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Die ungewöhnlichen Untersuchungen des Doktor Yao Ludger Gausepohl 9 Kurzgeschichten
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9 Kurzgeschichten von Ludger Gausepohl
1. Ausgabe 2015
Überarbeitete Neuausgabe, Berlin 2018
Copyright Text & cover by Ludger Gausepohl
Ludger Gausepohl (geb. 1954) stammt aus Münster und lebt seit 1987 in Berlin. Er war Chemiker, Heilpraktiker und vieles andere. Als Erstes veröffentlichte er die Kurzgeschichten „Die ungewöhnlichen Untersuchungen des Doktor Yao“. Es folgte der Roman: „Die heimliche Liebe der Friedensboten zu Münster“.Aus dem Niederländischen übersetzte er: von Capelle, van de Bovenkamp, „Berlin unter Hitler“ und teilweise von denselben, „Der Berghof“, beide Tosa, 2007
von Bernardus Gewin (Vlerk): „Die Reiseabenteuer des Joachim Polsbroekerwould und seiner Freunde “
Daneben schreibt er einen Reiseblog (Ludgers Reisen) und einen Blog zu verschiedenen Themen (Ludgers Ideen und Träume). Neuestes Buch Ist unter dem Titel „Soziotopia – oder eine andere Wende 1989“ erschienen.
Tod einer kaiserlichen Konkubine
Vor wenigen Tagen hatte Yao Ziyang1 in einer feierlichen Zeremonie der kaiserlichen medizinischen Akademie zu Peking sein Diplom als gelehrter Arzt erhalten.
Wegen seiner hervorragenden Kenntnisse der medizinischen Klassiker hatte ein hoher Beamter des Hofes ihm angeboten, an der Neuherausgabe eines grundlegenden Werkes der Heilkunde2 mitzuwirken. Daneben sollte er eine Stelle als Arzt für die zahlreichen kaiserlichen Hofdamen und niederen Nebenfrauen versehen. Da er noch unentschlossen über seinen weiteren Weg war, stimmte der junge Arzt zu.
Der zierliche junge Mann mit feinen Gesichtszügen war äußerst wissensdurstig. Er hoffte auf eine Anstellung, die es ihm ermöglichte, seine Kenntnisse zu erweitern und Menschen zu helfen. Es war ihm aber klar, dass diese Position für seine Ziele nur eine vorübergehende Lösung war. Er hatte schon gehört, dass es in der Verbotenen Stadt, den Palästen des Kaisers und seines Hofstaats wenig Bewegungsfreiheit gab. Man hatte sich einer strengen Hofetikette zu unterwerfen. Aber andererseits gab es kaum Stellen, bei denen er sich auch so intensiv der Fachliteratur widmen und erste berufliche Fertigkeiten sammeln konnte. Nur wenige adelige oder sehr reiche Familien stellten einen eigenen Arzt ein. Krankenhäuser gab es nicht und ansonsten hätte er nur die Möglichkeit gehabt, sich selbständig niederzulassen. Dazu fehlten ihm aber noch Erfahrung und Geld.
Die meisten kaiserlichen Beamten und Bediensteten arbeiteten im äußeren Teil der Verbotenen Stadt. Im inneren Teil, in dem die kaiserliche Familie und der Hofstaat lebte, hatten im Allgemeinen neben den Majestäten und hohen Würdenträgern nur weibliche Bedienstete und Eunuche Zutritt.
Nachdem Yao seine Stelle angetreten hatte, bekam er ein Zimmer im Haus der niederen Beamten zugewiesen. Dieses lag am äußeren Ring der roten Mauern der Verbotenen Stadt. Er konnte die kaiserliche Stadt wohl verlassen, stand aber ständig unter der Kontrolle seiner Vorgesetzten. Wenn er einen oft ermüdenden Tag mit seinen Kräuterstudien oder mit Behandlungen von Hofdamen hinter sich gebracht hatte, begab er sich öfters abends in ein kleines Teehaus außerhalb der kaiserlichen Mauern. Dort traf er Freunde, die er am Hof oder während seiner Studien kennen gelernt hatte. Unter ihnen war auch der kleine Beamte Song, den er häufiger in der kaiserlichen Bibliothek traf und mit dem er sich im Laufe der Zeit angefreundet hatte. Song hatte das Ziel, die Beamtenleiter hinaufzusteigen und studierte fleißig die Klassiker, um die nächst höheren Prüfungen zu bestehen. Im Teehaus besprachen sie die Vorfälle des Tages sowie philosophische Fragen und die Lage am kaiserlichen Hof. Neben dem Studium der Heilpflanzen anhand der vorhandenen Literatur in der kaiserlichen Bibliothek besuchte Yao mehrere Male pro Woche am Vormittag die kaiserlichen Damen. Da diese ein oft recht eintöniges Leben führten und nur äußerst selten die Gunst hatten, mit seiner himmlischen Majestät zusammen zu sein oder andere Verpflichtungen auszuführen hatten, verspürten sie oft das Bedürfnis nach Abwechslung und dazu gehörte auch der Besuch des jungen Arztes. Doktor Yao wurde dann von einem Eunuchen zum Palast des fortgesetzten Glücks, dem Wohnsitz der Damen, geführt. Dort saß dann in einem kleineren Saal hinter einem Vorhang die betreffende Hofdame, deren Schatten das einzige war, was der Arzt normalerweise zu sehen bekam. Die jeweilige Patientin klagte dann über dieses oder jenes Leiden. Um genauere Kenntnis über den Gesundheitszustand der Konkubine oder der höheren Hofdame zu erfahren, war es dem Doktor nur erlaubt, Fragen über den Ort von Schmerzen zu stellen. Die Dame zeigte dann diesen auf einer Porzellanfigur, die dann von einem der Eunuchen zum Arzt gebracht wurde. Der wiederum zeigte dem Arzt, welche Stelle, sie angegeben hatte. Dann reichte die Nebenfrau3 ihren Arm durch den Vorhang und der Doktor durfte den Puls der Dame prüfen. Dieser war somit sein wichtigstes und präzisestes Untersuchungsinstrument. Fast täglich musste der Yao in diese Halle kommen, um einer oder mehreren Hofdamen und Nebenfrauen Kräutermischungen oder Pillen zu verschreiben. Meistens waren es sanft wirkende Mittel, die süß schmeckten oder die die Stimmung etwas verbesserten. Die Damen litten hauptsächlich unter Langeweile, aber auch oft unter melancholischen Stimmungen, ja manche wurden in dieser abgeschirmten Welt geistig verwirrt. So hatte er gestern noch die Dame Liang Chanbao untersucht, die sich darüber beklagte, dass ständig Ameisen über ihren Rücken krabbelten. Er hatte den Puls geprüft: Er deutete auf geschwächte Nieren, einen Mangel an Yin-Energie im Herzen und einen unruhigen Geist. Die Dame redete sehr viel und war dabei recht wirr. Er verschrieb ihr beruhigende Kräuterpillen und empfahl ihr, Karpfen zu essen und gekochte Lotoskerne. Sie solle auch täglich an religiösen Zeremonien teilnehmen oder ihre Hände mit Handarbeiten oder Tuschmalerei beschäftigen, um dem Geist wieder ein Ziel zu geben. Er war sich aber nicht sicher, ob diese Ratschläge die Dame überhaupt erreicht hatten und ob ihre Diener sie dazu anhalten würden. Auf dem Weg zurück begleitete ihn der Eunuch Sun. Er redete ununterbrochen auf den Doktor ein und beklagte sich über die anderen Diener des Palastes der Hofdamen. Die Eunuchen lenkten wegen ihrer Kastration ihre Begierde auf den Erwerb von Reichtum, auf gutes Essen und auf die Steigerung ihrer Macht. Manch einer von ihnen wollte von dem Arzt Mittel, die die Schönheit der Frauen förderten. Damit wollten sie den Kaiser stimulieren, sich der von ihm betreuten Nebenfrau zuzuwenden. Denn, wenn diese erwählt wurde, konnte dies mehr Einfluss und Wohlstand für ihn bedeuten. Es bestand ein ständiger Wettbewerb unter ihnen. Einigen war es durch vielerlei Intrigen gelungen, einflussreiche Posten zu bekommen und sich in die Politik des Reiches einzumischen. Doktor Yao war klar, dass die meisten von ihnen ein elendes Leben am Hofe führten. Sie waren von ihrer Familie getrennt, ihres Geschlechtstriebs beraubt und hinter den Mauern der Verbotenen Stadt mehr oder weniger gefangen. Viele waren ziemlich wohlbeleibt. Sie starben oft früh, da durch die Kastration Krankheiten hervorgerufen wurden, die nach Jahren schwerwiegend wurden. Auch litten sie oft unter dem Abgeschnittensein von der Außenwelt, an Langeweile, Einsamkeit und Melancholie. Als Yao nun am Eingang zur inneren Verbotenen Stadt angekommen war, verabschiedete er sich von dem Eunuchen. Er war erleichtert, endlich dessen Wortschwall zu entkommen und begab sich zu seinem Zimmer im Haus der Beamten. Ein halbes Jahr arbeitete der Arzt nun schon im kaiserlichen Palast und es erschien ihm so, als wären Jahre vergangen. Er hatte das Gefühl, es läge eine bleierne Schwere über der kaiserlichen Stadt. Auch wenn in regelmäßigen Abständen pompöse Feste, Empfänge für ausländische Gesandte und religiöse Zeremonien gefeiert wurden, nichts veränderte sich wirklich, alles folgte den strengen und steifen Regeln der himmlischen Dynastie. In Kürze würde wieder einmal die feierliche Verleihung der höchsten Auszeichnungen des Reiches in der Halle der höchsten Harmonie stattfinden. Der ganze Hofstaat fieberte dem entgegen. Viele hofften, eine Auszeichnung zu erhalten, sei sie auch noch so unbedeutend, um damit ihre Position am Hofe zu festigen oder zu verbessern. Und natürlich war so ein Fest die Möglichkeit, einen Tag dem alltäglichen Einerlei zu entkommen, sich herauszuputzen und zu präsentieren.
