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Schwesternliebe - Schwesternhass
ОглавлениеSCHWESTERNLIEBE – SCHWESTERNHASS
von Lucy van Geldern
Oben auf den altmodischen Bildrahmen klebten Schildchen mit Aufschriften wie »Waldtierchen«, »Gartentierchen« und »Haustierchen«. So, als ob das »chen« meiner Schwester erlauben würde, die winzigen Krabbeltierchen und Insekten mit spitzen Stecknadeln aufzuspießen. Oh, wie ich Anke in diesen Augenblicken hasste. Sie saß mit verklärtem Blick auf der Wiese, fing oder sammelte diese kleinen Geschöpfe ein und durchbohrte sie. Anschließend, noch während sie im Todeskampf zappelten, sortierte meine Schwester ihre Opfer in Rahmen ein.
Für mich war diese ungewöhnliche Sammelleidenschaft meiner Schwester ein Gräuel. Ich liebte diese filigranen Tierchen, die sich vor nichts zu erschrecken schienen. Stundenlang konnte ich ihnen zusehen.
Immer wieder behaupten Unwissende, dass Zwillingsschwestern ein Herz und Seele seien. Aber nicht bei uns. Ich leide unter meinem Spiegelbild.
Spiegel kann man verhängen, umdrehen oder einfach in die Ecke stellen. Mit dem doppelten ICH geht das nicht. Es verfolgt einen Tag und Nacht.
Leider hatten meine Eltern kein Einsehen. Um das Schwesterngefühl noch zu stärken, hatten wir zusammen ein Zimmer, die gleiche Kleidung und fast identisches Spielzeug. Nur ein kleiner roter Punkt unterschied meine Sachen von denen Ankes. Schrecklich.
Mit sechzehn unternahm ich den ersten Versuch, mein Spiegelbild zu zerstören.
Meine Eltern, wie regten sie sich auf, als ich am Abend vor ihnen stand! Nicht, weil ich ohne ein Wort zu sagen, einfach in die Stadt gefahren war, sondern wegen meines Aussehens!
Statt der geflochtenen Zöpfe trug ich einen flotten Kurzhaarschnitt, der mich älter aussehen lies. Neidisch blickte mein ehemaliges Spiegelbild drein.
Nicht lange danach trug auch meine Schwester kurze Haare. Es ist schon komisch, wie schnell sich das schwesterliche Abbild wieder dem eigenen Spiegelbild anglich! Vorbei waren die Freuden, als ich mich im Spiegel anlächeln konnte und wusste, dass ich einmalig war.
Schon lange vor dem Abitur war mir klar, dass ich Biologie studieren wollte, wobei ich die Fachrichtung Entomologie, Insektenkunde anstrebte. Unbedingt wollte ich meine Neugier über das spannende Leben der Insekten stillen. Ihnen mit meiner Tätigkeit stumme Abbitte für die Untaten meiner Schwester leisten.
Brav, so brav, wie sie immer gewesen war, schrieb sich mein Spiegelbild als Medizinstudentin ein. Unwillkürlich musste ich an die gequälten Tierchen denken. Ob sie ihre Patienten ebenfalls so behandelte?
Anke zog in die Wohnung, die meine Eltern für uns ausgewählt hatten. Ich wählte eine andere, wesentlich günstigere, aber ausnehmend gemütliche Einzimmerwohnung am anderen Ende der Stadt. Der Aufschrei meiner Eltern hallte wochenlang durch die engen Häuserfluchten. Doch ändern konnten sie daran nichts. Ich war endlich selbstständig und dem elterlichen Spiegelrahmen entwachsen.
Meinem doppelten ICH ging ich aus dem Weg. Zum Glück war dies nicht schwierig. Unsere Fakultäten lagen an verschiedenen Orten, unsere Studienfreunde waren andere. Keinem von ihnen erzählte ich von meiner Schwester. Ich war ich und dieses andere Spiegelbild nur ein Abklatsch!
An einem sonnigen Nachmittag bummelte ich durch die Einkaufstraße des Städtchens. Erschrocken lehnte ich mich an eine kühle Hauswand und biss mich in den Handrücken.
Mein Spiegelbild, mein doppeltes ich ging fremd! Eng umschlungen bummelte sie mit einem blonden Mann durch die Passage. Er sah nicht schlecht aus. Weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick.
Für diesen Typ hätte ich mich erwärmen können. Aber nein, er hatte sich in meine Schwester verguckt. Das ging nicht. Genau wie ich einsam und allein durch die Weltgeschichte lief, sollte auch sie sein. Ein Spiegelbild darf keine Schlieren aufweisen.
Zum Glück waren die beiden so in ihre Gedanken und Träumen vertieft, dass sie mich nicht bemerkten. In meinem Kopf waren sämtliche Insekten losgelassen, sie krabbelten und schwirrten durch meine Gedankengänge.
Die Stimme meiner Mutter klang überrascht, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Die Anrufe an der Heimatfront fielen rar aus. Als meine Mutter bemerkte, dass ich nicht wegen des schnöden Mammons anrief, bekam ihre Stimme einen seidenweichen Klang. Wie ein Wasserfall erzählte sie - erfreut darüber, dass ich ihr zuhörte.
