Читать книгу Abend im Paradies - Lucia Berlin - Страница 5
Andado:
Ein Schauermärchen
ОглавлениеEr blühte einfach. In anderen Ländern heißt dieser Baum Silberakazie oder Akazie, aber in Chile heißt er Aromo. Das Wort ist so weich wie die herabgefallenen gelben Blüten, die die Höfe bedeckten. In der letzten Schulstunde: Die Mädchen der vierten Klasse waren um diese Uhrzeit verträumt, unaufmerksam, die weißen Schürzen über den Schuluniformen waren angeschmutzt und zerknittert. Die Mädchen füllten ihre Federhalter aus den Tintenfässern, die auf jedem Tisch standen, und die Federspitzen machten ratschende, verschlafene Kratzgeräusche in den Schreibheften. Die regennassen Zweige des gelben Aromo verdoppelten das Geräusch an den Fensterscheiben.
Señora Fuenzalida sprach eintönig. Die Schüler nannten sie »Fiat«. Sie sah aus wie ein Auto. Klein, gedrungen, fast schwarz, mit verspiegelter Scheinwerfersonnenbrille. Wo hatte sie diese Sonnenbrille gekauft, 1949 in Santiago? Amerikanische Brillen, Nylonstrümpfe und Zippo-Feuerzeuge waren damals Luxusartikel.
Auch ohne Brille hätte sie alles gesehen. Sie hörte Laura in der letzten Reihe, hinter Quena und Conchi. Das leiseste Rascheln der Seiten, die mit einem Federmesser zerschnitten wurden, Seiten, die Laura schon am Abend zuvor hätte auseinanderschneiden und lesen sollen. Die Lehrerin nannte Laura »Suspiros«, weil sich ihr Seitenzerschneiden wie Seufzen anhörte.
»¡Suspiros!«
»Mande, señora.« Laura stand in Habachtstellung, hielt die Hände vor ihrer fleckigen Schürze umklammert.
»Wer sagte ›Lloveré cuando se me antoje‹?«
Laura lächelte. Sie hatte es gerade gesehen. Ich regne, wann immer ich möchte.
»Du hast es nicht gelesen!«
»Doch. Es war der Verrückte, in der Irrenanstalt.«
»Siéntese.« Señora Fuenzalida nickte.
Endlich klingelte es. Die Schülerinnen standen neben ihren Tischen, bis Señora Fuenzalida den Raum verlassen hatte, dann sammelten sie ihre Bücher ein und gingen hinaus auf den Flur. Sie hängten ihre Schürzen in die Spinde, knöpften sich saubere weiße Kragen und Manschetten um. Knöpften ihre grauen Handschuhe zu, setzten breitkrempige Hüte mit großen Schleifen auf. Schultaschen voller Hausaufgaben, obwohl vier freie Tage vor ihnen lagen.
Laura ging mit Quena und Conchi die Las Lilas Straße in Richtung Hernando de Aguirre hinunter. Der Himmel hatte aufgeklart; die Sonne ging korallenrosa hinter den gewaltigen schneebedeckten Anden unter. Beim Laufen zertraten sie Aromoblüten, und der Duft hüllte sie ein. Die gelben Blüten, die den Gehweg bedeckten, dämpften ihre Schritte.
Man hätte Laura kaum für eine Amerikanerin gehalten. Als Tochter eines Bergbauingenieurs hatte sie die Fähigkeit, sich anzupassen, eine Fähigkeit, über die gewöhnlich Soldatenkinder und Kinder von Diplomaten verfügen. Sie lernen schnell, nicht nur Sprache und Jargon, sondern wie es so läuft, wen man kennen muss. Das Problem für diese Kinder besteht nicht darin, dass sie einsam sind oder immer wieder neu, sondern dass sie sich so gut und schnell anpassen.
An der Ecke der El Bosque und der Las Lilas Straße blieben die Mädchen stehen und besprachen ihre Pläne für das lange Wochenende. Das französische Olympiateam verbrachte den Sommer im chilenischen Trainingslager. Quena würde von Emile Allais persönlich Unterricht bekommen. Die ganze Woche hatte es in den Bergen geschneit, aber schau, jetzt ist es klar. Der Himmel war fast dunkel. Zwei Carabineros in Umhängen kamen vorbei, Gewehre über der Schulter, die Stiefel schwarz von den Aromos.
Conchi hatte an jedem Wochenende dasselbe vor. Schneiderin, Friseur, Ballettunterricht, Tennisunterricht. Lunch im Crillon. Nachmittags Rugby oder Polo spielen. Tee im El Golf. Mit Lautaro Donoso trank sie Cocktails im Charles. Was, wenn er Wange an Wange tanzen wollte?
Laura erwähnte, dass sie die vier Tage auf der Ibáñez-Grey-Farm verbringen würde. Conchi und Quena waren beeindruckt. Andrés Ibáñez-Grey war Senator für Bergbau, war Botschafter in Frankreich gewesen. Er war einer der reichsten Männer Chiles, dessen Anwesen im Süden die gesamte Breite des Landes umspannte, von den Anden bis zum Pazifik. »Chile ist ein schmales Land … aber trotzdem …!«, sagte Quena. Was keines der Mädchen wusste und Laura egal war, war die Tatsache, dass sowohl Ibáñez-Grey als auch ihr Vater für die CIA arbeiteten. Ihre Freundinnen wussten ebenfalls nicht, dass Lauras Eltern nicht mitkommen würden. Sie hatten an diesem Morgen davon Abstand genommen, ihre Mutter war wieder krank. Laura wusste, dass sie sagen würden, es gehörte sich nicht, dass sie alleine fuhr, auch wenn Don Andrés’ Schwester die Anstandsdame spielen würde. Es würde eine kleine Gesellschaft sein. Er war Witwer. Zwei seiner Söhne kamen und die Verlobte von einem der Söhne.
Sie trennten sich mit der Abmachung, sich am Montagabend zu treffen, um für Chemie zu lernen. Zu Hause hängte Laura Hut und Blazer auf, zog die Schuluniform aus. Ihre Eltern gaben an diesem Abend einen Empfang. Ihr Vater gab ihn.
Laura sah nach ihrer Mutter Helen, die schlief. Der Raum roch streng nach Joy-Parfüm und Gin. Auf dem Flur schlurfte der alte Damián vor dem Zimmer ihrer Mutter vorbei, Lappen um die Füße gewickelt, um den Parkettboden zu polieren, zu polieren. Er war immer da, im ersten Stock und im Erdgeschoss, tagein, tagaus, genau wie sein kleiner Enkel immer im Garten. Seine einzige Aufgabe bestand darin, die toten Blüten von den Azaleen zu zupfen. Zwei mozos und Domingo, der Butler, brachten einen Großteil der protzigen »französischen« Möbel in die Garage. Domingo half Laura, Unmengen an Aschenkraut und Ranunkeln aus dem Blumenladen, Narzissen aus dem Garten und Hunderte von Kerzen zu arrangieren. Überall waren Spiegel … Bei Gemälden konnte Helen sich nie entscheiden. Abends, wenn die Kerzen angezündet wären, würde es besser aussehen, sagte Laura. Sie ging mit Domingo und den Haushaltshilfen Listen durch, schaute nach den Fleischklößen, den Empanadas. María und Rosa waren aufgeregt; ihre Haare in Lockenwicklern.
Laura zog ein Cocktailkleid an und trug Make-up auf, was sie in Gegenwart ihrer Freundinnen nie gemacht hätte. Sie sah wie mindestens einundzwanzig aus, hübsch und ein bisschen billig. Ihr Vater, im Smoking, klopfte an die Tür, und sie gingen nach unten. Sie begrüßten Leute des Militärs und Leute vom Bergbau, Diplomaten, chilenische und peruanische Würdenträger, den britischen und den amerikanischen Botschafter. Zu Lauras Aufgaben gehörte es, zu übersetzen; von den Amerikanern sprachen nur wenige spanisch. Helen hatte in drei Jahren nur »Traiga hielo« gelernt. »Traiga café.« Laura ging herum, stellte die Leute einander vor, machte Konversation. Von Señor Soto, einem heruntergekommenen bolivianischen Beamten, wurde sie bedrängt. Er machte Anspielungen, anzügliche Bemerkungen. Laura gab ihrem Vater ein Zeichen, der herüberkam, aber Señor Soto nur angrinste und sagte: »Ist sie nicht süß?« und ging. Laura befreite ihren Arm.
