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DER HOF SPICHERMATT Kann man das Unfassbare fassen? Kann man dem Sinnlosen einen Sinn geben? Joller rang bei der Niederschrift seiner Darstellung mit diesen Fragen. Weshalb wurde gerade er, seine Familie, sein Haus und letztlich sein Leben von diesen schrecklichen Ereignissen ergriffen und gepackt? Fassungslos stand er seinem eigenen Schicksal gegenüber. Schreibend zwang er sich die Haltung des rationalen Beobachters auf, der nur berichtete, was er selber sah, hörte und spürte. Allein aus dieser Distanz konnte er den Versuch wagen, die Flut der Erlebnisse und Empfindungen in eine darstellbare Ordnung zu bringen.

Vom Tag seiner Geburt an, dem 1. Januar 1818, lebte Joller in der Spichermatt in Stans. Einzige Ausnahme waren die Jahre seines Studiums in Luzern, Freiburg und München. Er wuchs hier als jüngstes Kind zusammen mit vier Schwestern auf, fünf weitere Geschwister starben sehr früh. Hier lebte er als junger Advokat nach dem Studium, hierher zog seine Frau, hier «blühten mir sieben gesunde Kinder, 4 Knaben und 3 Mädchen». Als einziger Sohn erbte er Haus und Hof, als sein Vater 1845 starb. Das Haus war ihm mehr als eine Behausung, es war seine Heimat, er war «als neugieriges Kind bei allen Reparaturen» dabei gewesen, und also «war mir buchstäblich genommen kein fingerbreites Plätzchen unbekannt».

In diesem Haus erlebte Joller zusammen mit seiner Familie die unerklärlichen Erscheinungen, die ihn auf eine tragische Art haben berühmt werden lassen. Hier überkam ihn das Grauen, hier durchlebte er die schrecklichen Tage und Nächte, die ihn schliesslich in die Flucht trieben.

Durch das Tal von Stans führte damals kein Durchgangsweg. Einzig die Verbindung zum Klosterdorf Engelberg passierte das 2000-Seelen-Dorf. Haus und Hof Spichermatt standen in der Ebene, umgeben von schroffen Bergflanken, direkt an der Landstrasse vom Vierwaldstättersee bei Stansstad nach Stans. Der Stanser Dorfkern mit der Kirche, dem Rathaus, verschiedenen Gasthäusern und stattlichen Bürgerhäusern war in etwa einer Viertelstunde zu Fuss erreichbar. Um von der Spichermatt in die benachbarten Dörfer Ennetbürgen, Buochs und Beckenried zu gelangen, musste man das Dorf Stans nicht durchqueren. Es bestanden direkte Wege über die noch nicht entwässerte Ebene, auf der heute der Flugplatz Buochs liegt. Gegen den Nordwind war das Haus durch den Bürgenberg geschützt, dessen steile Flanke dem Haus sehr nahe kam. Gegen Osten war die Landschaft verhältnismässig offen, der Blick ging in die Richtung des Talkessels von Schwyz und wurde erst begrenzt von den beiden Mythen. Im Süden stand mächtig das Stanserhorn. Es beraubte im Winter einen Teil des Stanser Dorfes jeglicher Sonneneinstrahlung, die Spichermatt lag freilich ausserhalb dieser Schattenzone. Im Westen schränkte die Anhöhe von Ennetmoos den Blick ins benachbarte Obwalden ein, erlaubte aber bei entsprechender Wetterlage eine wunderbare Sicht auf die Obwaldner und teilweise auch in die Berner Alpen. In Jollers eigenen Worten stand das Haus «in einer der freundlichsten und sonnigsten Lagen des Stansertales».

Der Vorgängerbau war in den Wirren des Nidwaldner Krieges vom September 1798 in Flammen aufgegangen. Die Familie hatte dringend eine neue Behausung gebraucht. Diese wurde nach dem damals in Nidwalden üblich gewordenen Bauernhaus-Typus gebaut: Ein leicht abgesenktes, gemauertes Erdgeschoss enthielt neben dem eigentlichen Keller die Käserei, «Hütte» genannt, und den möglichst kühlen Milchkeller. Auf diesem Kellergeschoss ruhten zwei aus Holz aufgebaute Vollgeschosse und zwei Dachgeschosse. Im unteren Wohngeschoss befanden sich die Stube, die Nebenstube und die Küche, im oberen eine unterschiedliche Anzahl als «Kammern» bezeichnete Zimmer. Im unteren Dachgeschoss lag ein grosser Raum, der «Saal». Je nach Reichtum und Geltung der Besitzerfamilie war der «Saal» fast leer oder aber zu einem repräsentativen Raum für Empfänge ausgebaut. Zuoberst unter dem Dachgiebel befand sich die «Diele», wo die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wurde.