Brav nickte ich, brummte zustimmend, aber in meinem Gehirn rasten die Gedanken. Wie brachte ich das Thema auf meine Schwester, ohne ihr Misstrauen zu wecken? Endlich kam sie auf meine Schwester zu sprechen. Begierig sog ich die Neuigkeiten in mich auf. Speicherte jede Kleinigkeit, die sie mir über deren Lover erzählte. Es war nicht viel, aber für meinen aufkeimenden Plan ausreichend. Besonders der Nebensatz, dass die Beziehung am Kriseln sei, beflügelte mich, schien doch für meine Mutter im Augenblick ein rascher Studienabschluss wichtiger als irgendwelche Liebschaften. Schwesterlein, dir kann geholfen werden!
Zwei Tage und Nächte brütete ich über dem Plan, überlegte, wie ich ihrem Lebensglück einen Dämpfer verpassen konnte.
Dank unserer beinahe doppelspurig ablaufenden Lebensgewohnheiten schlüpfte ich leicht in ihre Rolle. Es tat mir fast körperlich weh, eine andere Person zu sein. Aber was sein muss, muss sein.
Zwei Tage verbrachte ich in der unmittelbaren Nähe ihrer Wohnung, immer auf der Lauer und auf der Hut. Schließlich wollte ich nicht ihr begegnen, sondern ihrem Lover. Meine Schwester hatte die Arbeit auf sich genommen, ihn für sich zu gewinnen, und ich erntete die Früchte und vernichtete sie.
Am späten Nachmittag zeigte meine Wartetaktik Erfolg. Frisch und beschwingt näherte Heiko sich dem Mehrfamilienhaus. In seiner Hand trug er einen wunderschönen Strauß Blumen. Ein Traum, dessen unverschämt hohen Preis ich nur erahnen konnte. Für einen Studenten lag dies sicher an der Schmerzgrenze.
»Hallo Anke«, er musterte mich verwundert. »Du kommst mir entgegen?!«
»Ja«, hauchte ich ihn an, nahm ihm mit einem verliebten Lächeln die Blumen ab und schnupperte.
Sein verwunderter Blick sprach Bände. Er musterte mich, nahm mich in die Arme und küsste mich! Auch wenn mich dieser Kuss überraschte, so genoss ich seine weichen und warmen Lippen, seine tastende Zunge, die meine Mundhöhle erforschte. Mein erster richtiger Kuss und dies von einem Mann, den ich noch nicht einmal kannte!
Er legte seinen Arm um meine Hüfte, drückte mich fest an sich.
»Und nun?«
»Komm mit, beim Italiener habe ich einen Tisch für uns zwei vorbestellt.«
»Aber du weißt doch, dass ich die italienische Küche nicht mag!« Heiko warf mir einen bösen Blick zu und ich dachte schon, es sei vorbei, noch bevor es richtig begonnen hatte.
Sein muskulöser Arm lag noch immer um meine Hüfte, aber seine Berührung war steif geworden. Sachte dirigierte ich Heiko in Richtung Restaurant. Nur weg, bevor mein Spiegelbild auftauchte und mich entlarvte.
Heikos Atem ging laut, fast schon keuchend. Seine Finger hatten sich in meine Hüfte eingegraben. Den verblüfften, häufig irritierten Blicken nach, die uns begegneten, sprachen wir wohl der Vorstellung vom Traumpaar Hohn. Oder lag es am geschundenen Blumenstrauß, den ich achtlos trug, der ständig unfreiwilligen Kontakt mit Straßenlaternen, Sitzbänken und Mülleimern nahm? Der Blumenstrauß raschelte und knisterte. Vorwurfsvoll, wie ich fand.
Der Tisch in der Ecke erwartete uns schon. Wie geordert, in der Nähe der Toilette und ohne Kerzen. Ein Platz, den ich selbst dann nicht wählen würde, wenn das Restaurant bis auf den Notsitz gefüllt wäre. Heiko erging es genauso. Ein Blick, erst zum Tisch, dann zu mir. Eine leicht gekrauste Stirn und missfallendes Zucken der Augenbraue. Ebenso rasch war sein Handeln. Er führte mich zu einem Platz am Fenster.
Emilio, der Wirt kam mit einer wassergefüllten Vase an und rückte mir den Stuhl zurecht. Anschließend stellte er den Strauß in die Vase oder zumindest wollte er dies. Aber als er die geknickten Gerberas, die gedrückten Rosenköpfe und das müde Grünzeug sah, stockte er einen Augenblick in der Bewegung. Dann, ganz Meister seiner Körperbeherrschung, stellte er die Blumen hinein, versuchte – vergeblich, sie zu richten und ging, um unsere Getränke zu holen.