Andrés Ibáñez-Grey war im Foyer. Sein Haar war silbern, seine Augen von einem so blassen Grau, dass sie wie die blicklosen Augen einer Statue aussahen. Domingo nahm ihm Hut und Mantel ab. Laura trat auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
»Ich bin Laura. Nett von Ihnen, mich auf die Farm einzuladen, auch wenn meine Eltern nicht mitkommen können.« Don Andrés hielt ihre Hand fest in seiner.
»Ted sagte, sein Kind würde mitkommen, nicht eine entzückende Frau.«
»Ich bin vierzehn. Ich habe mich nur für dieses Fest schick gemacht. Bitte kommen Sie herein.« Der amerikanische Botschafter stand direkt vor ihnen. Die Männer umarmten einander. Laura floh, peinlich berührt.
Sie brachte ein Tablett mit Essen und Kaffee zu ihrer Mutter hinauf, setzte sie im Bett auf. Laura beschrieb ihr das Essen und die Blumen, erzählte ihr, wie sich jeder gekleidet hatte, wer grüßen ließ.
Sie erzählte Helen von Andrés Ibáñez-Grey. »Mama, er ist hundertmal beeindruckender als auf den Fotos.« Ein gebieterischer Jefferson.
»Er ist auf jeden Fall mehr wert als so ein alter Zwanzig-Dollar-Schein!«, sagte Helen.
»Ich wünschte, du würdest morgen mitkommen. Kannst du es dir nicht anders überlegen? Ich möchte nicht hinfahren.«
»Sei nicht albern. Es soll fantastisch sein. Außerdem muss dein Daddy sich wirklich gut mit ihm stellen. Ich wünschte, ich könnte mich um diese Dinge kümmern.«
»Welche Dinge?«
Helen seufzte. »Oh, verdammt. Alles.«
Sie hatte nichts gegessen. »Mein Rücken bringt mich um. Ich werde versuchen, ein bisschen zu schlafen.« Sie hatte diesen Blick, der sagte, dass sie einen Drink haben wollte. Allerdings hatte Laura ihre Mutter noch nie trinken sehen.
»Gute Nacht, Mama.«
Laura schaute noch einmal nach, wie es um die Dinge in der Küche stand, ging aber nicht mehr zum Fest. Ihr Vater habe sie gesucht, sagte María, aber Laura ignorierte sie. In ihrem Zimmer rief sie vor dem Schlafengehen Conchi an. Sie redeten über Quena, wie rechthaberisch und metete sie sei. Laura wusste, dass Quena und Conchi wahrscheinlich erst vor wenigen Minuten über sie gelästert hatten. Wenn sie nicht so schläfrig gewesen wäre, hätte sie Quena angerufen, um darüber zu reden, wie dumm es von Conchi war, mit Lautaro Donoso auszugehen. Er war viel zu alt, hatte Rennpferde. Er ging die ganze Nacht aus, besuchte dann die Dampfbäder und ging, immer noch im Smoking und ohne im Bett gewesen zu sein, zur Morgenmesse.
Die Mädchen trafen sich alle mit Männern, die viel älter waren als sie. Es war selbstverständlich, dass diese Männer ein anderes, völlig getrenntes gesellschaftliches Leben hatten. Mit den jungen, unberührten Mädchen vom Santiago College oder aus den französischen Schulen gingen sie zu Rugby- oder Kricketspielen, spielten Golf und Tennis. Sie führten die Mädchen in die Oper aus, in Begleitung einer Anstandsdame zum Tanz und vor dem Dinner in Clubs. Aber spätabends lebten diese Männer in einer anderen Welt, einer Welt der Nachtclubs, Kasinos und Partys, mit Geliebten oder Frauen von medio pelo. Das würde ihr ganzes Leben so weitergehen, hatte eigentlich schon begonnen, als sie noch Kinder waren. Ihre Mütter, in Pelzen, küssten sie abends vor dem Einschlafen. Aber es waren die Dienstmädchen, die sie fütterten, in den Schlaf schaukelten. María packte Lauras Sachen, während Laura sich unterhielt, und als sie mit Packen fertig war, fing sie an, Laura die Haare zu kämmen. Laura legte die Hand über die Sprechmuschel. Nein, María, du bist zu müde. Hasta mañana. Zu Conchi sagte sie, sie müsse ins Bett gehen, bevor es zu kalt würde. María hatte einen heißen Ziegel ans Fußende gelegt.
Laura wollte gerade das Licht ausschalten, als María mit Kakao zurückkam. Sie küsste Laura auf die Stirn. Buenas noches, mi doña. Von den leeren Straßen draußen hallte der Gesang des Nachtwächters wider … Medianoche y andado. Mitternacht und »gelaufen«. Andado y sereno … Heil und gesund.
Regen schlug auf das Glasdach des dunklen Bahnhofs von Mapocho. Draußen standen schwarz glänzende, schnittige Züge. Schwarze Schirme, schwarz uniformierte Gepäckträger verschwanden im weißen Rauch, der fauchend unter den Zügen hervorquoll. Fotografen waren da, nicht von den Gesellschaftsseiten, wie Conchi gehofft hatte, sondern von der linksgerichteten Zeitung. Der Bergbausenator und der Yankee-Imperialist, die unser Land plündern, beraten sich im Bahnhof Mapocho.
Die beiden Männer begrüßten einander und verabschiedeten sich. Laura stand abseits, unbeholfen, neben Don Andrés’ Sohn Pepe. Er war jung, trug eine schwarze Schuluniform. Er wippte, wurde rot, starrte seine Füße an. Xavier, der älteste Sohn, war das genaue Gegenteil. Schneidig, herablassend, in englischem Tweed. Laura mochte ihn schon jetzt nicht. Warum ist Gelangweiltsein weltmännisch? Elegante Reisende und Theaterbesucher tragen denselben gequälten Ausdruck von Ennui zur Schau. Warum kann man nicht sagen »Eine Reise? Aufregend! Wunderbares Stück!«?
Xavier und seine Verlobte Teresa stritten sich mit Teresas Mutter. Die Mutter war sehr verärgert. Don Andrés’ Schwester Doña Isabel war krank, konnte nicht kommen. Teresas Mutter fand, dass es keine angemessene Anstandsdame gab. Don Andrés überzeugte sie davon, dass seine Haushälterin Pilar zugegen sein würde, um auf Teresa und Laura aufzupassen. Besänftigt verließen die Frauen mit Lauras Vater den Bahnhof.
Don Andrés saß am Fenster auf rotem Samt. Der Schaffner und mehrere Gepäckträger standen redend und lachend bei ihm, die Hüte in den Händen. Auf der anderen Seite des Ganges saßen Xavier und Teresa Laura und Pepe gegenüber. Teresa redete in Babysprache und mit einer hohen Stimme, die nicht zu ihrer matronenhaften Gestalt passte, mit Xavier. Pepe hatte schon angefangen, einen lateinischen Text zu lesen, ehe der Zug überhaupt den Bahnhof verließ.
Xavier erzählte Laura, dass Pepe in zwei Wochen der Priesterschaft beitreten würde. Uns für immer verloren. Aber, natürlich, gefunden. Bist du katholisch? Xavier war groß, sein Haar pechschwarz, ansonsten war er seinem Vater sehr ähnlich, aristokratisch, sarkastisch. Mit größtmöglichem Takt »ordnete« er Laura »ein«. Gute Schule. Protzige Umgebung. Nein, sie kannte Europa nicht. Sie spielte Tennis im Prince of Wales. Gehörte nicht zum El Golf Club. Sommer in Viña del Mar. Sie kannte Marisol Edwards, aber nicht die Dusaillants. Ihr Französisch war gut. Du hast Sartre nicht gelesen?
»Ich habe sehr wenig gelesen. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich in Bergbausiedlungen in den Staaten verbracht. Ich bin wie Jemmy Buttons«, sagte Laura. Wenigstens hatte sie Subercaseaux gelesen, wenn schon nicht Darwin.