Nach diesem Schema wurde das Haus Spichermatt errichtet, drei Jahre nach dem kurzen, aber zerstörerischen Krieg. Diesem waren am 9. September 1798 rund 400 Bewohnerinnen und Bewohner Nidwaldens und etwa 100 französische Soldaten zum Opfer gefallen, die Dörfer Stans, Stansstad, Ennetmoos und Buochs waren stark zerstört worden. Bis heute benennt der Volksmund in Nidwalden dieses Ereignis als «Franzosenüberfall». Der Neubau scheint freilich die Bauherrschaft finanziell sehr belastet zu haben, führte man ihn doch, wie Joller selber schreibt, «sehr einfach und flüchtig» aus, «um möglichst bald wieder unter ein eigenes Dach zu kommen». Verwendet wurden Balken, die nur etwa zwei Drittel der üblichen Stärke aufwiesen. Teilweise wurden Baumstämme der Länge nach zu zwei Balken geschnitten. Um Material zu sparen, wurde dies bei kleineren Ökonomiegebäuden oft so gehandhabt, nicht hingegen bei Wohnbauten. Im Lauf des 20. Jahrhunderts brachen tatsächlich einige dieser Balken ein.

Seit seiner Errichtung erfuhr das nunmehr rund 60-jährige Haus stärkere Veränderungen. Die erste datiert möglicherweise aus dem Jahr 1831, als am 28. und 29. August Wolkenbrüche und lang andauernde Regengüsse den ganzen Talboden um Stans herum und somit auch die Spichermatt überschwemmten. 1850 liess Joller auf der nordöstlichen Seite einen Anbau errichten. Er war zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren Hausherr in der Spichermatt, im Jahr zuvor war seine Mutter gestorben, Klara Waser, die nach damaliger Sitte nicht den Familiennamen ihres Mannes trug. Der Anbau umfasste über dem Keller ein einziges Wohngeschoss. Er besass einen separaten Eingang und enthielt drei Zimmer und eine Küche. Allerdings gab es im Inneren des Hauses möglicherweise eine Verbindung zwischen den beiden Hausteilen. Der Abtritt des Haupthauses war durch einen schmalen Gang zu erreichen und lag Wand an Wand mit dem Abtritt des Anbaus. Gemäss Joller war der Abtritt des Hauses für die Mieter des Anbaus nicht zugänglich. Näheres dazu führte er jedoch nicht aus und öffnete damit Raum für Spekulationen. Als bemerkenswerte Besonderheit war der Anbau mit einem «Plattdach von Asphalt gedeckt», das zugleich als Terrasse diente. Diese Bauform war um 1850 zwar in den Städten bereits bekannt, auf dem Land hingegen sehr selten. Joller hatte mit dem Tod seines Vaters 1845 das Haus übernommen, deshalb muss er der Bauherr von Anbau und Flachdach gewesen sein. Zweifellos wollte der studierte Anwalt mit diesem städtisch anmutenden Bauteil seine Modernität und Aufgeschlossenheit dem Fortschritt gegenüber zur Geltung bringen. Zudem trug der vermietete Anbau einen Teil von Jollers Haushaltskosten.

