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1 Kapitel 2: Die Grenze zur Wissenschaft

Ich erinnere mich gerade an unser aller erstes Treffen. Ich hatte kurz zuvor mein Studium in einer Stadt fern meiner Heimat begonnen und war meiner Natur gemäß völlig überfordert in der fremden Umgebung, in der Ich auf einmal bestehen musste. Ich war immer ein sehr heimatverbundener Mensch gewesen, der sich nie viel um menschliche Beziehungen geschert hatte. Und die Ferne jagte mir - wenn ich ehrlich sein muss, so werde ich ehrlich sein - Angst ein. Manche Menschen würden mich vielleicht gefühlskalt und verschlossen nennen, aber eigentlich wollte ich immer nur meine Ruhe haben. Ich hatte nie wirklich etwas gegen Menschen.

Aber genug von mir: Ich bin schließlich nicht die Person, um die es hier geht. Sondern er. Und mein erstes Zusammentreffen mit ihm fand in einem sehr schmalen und alten Gang kurz vor der Bibliothek der Universität statt. Er hatte sich gerade im Streit mit einer anderen Person befunden, die, wie ich später erfahren sollte, ein berühmter Wissenschaftler und Entdecker gewesen war.

Eigentlich wollte ich nur so schnell wie möglich an den beiden vorbeiziehen, doch eine Mischung aus Unachtsamkeit und meiner ureigenen Tollpatschigkeit führte dazu, dass ich meine Unterlagen direkt neben den beiden Streithähnen fallen ließ. Der Eine starrte mich nur Unwirsch und voller Verachtung an, bevor er verschwand, doch der andere half mir wieder meine Sachen einzusammeln und wechselte sogar dabei ein paar freundliche Worte mit mir. Ich fand diesen etwas älteren Mann, dem ich nie zuvor begegnet war, auf Anhieb sympathisch. Er schien mir unterbewusst nur durch ein paar aufmunternde Worte zu verstehen zu geben, dass ich irgendwie wichtig für ihn wäre, obwohl wir uns vorher noch gar nicht gekannt hatten.

Die ganze Sache mit ihm kommt mir ehrlich gesagt erst in der Retrospektive seltsam vor. Damals hatte ich bei ihm eigentlich nur das Gefühl, er würde mich... verstehen. Vielleicht ist das nicht viel, aber so etwas hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt vorher in meinem Leben noch nie empfunden. Vielleicht konnte er mich auch gerade deshalb so leicht um seinen Finger wickeln. Sein Charisma half zudem wohl auch, um mich meine enge Schale überwinden zu lassen, die mich bis dahin isoliert und gefangen gehalten hatte.

Schüchtern beantwortete ich ihm also alle Fragen, die er mir lächelnd stellte. Dass diese Fragen sehr seltsamer Natur waren, fiel mir damals, wie gesagt, nicht auf. Ich war zu sehr von seiner einnehmenden Aura und seinen faszinierenden Ideen abgelenkt.

Von mir hingegen wollte er einiges wissen, zum Beispiel: ob ich schon mal was von den Grenzlandtheorien gehört hätte, oder von McCanes jetzt berühmter ‚Abhandlung über die 5 Dimensionen des Geistes‘, die damals gerade neu erschienen war. Als ich verneinte, erzählte er mir kurzerhand von Dingen, die mir schlichtweg die Sprache verschlagen hatten. Ja, mein Erfahrungshorizont erweiterte sich durch dieses eine Gespräch sogar derartig, sodass ich die folgenden Tage unter schweren Kopfschmerzen litt.

Das Wissen um die Antaloiden,3 die Beschaffenheit der äußeren Dimensionen und schließlich die Existenz der alles umgebenden Grenze, dies alles empfing ich von ihm und noch viel mehr. Ich wurde schnell eine gelehrige Schülerin.

Doch das faszinierendste von all dem, was er mir erzählte, waren immer noch die Ströme selbst: eine unvorstellbare Welt jenseits der unseren, in die man hinübertreten und sogar leben konnte. Es war eine Welt, deren bizarre Schönheit sich mir in der absolut kleinsten Splittersekunde, in der ich sie gesehen hatte, für alle Ewigkeiten in die Augen brannte. Noch heute sehe ich sie ständig vor mir. Eingeprägt auf meiner Netzhaut, bin ich unfähig sie auch nur für eine Sekunde abzuschütteln. Ist das ein Teil meiner Verurteilung? Doch wie auch immer, mir ist bereits nicht mehr zu helfen, also kehre ich wieder zurück.