»Eine hübschere Version des edlen Wilden«, sagte Don Andrés von der anderen Seite des Ganges. »Laura, komm, setz dich zu mir. Ich erzähl dir, wo wir sind.«
Erleichtert setzte sie sich auf den Platz ihm gegenüber, presste die Stirn an die Scheibe, kalt. An der Außenseite war das Glas vom Ruß der Dampfmaschine bespritzt. Gelbe Aromoblüten spiegelten sich im Bío-Bío-Fluss, in Seen, in Pfützen. Don Andrés nannte die Namen der Städte, an denen sie vorbeifuhren, der Flüsse, die sie überquerten, nannte die Namen der Obstbäume, erzählte ihr, was auf den Feldern gesät werden würde. Als der Schaffner vorbeikam und einen Gong fürs Mittagessen schlug, sagte Don Andrés zu den anderen, sie sollten vorausgehen. So einfach war sie, die Verkoppelung von Don Andrés und Laura für die Zeit der Ferien.
Im Speisewagen gab es mehr Kellner und Hilfskellner als Gäste, eine übertriebene Menge an Porzellan, Silberbesteck und Weingläsern für jeden Gang, endlos viele Gänge, die aus einer Bordküche gebracht wurden, die kaum einen Quadratmeter maß.
Don Andrés fragte sie nach den Bergen in Idaho und Montana, den Silber- und Zinkminen. Wie haben die Bergleute gelebt? Wo waren die Schmelzhütten? Sie war froh, dass sie über diese Orte sprechen konnte, hatte Heimweh nach ihnen. Laura hatte es ihrem Vater noch nicht verziehen, dass er den Bergbau verlassen hatte, um Manager und Politiker zu werden. Er hatte das nicht gewollt. Es war Helen, die sich so nach Glanz, Romantik und Geld gesehnt hatte. Und jetzt verließ sie, wie in den Rocky Mountains, kaum mehr ihr Zimmer.
Laura erzählte Don Andrés von der Wüste in New Mexico und Arizona. Ja, es war wie Antofagasta. Sie erzählte ihm, wie sie mit ihrem Vater in den Bergen wandern gegangen war, wie sie in den Bächen Gold gewaschen hatten. Er hatte sie in die Minen mitgenommen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Manchmal in einem normalen Aufzug im Minenschacht; in kleinen Minen auf einem großen Fass, das an einem Seil befestigt war, sie hielt sich am Seil fest, ihr Kopf auf Höhe des rauen Drillichs eines Bergmannknies. Der Geruch der Minen. Dunkel, dunkel. Wie es sich anfühlte, direkt in die Erde hineinzugehen. Der Schock, als sie in Rancagua ihren ersten Tagebau sah, die Anaconda-Kupfergrube. Die gewaltige Spalte, die Schändung.
Sie errötete bei diesem Wort. Sie hatte geredet und geredet, schwindlig vom Wein und der Aufmerksamkeit. Wie peinlich, bitte entschuldigen Sie. Ganz und gar nicht. Bezaubert. Sie und Don Andrés waren die Einzigen, die noch im Speisewagen saßen. Es gab so viele Kellner, dass sie es nicht bemerkt hatte.
Seinen Arm auf der Lehne ihres Stuhles hatte sie nicht bemerkt, wie sein Haar ihre Schulter streifte, als er ihr Glas füllte. Ohne sich ihrer selbst bewusst zu sein, ohne sich überhaupt etwas bewusst zu sein, hatte sie sich in die Gegenwart dieses Mannes hineingleiten lassen. In den Zwischenräumen zwischen den Waggons nahm er ihren Arm, um sie zu stützen, zog sie zu sich, als ein mozo mit Gepäck vorbeikam. Sie reagierte auf diese Intimitäten nicht, was sie bei jedem anderen Mann getan hätte. Sie war einfach eingehüllt.
Das würde ihr nie wieder passieren. Als sie älter wurde, behielt sie immer die Kontrolle, auch wenn sie gefügig war. Das war das erste und letzte Mal, dass jemand die Macht über sie hatte.
Pepe schlief auf der anderen Seite des Ganges von Xavier und Teresa. Sein Gesicht war blass, dunkle Wimpern verschatteten seine Wangenknochen, in den Händen hielt er einen Rosenkranz, das Lateinbuch. Xavier und Teresa spielten Canasta.
»Gut. Wir machen mit.«
»Papá, du spielst nie Canasta.«
»Teresa, du und ich werden gegen Xavier und Laura spielen.«
Angenehm, der Rest der Reise. Draußen wurde es dunkel. Scherze und Gelächter. Das beruhigende Geräusch des Mischens von Karten. Klapp, klapp, klapp, als sie ausgeteilt wurden. Der Pfiff des Zuges, der gleichmäßige Regen auf dem Metalldach. Klick und Aufflammen des goldenen Zigarettenanzünders von Don Andrés. Seine grauen Augen, die durch den Rauch blinzelten.
Der Tee wurde von vier mozos im Smoking serviert. Ein Samowar mit Tee, eine Kaffeekanne aus Zinn, Sandwiches, cuchuflís mit Karamel. Teresa goss ein. Sie und Laura waren jetzt freundlich zueinander, unterhielten sich über Kaufhäuser. New York. Saks. Bergdorf’s.
Es war dunkel und regnete immer noch, als der Zug in Santa Bárbara anhielt. Sie wurden von Gabriel abgeholt, dem Verwalter der Farm. Ein safranfarbener Huaso in einem dicken Poncho, breitkrempiger Hut, Stiefel mit Sporen. Laura und Don Andrés fuhren im Fahrerhaus, die anderen kletterten auf die Pritsche des Lastwagens, über die eine Plane gespannt war. Gabriel und zwei andere Männer luden das Gepäck ein, Kisten über Kisten voller Lebensmittel.
Der Lastwagen war das einzige Fahrzeug am Bahnhof und auf den schlammigen Straßen. Auf dem Marktplatz gab es zwei Gaslaternen, Frauen in schwarzen Schals eilten zur Vesper in einer von Kerzen erleuchteten Kirche.
Als sie den Marktplatz verlassen hatte, war niemand mehr zu sehen. Dann stundenlang über offenes Land, auf der schlechten Straße, kein einziges Haus oder Licht, auch kein anderes Auto. Keine Windmühle, kein Telefonmast. Rehe und Füchse, Hasen und andere Feldtiere rannten im Scheinwerferlicht davon. Der Regen war das einzige Geräusch. Don Andrés und Gabriel unterhielten sich über das Pflügen, das Pflanzen, über Pferde und Schafe. Wer gestorben war, welche Männer in die Stadt gezogen waren. Santiago war die Stadt. Endlich stießen sie auf blasse, flackernde Lichter, eine Ansammlung von Hütten in einem Hain von Eukalyptusbäumen. Der Lastwagen wurde langsamer, und Don Andrés kurbelte das Fenster herunter. Eine Wolke von Aromonadelbäumen, der Geruch nach Eichenholzfeuer. Seine Tagelöhner wohnten hier. Don Andrés verwendete nicht das chilenische Wort für Bauern, roto, was kaputt bedeutet.
Dann fuhren sie weiter, eine Anhöhe hinauf, hielten vor hohen Eisentoren. Eine Gestalt in einem Umhang öffnete die Tore, winkte sie weiter, meilenweit an Pappeln vorbei, Obstgärten, die bis auf ein blassrosa Gestöber aus Pflaumenblüten kahl waren. Auf der Spitze des Hügels ließ Don Andrés Gabriel den Lastwagen anhalten. Sie stiegen im Regen aus. Weit unten im Tal stand ein steinernes Giebelhaus, gelbe Lichter spiegelten sich in einem See darunter. Sonst gab es im ganzen Umkreis meilenweit nirgendwo ein Licht, aber überall pulsierten im Dunkeln die gelben Haine der Aromobäume. Laura war ergriffen von der majestätischen Aussicht, der Stille, aber sie lachte.