DIE GROSSMUTTER VERONIKA GUT Bauherrin der Spichermatt war Jollers damals verwitwete Grossmutter Veronika Gut (1757–1829). Sie hat in der lokalen Historientradition ihren Ehrenplatz erhalten – weniger als die reaktionäre Kämpferin gegen alles Neue und Fremde, die sie auch war. Vielmehr steht sie heute als eine der ersten politisch aktiven und deshalb in den Quellen zur Geschichte des kleinen Kantons fassbaren Frauengestalten da. Bei der Niederschrift seiner Darstellung schaute Joller mit mildem Blick auf seine Grossmutter zurück. Er beschrieb sie als eine Person mit «männlichem Charakter» und einer «ernsten Miene», als eine «Frau von ächtem alten Schrot und Korn». Sie sei 1829 gestorben «als eine allgemein geachtete, gerechte, mildthätige und fromme Frau». Dass sie den Nidwaldner Krieg von 1798 mit Brandreden, mit Waffen und Geld befördert hatte und auch den Beitritt Nidwaldens zum neuen Bundesvertrag von 1815 zu hintertreiben versuchte, lässt er nicht unerwähnt, obwohl dies von seiner eigenen politischen Haltung stark abweicht.

Veronika Gut verlor in den Wirren der Helvetischen Republik (1798–1803) alle ihre Nachkommen ausser ihrem Sohn Jakob (1786–1845), Jollers Vater. Mit der Mediationsakte vom Frühjahr 1803 beruhigte sich die Lage in der Schweiz wieder. Jakob Joller war noch keine 18 Jahre alt, als er im Februar 1804 die um fünf Jahre ältere Klara Waser (1781–1849) heiratete. Von den zehn Kindern des Paares starben fünf sehr jung. Melchior, geboren am 1. Januar 1818, war das jüngste der überlebenden Kinder und der einzige Knabe. Die drei Schwestern Franziska, Anna-Maria und Anna Josefa blieben ledig. Einzig die zweitälteste Schwester Veronika verheiratete sich 1845. Im gleichen Jahr starb Jakob Joller, und Melchior übernahm den elterlichen Hof.

Seinen Vater Jakob beschrieb Joller in den wärmsten Worten als einen «Mann von hellem Geiste und tiefem Gemüthe. Wer ihn kennen lernte, musste ihn schätzen und lieben.» Fröhlich und friedliebend, habe er «zu den wenigen Liberalen dieses Ländchens» gezählt und sei «trotz seiner verpönten politischen Gesinnung mit den wichtigsten Verwaltungen der Gemeinde Stans betraut» worden. Jakob Joller hatte die Stelle des Kirchmeiers inne, war also Finanzverwalter der Kirchgemeinde. Über seine Mutter Klara Waser verlor Joller kein Wort. Die Bilder, die er in seiner Schrift entwarf, und seine Wortwahl zeugen von einer stark verengten Sicht: Was bei der Beschreibung einer Familie zählt, ist einzig die Erblinie vom Vater – oder im Ausnahmefall von der verwitweten und politisch aktiven Mutter – zum Sohn. Zudem ist es nicht statthaft, über Familienangehörige, etwa seine Grossmutter, etwas Negatives zu erzählen. Joller bewegt sich in den Denkmustern und Verhaltensregeln der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit.

SELTSAMER BESUCH Am 15. August 1862, dem Festtag Mariä Himmelfahrt, geschieht etwas sehr Merkwürdiges. Joller berichtet von den Kindern: «Wie sie da unter einem Baume sich zusammengefunden, humpelte eine steinalte Jungfer auf sie zu, sich erkundigend, ob das das Haus sei, wo Veronika Gut nach dem Ueberfalle gewohnt habe. Auf die Bejahung, und indem sie ihr Obst anboten, erzählte sie ihnen, dass sie die ‹Vronegg› [Veronika], ihre Urgroßmutter gar wohl gekannt hätte.» Und dann gibt Joller eine Geschichte wider, welche die alte Frau seinen Kindern erzählt habe: «Sie habe auch den vier Schwestern ihres Großvaters, die im Aawasser ertrunken, in der Kapelle St. Joder auf Altzellen ‹geklenkt› (die Sterbeglocke geläutet). Es sei ihr noch, wie wenn’s gestern gewesen wäre, sie und ihr Bruder, dort Sigrist, hätten schon am Abend vorher ein Unglück vermuthet. Da sei’s mit Nachtwerden wie ein weißgekleideter Mann mit einem Lichte an die Kapelle herangekommen, und sie hätten geglaubt, es wolle Jemand ‹klenken› lassen. Wie ihr Bruder aber hinübergekommen sei, habe er Niemand weder nah noch fern gesehen, und sei darauf schwer krank geworden. Gegen den Morgen habe man ihnen die Trauerbotschaft gebracht, worauf sie die Todtenglocke lange geläutet habe.» Damit endet die Erzählung der alten Frau. «Mit Dank und allerlei frommen Wünschen trat sie dann wieder ihren Heimweg an.»