Der Professor hatte mir beileibe nicht grundlos sein Wissen weitergegeben, sondern er machte mir schließlich das Angebot, eine Forschungsgruppe mit ihm zu gründen, um genau jene vorherig genannten Phänomene zu erforschen. Er glaubte dabei, dass es irgendeine Verbindung zwischen fremden Dimensionen und dem menschlichen Geist gäbe.

Begierig darauf mehr zu erfahren, nahm ich Schwachkopf an. Zwei Monate darauf wurde ich von der Universität verwiesen.4 Man nahm mir die Verbindung zu dem Professor übel und als ich nicht, wie mir nahe gelegt wurde, alle Kontakte zu ihm abbrach, ließ man mich einfach auf der Straße stehen.

In der Tat war der Professor keine beliebte Person in Forscherkreisen. Zu Obskur waren seine wissenschaftlichen Interessen, zu Revolutionär seine Theorien. In der Forschungsgruppe verblieben von anfangs 13 Leuten also nur noch er und ich. Wir arbeiteten dabei umso besessener an der Validierung unserer völlig abstrusen Theorien. Aus irgendeinem Grund wussten wir schlichtweg, dass wir Recht hatten.

Das Mythen umwobene Antaloidenvolk konnte in eine andere Dimension reisen, indem es einen bestimmten psychischen Prozess durchlief. Wir nannten diesen Prozess den »Grenzbruch«. Und nur wenn dieser Prozess abgeschlossen war, konnte der Körper in diese Dimension nachfolgen. Das Problem jedoch war, dass der Geist vor dem Körper gehen musste, wie beschrieben in der «Abhandlung über die fünf Dimensionen des Geistes«.5 Ich werde wohl eine Kopie dieses Buches meinen Unterlagen und Memoiren hinzufügen. Nur so kann man auch nur ansatzweise unsere komplexe wissenschaftliche Arbeit nachvollziehen, die, wie ich hier feststellen will, weit vom bloßen Okkultismus entfernt war. Dieses Buch also war der Grundstein unserer oberflächlich irrationalen Forschungen.

Wir arbeiteten also unermüdlich, selbst als der große Krieg langsam seine Klauen über die Landkarte Europas ausstreckte, hielten wir nicht ein in unserer Arbeit. Wir waren wie in einem Fiebertraum gefangen. Wir schliefen nicht, wir aßen nicht, Gott alleine weiß, was uns am Leben gehalten hatte.

Und selbst als die Schlachtfelder immer näher rückten und irgendwann sogar Bomben auf uns herab fielen, gaben wir nicht auf. Viele Menschen starben, als die Landschaften und Städte unter den Hämmern des Krieges zu abnormalen Gestalten deformierten und die Hölle selbst aus den Wolken und Böden hervorzubrechen schien. Aber das bekümmerte uns nicht, wir gruben einfach weiter, suchten nach alten Artefakten eines längst zurecht vergessenen Volkes.

So herrschte um uns herum einstmals eine besonders grausame, langwierige Schlacht6, in der wir beinahe von Bomben, Trümmern, Splittern und sogar fliegenden Gliedmaßen erschlagen worden wären.

»Halte das Blut von der Ausgrabungsstätte fern! Oder willst du etwa, dass der Altar tatsächlich sein Opfer bekommt?!«, herrschte er mich an.

Doch es war einfach unmöglich! Ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran, wie ich trotzdem verzweifelt versuchte, irgendwie auch nur behelfsmäßig Kanäle in den Boden zu graben, worin das ganze Blut dann ablaufen sollte, aber wie gesagt es es war zwecklos. Unermüdlich wie ein Sturzbach nach heftigem Regenschauer floss es um uns herum. Wir standen letztlich hüfttief und geschlagen in einem abstoßenden Meer aus Blut und Schlamm. Wütend starrte ich irgendwann einfach nur noch in den tobenden Himmel und regte meine Fäuste im Fieberwahn gegen Gott empor. Mir grinste aber nur die bleiche Sonne hämisch entgegen.

Als sich jedoch der Regen aus Schlamm, Splittern und menschlichen Extremitäten etwas zu lichten begonnen hatte, konnte ich es endlich zum ersten mal mit eigenen Augen sehen: Das Sonnenportal!7 Irgendetwas hatte in mir in diesem Moment einen Schalter umgelegt, der einen unbeschreiblichen psychischen Prozess in Gang setzte.

Erschrocken konnte ich plötzlich das Sterben um mich herum fühlen. Der Soldat, der mit zerrissener Kehle im Sterben da lag und an seinem eigenen Blut qualvoll erstickte. Das Giftgas, das die Lungen der unglücklichen Opfer schier verflüssigte. Die Kriegs-Krüppel, die plötzlich um den Krater herum standen und mit gepeinigten, lichtlosen Augen auf uns herab starrten. In andächtiger Todessehnsucht sprangen sie nach einigen Momenten, ohne einen Laut über die Lippen zu bringen, in das Meer des endlosen Blutes, das wir zuvor erschaffen hatten.