»In einem amerikanischen Film würde man jetzt sagen: All das gehört mir.«
»Aber es ist ein Schwarz-Weiß-Film. Ich kann nur sagen, dass es all das bald nicht mehr gibt.«
Zurück im Lastwagen fragte sie ihn, ob es eine Revolution geben würde, ob die Kommunisten je an die Macht kommen könnten.
»Claro que sí. Das wird bald geschehen.«
»Mein Vater sagt, es kann nicht passieren.«
»Dein Vater ist sehr naiv. Aber das macht natürlich seinen Charme aus.«
Im kopfsteingepflasterten Hof bellten Hunde. Vor der Lampe und dem Kerzenlicht, das aus der offenen Tür fiel, waren die Silhouetten Dutzender Bediensteter zu sehen. Im Inneren, unter persischen Teppichen in üppigen Farben, leuchtete der Parkettboden. Dunkle spanische Gemälde, blasse Gesichter verträumt im Kerzenlicht. Pilar, eine alte Frau, gab allen die Hand. Don Andrés sagte ihr, sie wäre Teresas Anstandsdame, sie sollte Teresa in ihr Zimmer bringen und auspacken. Wo ist Dolores?
Aquí, señor. Ein schönes, grünäugiges Mädchen, nicht viel älter als Laura, mit schwarzen Zöpfen bis zur Hüfte. Sie solle sich um Laura kümmern, sagte er. Laura folgte dem Mädchen die geschwungene Treppe hinauf. Die beiden sprangen leichtfüßig die Stufen hinauf, wie Kinder. Laura versuchte sich vorzustellen, wie das Haus gebaut worden war, wie das Material oder die Arbeiter überhaupt an diesen entlegenen Ort gekommen waren … wie zur Errichtung der Sphinx. Immer wieder blieb sie stehen, um sich die Wandteppiche und Schnitzereien anzusehen. Dolores lachte. »Warte, bis du dein Zimmer siehst!«
Ein Brokatbett mit Vorhang, ein blau gekachelter Kamin, ein ovaler Spiegel über einer antiken Truhe. Das Bad war aus Marmor, das Licht dutzender Kerzen wurde von den Spiegeln zurückgeworfen. Das Wasser war lauwarm, aber neben dem Bett standen kupferne Eimer voll mit kochendem Wasser.
Die welligen alten Glasfenster und die gelben eingetrübten Spiegel verstärkten noch die Illusion eines Traums. Dolores verschwand aus dem Spiegel, aber ihre Stimme war noch da, weich, der Singsang der Huasos. »E’ una hora, ma’ o meno’«, antwortete sie auf die Frage, wann das Abendessen fertig sei. Sie packte Lauras Sachen aus und legte noch ein Scheit aufs Feuer. Sie stand abwartend da, bis Laura nickte. Gracias. Allein zurückgeblieben, zitterte Lauras Spiegelbild; eine alte Sepiafotografie, die im Flackern der Lichter schwankte.
Die anderen waren bereits im riesigen Wohnzimmer. Ein Feuer brannte. Teresa saß am Flügel und spielte Chopins »Regentropfen-Prélude«. Sie spielte es in diesen Tagen ständig. Wann immer Laura sich an Junquillos erinnerte, ging ihr die Melodie wieder und wieder durch den Kopf. Don Andrés reichte ihr ein Glas Sherry.
»Ich bin in dieses Haus verliebt, wie eine englische Gouvernante!«
»Geh nicht in den Ostflügel!« Xavier lächelte. Laura konnte ihn ein bisschen besser leiden, lächelte zurück.
»Ich habe es meinen Träumen entsprechend gebaut«, sagte Don Andrés, »wie in französischen und russischen Romanen. Das Land selbst ist der reinste Turgenjew.«
»… Die Leibeigenen, ja«, sagte Xavier.
»Keine Politik, Xavier. Laura, mein Sohn ist ein Sozialist, ein Möchtegern-Revolutionär. Ein typischer chilenischer Anarchist, redet von der Not der Massen, während ein Diener seinen Mantel bürstet.« Xavier sagte nichts, trank. Pepe blätterte die Noten am Klavier um.
»Laura, was meinst du, wie du dich erst in meine Kutschen verlieben wirst! Ich sammle sie. Du kannst Becky Sharpe, Emma, Madame Bovary spielen.«
»Ich kenne keine davon.«
»Eines Tages wirst du das. Und auf diese Weise wirst du das Buch sinken lassen und an meinen Landauer und mich denken.«
(Oh. Stimmt.)
Auch im Speisezimmer gab es Kamine. Zwei mozos bedienten sie, tauchten auf, von wo immer sie sich gerade aufhielten, und verschwanden in den Schatten des Raums.
Pepe war lebhaft und heiter. Seine Stute hatte gefohlt, es gab Dutzende junge Lämmer. Er und sein Vater sprachen über verschiedene Ereignisse auf dem Besitz … die Tiere, Vögel und Toten unter den Tagelöhnern.
Nach dem Essen spielten Xavier und Teresa im Wohnzimmer Backgammon, Pepe und Laura tranken mit Don Andrés im Arbeitszimmer Brandy und Kaffee. Ein kleines Feuer, das von einem mozo unterhalten wurde, der aus dem Flur hereinkam, sobald es anfing zu schwelen oder ein Scheit mit einem Funkenregen in sich zusammenstürzte.
Zu dritt lasen sie laut vor. Neruda. Ruben Daríos Sonatine »La princesa está triste. La princesa está pálida«.
»Lasst uns Turgenjews Erste Liebe lesen. Du fängst an, Pepe, aber mit mehr Gefühl. Du wirst ein perfekter Priester werden, so eintönig, wie du redest.«
Als Laura an der Reihe war, tauschte sie mit Pepe den Platz, um neben der Lampe zu sitzen. Während des Lesens schaute sie von Zeit zu Zeit zu den beiden Männern ihr gegenüber auf. Pepes graue Augen waren geschlossen, aber Don Andrés’ Augen schauten in ihre, als sie vorlas, wie Zoraida einen Wollfaden um die Hand des armen Vladimir wickelte.
Oh, ihr zarten Gefühle, ihr sanften Töne, du Herzensgüte, wenn die bewegte Seele zur Ruhe kommt und sich freudig den Aufwallungen erster Liebesregungen hingibt, wo seid ihr?
»Pepe schläft. Er hat das Beste verpasst.«
»Du schläfst auch gleich ein. Ich bringe dich in dein Zimmer.«
Er richtete den Docht der Laterne an ihrem Bett, küsste ihre Augenbraue. Kühle Lippen. »Buenas noches, mi princesa.«
Du dummes Ding, sagte Laura zu sich selbst. Er hat dich fast schwach werden lassen! Genau wie jemand aus Mamas Liebesromanen.
Laura lag im Bett, konnte nicht einschlafen. Dolores kam auf Zehenspitzen herein und machte das Fenster einige Zentimeter weit auf. Sie legte ein Scheit ins Feuer, löschte die Laterne. Nachdem Dolores gegangen war, stand Laura auf und ging ans Fenster, öffnete es weit hinein in den Duft nach Nadelbäumen und gelbem Aromo. Es hatte aufgehört zu regnen. Am aufgeklarten Himmel standen blendend hell die Sterne und beleuchteten die Felder und den Hof. Laura sah, wie Dolores den kopfsteingepflasterten Hof überquerte und durch eine Tür neben der Küche trat. Minuten später überquerte Xavier den Hof und klopfte an die Tür. Dolores öffnete lächelnd und zog ihn hinein, an sich.
Laura hörte, wie Teresas Fenster sacht geschlossen wurde. Laura ging zurück ins Bett. Sie versuchte, wach zu bleiben, nachzudenken, schlief aber ein.
Die Tage sind heller, wenn die Nächte nicht elektrisch beleuchtet sind. Die Sonne fiel warm ins Zimmer, fing sich in einem Brieföffner mit Perlengriff, im Kaminsims aus Messing, im geschliffenen Marmeladenglas auf dem Frühstückstablett. Vor dem Fenster gleißten die drei weißen Gipfel der Las Malqueridas vor dem klarblauen Himmel.