Heute hatte die Dame Mao Anli um seinen Besuch gebeten, da ihr in letzter Zeit öfters übel war. Die Dame war eine Nebenfrau seiner himmlischen Majestät und hatte Doktor Yao bisher nur selten in Anspruch genommen. Da der Arzt ohnehin nur wenig mit den Damen sprechen konnte, wusste er wenig über sie. Als er nun von dem Eunuchen Zhao abgeholt wurde, erzählte dieser ungefragt alles, was es über diese Dame zu erfahren gab. Sie war als Kind armer Eltern einem hohen Beamten aufgefallen. Dieser kaufte sie im Alter von vierzehn Jahren von ihren Eltern, welche so ihre Schuldenlast verringern wollten, und brachte sie an den Hof. Als sie dem Kaiser vorgestellt wurde, war dieser ganz entzückt von ihr und nahm sie zu seiner Nebenfrau. Dies war eine hohe Ehre. Normalerweise wäre sie zunächst nur einfaches Mitglied des kaiserlichen Harems geworden. Dies verschaffte ihr natürlich gleich sehr viele Neider. Das Leben im Haus der Nebenfrauen war nicht leicht für sie, zumal der Kaiser, der sehr flatterhaft war, sie auch schnell wieder vergaß. Damit sank sie auch wieder in der Rangfolge weit nach unten. Sie war aber eine kluge Frau, die sich mit Hilfe privater Lehrer bildete und sich mit Seidenstickerei und Kalligrafie beschäftigte und so ihr Leben bereicherte. Auch besuchte sie regelmäßig den buddhistischen Tempel des Palastes, um dort zu beten und zu meditieren. Sie versuchte sich dem Wettstreit unter den Damen des Palastes fern zu halten.
Als der Arzt und sein Begleiter nun zum Empfangsraum des Palastes des fortgesetzten Glücks kamen, der Wohnstätte der hohen kaiserlichen Damen in den sogenannten Westlichen Palästen, humpelte ihnen ein alter Eunuch entgegen und rief aufgeregt:
„Die Dame Mao ist zusammengebrochen und hat sich übergeben. Sie ist ohnmächtig geworden. Schnell, schnell!“ Er geleitete eilig, ganz entgegen den üblichen Gepflogenheiten, den Arzt hinter den Vorhang, wo die Nebenfrau neben dem Stuhl verkrümmt auf dem Boden lag. Ein Dienstmädchen reinigte ihr das Gesicht und klatschte immer wieder mit den Fingern auf ihre Wangen, die völlig blass waren. Der Arzt ergriff den Puls der Liegenden und stellte fest, dass sie noch lebte. Der Puls4 zeigte ihm toxische Hitze an, giftige Substanzen mussten sich im Körper befinden und die Energie der Dame schwächen. Außerdem gab es Hinweise, dass die Dame schwanger war. Yao sagte zu der Dienerin:
„Offensichtlich hat die Dame eine Vergiftung erlitten. Bringen Sie schnell einen Becher Wasser mit einem Löffel Salz darin. Sie soll sich nochmals übergeben und dann viel frisches Wasser oder kalten Tee trinken. Danach sollte sie ruhen. Ich schaue später noch mal nach ihr. Und bitte verwahren Sie die Reste des Erbrochenen in einem verschließbaren Krug.“ Er roch noch an Mund und Nase und fühlte die Temperatur des Gesichts.
„Seit wann ist die Dame schon in diesem Zustand?“ fragte er den alten Eunuchen.
„Sie ist erst kurz bevor Sie kamen zusammengebrochen, hat sich übergeben und sich vor Schmerz gewunden. Dann zuckte sie nur noch ein paar Mal und lag plötzlich ruhig da.“
„Hat sie kurz vorher etwas gegessen oder getrunken?“
Der Beschnittene überlegte kurz und entgegnete:
„Vor Kurzem hat sie einen kleinen Imbiss genommen, ich glaube, es war etwas Reisbrei mit Bohnen und eine Schale Tee.“ Doktor Yao war nun sicher, dass hier eine Vergiftung vorlag. Nachdem das Salzwasser gebracht worden war, flößte er es langsam der Dame ein. Dann presste er auf einen Akupunkturpunkt unter der Nase und am kleinen Finger, sodass sie wieder zu sich kam. Sogleich musste sie sich übergeben. Die Dienerin hielt ihr den Kopf, sodass das Erbrochene direkt in den Krug floss. Der Arzt nahm dann den Krug an sich und beauftragte den Eunuchen, die Dame nicht aus den Augen zu lassen. Er solle ihn benachrichtigen, sobald sich ihr Zustand veränderte. Yao ging dann mit dem Krug zu einem Müllhaufen. Dort hielten sich verwilderte Katzen und Ratten auf. Er schüttete den Krug aus, zog sich etwas zurück und wartete ab. Schon bald kam eine Ratte angelaufen und machte sich gierig über das Erbrochene her. Schon nach kurzer Zeit begann sie zu zucken und fiel um. Wenig später schon rührte sie sich nicht mehr und als er sie mit einem Stöckchen anrührte, war sie völlig leblos. Dies bestätigte seine Vermutung. Er rief einen Diener und forderte ihn auf, das Erbrochene und die Ratte tief zu begraben. Dann ging er nach Hause und dachte darüber nach, wer der Dame wohl nach dem Leben trachten könnte. Es würde fast unmöglich sein herauszufinden, wer das Essen oder ein Getränk vergiftet hat. Es gab so viele Menschen im Palast und zahlreiche Möglichkeiten zur Manipulation. Aber vielleicht konnte die Dame Mao selbst etwas zur Aufklärung der Angelegenheit beitragen, da sie ja glücklicherweise den Anschlag überlebt hatte. Er würde am frühen Abend nochmals zu ihr gehen.