Irgendetwas in mir schien aber in diesem ganzen brodelnden Chaos noch menschlich geblieben zu sein, denn ich erinnere mich, wie ich sie verzweifelt angeschrien hatte, sie sollen doch verschwinden und sich nicht das Leben nehmen. Aber ich konnte letztlich keinen von ihnen retten.

Der Krater füllte sich also mit immer mehr Blut. Mittlerweile ist mir auch klar, dass wir in diesem Moment am Rande eines alten und unheiligen Opferaltars gestanden waren. Ein Opferaltar, den man niemals zufrieden stellen konnte. Unermüdlich soff er unser Blut und fraß menschliche Gedärme. Als er dann schließlich zur Hälfte voll gewesen war, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben Nebelriesen.8 Sie packten die schreienden Menschen und warfen sie zur Sonne, wo sie verbrannten. Ich verstand den Prozess, der dahinter stand damals nicht, doch heute... weiß ich es. Ich weiß alles. Gott helfe mir. Ich werde dieses Wissen niemals teilen. Denn manche Dinge bleiben am besten vergessen.

Nach diesem Ereignis waren wir gebrochen, von Krankheit geplagt und körperlich ausgelaugt. Doch während ich - zumindest glaubte ich das – halbwegs wieder geistig gesund wurde, steigerte er sich immer mehr in seine Besessenheit hinein.

Als ich beinahe jeden Tag in die Kirche ging, um Buße zu tun für meine grausamen und wahnsinnigen Taten, baute er sich selber einen kleinen Opferaltar, auf dem er Nachbarskatzen und weiß Gott was noch opferte. Ich versuchte ihn davon abzubringen, zerstörte seine Sammlung von Antaloiden-Gegenständen, aber letztlich schien ihn das alles nur noch fanatischer zu machen. Ich musste damals der Polizei einiges an Geld zustecken und zum Glück war das Interesse an verschwundenen Haustieren ohnehin gering.

Trotz seiner Sturheit versuchte ich ihm also weiterhin zu helfen, schleifte ihn in die Kirche, unternahm mit ihm Exkursionen ohne jeden inhaltlichen Bezug zu den Antaloiden. Ablenkung, dachte ich, war das was er am meisten brauchte. Ich musste einfach dafür sorgen, dass wir diese grausamen Ereignisse endlich vergessen konnten. Und nach einiger Zeit schien er tatsächlich auf dem Weg der Besserung zu sein. Ja, er blühte sogar wieder einigermaßen auf. Irgendwann konnte er sogar wieder normal, logisch stringent ohne wie besessen vor sich hin zu faseln, sprechen. In diesen Momenten war ich sehr froh.

Immerhin war dieser Mann mein Mentor gewesen und ich war zudem der Einzige, der ihn je richtig verstehen hatte können. Man kann es sich vielleicht heute gar nicht mehr vorstellen, aber dieser Mann hätte einstmals eine glänzende Karriere vor sich gehabt. Als ich noch nicht mal lesen und schreiben konnte, verfasste er schon Abhandlungen über den menschlichen Geist und psychotische Energien. Geboren aus gutem Hause war er ein begnadetes und begütertes Wunderkind wie aus dem Bilderbuch. Aber schon frühzeitig hatte er sich für die dunklen Dinge im menschlichen Geist zu interessieren begonnen. Zwischenmenschlich war er dabei nie erfolgreich, was ihn mit mir verband. Dieser Kontrast zwischen wissenschaftlicher Anerkennung und menschlicher Ablehnung verstärkte jedoch in fataler Weiße nur seine düstereren Neigungen.

Wann er letztlich zum ersten Mal mit dem Antaloidenvolk in Kontakt gekommen war, habe ich letztlich nie aus ihm herausbekommen können. Offenbar war es auf einer Exkursion gewesen, die er noch mit seinem Vater damals unternommen hatte, im zarten Alter von 10 Jahren. Doch immer wenn ich versuchte, das Gespräch auf diese Exkursion zu bringen, verdunkelten sich seine Augen und er wurde einsilbig und verschlossen. Ich fand letztlich nur heraus, dass sein Vater wohl während dieser Exkursion plötzlich verstorben war. Die Ärzte hatten einen natürlichen Tod festgestellt und weiter drangen meine Nachforschungen aus Respekt gegenüber meinem Freund nicht.