»Sie reiten schon«, sagte Dolores. »Don Pepe sagt, du sollst dich beeilen, er möchte, dass du das Fohlen siehst. Ich habe dir diese Reitsachen hier gebracht.«
»Ich wollte einfach diese Hosen anziehen …«
»Aber die hier werden viel schöner aussehen.«
In Reitkleidung, das Haar hochgesteckt, sah Laura in den dunklen Spiegeln wie das Gemälde eines Menschen aus einem anderen Jahrhundert aus. Dolores nahm das Frühstückstablett, trat zurück, um Teresa ins Zimmer zu lassen. Laura suchte in ihren Gesichtern nach irgendeinem Ausdruck – der Rivalität, Verachtung, Verlegenheit –, aber beide waren teilnahmslos.
»Meine Bettwäsche riecht muffig«, sagte Teresa. »Bitte wechsle oder lüfte sie.«
»Ich werde es deinem Dienstmädchen ausrichten.« Dolores ging an ihr vorbei hinaus, den Kopf erhoben. Teresa zog einen Flunsch, warf sich auf die Chaiselongue am Fenster.
»Ich wünschte, Tía Isabel wäre hier. Sie würde mich zu einem Spaziergang am See mitnehmen. Ich hasse Pferde. Du nicht auch?«
»Nein. Ich mag Pferde. Aber ich bin noch nie mit Sportsattel geritten.«
Auf dem Hof rief Pepe nach ihnen. Er ritt eine Fuchsstute, führte ein elegantes schwarzes Pferd am Zügel. Laura rief zu Pepe hinunter, dass sie gleich da wäre. Aber Teresa hörte nicht auf zu reden. Sie wollte bald heiraten. Die Heirat würde Xavier von seinen unüberlegten politischen Einstellungen heilen, ihn sesshaft werden lassen. Wie lange waren sie schon verlobt? Seit ihrer Geburt, sagte Teresa. Ihre Väter hatten das entschieden. Glücklicherweise hatten sie sich ineinander verliebt.
»Lass uns gehen. Es ist ein perfekter Tag«, sagte Laura, aber Teresa zog ihren Mantel aus. »Nein. Ich bleibe hier und stricke. Ich bin krank. Sag Xavier, er soll herkommen und mir Gesellschaft leisten.«
»Wenn ich ihn sehe. Schau mal, er und Don Andrés sind weit weg, in der Nähe der Gebirgsausläufer.«
Pepe half ihr beim Aufsitzen der schönen Stute Electra. Zuerst schauten sie sich das Fohlen an, dann ritten sie auf der Koppel neben dem Stall. Pepe sah zu, wie sie über Balken setzte, kleine Hürden übersprang. Sie lachten beide laut auf, weil der Tag so prächtig war, die Pferde sprühten vor Leben. Xavier und Andrés kamen auf sie zugaloppiert.
»Lass uns zu ihnen reiten. Schaffst du den Zaun?« Aber ehe sie antworten konnte, waren sie schon am Zaun.
»Kein schlechter Sprung«, sagte Don Andrés.
»Nicht schlecht? Es war großartig. Mein erster Sprung!«
»Mach es noch mal.«
Bevor sie wegritt, richtete Laura Xavier Teresas Botschaft aus.
»Que regio. Es ist langweilig, mit ihr zu reiten. Lass uns zum Fluss reiten, Pepe!« Die Brüder galoppierten davon, einander zurufend. Laura machte den Sprung noch einmal, aber schlecht.
»Einmal noch«, sagte er und schlug mit der Peitsche auf Electras Hinterteil, das Pferd raste davon. Vor Schreck zog Laura die Zügel so heftig an, dass sich das Pferd aufbäumte und sie zu Boden fiel. Don Andrés stieg nicht ab, lachte ihr von oben zu.
»Ihr passt gut zueinander, ihr beiden.«
»Ich bin nicht scheu.«
»Sie auch nicht. Aber sie macht nichts, was sie nicht will.«
»Ich möchte springen. Ich werde es tun. Fass mein Pferd nicht an.«
»Ándale.«
Ein schöner, hoher Sprung. Dann rasten sie los, um Pepe und Xavier einzuholen, galoppierten durch Espenhaine, über Wiesen und zerfurchte Felder. Die vier ritten den ganzen Vormittag, sprachen nicht, außer einem gelegentlichen Aufschrei, um auf junge Lämmer aufmerksam zu machen, auf Waldlilien, Veilchen, Unmengen an Narzissen, die der Farm ihren Namen gaben. Rehe tranken aus denselben Bächen wie ihre Pferde. Sie überquerten den Fluss, der vom geschmolzenen Schnee hoch über die Ufer trat. Schnaubende Pferde, eisiges Wasser. Von den Gebirgsausläufern sahen sie weit ins Tal hinunter. So war es sicher, als die Spanier zum ersten Mal hierherkamen, dachte Laura. Sogar in den Rocky Mountains ihrer Kindheit hatte es immer Anzeichen von Zivilisation gegeben … fernes Klappern von Erzwagen, das Kreischen einer Säge, ein Flugzeug. Auf dem Weg nach Hause sahen sie tatsächlich einen Huaso, der Schafe hütete, ein anderer pflügte ein Feld, Ochsen vor den Pflug gespannt.
Das Speisezimmer, das am Abend vorher so dunkel gewesen war, war sonnendurchflutet, zeigte auf einen See und die weißen Anden hinaus. Die Reiter waren müde, sonnenverbrannt, hungrig. Xavier hatte all seine Affektiertheit abgelegt, Pepe und Laura ganz und gar schüchtern. Was für ein Vormittag! Teresa war ebenfalls heiter oder tat so. Oder vielleicht machte ihr das mit Dolores und Xavier nichts aus, fragte sich Laura. Nein, sie muss eifersüchtig sein. Sie konnte bloß nicht zeigen oder durchblicken lassen, dass sie es wusste. Es würde ihre Rolle der unschuldigen Verlobten zerstören. Liebte Xavier sie wirklich? Mit Sicherheit war er in Dolores verliebt. Das war eine Liebesgeschichte. Laura konnte es nicht erwarten, Quena und Conchi davon zu erzählen.
»Die Zeit hier ist wunderbar!«, sagte Laura.
»¡Yo también!«, sagten alle anderen. Sie aßen Forelle und Linsensuppe, gegrilltes Lamm, frischgebackenes Brot. Nach dem Mittagessen gingen Teresa und Xavier auf dem See rudern. Pepe legte sich zu einem Mittagsschlaf hin.
Es gab acht verschiedene Kutschen. Einen goldverzierten Wagen mit rosafarbenem Brokatpolster, Spiegeln, goldenen Blumentöpfen, aufwendig geschnitzten Trittbrettern für die Lakaien. Amerikanische Postkutschen, Landauer, Sulkys. Laura stieg in jede von ihnen, wählte einen schwarzen Zweisitzer-Tilbury aus glänzendem Mahagoni, schwarzem Leder.
Don Andrés spannte seinen Zuchthengst Lautaro vor die Kutsche. Sie fuhren am See und den gelben Aromos vorbei. Winkten Teresa und Xavier. Wirbelten dann weiter und weiter zum harten Klapp-Klapp von Lautaros Hufen. Es wurde dunkel. Don Andrés zündete die Laternen an.
»Möchtest du zum Tee zurückkehren?«
»Nein.«
»Gut.«
Sie überquerten eine Holzbrücke, die über den Fluss führte, wurden vom Hochwasser besprüht, fuhren im Dunkeln weiter, während er ihr von seiner Kindheit erzählte. Wie ihre, sagte er, denn er war einsam gewesen, ein Einzelkind, nie ein Kind. Seine Mutter war gestorben, als er geboren wurde; sein Vater war kalt und autoritär gewesen. Französische und englische Internate. Allein mit Büchern, wenn er zu Hause war. Er hatte in Harvard, Oxford, an der Sorbonne studiert, seine Frau in Paris kennengelernt. Nein, sie war Spanierin. Sie war vor Jahren gestorben.
Es war Zeit, nach Hause zu fahren. Er wendete die Kutsche, gab Laura die Zügel. Warte. Don Andrés stieg aus der Kutsche. Sein Haar silbern vor den gelben Aromobäumen. Er kam mit Veilchen zurück, die er in der Kapuze ihres Umhangs arrangierte.