Oh geliebter und gehasster Heiko, sein Gesicht nahm abwechselnd die unterschiedlichsten Farben an. Die Blicke, die er mir dabei zu warf, waren so böse, so abgrundtief zornig, dass ich Mühe hatte, still sitzen zu bleiben. Am liebsten hätte ich in diesem Augenblick mit meinem Spiegelbild getauscht, aber das ging nicht. Augen zu und durch.
»Die Blumen, die du ausgesucht hast – einfach zauberhaft!« Ich zuckte vor mir selbst zurück. „Nur schade, dass sie nicht mehr ganz frisch sind.“
Das wütende Aufbrausen Heikos wurde von Emilios Erscheinen unterbrochen. Emilio legte uns die Karten vor, schenkte den Wein ein und sagte: »Heute empfehle ich Ihnen die Antipasti, anschließend den gegrillten Tintenfisch mit Rosmarinkartoffeln und Salat der Saison.«
»Wunderbar Emilio, das hört sich hervorragend an. Ich liebe Tintenfisch – nicht wahr Heikolein? Wir nehmen es. Heute müssen wir etwas feiern!«
»Aber, halt Stopp. Ich möchte ...« bevor er zu Ende sprechen konnte, knallte ich ihm mit Wucht meinen spitzen Absatz gegen das Schienbein.
Er jaulte auf und verschwand halb unter dem Tisch, um die schmerzende Stelle zu reiben.
Als ob er unsere Auseinandersetzung nicht bemerkt hätte, rauschte Emilio davon.
Hatte er es gut, ich musste nun dem zornentbrannten Gesicht gegenübersitzen. Innerlich zitterte ich vor Angst, aber der Gedanke an meine verliebte Schwester half mir, diese Situation durchzustehen.
Noch immer kümmerte sich Heiko um sein wundes Schienbein und die verletzte Ehre. »Schau dir das an, Blut ist das!« Demonstrativ hielt er mir die verschmierte Hand entgegen. »Und was willst du feiern?«
Für einen Augenblick blieb ich ihm die Antwort schuldig. »Ich bin schwanger!«
Mehr als überrascht blickte Heiko auf, nahm das Glas und leerte es in einem Zug.
»Ja, du hast richtig gehört. Aber eben nicht von dir.« Leider dachte ich in Gedanken. Dabei war ich weder schwanger, geschweige denn, dass ich einen Freund hatte. »Tobias ist damit einverstanden, wenn du die Vaterschaft anerkennst. Ich dachte daran, dass wir in drei Monaten heiraten. Genug Zeit, um alles vorzubereiten ...«
Weiter kam ich nicht. Heiko war aufgesprungen, sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, der zwischen Mitleid, Wut und Hass schwankte.
»Ich lehne dankend ab. Kläre das mit diesem Tobias.« Er griff nach dem Blumenstrauß. »Für eine solche Hexe wie dich sind sie selbst in diesem Zustand zu schade!«
Mit hoch erhobenem Kopf rauschte er hinaus. Nicht, ohne vorher bei Emilio die Rechnung zu begleichen. Ein Kavalier, wie er im Buche stand.
Das war es, mein Schwesterlein! Nun bist du wieder allein!
Zwei Tage später kaufte ich mir einen Spiegel. Einen wunderschönen Kristallspiegel mit Gravuren am Rahmen. Hauchzarte Elfen tanzten darauf ihren Reigen. Bei der Auswahl hatte ich darauf geachtet, dass keine von ihnen einer anderen glich.
Nun zierte dieses Schmuckstück den Eingangsbereich meines kleinen Reichs. Das war mir sogar die tiefrote Farbe auf meinem Konto wert.
Bereit, mich in das allabendliche studentische Nachtleben zu stürzen, musterte ich mich im Spiegel.
Das energische Klingeln an der Tür holte mich aus meinen Gedanken. Ich öffnete und stand meinem Spiegelbild gegenüber.
Aber war sie es? Ich sah ein zweites Mal hin. Ja, sie war es und im gleichen Atemzug auch nicht!
»Hallo Schwesterlein, dürfen wir eintreten?« Ohne eine Antwort abzuwarten, kamen sie und Heiko herein. Ich musterte meine Schwester verwirrt.
»Da staunst du. Ein Permanent-Make-up hat mich viel Geld gekostet. So kann uns keiner mehr verwechseln!«
Heiko musterte mich mit kalten, stechenden Augen. Diese Art der Behandlung war er nicht gewohnt, und sicher hatte er mir noch nicht verziehen.
»Wir haben uns einen anderen Studienort ausgesucht und ziehen in den nächsten Tagen um.«
Sie reichte mir ein sperriges, aber leichtes Paket. Neugierig nahm ich es entgegen, schüttelte es vorsichtig.
»Es wird dir gefallen«, sagte sie, als sie meine Neugierde bemerkte. »Hiermit ernenne ich dich zur Friedhofswärterin meiner Jugendsünden.«
Entschlossen drehte sie auf dem Absatz um und gab Heiko das Zeichen zum Rückzug. Noch bevor sich die Tür hinter ihnen schloss, hörte ich sie noch murmeln: »Freu dich. Von nun an bist du endgültig allein, Schwesterlein.«
ENDE