Als er dies zur neunten Stunde5 tun wollte, teilte ihm der diensthabende Eunuch mit, dass es der Dame schon sehr viel besser ginge. Sie wünsche ihn zurzeit nicht zu sehen. Der Doktor war nun doch sehr verwundert. Konnte die Frau den Giftanschlag so schnell überstanden haben? Das schien ihm aufgrund seiner Untersuchungen schwer möglich. Es war ihm nicht erlaubt, ohne die Begleitung eines Eunuchen den inneren Palastbezirk zu betreten, er konnte also die Dame nicht spontan aufsuchen. Wie konnte er trotzdem zu ihr gelangen? Da fiel ihm ein, dass die alte Dame Li, die schon sehr lange in diesem Palast lebte, aber den Sohn des Himmels noch nie von nahem gesehen hatte, sicher schon sehnsüchtig auf seinen Besuch wartete. Sie spielte aufgrund ihres Alters im Intrigenspiel am Hofe keine Rolle mehr. Im Grunde war sie nur eine bessere Dienerin, die sich ein wenig um jüngere Hofdamen kümmerte und ihnen Ratschläge gab.Zusätzlich sorgte sie für die Weiterverbreitung von Klatsch und Tratsch. Trotz der langen Zeit, die sie am Hofe war, hatte ihre Seele scheinbar noch keinen Schaden genommen. Sie war allseits beliebt, da sie sich nicht einmischte und sich immer im Hintergrund hielt. Ihre Kunst war es, nirgendwo anzuecken und niemandes Feind zu werden. Sie bewohnte ein kleines Zimmer im Haus der kaiserlichen Damen. Aufgrund ihres Alters litt sie an rheumatischen Beschwerden und ihre verkrüppelten Füße machten ihr das Laufen immer schwerer. Sie hatte den Doktor in ihr Herz geschlossen und freute sich immer darauf, ihn zu sehen. Er ließ anfragen, ob er sie besuchen könne. Sie sandte ihm bald schon einen noch sehr jungen, sehr verschüchterten Eunuchen, der froh war um jeden Dienst, den er für eine der Damen tun konnte, um so der Langeweile zu entfliehen. Mit ihm eilte Doktor Yao ins Haus der kaiserlichen Konkubinen, um die edle Frau Li aufzusuchen. Frau Lis kleines Zimmer war mehr eine Abstellkammer, was offensichtlich ihrer Stellung am Hofe entsprach. Aber sie musste sich noch glücklich schätzen: Viele ältere Damen wurden vom Hofe vertrieben und mussten dann noch im hohen Alter um ihren Lebensunterhalt kämpfen oder ihn erbetteln. Normalerweise hätte der Arzt das Zimmer einer Dame auch gar nicht betreten können. Aber da sie schon alt war und sehr schlecht laufen konnte, wurde in ihrem Fall eine Ausnahme gemacht. Genau dies war das Ziel des Arztes: So würde er vielleicht auch unbemerkt zu Dame Mao vordringen können. Dies war allerdings mit einem hohen Risiko verbunden und könnte ihn den Kopf kosten, wenn es aufgedeckt würde. Als er das Zimmer der alten Dame betrat, lag diese auf ihrem Bett. Neben ihr saß eine Dienerin mit recht hübschem Gesicht, die aber wohl eher eine Freundin der alten Frau als ihre Bediente war. Die Dame Li begrüßte den Arzt freudig:
„Oh ehrenwerter Doktor, Sie haben mich nicht vergessen, wie es jeder hier tut. Die alte Frau Li ist ja nichts mehr wert. Meine Füße schmerzen heute wieder sehr. Haben Sie nicht eine Medizin für mich?“ Wie viele Frauen im alten China, waren ihr von Kindheit an die Füße verkrüppelt worden. Kleine Füße und ein trippelnder Schritt bei Frauen galten als besonders reizvoll und das bereitete ihr nun immer wieder Schmerzen beim Laufen. Der Arzt begrüßte die alte Dame:
„Guten Tag, edle Dame Li, ich bringe Ihnen eine schmerzlindernde Salbe und ich werde Ihnen jetzt noch ein paar Moxa-Kegel ansetzen. Danach wird es Ihnen sicher schon viel besser gehen.“
Er nahm aus seiner Tasche ein Tütchen mit Moxa-Kraut und formte daraus winzige Kegelchen. Diese setzte er auf verschiedene Punkte an den Füßen und zündete sie mit einem Räucherstäbchen an. Sie glühten durch und er schnippte sie weg, wenn es der Dame zu heiß wurde, um aber gleich ein neues anzuzünden. Dann gab er der Dienerin die Salbe und wies sie an, diese zweimal am Tag aufzutragen. Diese lächelte ihn freundlich an und verneigte sich. Ihre Haltung und ihre freundliche Zuwendung gegenüber der alten Dame beeindruckten Doktor Yao. Er bat dann den jungen Eunuchen, etwas Ingwer, Zimtrinde und Eisenhutwurzel aus der Palastapotheke zu holen. Das war aber nur ein Vorwand, ihn zu entfernen. Dann wandte er sich an die Dame:
„Ältere Dame Li, haben Sie etwas von der Dame Mao gehört, ihr ging es heute Morgen sehr schlecht.“
„Oh ja, jeder sagt, dass sie etwas Vergiftetes gegessen haben muss. Sie liegt noch in ihrem Zimmer und niemand darf zu ihr, sagte ihre Dienerin. Diese ist sehr besorgt und versteht nicht, warum man nicht nach Ihnen gerufen hat. Aber der Obereunuch Siao hat es abgelehnt. Die Dame brauche angeblich nur Ruhe,“ entgegnete Frau Li, „aber ich habe das Gefühl, das wieder einmal etwas vertuscht werden soll. Die Dame Mao hatte vor sieben Monaten eine Begegnung mit dem Sohn des Himmels und offensichtlich wurde ihr durch seine himmlische Majestät neues Leben eingepflanzt. Sie hat versucht, dies geheim zu halten, aber irgendjemand muss davon Wind bekommen haben. Es gibt hier einige Damen, die Angst haben, dass ihre Position am Hof durch einen möglichen Sohn der Dame Mao gefährdet würde. Möglicherweise galt das Gift in erster Linie dem Ungeborenen. Hoffentlich hat es keinen Schaden genommen!“
„Dann wäre es dringend nötig, dass ich die Dame aufsuche, aber dies wird nicht leicht möglich sein ohne eine offizielle Erlaubnis.“
„Nun, sie wohnt in diesem Haus und meine Freundin Mu hier könnte Sie zu ihr bringen. Doch dies muss ohne Wissen der Eunuchen geschehen. Der jüngere Mu, der der Bruder meiner Freundin ist, würde wohl nichts verraten, aber er würde schwer bestraft werden, wenn etwas bekannt würde. Ich werde ihn woanders hin schicken, falls er zu schnell zurück ist und ihm sagen, der alte Huang werde sie zurück geleiten.“ Die freundliche Dienerin Mu war für Reinigungsarbeiten im Hause der Damen eingeteilt. So lief sie zur edlen Frau Mao, um die Erlaubnis zum Besuch des Arztes zu erhalten, sie sollte dabei vermeiden, den Obereunuchen Siao zu treffen. Kurz darauf kam sie zurück und zog den Doktor am Ärmel seines grauen Gelehrtengewandes und er folgte ihr zu dem Zimmer der Konkubine. Deren Dienerin öffnete ihnen, nachdem sie leise zwei Mal geklopft hatten. Dienerin Mu verneigte sich und verschwand dann geräuschlos. Der Doktor, der bezaubert war von der jungen Frau, sah sich noch einmal kurz nach ihr um, bevor er den geschmackvoll eingerichteten Raum betrat.Dort sah er die Dame auf ihrem Bett liegen. Sie war völlig reglos und sehr blass. Yao trat hinzu und fühlte ihren Puls. Er war oberflächlich groß, aber in der Tiefe nicht mehr zu fühlen. Das Qi verflüchtigte sich sichtlich aus dem Körper. Er versuchte belebende Punkte zu drücken, aber das bewirkte nichts. Als er wieder den Puls zu tasten suchte, war er völlig verschwunden. Auch atmete sie nicht mehr und das Herz war nicht mehr zu hören. Das Leben hatte die Dame verlassen. Der Körper fühlte sich bereits kühler an. Er war zu spät gekommen. Beim Fühlen des Pulses entdeckte der Arzt im Ärmel der Frau einen Fetzen Papier. Diesen nahm er an sich und verbarg ihn in seinem eigenen Ärmel. Neben dem Bett fand er eine Tasse, die nicht völlig leer getrunken war. Es sah aus wie normaler Tee, aber roch seltsam süßlich. Doktor Yao bat die Dienerin der Dame Mao, die Flüssigkeit in ein kleines verschließbares Gefäß zu füllen. Er fragte die Dienerin, ob etwas in dem Zimmer fehle. Sie schaute sich in dem Zimmer um und meinte dann:
„Hier an der Wand hing eine Kalligrafie, die die edle Dame vor einiger Zeit als Geschenk bekommen hat. Ich weiß aber nicht, von wem. Leider bin ich des Lesens nicht mächtig. Jemand muss sie mitgenommen haben.“
„Und wie erging es der Dame nach meiner letzten Behandlung?“
„Sie hat das Kind, das sie in ihrem Leib trug, verloren und wir haben es auf ihren Wunsch heimlich bestattet. Es war schon recht weit entwickelt.“
„Hatte denn Frau Mao selbst den Wunsch geäußert, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden?“
„Nein, keinesfalls. Ich durfte mit niemandem über die Schwangerschaft reden und sie versuchte sie durch weite Kleider möglichst unsichtbar zu machen, aber sie wollte das Kind unbedingt.“
„Was wissen Sie über einen möglichen Vater?“
Die Dienerin zuckte mit den Schultern. Sie sagte, sie wisse nichts über Kontakte der Dame, außer ihren letzten Besuch bei der kaiserlichen Majestät vor etwa sieben Monaten. Yao bat die sie, den Obereunuchen zu rufen und ihn über das Ableben der Hofdame zu informieren, sobald er das Haus verlassen hätte. In diesem Moment klopfte es an der Tür und beide zuckten heftig zusammen. Wer mochte das sein, vielleicht der Obereunuch? Das wäre das Ende von Doktor Yao gewesen. Die Dienerin öffnete vorsichtig die Tür. Es war aber nur Fräulein Mu, die nachsehen wollte, ob der Doktor sie noch benötigte. Er begleitete sie schleunigst wieder ins Zimmer der alten Li. Der junge Eunuch kam kurz danach aus der Apotheke und der Arzt bat ihn, ihn wieder zu seinem Quartier zu bringen. Eine Stunde später tauchte dort der Obereunuch Siao auf.