Laura wünschte, sie würden nicht Erste Liebe lesen. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten. »Pepe, du bist dran.« Sie gab ihm das Buch. Als Don Andrés las, konnte sie den Blick nicht von seinem Mund abwenden, das weiße Glänzen seiner Zähne.
Später im Bett dachte sie, dass sie verliebt war. Sie ging jeden Augenblick durch, den sie mit ihm verbracht, jedes Wort, das er gesagt hatte. Was wünschte sie sich? Ihre Träume gingen nicht über einen Kuss hinaus.
Dolores weckte sie mit einem Frühstückstablett. Ein schönes Tablett. Don Pepe wollte mit ihr reiten gehen. Xavier und Don Andrés waren auf der Jagd. Teresa und Pilar waren auf der Terrasse, stickten für ihre Aussteuer. Kissenbezüge. Dolores hatte für Pepe und Laura ein Lunchpaket gepackt.
»Danke. Reitest du, Dolores?«
»Immer. Aber nicht, wenn die Familie hier ist.« Laura wollte Dolores nach ihr und Xavier fragen, nach der Liebe.
»Wie alt bist du?«, war alles, was sie herausbrachte.
»Fünfzehn.«
»Bist du hier geboren?«
»Ja, in der Küche! Meine Mutter war immer die Köchin hier.«
»Dann kennst du Xavier schon lange?«
Dolores lachte. »Aber ja. Seit meiner Geburt. Er hat mir das Reiten beigebracht und das Schießen.«
Laura seufzte, zog sich an. Dolores benahm sich nicht so, als wäre sie verliebt. Sie hatte allerdings so ausgesehen, als sie Xavier die Tür geöffnet hatte. War Helen, Lauras Mutter, je verliebt gewesen? Es gab niemanden, mit dem sie darüber reden konnte. Schon gar nicht mit Quena oder Conchi, obwohl sie ständig über Liebe sprachen. Zu dritt übten sie küssen, indem sie den Medizinschrank küssten. Aber wenn man den Schrank küsste, bog sich die Nase an der verspiegelten Tür zur Seite. Wo kamen die Nasen hin? Das war alles, was sie von der Liebe wussten. Das Begehren, das Laura spürte … sie hätte das Gefühl nicht mit dem Wort in Einklang bringen können.
Sie ritt mit Pepe zu einer tiefergelegenen Weide, um die jungen Lämmer und Zicklein anzuschauen, dann ritten sie zu Gabriels Haus, um dessen Frau einen Besuch abzustatten. Die alte Frau war erfreut, Pepe zu sehen. Sie setzte Teewasser auf, holte die Nachbarinnen herbei, damit sie ihn begrüßen konnten. Unser Pepino wird Priester! In der verrauchten Hütte mit Lehmboden umringten sie ihn, während er trank, lächelten ihn mit tiefer Zuneigung an. Er kannte alle ihre Namen, die Namen ihrer Tiere und Kinder. Nein, es würde Jahre dauern, ehe er zurückkommen könnte. Er würde an sie denken. Für sie beten. Die Frauen umarmten ihn, schüttelten Laura die Hand, als sie gingen. Pepe war ernst, als er und Laura unter einem riesigen Aromobaum zu Mittag aßen.
»Ist es aufregend für dich, Priester zu werden?«
»Ich habe Angst. Es ist ein großer Schritt.«
»Warum machst du das? Spürst du eine Berufung?«
»Nein. Ich möchte … verändern, Zeichen setzen. Um ein Revolutionär zu sein, bin ich zu zynisch. Viele Gründe. Um eine Daseinsberechtigung zu haben, etwas in der Welt zu bewirken, von meinem Vater wegzukommen. Mein Beichtvater sagt, ich soll mir wegen der Gründe keine Sorgen machen, solange mein Wille beständig ist.«
»Scheint so, als würde Xavier dieselben Dinge wollen.«
»Ja. Ich weiß nicht, wie er sie finden wird.«
»Er sagt, die reforma ist die einzige Antwort. Das Land den Menschen zu geben.«
»Es wird so lange dauern. Und nicht die Anführer werden es zerstören, sondern die Menschen selbst. Ihre Natur und ihre Religion verlangen ein Patriarchat. Sie werden aus ihren Befreiern neue patrones machen.«
»Du klingst wie mein Großvater, wenn er davon redet, dass Neger als Sklaven glücklicher gewesen sind.«
Sie tranken die Botaflasche mit Wein aus und aßen zwei Birnen. Blütenblätter des Aromo blieben an ihnen hängen, als sie sich ins weiche Gelb sinken ließen.
»Ich frage mich, ob ich jemals eine Daseinsberechtigung haben werde«, sagte sie.
»Für Frauen ist es leicht.«
»Was meinst du damit … die Lilien auf dem Feld?«
»Nein. Du musst das nicht, dir selbst treu bleiben.«
»Wie werde ich herausfinden, wer das ist?« Sie seufzte, als sie aufstanden, streifte gelbe Blüten ab. Sie stiegen aufs Pferd.
»Wer zuerst zu Hause ist!«
Von den Ställen aus konnten sie Don Andrés und Xavier in der Küchentür sehen. Fasanenfedern leuchteten in schillerndem Purpurgrün im Sonnenlicht. Dolores lächelte; sie hielt die umwerfenden Vögel in der Hand. Xavier streichelte ihr schwarzes Haar. Hinter ihnen betrat Teresa die Küche, stand wie gelähmt im abgedunkelten Raum. Ihre Perlen schimmerten; die Teekanne war weiß auf dem vorbereiteten Tablett. Teresa schmetterte die Teekanne auf den Ziegelboden und verließ den Raum. Xaviers Hand blieb wie eingefroren auf Dolores’ schwarzem Haar.
Tee am großen Kamin. Eine neue Teekanne. Teresa war nicht da.
»Wo ist deine Verlobte?«, fragte Don Andrés.
»Sie ist nicht mehr meine Verlobte.«
»Unsinn. Geh sie beruhigen, Xavier.«
»Ich habe die Verbindung gelöst. Ich werde sie nicht heiraten.«
»Sei kein Dummkopf. Das kannst du nicht machen.«
»Doch, kann ich, Papá. Nein, Laura, kein Zucker, danke.«
Don Andrés war blass, erzürnt. »Laura, lass uns reiten gehen.«
»Es regnet.«
»Sehr leicht.«
Er erhob sich und Laura folgte ihm. Xavier blickte auf den Rücken seines Vaters, hasserfüllt, triumphierend.
Lautaro flog über die regenglatte Straße. Die Laternen flackerten im Wind; rosa Blüten, gelbe Aromos zogen in der Dunkelheit verschwommen vorbei. Der Himmel klarte auf, aber noch gab es keine Sterne, die die Nacht erhellten. Laura und Don Andrés sagten nichts.
Sie hörten den Fluss, bevor sie ihn sahen, und dann das Klappern von Lautaros Hufen auf der Holzbrücke. Sein grausiger Schrei, als die Brücke nachgab. Sie wurden beide aus dem Tilbury in das eisige, aufgewühlte Wasser geschleudert. Die Laternen gingen zischend aus. Im Wasser schlugen sie wild um sich, rissen sich Umhänge und Jacken vom Leib. Don Andrés schrie ihr zu, sie sollte sich an der Kutsche festhalten, helfen, das Pferd loszubinden. Wirbeln, wirbeln im Fluss. Lautaro wieherte hysterisch, trat nach ihnen und biss sie, als sie mit den Zügeln beschäftigt waren. Seine Hufe, Steine, die Kutsche schlugen gegen Laura und Don Andrés, während sie flussabwärts stürzten.
Das Pferd war befreit, schlug um sich, wieherte. Wieder und wieder stürmte der Hengst auf das Ufer los, bis er es schließlich erklomm und weg war. Der Tilbury wirbelte in der Gischt umher und trudelte den Fluss hinunter, silbern jetzt im Licht der Sterne.
Unter einem Aromobaum zerriss Don Andrés zitternd und keuchend sein Hemd, um die Schnitte in seinem Bein, ihren Armen zu verbinden. Ein Feuer, sagte er, aber sein goldener Zigarettenanzünder funktionierte nicht.
