellen, als er einen Spieler zu wenig hatte. Dem Trainer schmeckte das nicht, weil er so klein war. Aber Großmutter bestand darauf und sagte: ‚Stell ihn auf, du wirst schon sehen, wie gut der kleine Junge spielt.‘ ‚Alles klar‘, entgegnete Apa, ‚aber ich stelle ihn in der Nähe der Seitenlinie auf. Wenn er heult, kannst du ihn selbst wieder herunternehmen.‘“

Über das, was dann geschah, sind sich aber alle einig. Der alte Trainer dazu: „Nun denn, ich gab ihm das Trikot, und er zog es an. Der erste Ball kam in seine Richtung, er starrte ihm hinterher und … nichts.“

Don Apa, wie er hier genannt wird, erhebt sich aus seinem Stuhl und imitiert Messis überraschten Gesichtsausdruck. Dann setzt er sich wieder und erklärt: „Er ist ein Linksfüßer. Deshalb hat er den Ball auch nicht angenommen.“ Apa fährt fort: „Der zweite kam auf seinen linken Fuß. Er nahm ihn an, ging am ersten Mann vorbei, dann am nächsten und am übernächsten. Ich rief: ‚Schieß, schieß!‘ Er hatte Angst, dass ihm jemand weh tun könnte, aber er lief weiter und weiter. Ich weiß nicht mehr, ob er ein Tor geschossen hat – so etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich sagte mir: ‚Der da wird niemals ausgewechselt.‘ Und ich habe ihn auch nie heruntergenommen.“

Señor Aparicio verschwindet im Nebenraum und kommt mit einer Plastiktüte zurück. Er durchstöbert seine Lebenserinnerungen und findet schließlich das Foto, nach dem er gesucht hat: ein grüner Rasen und eine Kindermannschaft in roten Trikots. Genau vor dem deutlich jünger aussehenden Aparicio steht der Kleinste von allen: die weißen Hosen fast bis zu den Achseln gezogen, das Trikot viel zu groß, der Gesichtsausdruck sehr ernst, die Beinchen krumm. Es ist Lionel, und er sieht wie ein kleines Vögelchen aus – oder wie ein Floh, wie ihn sein Bruder Rodrigo gern nannte.

„Er war Jahrgang ’87 und spielte in der 86er-Mannschaft. Er war der Jüngste und auch körperlich der Kleinste, aber er stach wirklich heraus. Dafür musste er einiges über sich ergehen lassen. Er war ein ganz besonderer Spieler und hatte ein übernatürliches Talent, er ist mit diesem Ballgefühl schon auf die Welt gekommen. Fuhren wir zu einem Spiel, kamen die Leute in Massen, um ihn zu sehen. Bekam er erst einmal den Ball, begann er sein Vernichtungswerk. Er war unglaublich, und keiner konnte ihn aufhalten. Er schoss vier oder fünf Tore pro Spiel. Gegen Club de Amanecer macht er eines, wie man es sonst nur in der Werbung sieht. Ich erinnere mich noch genau, wie er an allen, einschließlich Torwart, vorbeiging. Wie seine Spielweise war? Genau wie heute – frei. Wie er sich benahm? Er war ein ernsthaftes Kind und stand immer schweigend neben seiner Großmutter. Er hat sich nie beschwert. Tat man ihm weh, weinte er gelegentlich, aber er stand jedes Mal wieder auf und lief weiter. Deshalb gerate ich mit jedem in Streit, der behauptet, dass Leo zu eigennützig ist oder nichts Besonderes oder gierig, und verteidige ihn.“

Aus dem Zimmer nebenan ruft seine Frau. Señor Aparicio verschwindet kurz und kehrt mit weiteren Erinnerungen im Gepäck zurück. Etwa an jenes Video, das er anscheinend nicht wiederfinden kann. Auf dem Band sind einige Spiele des Wunderkinds zu sehen. „Ich habe es immer den Kindern gezeigt, damit sie lernten, was man mit dem Ball am Fuß so alles anstellen kann.“ Oder daran, wie er Leo bei dessen erstem Besuch zu Hause nach seinem Wechsel nach Spanien besuchte. „Als die mich sahen, sind sie alle durchgedreht. Ich kam morgens, und als ich ging, war es ein Uhr nachts. Wir haben die ganze Zeit über den Fußball drüben in Spanien geplaudert.“ Oder wie einmal die Nachbarschaft zu Ehren Lionels eine Feier organisiert hatte. „Sie wollten am Grandoli-Platz eine Gedenktafel für ihn enthüllen. Am Ende konnte Leo doch nicht kommen. Er rief später an und sagte: ,Dankeschön, vielleicht nächstes Mal.‘“

Bei dem alten Fußballlehrer ist keine Spur von Bitterkeit zu spüren. Ganz im Gegenteil spricht er voller Liebe über den kleinen Jungen, den er vor so vielen Jahren trainierte. „Als ich sein erstes Tor im Trikot von Barcelona im Fernsehen sah, da musste ich weinen. Meine Tochter Genoveva, die im Zimmer nebenan war, fragte: ‚Was fehlt dir, Papa?‘ ‚Nichts‘, sagte ich. ‚Mit mir gehen bloß gerade die Gefühle durch.‘“

Aparicio holt ein weiteres Juwel aus seiner Plastiktüte. Noch ein Foto des kleinen, blonden Jungen mit zu großem Trikot und zu kurzen Beinen. Er hält einen Pokal in der Hand, den ersten, den er je gewonnen hat. Die Trophäe ist fast so groß wie der Junge selbst.