„Kommen Sie schnell, ehrenwerter Doktor, die Dame Mao liegt völlig regungslos auf ihrem Bett, ich fürchte, sie ist plötzlich und unerwartet verstorben!“
Doktor Yao folgte ihm zum Palast des fortgesetzten Glücks. An der Tür zum Zimmer der Nebenfrau Mao standen die Dienerin der Dame sowie die alte Dame Li und Dienerin Mu versammelt. Sie schauten betroffen in das Zimmer. Dieses sah schon leicht verändert aus. Die Tasse war verschwunden und jemand hatte die Dame geschminkt. Der Arzt untersuchte sie nur zum Schein, da er den Tod ja bereits festgestellt hatte. Er hätte nun dem Eunuchen mitteilen können, dass der Tod erst vor kurzem eingetreten war und diesem die ganze Angelegenheit weiterhin überlassen können. Aber wenn jemand die Dame vergiftet hatte, dann musste dies aufgeklärt werden und der Täter bestraft werden. Solche Morde ereigneten sich am Hofe immer wieder mal. Es wurde schon als etwas Natürliches angesehen, dass eines der Mittel der höfischen Intrigen die Ermordung eines Gegners oder auch eines diesem Nahestehenden war. Es würde allerdings schwer sein, etwas zu unternehmen und eine genaue Untersuchung der Angelegenheit würde nur mit Erlaubnis der Hofverwaltung möglich sein. Er forderte daher Siao auf, die Palastwache zu benachrichtigen. Der zögerte zunächst, verließ dann aber den Raum. Yao verabschiedete sich von den Frauen. Besonders verneigte er sich vor Dienerin Mu und eilte dann zurück zu seinem Gemach. Dort wollte er den Zettel, den er im Ärmel der Nebenfrau gefunden hatte, lesen. Es war ein Stück, das vermutlich von einer Kalligrafie abgerissen war. Darauf war nur ein Teil des Namensstempels des Verfassers zu sehen: Libao. Yao konnte diesen Namen niemandem, den er kannte, zuordnen. Hatte er etwas mit der Tat zu tun? Wer konnte überhaupt ein Interesse an diesem Mord haben. Das Gift sollte vermutlich Mutter und Kind töten. Da er beim ersten Mal zu schnell gewesen war, hatte man noch einen zweiten, nun erfolgreichen Versuch mit einem anderen Gift unternommen (nach dem Geruch der Flüssigkeit war es eine Essenz aus bitteren Mandeln). Die Angelegenheit musste unbedingt untersucht werden. Es bestand die Gefahr, dass alles vertuscht wurde. Auch die bereits benachrichtigte Palastwache würde kaum etwas unternehmen. Mit dem Zettel und der in ein Porzellanfläschchen gefüllten Flüssigkeit machte er sich auf den Weg zur Hofverwaltung. Dort forderte er, den kaiserlichen Obermandarin Lin Zhidao sprechen zu dürfen. Dieser ließ ihn zunächst fast eine Stunde warten, bis er ihn in seinem Büro empfing. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich zahlreiche Schriftrollen, alles Eingaben und Beschwerden an den Hof. Einige Diener schrieben Dokumente ab oder versiegelten fertiggestellte Schreiben. Im Gegensatz zu manchem anderen Büro am Hofe wurde hier also tatsächlich gearbeitet. Der Doktor konnte auch nirgendwo kostbare Geschenke sehen, die andere Hofbeamte wie Trophäen ihrer Macht ausstellten. Er hatte den richtigen Beamten ausgewählt.
„Willkommen, ehrwürdiger Arzt. Welche Ehre für mein bescheidenes und unwürdiges Büro. Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?“ begrüßte der Obermandarin mit der bei Hofe üblichen Höflichkeit Doktor Yao.
„Ich habe Ihnen einen Todesfall im Haus der Hofdamen zu melden. Die Palastwache habe ich bereits benachrichtigen lassen. Es scheint mir aber notwendig, die Angelegenheit gründlich zu untersuchen, da ich Anlass zu der Vermutung habe, dass die Dame Mao vergiftet wurde. Alle körperlichen Zeichen deuten darauf hin. Ich bin gerne bereit, bei der Aufklärung des Verbrechens behilflich zu sein,“ antwortete ihm der Angesprochene.
„Dies ist ein äußerst bedauerlicher Vorfall. Eigentlich gehört es nicht zu meinem Aufgabengebiet, solche Angelegenheiten zu verfolgen. Dies obliegt dem General der Palastwache Tang. Ich werde ihm aber nahelegen, sie in seine Untersuchungen einzubeziehen. Er hat ja meistens damit zu kämpfen, dass ähnliche Fälle von interessierten Dienern und Beamten vertuscht. Eine Untersuchung ist so nicht mehr möglich, da alle Spuren bereits beseitigt sind.“
Er nahm ein Blatt Papier, schrieb darauf etwas nieder und rollte es zusammen. Dann ließ er es versiegeln und übergab es seinem Mitarbeiter, Yaos Freund Song, mit dem Auftrag, den Doktor zu dem General Tang zu begleiten. Auf dem Weg zum General berichtete der Doktor dem Beamten, was passiert war. Song meinte:
“Das ist ja leider kein so seltener Vorfall in diesen hohen Gemächern. Ich könnte dir so viele Geschichten von Intrigen, Diebstahl und Mord erzählen, die sich im kaiserlichen Palast abspielen. Ich zweifele langsam, ob meine angestrebte Karriere wirklich wünschenswert ist. Mein Ziel war es, dem Land zu dienen. Vielleicht kann man das doch besser an anderer Stelle tun, ohne sich dabei die Hände zu beschmutzen oder selbst in die Räder dieser Mühlen zu geraten.“
Doktor Yao schaute sich um, ob ihnen niemand folgte und entgegnete:
„Ja, es braucht wohl eines besonderen Charakters, um hier nicht zu versteinern.“
Dies war schon eine recht rebellische Äußerung, die jemand anderes möglicherweise an höhere Stellen gemeldet hätte. Sein Begleiter nickte nur. Yao fragte seinen Freund dann noch:
„Hast du mal hier am Hof den Namen Libao gehört? Es ist wohl der Vorname des Verfassers einer Kalligrafie.“ Sung überlegte eine Weile und meinte dann:
„Es könnte der Vorname eines höheren Beamten in der Behörde der Riten sein. Das wäre der Einzige, den ich mit diesem Namen kenne: Wang Libao. Aber wie sollte er mit der Dame in Kontakt gekommen sein, er hat sicher keine Erlaubnis den Palast der hohen Damen zu betreten.“
„Wo ist seine Behörde?“ Song beschrieb Yao die Lage des Amtes im Außenbereich der Verbotenen Stadt und gab ihm einige Ratschläge, wie er vorgehen sollte. Schließlich kamen sie zum Sitz der Palastwache an der äußeren Umfassungsmauer des Palastbezirks und baten an der Pforte zum General Tang vorgelassen zu werden. Song übergab der Wache sein Schreiben und diese hieß sie in der Vorhalle warten. Dann kam der Wachmann zurück mit einem Soldaten, der die beiden aufforderte, mit ihm zu kommen. Der Soldat führte sie in einen großen Raum, in dem der General der Palastwache residierte. Der Raum war relativ schmucklos. An einer Seite saßen eine Reihe von Soldaten, die wohl auf neue Befehle warteten, während der General an einem großen Tisch saß und einige Dokumente unterzeichnete. Er war ein recht großer und kräftiger Mann und im Gegensatz zu vielen Militärs nicht ein Uigure oder Tatare, sondern ein Chinese. Die Sicherheit des Hofes wollte man wohl doch lieber nicht Söldnern aus den unruhigen Minderheiten im Norden des Landes anvertrauen. Als die beiden Männer zögernd am Eingang stehen blieben, erhob er seinen Blick und winkte sie heran. Song blieb zurück und Doktor Yao trat zum Tisch von General Tang und sagte:
„Hoch geehrter Herr General Tang, ich komme aus einem unerfreulichen Anlass zu Ihnen. Vor kurzem wurde ich zur ehrenwerten Dame Mao gerufen und konnte leider nur noch ihren Tod feststellen. Ich habe Anlass zu der Vermutung, dass sie vergiftet wurde, da sie bereits einmal einen Anschlag auf ihr Leben erleiden musste. Ich bin sehr gerne bereit, Ihnen bei der Aufklärung behilflich zu sein.“
„Hochgelehrter Doktor Yao, soeben habe ich bereits vom Obereunuchen Siao diese Mitteilung erhalten. Dieser glaubt aber, es handele sich um einen Tod durch Schwäche,“ entgegnete ihm der General.