»Gabriel wird uns suchen, wenn Lautaro zurückkommt, aber wir sind viele Meilen flussabwärts von der Stelle, an der er mit der Suche beginnen wird. Bete, dass er nicht versucht, die Brücke zu überqueren. Wir sollten bis zur Anhöhe oberhalb des Flusses gehen. Leg deine Sachen ab und wringe sie aus.«
»Schon gut.«
»Sei nicht albern. Wring deine Sachen aus.«
Sie schlotterten, ihre Zähne klapperten.
Aromo klebte an ihren nackten Körpern wie gelbes Fell. Laura fror und hatte Angst. Sie spürte Begehren und wusste nicht, was sie tun sollte, wie man tat, was sie taten. Sie hielt seinen silbernen Kopf, als er ihre Brüste küsste. Fäden von gelbem Aromo schaukelten vor dem Himmel. Ein erstaunlicher Schmerz. »Was habe ich getan?«, flüsterte er in ihre Kehle. Warm, sein Körper, sein Atem. Sperma glitzerte dampfend an ihren Beinen, als sie sich anzog.
Es war taghell, voller Sternschnuppen und die Anden neonweiß. Blut tränkte ihre Verbände. Humpelnd liefen sie vorwärts, erschöpft und mit Schmerzen.
»Lautaro hat nicht gelahmt, oder?«
»Nein.«
Und was ist mit mir?, dachte sie. Verwundet, mit Blasen von den nassen Schuhen, ihre Brust tat vom schnellen Laufen weh. Er hatte sie nicht einmal flüchtig angesehen.
»Was ist mit mir?«, sagte sie laut. »Warum bist du böse auf mich?«
Er wandte sich zu ihr, sah sie aber immer noch nicht an. Blasse graue Augen.
»Ich bin nicht böse auf dich, mi vida. Ich habe dich verdorben und beinahe mein bestes Pferd umgebracht.«
Er rief nach Gabriel. Seine Stimme kam als Echo aus dem riesigen Tal zurück, und dann war es still. Sie gingen weiter.
Verdorben? Bin ich verdorben? Wegen eines so schnellen, verwirrenden Augenblicks? Werden es alle wissen, wenn sie mich anschauen? Ist Dolores verdorben?
Lauras Blasen schmerzten so stark, dass sie ihre Stiefel auszog. Er sagte ihr, das solle sie nicht, aber sie ignorierte ihn, tat so, als würde sie die Steine und Zweige unter ihren Füßen nicht spüren.
Und wenn so viele Frauen das Risiko eingehen, verdorben zu werden, stimmt mit mir vielleicht etwas nicht, weil ich kaum mitbekommen habe, was passiert ist.
Sie musste urinieren. »Mach schon. Ich hol dich ein.« Ihre Unterhose glänzte rot, blutgetränkt. Sie zog ihre nasse Wollhose aus, warf die Unterhose weg, damit Dolores sie nicht sehen würde.
»Apúrate.«
»Mach schon. Ich habe gesagt, ich hole dich ein.«
Sie erklomm den Hügel hinter ihm, Steine rollten unter ihr weg.
»Wenn du böse bist, weil du denkst, dass ich jemandem davon erzähle, musst du dir keine Sorgen machen.« Es gab niemanden, dem sie das erzählen, den sie fragen konnte.
Er blieb stehen und hielt sie an sich gedrückt, küsste ihre Haare, ihre Stirn, ihre Augenlider.
»Nein, daran hatte ich nicht gedacht. Ich versuche, über das nachzudenken, was ich getan habe. Wie ich das wiedergutmachen kann.«
»Bitte küss mich«, sagte sie. »Ich bin noch nie geküsst worden.«
Er drehte sich von ihr weg, aber sie hielt seinen Kopf fest und legte ihren Mund auf seinen. Da öffnete seine Zunge ihre Lippen, und sie küssten sich, bis ihnen schwindlig wurde. Sie setzten sich oben auf den Hügel.
Galoppieren. Sie lauschten, riefen. Ein Antwortschrei. Gabriel auf seinem Pferd, andere Pferde mit sich führend. Ponchos und Brandy. Zigaretten für Don Andrés. Dann nach Hause, die beiden Männer weit vor ihr, sie riefen einander zu, in leichtem Galopp die Hügel hinauf und hinab durch die silbern schimmernde Nacht. Xavier war mit Dolores in der Küche. Zwei malvenfarbene Flecken auf seinen Wangen zeigten, dass er betrunken war. Don Andrés und Laura tranken ebenfalls Brandy, während Dolores Don Andrés die Beine verband. Sowohl er als auch Laura hatten Kratzer und Prellungen von der Kutsche, den Steinen, Lautaros Hufen. Don Andrés beschrieb den Unfall wie ein herrliches Abenteuer, Laura, die sein preisgekröntes Vollblut gerettet hatte. Laura war sprachlos, als sie den Wert dieses Pferdes erfuhr.
»Es muss einen Augenblick gegeben haben, als du dich dafür gehasst hast, diesen Hengst vor den Tilbury zu spannen«, sagte Xavier.
»Mehr als einen Augenblick. Das war absolut unvernünftig von mir.«
Xavier lächelte. »Papá, das ist das allererste Mal, dass du einen Fehler zugegeben hast.«
Laura zog sich aus und stieg in die kerzenbeleuchtete Badewanne. Dolores sammelte ihre Kleidung auf. »Deine Hose ist blutig. ¿Llegó la tía?« Ist deine ›Tante‹ da, deine Periode? Laura schüttelte den Kopf. Die Augen der beiden Mädchen trafen sich im Spiegel.
Laura wachte auf, angsterfüllt, weil sie sich kaum bewegen konnte, aber dann erinnerte sie sich und öffnete die Augen. Es war fast Mittag, dunkel, draußen regnete es. Ein Feuer brannte im Kamin. Dolores brachte ihr Frühstück. »Du sollst im Bett bleiben. Don Andrés hofft, dass es dir nicht allzu schlecht geht.«
»Wo ist er?«
»Er ist früh am Morgen nach Santa Barbara gefahren. Vor heute Abend wird er nicht zurücksein.«
»Wo sind alle anderen?«
»Pilar ist im Bett, krank. Teresa ist im Bett, krank. Pepe ist in seinem Zimmer und liest. Xavier ist im Wohnzimmer. Está tomado.« Betrunken, vergeben. Laura merkte, dass Dolores am Fußende ihres Bettes saß. Das liegt daran, dass wir jetzt gleich sind, verdorben, dachte sie. Dolores musste den Gedanken gespürt haben; sie sprang mit einer Entschuldigung auf.
»Perdóname, Doña Laura. Ich bin sehr müde. Der Morgen ist verwirrend gewesen.«
Laura war beschämt, streckte sich, um Dolores’ Hand zu halten.
»Verzeih mir. Es ist auf jeden Fall ein verwirrender Morgen. Zum einen ist es schon Nachmittag. Mir tut alles weh. Oh! Schau mein Gesicht an!« Im dunklen Spiegel war auf einer Wange ein grober Kratzer, ein Auge war grün und blau. Laura brach in selbstmitleidige Schluchzer aus. Auch Dolores begann zu weinen. Die Mädchen hielten einander fest, wiegten einander, und dann verließ Dolores das Zimmer.
Im Haus war es still. Der einzige Jagdhund, der im Haus bleiben durfte, lief über die glänzenden Flure, seine Krallen klickten. Ein einsames Geräusch, als klingelte ein Telefon in einem leeren Haus.
Xavier schlief im Arbeitszimmer seines Vaters. Er wachte auf, als Laura an ihm vorbeiging, um das Buch von Turgenjew zu holen.
»Da ist ja unsere edle Wilde! Atalanta, die in die eisigen Fluten sprang, um das verreckende Biest zu retten!«
»Halt die Klappe.«
»Tut mir leid, gringuita. Dir muss es scheußlich gehen. Komm, setz dich zu mir.«
Pepe tauchte in der Tür auf. Er hatte sich gerade rasiert, war blass.