Leo ist noch keine fünf Jahre alt, als er auf dem Grandoli-Platz bereits die ersten Tore und Erfolge genießt. Während seines zweiten Jahres hat er sogar das Glück, seinen Vater zum Trainer zu haben. Jorge nimmt das Angebot des Vorstandes an und betreut die 87er-Mannschaft. Sie spielen in der Afi, einem von vielen Wettbewerben in der Stadt. Und sie gewinnen alles: „Wirklich alles, alles: die Meisterschaft, Turniere, Freundschaftsspiele …“, erinnert sich Jorge Messi, eher stolzer Vater als stolzer Trainer, an die Zeit zurück.

Außer dem Fußball gibt es noch die Schule. Leo geht auf die Schule Nummer 66 General Las Heras, in der Buenos Aires Nummer 4800. Auf dem Weg begleiten ihn entweder seine Mutter Celia, seine Tante Marcela oder die Nachbarin Silvia Arellano, Mutter seiner besten Freundin Cintia. Sie gehen quer über das offene Gelände oder laufen entlang der Fußballplätze der Kaserne des Fernmelde-Bataillons 121. In gut zehn Minuten ist das Schultor erreicht.

Geht man heute auf den Eingang zu, kann man die erste Klasse beim Malen beobachten. Zwei der Kinder tragen Messi-Trikots. Unter dem Dach eines riesigen Pavillons sind ein paar weiß gekleidete Kinder ganz in ein Fußballspiel vertieft. Es gibt zwar Tore, aber sie haben keinen Ball – also behelfen sie sich mit einer Kugel aus braunem Papier, das von Klebeband zusammengehalten wird. Die Kinder bewegen sich mit atemberaubendem Tempo und scheren sich nicht großartig um den scharfkantigen Boden aus grauem Schotter – sie schlagen Haken, täuschen an, dribbeln. Unter den Spielern befindet sich auch Leos Cousin Bruno Biancucchi. Er schwitzt stark, ist ganz rot geworden von seinem Einsatz, sein rabenschwarzes Haar schlägt ihm ins Gesicht, und er trägt einen weiß und pink gestreiften Ohrring. Seine Spielkameraden stellen schnell fest, dass er der Beste von ihnen ist. Die Presse hat Bruno schon eine Reihe von Artikeln gewidmet und preist ihn bereits als Leos Nachfolger. Seine Trainer sagen, dass er ein ausgezeichneter Dribbler ist und das gleiche Talent wie sein Cousin besitzt. Und er ist genauso schüchtern. Man kann ihm lediglich entlocken, dass er seinen Cousin um seinen Unternehmungsgeist beneidet und um seine Fähigkeit, Tore zu schießen. Auch Bruno ist Stürmer und will eines Tages das Trikot von Barça tragen.

Um mich herum hat sich ein Kreis von Kindern gebildet. Alle wollen ihre Meinung über den Jungen loswerden, der bis vor wenigen Jahren auf ihre Schule ging. Der elfjährige Pablo hat überhaupt keinen Zweifel: „Er hat alles, was man braucht, um der Beste der Welt zu werden. Besser als Maradona. Am liebsten mag ich seine Geschwindigkeit, da ist er unglaublich.“ Eine Sache aber beschäftigt den neunjährigen Agustín wie viele seiner Landsmänner: „Maradona hat seine Karriere bei den Argentinos Juniors in Buenos Aires angefangen, und Messi … bei Barça.“ Keine Frage, das ist zu weit weg von hier. Auch die etwas verlegeneren Mädchen gesellen sich bald zu der Gruppe. Bei ihnen sind die Meinungen geteilt. Einige halten Leo für gutaussehend, anderen ist er zu klein.

Es ist gerade Pause, und unter einem verwachsenen Stück Holz – einem uralten Baum – spielen die kleinen Schüler Fangen. Leo sprang gewöhnlich mit einem Papier- oder Plastikball unter dem riesigen Baumstamm hin und her. Seine schönsten Erinnerungen an jene Jahre sind genau diese Spiele mit allem, was ihm zwischen die Füße kam. Er gibt unumwunden zu, dass er den Unterricht nicht besonders mochte.

Mónica Dómina, seine Lehrerin von der ersten bis zur dritten Klasse, kann das nur bestätigen. „Nein, Leo war nicht besonders gut in der Schule, aber seine Leistung war auf akzeptablem Niveau. Am Anfang fiel ihm das Lesen schwer. Deshalb riet ich seiner Mutter, zu einem Sprachtherapeuten zu gehen. In anderen Fächern verbesserte er sich Schritt für Schritt, auch wenn er keine brillanten Ergebnisse erzielte. Er war ein schweigsames Kind, süß und schüchtern – einer der schüchternsten Schüler, die ich in meiner ganzen Laufbahn als Lehrerin je gesehen habe. Wenn man ihn nicht direkt ansprach, saß er still an seinem Tisch ganz hinten im Klassenzimmer. Er konkurrierte mit den älteren Kindern bei der Auswahl für Rosarios Schulturniere. Natürlich war er gut – er gewann reihenweise Pokale und Medaillen. Aber ich habe nie gehört, dass er damit herumgeprahlt hat, wie gut er spielte und wie viele Tore er schoss.“

Messi

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