„Ja, sicher war die Dame durch den vorherigen Giftanschlag noch geschwächt. Außerdem war sie schwanger, aber ansonsten bei guter Gesundheit und hätte deswegen nicht sterben müssen. Es ist bedauerlich, dass ich nicht früher zu ihr geschickt wurde, aber ich habe eindeutige Hinweise, dass ihr Gift eingeflößt wurde. Der Tee, den sie zuletzt trank, enthielt eine Essenz aus giftigen Bittermandeln und eventuell Eisenhut. Dies wirkt schnell und ich konnte leider nichts mehr tun. Auch das Ungeborene ist durch den ersten Giftanschlag getötet worden, welches möglicherweise ein Kind seiner himmlischen Majestät sein kann. Es wurde leider heimlich begraben.“ Der General schaute sehr betroffen. Denn handelte es sich bis jetzt für ihn um eine normale Hofintrige, wurde die Angelegenheit nun unter Umständen zu einer Staatsaffäre. Lieber hätte er gar nichts davon erfahren, wie es ja auch meistens der Fall war, denn dahinter steckte sicher noch jede Menge Ärger. Nun konnte er sich der Sache nicht mehr entziehen, da auch die Hofkanzlei bereits informiert war. Er ordnete an, das Zimmer der Dame gründlich zu untersuchen. Der Arzt ließ sich, ohne lange zu warten, von zwei Palastwachen zum Frauenhaus bringen, wo er vom Obereunuch Siao in Empfang genommen wurde. Dieser war in hellem Aufruhr, als er erfuhr, dass eine amtliche Untersuchung ins Haus stünde.
„Oh Weh, das wird den Frieden der hohen Damen sehr stören und ist es überhaupt notwendig? Die Dame wird doch durch die Untersuchung auch nicht wieder zum Leben gebracht,“ klagte er. Als Doktor Yao das Zimmer der Dame Mao mit den Palastwachen betrat, war ihm aber sofort klar, dass hier schon jemand begonnen hatte „aufzuräumen“. Er fragte die herbeigerufene Dienerin der edlen Frau, ob sie an dem Zimmer etwas verändert habe. Sie verneinte dies und meinte, man habe sie weggeschickt und mit anderen Arbeiten betraut. Der Arzt fragte sie dann:
„Können Sie erkennen, ob in diesem Raum seit dem Tod der Dame Mao etwas verändert worden ist?“
Sie schaute sich eine Weile um und nickte:
„Ja, auf dem Schreibtisch fehlen Papierrollen und die Kleidung der Dame liegt woanders.“
„Hat die Dame denn irgendwelche brieflichen Nachrichten in letzter Zeit bekommen und wo bewahrt sie die immer auf?“
„Nun, sie liegen in einer roten Lackschachtel, die sie meistens unter ihrem Bett verwahrte.“
Sie schaute unter das Bett und konnte dort aber nichts finden.
„Hier ist sie nicht mehr, jemand muss sie weggenommen haben,“ rief sie entsetzt aus. Doktor Yao nahm vom Schreibtisch einen frischen Bogen Papier und einen Pinsel und notierte diesen Tatbestand. Er bat die Palastwächter, das ganze Zimmer nach der Schachtel zu durchsuchen. Er durchsuchte die Papiere auf dem Schreibtisch. Es waren im Wesentlichen Kalligrafien der Dame und ganz unten im Stapel, eine des Kaisers. Briefe fanden sich dort nicht. Dann untersuchte er die Leiche nochmals gründlich, diesmal schaute er auch unter die Kleider, ob er Verletzungen oder Ähnliches fand. Er konnte aber in der Kleidung und am Körper der Toten nichts mehr finden. So gab er ihn zur Vorbereitung der feierlichen Verbrennung frei. Wer konnte ein Interesse am Tod der Dame Mao haben? Ein kaiserliches Kind hätte das Gewicht von Frau Mao am Hofe sehr verstärkt, da der Kaiser bisher nur einen Sohn hatte, der oft kränklich war. Also könnte eine der Hauptfrauen, die noch keine Kinder geboren hatte oder einer ihrer Eunuchen aus eigenen Interessen den Mordanschlag veranlasst haben. Aber wie sollte man das nachweisen? Und warum hatte die Dame ihre Schwangerschaft verheimlicht? Die Palastwache würde vermutlich bald mit irgendeinem kleinen Palasteunuchen ankommen und ihn der Tat beschuldigen und aburteilen. Dann war das Ganze für sie erledigt; ob er wirklich schuldig war, interessierte niemand. Er fragte nun den Obereunuchen, ob er die Dame Li besuchen könne, denn sie habe Probleme mit ihren Füßen. Dieser war froh, dass der Doktor sich aus dem Zimmer der Dame entfernen wollte und nickte nur. So lief Yao mit der Dienerin der Dame Mao zu der alten Dame und klopfte an ihre Tür. Es öffnete wieder Dienerin Mu, wie er es sich erhofft hatte. Denn eigentlich galt sein Besuch ihr und nicht der alten Frau. Diese ahnte natürlich nichts davon und war recht erfreut über diesen unerwarteten Besuch. Der Doktor untersuchte ihren Fuß und fragte, ob er sich schon gebessert habe. Sie bestätigte dies und lobte seine Fähigkeiten als Arzt über alle Maßen. Schließlich meinte sie noch, ihre Freundin Mu habe sich erkältet, ob er nicht auch für sie eine Medizin habe. Offiziell habe sie ja keinen Anspruch auf seine medizinische Hilfe, aber vielleicht könne er ja etwas für sie tun. Der Doktor bat die junge Frau freundlich sich zu setzen und fühlte dann ihren Puls. Der ging etwas schneller als normal, aber das schien nichts mit der Erkältung zu tun zu haben, sondern deutete nur darauf, dass sie aufgeregt war. Er dachte bei sich, dass sein eigener Puls sich wohl momentan genauso anfühlte. Er versprach der Dienerin, dass er ihr bald eine geeignete Medizin ins Zimmer der älteren Dame Li schicken lassen würde. Dann musste er sich aber verabschieden und verneigte sich tief vor den beiden Frauen. Die Dienerin Mu bezauberte ihn sehr. Er wusste jedoch, dass es kaum eine Möglichkeit geben würde, ihr näher zu kommen, um sie kennen zu lernen. Yao verließ nun den Palastbezirk und begab sich ins Teehaus, um dort seinen Freund Song zu treffen und den Fall mit ihm zu besprechen. Dieser kannte sich über die Verhältnisse am Hof sehr gut aus und konnte vielleicht etwas Licht in den Wust aus Fragen bringen. Tatsächlich saß Song schon im Teehaus und schlürfte seinen Tee. Als er Yao erblickte, rief er:
„Ich habe etwas in Erfahrung bringen können, setz dich, setz dich!“
Nachdem Yao an seinem Tisch Platz genommen hatte, berichtete er, dass er mit einem Kollegen des Wang Libao gesprochen habe, den er schon länger kenne. Dieser habe ihm erzählt, dass Wang als frommer Buddhist gelte, der regelmäßig in den Tempel gehe. Er sei bei den Beamten bekannt, weil er eine besonders dunkle Hautfarbe habe. Die fände man sonst eher bei Bauern aus dem Süden als am kaiserlichen Hof. Aber in den letzten Tagen habe er sich krank gemeldet und sei zu Hause geblieben. Er sei ein recht gebildeter Obermandarin, der mitverantwortlich für die Prüfungen in den klassischen Texten für mittlere Beamte sei. Neben seinem Beamtengehalt habe er wohl noch ein beachtliches Vermögen angesammelt und habe zwei Ehefrauen und fünf Kinder, davon einen Sohn. Doktor Yao erklärte, er müsse mal das Büro des Beamten sehen, um festzustellen, ob dort eventuell eine seiner Kalligrafien zu finden seien, um den Stempel zu identifizieren. Song riet ihm, doch für einen vermeintlichen Freund nach den Zeiten und Themen für die nächsten Prüfungen zu fragen. Doktor Yao nickte, aber da er an diesem Tag noch seinen Arztpflichten nachkommen musste, nahm er sich dieses Vorhaben für den nächsten Morgen vor. Schließlich erzählte er Song auch noch von den Begegnungen mit Dienerin Mu und welche ungewohnten Gefühle das bei ihm ausgelöst hatte. Song schaute etwas amüsiert und riet ihm, dies schleunigst wieder zu vergessen, denn es sei kaum möglich, dass daraus etwas werden könne.