»Laura! ¡Pobrecita! Welch ein furchtbarer Unfall. Geht es dir gut? Und Xavier, stimmt was nicht? Was ist los?«
»Komm rein, Pepito. Du siehst genauso schlecht aus wie wir. Hast du Angst? Deine Meinung geändert?« Xavier stand auf, schenkte drei Gläser Sherry ein, legte ein Scheit aufs Feuer.
»Es ist sicher schon spät genug zum Sherrytrinken. Wie spät ist es?« Wie auf Kommando kam ein mozo herein, um sie zu fragen, ob sie Mittagessen wollten. »Gott, nein.«
»Ich meine, wir wollen doch nichts essen, oder? Im Ernst, Pepe, geht es dir gut?«
Pepe nickte. »Ja. Ich bin nur dabei, mich zu verabschieden. Aber es ist, als wäre ich schon gegangen.«
»So geht es mir auch. Aber wenigstens weißt du, wo du hingehst. Ich sage nur auf Wiedersehen.«
»Wem?«
»Allem. Teresa. Dem Gesetz. Papá. Allem, was bis jetzt war.«
»Du meinst es ernst. Was wirst du tun?«
»So weit bin ich noch nicht. Es ist das letzte Mal, dass ich in Junquillos bin, so viel weiß ich.«
»Ai, Xavier.« Die Brüder standen da, in einer Umarmung, und dann saßen die drei schweigend beieinander. Das Feuer. Regen an den Fensterscheiben. Verwaschener gelber Aromo am See.
»¿Y tú, gringa? Du wirst wiederkommen, ganz bestimmt«, sagte Xavier.
»Nein. Werde ich nicht.«
»Natürlich wirst du das«, sagte Pepe. »Papá hat dich so gern.«
Xavier lachte. »Und Laura, wem sagst du auf Wiedersehen? Deiner Unschuld?«
»Ja, Xavier, das tue ich«, sagte Laura.
»Xavier, wie unhöflich!« Pepe war schockiert. »Du bist betrunken!«
Don Andrés kam rechtzeitig zum Abendessen zurück, ritt Electra. Das Stakkato der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster. Dann kamen zwei Männer mit einem Lastwagen und wurden ins Wohnzimmer geführt. Don Andrés war gegangen, um sich umzuziehen.
Beim Abendessen war Xavier sehr betrunken, verschüttete Wein. Pepe war aschfahl, still. Weder Laura noch Teresa verbargen, dass es ihnen schlecht ging. Don Andrés redete über Entwässerung, Ernte, Nutzholz. Es war Pepe, der als Erster begriff, was los war.
»Papá! Du verkaufst doch nicht etwa Junquillos?«
»Alles außer dem Haus und den Ställen.«
Tränen strömten in zwei dünnen Linien über Pepes Gesicht. Teresa verließ den Tisch, schluchzend. Wenn ich nett wäre, würde ich zu ihr gehen, dachte Laura, aber sie ging nicht. Xavier lachte bitter.
»Verflucht gerissen, wie immer. Du weißt, dass das Land der Bevölkerung gegeben wird. Warum nicht auch das edle Haus? Es wird schnell genug passieren. Vielleicht eine Schule.«
Im Arbeitszimmer redeten die Männer bis weit nach Mitternacht. Laura las in ihrem Zimmer im Licht der Lampe Erste Liebe zu Ende. Sie lag wach. Aromo und Nadelbäume. Sie dachte an nichts, war einfach wach, alleine.
Die Zugfahrt dauerte lange, verspätet durch Regen, Überschwemmungen. Don Andrés arbeitete an Papieren. Laura saß ihm gegenüber. Auf der anderen Seite des Ganges saß Pepe und las, Xavier schlief oder tat, als würde er schlafen, während Teresa an etwas Umfangreichem in dunklem Orange stickte. Sie schien sich in einem beleidigten Unverheiratetsein eingerichtet zu haben, hatte eine Brille aufgesetzt, die sie vorher nie getragen hatte. Keine Babysprache mehr. Dann schliefen sie und Pepe ebenfalls ein. Don Andrés sah Laura an.
»Junquillos war reizend«, sagte sie.
»Du bist reizend. Bitte vergib mir, Laura.«
Er sah wieder nach unten auf die Papiere in seinem Schoß. Laura starrte aus dem mit Ruß bespritzten Fenster. Regen tropfte von den durchnässten Aromobäumen. Tja, dachte Laura … ein Wochenende auf dem Lande.
Am Bahnhof eilte Teresas Mutter mit Teresa davon, als hätte es einen Unfall gegeben. Lauras Vater hatte einen chinesischen Fahrer geschickt.
Auf Wiedersehen, danke für eine fabelhafte Zeit.
Das Haus war still, als sie nach Hause kam, kalt. María kam herein, band ihren Bademantel zu. Sie umarmten einander.
»Wir haben dich vermisst! Kann ich dir einen Kakao machen? Was ist mit deinem armen Gesicht passiert?«
»Ein Unfall. Eigentlich ein Abenteuer, aber ich bin zu müde, um davon zu erzählen. Wo sind meine Eltern?«
»Deine Mutter ist im Krankenhaus. Sie hat zu viele Tabletten genommen; sie wurde blau und wachte nicht mehr auf. Morgen ist sie wieder zu Hause.«
»War sie verärgert? Ist was passiert?«
María zuckte mit den Schultern. »¿Quién sabe? Dein Vater hat gesagt, sie wäre einfach nur übermüdet gewesen.«
»Übermüdet!« Die beiden kicherten.
»Ist er jetzt bei ihr?«
»Nein. Er ist auf einer Abendgesellschaft. Doña, du siehst sehr schlecht aus.«
»Ich … ich bin übermüdet! Es war wunderschön, María. Ich erzähle dir morgen alles. Ich gehe ins Bett. Kein Bad, kein Kakao. Aber weck mich morgen früh um fünf. Ich muss noch für Chemie lernen.«
Büffeln für Chemie am Morgen. Genug Zeit, um mit Tinte Symbole auf ihre Handgelenke unter den weißen Manschetten zu schreiben. Aber der Test lief nicht so schlecht. Dann Physik. Der trockene, trockene Señor Ortega. Algebra. Geschichte. Lauras Hand tat vom Mitschreiben weh.
Endlich Mittagessen. Das Tischgebet wurde immer auf Englisch gesprochen. Segne, Vater, diese Speise, dir zur Kraft und uns zum Preise. Während des Essens durfte nur Französisch gesprochen werden; es wurde nicht viel gesagt. Ein Spaziergang durch den Rosengarten. Gerade genug Zeit, um zu erfahren, dass Conchi sich wieder verliebt hatte. Er sagte tú zu ihr, hielt im Kino ihre Hand.
Quena war den ganzen Tag Ski gefahren, jeden Tag. Der Schnee war schön gewesen. Emile Allais hatte ihr Unterricht gegeben, ohne dafür etwas in Rechnung zu stellen. Laura erzählte kurz, aber dramatisch von ihrem Unfall mit der Kutsche. Sie schwärmte von Electra, dem Pferd, der Marie-Antoinette-Kutsche. Mehr von Electra. Ja, sie hatte schließlich doch ein Reitkleid getragen. »Oh, Gott sei Dank«, seufzte Conchi.
Die Glocke läutete. Englisch. Flower in the Crannied Wall. Dann Französisch mit Madame Perea, die über dem Strickzeug döste. Le passé simple. Endlich Spanisch. Wo waren wir? »¡Suspiros!«
Laura stand auf. »Ich habe die Lektion nicht gelesen.«
Señora Fuenzalida lachte. »Das scheint noch nie ein Problem gewesen zu sein. Deine erste schlechte Note.«
Auch Quena und Conchi waren überrascht, als Laura nicht mit ihnen zum Teetrinken ins Golf gehen wollte. »Mama ist wieder krank.«
Helen schlief. Laura machte bis zum Abendessen Hausaufgaben, aß alleine.
Sie stand am Fußende des Bettes ihrer Mutter. »Hallo. Geht es dir gut?«
»Mir geht es gut. Schöne Zeit gehabt?«
»Ja. Ich wünschte, du wärst mitgekommen. Es war schön, wie in einem Roman.«
»Waren die Leute nett?«