Wie auch immer: Oberflächlich mochte der Professor also wieder freundlicher und normaler geworden sein, aber im Inneren... im Inneren war er ein absolutes seelisches Wrack. Das wurde immer deutlicher. Er versuchte mich zwar zu täuschen, indem er vorgab, gesundet zu sein, aber immer wieder brach diese dünne Maske von geistiger Stabilität. Er war einfach ein Mann mit einer Obsession. Und plötzlich fing er irgendwann an von Dingen zu reden, die selbst ich nicht von ihm erwartet hätte.

»Mädchen«, so begann er, »Wir sollten eine Reise unternehmen«.

»Eine Reise wohin?«, fragte ich naiv. Und dann erwähnte er zum ersten Mal seinen unaussprechlichen Wunsch.

»Wir reisen in die tosenden Wellen der Ströme!« Ein zynisches Lächeln grub sich in sein Gesicht und seine Augen glänzten fanatisch. Ich werde nie diesen Gesichtsausdruck vergessen, als er das unaussprechliche Aussprach. Ich lehnte es natürlich sofort vehement ab, versuchte ihn davon zu überzeugen, dass er sich mit aller Sicherheit in den Dimensionen des Geistes verirren würde, lange bevor er die Ströme erreichen könnte, aber er gab nicht auf.

In den darauffolgenden Monaten redete ich ihm die absurde Idee immer wieder aus, doch jedes Mal wenn ich meinte, endlich Fortschritte mit ihm gemacht zu haben, begann er frustrierenderweise einfach wieder von vorne. Und das Beunruhigendste war dabei für mich, dass er mich unbedingt mitnehmen wollte. Ja, er war geradezu besessen davon, diese Reise zu Zweit anzutreten. Irgendwann hatte ich schließlich genug von ihm.

Mein Neid und meine Wut sorgten dafür, dass zwischen uns viele böse Wörter fielen. Mein Neid kam aus meiner Vergangenheit: Während er immer als Wunderkind hoch gehandelt wurde, bemuttert wurde, bewundert wurde, so musste ich in meiner ganzen Kindheit und Jugend dafür kämpfen, nicht als dumm zu gelten. Meine Ausdrucksweise konnte nicht im Ansatz mit meinen Gedankengängen mithalten.

Meine Wut war hingegen eine mitleidende Wut. Ich fand es nämlich erbärmlich, dass er praktisch nichts aus sich gemacht hatte. Ich WOLLTE, dass er erfolgreich war! Er war ein absolutes Genie, Himmel nochmal! Wieso nutzte er diesen Geist nicht einfach für nützliche Dinge? Wieso manövrierte er sich selbst in die dunkelste und entlegenste Ecke des Lebens und wieso wollte er mich unbedingt dorthin mitziehen?

Ich habe nie davon geträumt, viel zu erreichen. Alles was ich jemals wollte, war, dass irgendjemand sagte, ich wäre gut in dem, was ich tue. Er auf der anderen Seite hätte alles haben könne, doch lehnte er es einfach ab.

Um umzukehren war es dabei mittlerweile für beide von uns zu spät. Mein Ruf war immerhin so ruiniert wie seiner und für die anderen waren wir ohnehin nichts mehr als verschrobene und verschwiegene Personen, mit denen man besser nichts zu tun haben wollte, wenn man nach einer Karriere strebte.

Doch ehrlicherweise muss ich trotz all dessen gestehen: Auch mein Interesse an dieser ganzen Sache war längst noch nicht erloschen. Ich steckte ebenfalls schon viel zu tief drinnen in dieser ganzen Materie und als ich schließlich bemerkte, dass ich begonnen hatte, an Demenz zu leiden, war es wohl endgültig vorbei für mich.9

Denn mehr und mehr begann sich daraufhin meine Realität aufzulösen. Irgendwann war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich diese ganzen Gespräche mit ihm schon einmal geführt hatte, oder nicht. Meine ganze Gewissheit und mein ganzes Ich brachen Stück für Stück weg. Zudem befiel mich neben meiner Demenz eine ausgeprägte Paranoia. Ich konnte mir ja nie sicher sein, ob der Professor meine geistigen Schwächen nicht doch ausnutzte.

Misstrauisch und aggressiv wurde ich also ihm gegenüber. Wenn ich zu seiner Tür hinausging, wusste ich ja schon nicht mehr, über was wir drinnen überhaupt gesprochen hatten. Nur vage Gefühle blieben übrig, denn die konnte man nicht vergessen. Und diese Gefühle beunruhigten mich sehr. Es waren dunkle Gefühle in mir, versteckt vor meinem bewussten Verstand. Sie weigerten sich dabei hartnäckig, von mir entschlüsselt zu werden.

Dennoch besuchte ich ihn jeden einzelnen Tag. Warum? Weil er und ich es so wollten. Wir wollten es so, verstehen Sie? Wir hatten ja keine Ahnung.

Der Westwald

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