Am nächsten Morgen schlürfte Yao zum Frühstück schnell eine Nudelsuppe und eilte dann zum Amt für die Prüfungen bei der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Im Büro des Prüfungsamtes angekommen, erkundigte er sich nach Wang Libao. Man teilte ihm mit, dass dieser seit einigen Tagen krank sei. Er fragte dann, wer ihm Mitteilung machen könne über die Themen der Prüfungen für mittlere Beamte. Ein Beamter namens Huang könne ihm darüber Auskunft geben. Er sitze im gleichen Büro wie Wang. Yao ging dorthin, verneigte sich vor dem Beamten und bat ihn um Auskunft über die Prüfungsthemen. Als jener in seinen Unterlagen nachschaute, sah der Doktor sich im Raum um. An der anderen Seite des Zimmers hing an der Wand eine große Kalligraphie, die das Siegel Wangs enthielt. Und es entsprach genau dem Siegel, das sich auf dem Stück Papier befand, welches er noch in seiner Tasche hatte. Damit wusste er, dass es eine Verbindung zwischen Wang und Frau Mao gab. Nachdem er sich die Prüfungsthemen notiert und sich bei Huang bedankt hatte, eilte er in einen kleinen buddhistischen Tempel im äußeren Teil der Verbotenen Stadt. Er wusste noch nicht recht, was er hier finden konnte. Im Hof des Tempels stand ein großes Bronzegefäß, in das man Räucherstäbchen stellen konnte. In diesem Tempel fand man nur wenige Gläubige, da ja nur die Bewohner und Bediensteten der Verbotenen Stadt hier Zugang hatten. Schließlich entdeckte er einen jungen Mönch, der am Rande des Tempels saß und eine Schale Reis verzehrte. Er sprach den Mönch an und fragte ihn, ob er häufiger hier sitze. Der bejahte das. Immer wenn die Gläubigen ihre Gaben in seine Schale gefüllt hätten, nehme er hier seine Mahlzeit ein. Hier könne er den ganzen Tempelvorplatz überblicken. Seine Aufgabe sei es, dafür zu sorgen, dass die Heiligkeit des Tempels nicht verletzt werde. Yao fragte den Mönch:
„Ehrenwerter Mönch, haben Sie denn häufiger eine kaiserliche Dame beobachtet, die regelmäßiger in den Tempel kam?“
„Nun. Es kommen gelegentlich Damen aus den westlichen Palästen zu uns. Aber nur eine kam regelmäßig hierher und blieb eine ganze Weile im Tempel oder im dahinter gelegenen Garten. Ansonsten kommen hier ja nicht so viele Menschen her. Ein höherer Beamter suchte auch recht häufig den Tempel auf. Er ist mir aufgefallen, weil er eine so dunkle Hautfarbe hatte, wie jemand aus dem Süden. Aber in den letzten Tagen sind beide nicht mehr hier gewesen. Wir sind nur fünf Mönche, die diesen Tempel betreuen, und wir können uns sehr viel Zeit für unsere Meditationen und Riten nehmen.“ Der Mönch sichtlich froh, sich mal mit jemanden unterhalten zu können und war deshalb sehr auskunftsfreudig. Doktor Yao bedankte sich, trat in den Tempel ein, der recht dunkel war. Nur die vergoldete Buddha-Figur auf dem Altar in der Mitte des Raumes, angestrahlt von hunderten von Öllämpchen und die etwas kleineren Figuren der Boddhisattvas, der Jünger Buddhas, rechts und links vom Altar, glühten in der Dunkelheit. In dem wenig beleuchteten Raum hinter den Figuren hielten sich normalerweise nur die Mönche auf und wurden rituelle Geräte in Schränken verwahrt. Hier wäre es für zwei Personen möglich gewesen, sich heimlich zu treffen. Nachdem sich der Arzt vor der Buddhastatue verneigt hatte, verließ er den Tempel, nickte dem jungen Mönch zum Abschied zu und ging zu seinem Zimmer in der äußeren Verbotenen Stadt. Es war nun klar, dass die Dame Mao hier den Beamten Wang getroffen hatte. Er hatte jedoch keinen Beweis dafür, dass hier das Kind der Dame entstanden war. Das Stück Papier von der Kalligraphie bewies, dass die beiden Kontakt hatten, aber mehr nicht. Allerdings hätte das Kind Wang möglicherweise verraten, wenn es sein Aussehen, die dunkle Hautfarbe, geerbt hätte. Vielleicht hatte er die Dame getötet, um seinen Frevel zu vertuschen. Das einzige, was ihn weiter bringen könnte, wäre ein Gespräch mit dem Mann. Aber offensichtlich war er nicht in seinem Amt und vermutlich auch nicht in seinem Haus in der Stadt. Wie sollte er ihn finden? Dann kam ihm ein Gedanke. So ein hoher Beamter hatte sicher ein Sommerhaus am Rande der Stadt und vielleicht hatte er sich dorthin zurückgezogen. Er musste versuchen, über seinen Freund Song herauszufinden, wo dieses Haus lag. So machte er sich auf zum Teehaus hinter der äußeren Palastmauer, wo er im Allgemeinen seinen Freund Song traf. Und tatsächlich hatte dieser sich dort eingefunden und trank ein Tässchen edlen grünen Tees. Yao setzte sich zu ihm und bestellte sich ebenfalls eine kleine Kanne des Getränks. Dann berichtete er von seinen neuen Erkenntnissen und bat Song für ihn herauszufinden, wo der Beamte Wang vielleicht ein Sommerhaus hatte. Sein Freund versprach ihm, dies so schnell wie möglich zu erledigen. Nachdem sie noch ein wenig über das Leben philosophiert hatten, verabschiedeten sich die beiden voneinander und gingen ihrer Wege.
Einen Tag später kam Song zu Yao in die Bibliothek. Er hatte über einen Kollegen im Amt für die klassischen Prüfungen herausgefunden, wo sich Wangs Sommerhaus befand. Es lag an einem kleinen See im Norden der Hauptstadt. Yao fragte sich, wie er dorthin kommen sollte. Weder war er des Reitens kundig, noch besaß er eine Kutsche oder eine Sänfte. Eine solche konnte er sich wohl mieten. Er beschloss dies zu tun, auch wenn es ihm nicht angenehm war, mit der Kraft anderer Menschen transportiert zu werden. Aber er wollte so schnell wie möglich mit diesem Mann reden und so blieb ihm nichts anderes übrig. Sein Freund Song besorgte ihm eine Sänfte, mit der er sich von zwei kräftigen Dienern zu dem kleinen See vor den Toren der Hauptstadt bringen ließ. Das Landhaus des Beamten Wang lag sehr idyllisch an einer Bucht, umgeben von Wald. Der Garten war nur verziert mit einigen großen Steinen. Wie würde der Mann ihn empfangen. War er der Täter, dann konnte es sein, dass er versuchen würde, ihn zu töten, um nicht verraten zu werden. Es war also recht riskant, ihn anzusprechen.
Wang saß an einem Steg, der ins Wasser ragte, und betrachtete die Schwalben, die über die Oberfläche hinweg flogen. Als er die Ankömmlinge sah, erhob er sich und ging Doktor Yao entgegen. Dieser begrüßte ihn höflich und bat ihn um eine private Unterredung. Wang bat den Arzt in das eher bescheidene Haus, das nur durch einige Kalligrafien an den Wänden geschmückt war. Nachdem der Hausherr von einem Diener eine Kanne Tee und zwei Tassen hatte bringen lassen, schilderte Yao etwas umständlich sein Anliegen. Er hatte aber vom ersten Eindruck das Gefühl, dass er nichts zu befürchten hätte.
“Hoch geehrter und gelehrter Herr Wang, ich bitte Sie, meinen überfallartigen Besuch zu entschuldigen. Ich bin hier, um einen schwierigen Sachverhalt aufzuklären. Wie ich erfahren habe, ist Ihnen die Dame Mao vom kaiserlichen Hof bekannt. Um sie geht es bei meinen Nachforschungen.”
Wang zuckte bei der Erwähnung des Namens seiner Geliebten zusammen, aber blieb ansonsten ruhig.
“Ich bin etwas erstaunt, dass ein Arzt in dieser Angelegenheit zu mir kommt, da ja die Dame kürzlich verstorben ist. Viel eher hätte ich jemanden von der Palastwache erwartet.”
“Nun, ich bin wohl zu den Untersuchungen über den Tod der Dame hinzugezogen worden, aber meines Wissens verfolgt die Palastwache noch keine konkrete Spur. Ich habe bei der Untersuchung der Leiche ein Stück einer Kalligrafie gefunden, die offensichtlich von Ihnen stammt. Ein Besuch im Buddha-Tempel brachte mir dann die Erkenntnis, dass Sie die Dame Mao häufiger gesehen haben. Da die Dame schwanger war und kurz vor ihrem Tod ihr Kind durch eine Vergiftung verloren hat, muss ich Sie fragen, ob dieses Kind von Ihnen sein könnte.” Der Beamte schwieg eine Weile und erwiderte dann:
“Ich kann dies zumindest nicht ausschließen, denn unsere Beziehung war sehr innig, wir liebten uns. Wir hatten einander als zwei verwandte Seelen erkannt und uns in einander verliebt. Wir wussten natürlich, dass dies frevelhaft war und bei Entdeckung schwer bestraft werden würde. Aber unsere Gefühle waren mächtiger als die Drohung mit dem Tod. Allerdings, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, muss unsere Beziehung jemandem, der uns kannte, aufgefallen sein. Jedenfalls erhielt die Dame Mao Drohungen, dass man sie verraten würde, wenn sie nicht eine gewisse Geldsumme bezahlen würde. Mehrmals bekam sie anonyme Briefe mit dieser Drohung und schließlich mit genauen Anweisungen, wie sie das Geld übergeben sollte. Ich war bereit, diese Summe aufzubringen. Ich hätte mein Landhaus verkauft und einige meiner besten Kalligrafien. Aber die edle Dame wollte davon nichts wissen, sondern glaubte, dass sie nur herauszufinden brauchte, wer der Erpresser sei und ihn dann durch ihren Einfluss vom Hofe verbannen lassen könnte. Aber als dann der Giftanschlag auf sie erfolgte, war mir klar, dass sie die Gefahr unterschätzt hatte. Ich machte mich daher daran, das Geld für den Erpresser zu besorgen. Aber schon am nächsten Morgen bekam ich über einen Mönch im Tempel die Nachricht, dass die Dame an den Folgen der Vergiftung verstorben war.”
“Dies ist nicht ganz korrekt. Frau Mao wäre noch am Leben, wenn nicht jemand ihr nochmals eine giftige Substanz eingeflößt hätte. Ihre Dienerin kommt dafür nicht in Frage. Es muss aber jemand vom Hofe sein. Es ist auch anzunehmen, dass es der Erpresser war, der die Dame mundtot machen wollte, da er die Aufdeckung seiner Taten befürchtete. Haben sie eventuell noch einen der Briefe des Erpressers?”
“Nun, zwei davon hatte Frau Mao in ihrem Zimmer verwahrt, aber den Dritten hatte sie mir gegeben. Ich hole ihn.”
Er stand auf, ging zu einem Schränkchen und entnahm aus einer Schublade einen gefalteten Brief, den er Yao übergab. In dem Brief stand:
“Eine letzte Warnung, wenn ich nicht meine Entlohnung erhalte für mein Schweigen, wird dieses böse Folgen haben!“ Der Doktor meinte:
“Ich muss die Schrift dieses Briefes mit der Schrift einiger möglicher verdächtiger Angehöriger des Hofes vergleichen. Es gab nur wenige, die Zutritt zum Zimmer der Dame hatten und unter diesen muss der Mörder zu finden sein.”
“Sehr gelehrter Herr Doktor, Ihre Weisheit ist außerordentlich. Sie werden sicher verstehen, dass ich mich in einer äußert schwierigen Situation befinde. Daher kann ich nicht als Zeuge in diesem Fall dienen. Ich setze sonst mein Leben aufs Spiel. Dieses ist nach dem Tod meiner Geliebten allerdings nur noch wenig wert.”
“Ich verstehe ihre Lage sehr gut und bedauere, dass ich ihnen kaum Trost spenden kann. Ich empfehle Ihnen aber, sich in den Ruhestand versetzen zu lassen und sich weit weg von der Hauptstadt zu begeben. Ich werde aber alles tun, um ihren Namen aus der Angelegenheit herauszuhalten. Da die Briefe sich an die Dame Mao richteten und nicht deutlich angeben, was der Erpresser enthüllen wollte, erscheint dies mir möglich. Die beiden anderen Briefe wurden wohl auch vernichtet, denn in der Wohnung der Dame wurde nichts gefunden.” Nachdem Yao sich von Wang verabschiedet hatte, ließ er sich eilig wieder in die Verbotene Stadt zurückbringen.
Es war schon sehr spät, als er in das Teehaus kam, in dem er sich immer mit seinem Freund Song traf. Dieser war glücklicherweise noch dort und Yao berichtete ihm, was er erfahren hatte. Er übergab ihm den Brief und bat ihn, diesen mit verschiedenen Schriftstücken vom Hofe zu vergleichen, vor allem mit solchen, die aus dem Palast des fortgesetzten Glücks kamen. Ihm war klar, dass es kaum ein einfachen Diener des Palastes gewesen sein. Die waren zumeist nicht des Schreibens mächtig. Vermutlich hatte eine gebildete Person das geschrieben. Die Schrift des Briefes stammte auch eher von einem Mann als von einer Frau. Dies engte die Gruppe der Verdächtigen stark ein. Einer der Mönche kam sicher auch nicht in Frage. Er hätte keine Möglichkeit gehabt, in den inneren Bezirk zu kommen, um den Giftanschlag zu vollführen.
Am nächsten Morgen begab sich Yao zur Palastwache und erkundigte sich nach dem Stand der Untersuchungen. Man gab an, dass sich bisher keinerlei Beweise für eine Mordtat gefunden hätten. Er entgegnete, dass er eventuell in Kürze solch einen Beweis vorlegen könnte, wozu er aber noch einige Erkundigungen einziehen müsse. Er ließ den überraschten Offizier der Palastwache stehen und begab sich in die Bibliothek, wo er Song zu treffen hoffte. Da dieser aber noch nicht dort war, ging er in sein eigenes Zimmer und sah sich die Zettel an, die er gelegentlich als Nachricht bekam, wenn er zu einer kranken Dame gerufen worden war. Die meisten hob er nicht lange auf, aber die der letzten Woche lagen noch auf seinem Schreibtisch. Dabei war auch die Nachricht über die Erkrankung von Frau Mao. Dieser Brief war in der Kanzleischrift des Hofes geschrieben und die Schrift ähnelte stark der des Erpresserbriefes. Doch im Gegensatz zu diesem trug er eine Unterschrift. Er eilte zurück zur Bibliothek und dort war Song nun auch eingetroffen und zuckte mit den Schultern. Er hatte noch nichts gefunden.
“Alter Freund, ich danke dir für deine Bemühungen”, erwiderte ihm Yao, “aber ich war selbst erfolgreich“ und zog den Brief hervor.
“Bitte gib mir die Briefe! Diese beiden Schreiben werden den Täter überführen. Es gibt ein Motiv für den Mord und starke Indizien,” entgegnete ihm Freund Song. Beide eilten zur Palastwache und ließen sich zu Oberst Zhang bringen, dem Stellvertreter des Generals. Diesem übergab Song die beiden Briefe und schilderte ihm kurz, was sich nach Doktor Yaos Meinung abgespielt hatte:
“Der Täter hatte beobachtet, dass die Dame Mao mit einem Mann von außerhalb der Verbotenen Stadt in Kontakt stand. Er erpresste sie mit diesem Wissen. Als sie sich weigerte, das Schweigegeld zu zahlen, vergiftete er sie, da er befürchtete, dass sie ihn verraten würde. Sie hatte sich sich als wesentlich selbstsicherer erwiesen, als er erwartet hatte. Nachdem der erste Giftanschlag misslang, musste der Täter sie umso dringlicher beseitigen und flößte ihr, was in ihrem hilflosen Zustand leicht war, nochmals Gift ein. Allerdings konnte das nur jemand tun, der Zutritt zum Haus der edlen Damen hatte. Außer den Damen selbst waren das nur Eunuchen und Dienerinnen. Und dieser Brief war eindeutig nicht von einer Frau geschrieben. Hier zum Vergleich ein anderes Schreiben, dessen Schrift der des Erpresserbriefes gleicht. Es ist unterzeichnet vom Obereunuch Siao. Dieser wollte durch Erpressung sein Einkommen aufbessern. Er hat auch von Anfang an alle Nachforschungen behindert!” Der Oberst schaute betroffen auf die Briefe und musste beschämt eingestehen, dass seine Truppe bisher nichts herausgefunden hatte und dass die Tatsachen für sich sprächen. Sogleich wurden Wachen aus geschickt, die den Eunuchen festnehmen sollten. Seine Verurteilung aufgrund der Beweise war nun so gut wie sicher und es wartete ein Todesurteil auf ihn.
Doktor Yao begab sich anschließend in sein Büro. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb zunächst ein Zettelchen, das er ganz klein zusammenfaltete und dann ein Rezept für Dienerin Mu, welches er in der Hofapotheke selbst abholte. Auf dem Zettel stand:
„Hoch verehrtes Fräulein Mu,
es ist mir bekannt, dass es nicht schicklich ist, sich auf diese Weise an Sie zu wenden, aber leider habe ich keine andere Möglichkeit. Da ich sehr bald den kaiserlichen Hof verlassen werde, hätte ich den aufrichtigen Wunsch, Ihnen noch ein Mal gegenüber treten zu können. Die einzige Möglichkeit hierzu wäre der Tempel des Jade-Buddha am Rande der inneren kaiserlichen Stadt. Ich werde dort Morgenabend zur achten Stunde sein. Es wäre für mich eine große Freude, wenn Sie es möglich machen könnten, auch dort zu sein.
Mit ergebenster Hochachtung
Yao Ziyang
Bitte vernichten Sie diesen Brief, sobald Sie ihn gelesen haben!“
Dann legte er das Zettelchen in die Tüte mit der Heilkräutermischung. Er wusste nicht, ob Mu den Zettel würde lesen können, denn die meisten Diener waren einfachster Herkunft und konnten weder lesen noch schreiben. Und er ging ein erhebliches Risiko ein, dass das Schreiben von jemand anderem gelesen werden würde. Aber er vertraute der Dienerin Mu und es war ihm das Risiko wert. Wieder in seinem Büro, schickte er einen Diener mit der Medizin in den Palast des fortgesetzten Glücks und begann einen Brief zu schreiben.Darin bat er die Hofverwaltung um seine Entlassung. Ihm war klar, dass er mit seinen Nachforschungen zu sehr in das geheime Leben des Hofes eingegriffen hatte und besser seine Wirkungsstätte woanders hin verlegte. Der Obereunuch hatte sicher viele Freunde, die ihm jetzt wohl kaum noch würden helfen können. Aber nur zu gerne würden sie Doktor Yao das Leben am Hof schwer machen. Denn die Wahrheit war in diesen prachtvollen Hallen nicht unbedingt erwünscht.
Am Abend des nächsten Tages machte sich Yao auf den Weg zum Jade-Buddha-Tempel. Sein Bauch krampfte sich zusammen und er war so aufgeregt, wie noch nie in seinem Leben. Würde sie erscheinen? Und was sollte er ihr sagen? All sein Wissen schien jetzt nutzlos zu sein. Als er den Hof des Tempels betrat, sah er, wie Fräulein Mu bereits an einem der großen Bronzekessel mit den Räucherstäbchen stand. Sie zündete dort einige davon an und verneigte sich in Richtung der großen Buddha-Statue. Schnell eilte er zu ihr, stellte sich neben sie und entzündete ebenfalls einige Räucherstäbchen. Sie bemerkte ihn, nickte kurz, stellte die Räucherstäbchen im Bronzegefäß ab und ging dann zum Tempel. Dort vollzogen die Mönche gerade ihre Gebete und sangen ihre monotonen Litaneien. Einer der Mönche schlug mit einem Holzstab einen hohlen Holzfrosch, so dass ein klackendes Geräusch entstand. Fräulein Mu schob sich zwischen den anwesenden Palastbediensteten hindurch in eine hintere Ecke des Tempels und Yao folgte ihr. Der Singsang der Mönche und das Gemurmel der Gläubigen erlaubten es Yao nun endlich, Fräulein Mu anzusprechen. Er erklärte ihr leise, dass er seine Stelle bei Hofe gekündigt hätte und dass er in seine Heimatregion zurückkehren wolle. Dann sagte er zu ihr:
„Wenn es eine Möglichkeit gäbe, dass Sie den Hof verlassen könnten, würden Sie mich vielleicht in meine alte Heimat im Süden begleiten und dort meine Frau werden?“ Bei diesen Worten errötete er und er spürte, dass sein Atem schneller wurde. Fräulein Mu entgegnete ihm, ebenfalls sehr aufgeregt:
„Verehrter Herr Doktor, die Möglichkeit, dass ich den Hof verlasse, besteht in der Tat. Der neue Obereunuch hat mir angekündigt, dass ich aus den Diensten des Palastes entlassen werde, da ich nicht mehr vertrauenswürdig sei. Noch in den nächsten Tagen muss ich den Hof verlassen! Ich stamme aus Fujian im Süden, habe aber dort keine Familie mehr, zu der ich zurückkehren könnte. Daher wäre es für mich ein großes Glück, Sie begleiten zu dürfen.“
Nach diesen Worten drückte Yao zaghaft ihre Hand und schaute ihr in die Augen. Ihr Lächeln ließ ihn erzittern und er hatte Mühe, sich wieder zu fassen.
„Dann erwarte ich Sie morgen am östlichen Seitentor zu Anfang der dritten Stunde (5 Uhr). Wir werden dann noch am gleichen Tag mit einem Boot über den Kaiserkanal abreisen, wenn es Ihnen recht ist, verehrte Dame.“
„Ich werde ganz gewiss dort sein!“
Nach diesen Worten Fräulein Mus verabschiedeten sich die beiden voneinander und verließen in verschiedene Richtungen den Ort ihres heimlichen Treffens.
Als am frühen Morgen die Dämmerung über den roten kaiserlichen Mauern heraufzog, eilte Yao zu dem vereinbarten Treffpunkt an dem kleinen Seitentor an der Außenmauer der Verbotenen Stadt. Mu Aiting trat in dem Moment aus dem Tor, als Yao es erreichte. Sie erblickte ihn und zeigte ihm ihr kluges und herzliches Lächeln. Er wusste sofort, seine Entscheidung war richtig gewesen. Mit dieser Frau würde er weit weg von der Verbotenen Stadt ein neues Leben aufbauen. Er bedauerte allerdings, nicht mehr an dem großen Werk über die Heilmittel mitarbeiten zu können. Fräulein Mu folgte ihm schweigend, denn sie wollten vermeiden, dass jemand am Hofe sie in Zusammenhang brachte oder dass gar ein Eunuch Verrat witterte. Yao hatte bereits für sie beide einen Platz auf einer kleinen Handelsdschunke auf dem Kaiserkanal in Richtung Süden organisiert. Sie liefen nun zu deren Liegeplatz, den sie nach einem längeren Fußmarsch erreichten. Yao hatte die junge Frau einfach als seine Gattin ausgegeben, denn damit war sie sicherer vor eventuellen Zudringlichkeiten der Matrosen und anderer Mitreisender. Wirklich heiraten wollte er seine Verlobte erst in seiner Heimatstadt. Die Dschunke war bereits beladen und kurze Zeit, nachdem die beiden das Boot bestiegen hatten, bewegte es sich mit geblähtem Segel in Richtung Süden.
Eine Frage aber beschäftigte ihn noch. Außer einigen weit entfernten Verwandten hatte er, soweit es ihm bekannt war, keine Angehörigen mehr. Sie waren bei einem Bauernaufstand ums Leben gekommen. Damals hatten sich die wütenden und ausgehungerten Bauern gegen die Lehnsherren erhoben, die das letzte aus ihnen herauspressten. Yaos Vater war Gutsverwalter eines großen Landgutes gewesen. Daher galt er für die Bauern als Vertreter der Unterdrücker, so dass sie sein kleines Anwesen niederbrannten.Dabei kam die ganze Familie um. Yao war damals schon bei einem Arzt in der Kreisstadt in der Ausbildung gewesen und so verschont geblieben. Yao selbst hatte die Verhältnisse auf dem Land als empörend empfunden und wollte nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten. Dies war auch ein Grund gewesen, warum er sich für den Beruf des Arztes entschieden hatte. Nun musste er sich eine völlig neue Existenz aufbauen. Dies wollte er aber gern in seiner alten Heimat-Region tun, weil er Land und Leute liebte. Ihr Reiseziel, das sie erst nach vielen Tagen erreichen würden, war nun die kleine Kreisstadt Laogang, mitten im alten China am südlichen Ende des Kaiserkanals. Was sie dort erwartete, war ihnen noch völlig ungewiss und doch waren sie voller Vorfreude darauf, dort ihr Leben zusammen zu verbringen.