Joller schafft mit dieser Geschichte eine weitere direkte Verbindung zwischen den Spukereignissen in der Spichermatt und seiner Grossmutter Veronika Gut. Der Tod von deren vier Töchtern ging auf den Umstand zurück, dass ein anonymer Rufer im September 1801 die Familie der Veronika Gut mitten in der Nacht zur Flucht aus der Spichermatt bewog. Beim Überqueren eines reissenden Baches brach der Steg ein, und Veronika Gut musste zusehen, wie ihre vier Töchter in den Tod gerissen wurden. Einziger Überlebender von Veronika Guts Kindern war Jakob. In die Geschichte dieses schrecklichen Unglücks bettet Joller eine zweite Gespenstergeschichte ein: die Geschichte vom weiss gekleideten Mann mit dem Licht, der plötzlich verschwand, was den Sigrist schwer krank machte. Die eigentümliche Begegnung mit der «steinalten Jungfer» soll sich am Nachmittag des 15. Augusts 1862 zugetragen haben. Die Magd Christine Christen, die zwei Wochen später zu den Ereignissen in Jollers Haus intensiv befragt wurde, wusste viel zu erzählen. Aber diese keineswegs alltäglich klingende Geschichte von dem seltsamen Besuch – davon erzählte sie im Verhör kein Wort.

Warum flicht Joller diese Geschichte in seine Darstellung ein? Allein durch ihre Erwähnung stellt er einen Zusammenhang zwischen der Spukgeschichte und dem Auftritt der Alten mitsamt deren Erzählung her. Er suggeriert damit – bewusst oder unbewusst –, dass er die Ereignisse ab diesem Tag in seinem Haus als eine Vorankündigung auffasst, dass er darin den Hinweis einer übersinnlichen Macht auf bevorstehende einschneidende Eingriffe in das Leben seiner Familie erblickt. Für den Auftritt der alten Frau gibt es keine andere Quelle als Jollers eigene Schrift.

LATEINSCHULE IN STANS Seine Schulzeit war Melchior Joller bloss einen Nebensatz wert. Bis 1835 ging er bei den Kapuzinern in Stans in die Lateinschule. Die Schule lag am oberen Dorfrand von Stans, integriert ins Kapuzinerkloster. Sie hatte zwar keinen besonderen Ruf in diesen Jahren, aber sie lag so nah, dass der Knabe Melchior sie täglich zu Fuss erreichen konnte. Sein Weg führte entweder mitten über den Dorfplatz von Stans, vorbei an der imposanten, leicht erhöht liegenden Pfarrkirche. Oder er wählte den Pfad am oberen Dorfrand, entlang der Mauer des Frauenklosters.

Anders als in späteren Jahren wurden in der Schule der Stanser Kapuziner zu dieser Zeit keine Priester ausgebildet. Aber wie alle weiterführenden Schulen in den katholischen Gegenden der Schweiz war auch diese in erster Linie der Vorbereitung auf die Priesterlaufbahn verpflichtet. Wollte Joller Priester werden? Hatte sein liberal gesinnter Vater diese Berufung für seinen Sohn vorgesehen? Das zur Schweiz gehörende Gebiet des Bistums Konstanz war bereits 1814 von Konstanz gelöst worden. Ein Jahr vor Jollers Eintritt in die Stanser Lateinschule wurde 1828 der Kanton Luzern dem neu gegründeten Bistum Basel zugeschlagen, während die restliche Innerschweiz und also auch Nidwalden zum Bistum Chur gelangte. Der Einfluss des aufgeklärten Konstanzer Generalvikars Ignaz von Wessenberg und seines Luzerner Vertreters, des Stadtpfarrers Thaddäus Müller, wurde mit diesen Massnahmen massiv beschnitten. Dem Papst und seinem Botschafter in der Schweiz, dem päpstlichen Nuntius in Luzern, gelang damit ein wichtiger Schritt zur Eindämmung liberaler Ideen innerhalb der katholischen Kirche der Schweiz. Die liberalen Politiker in den katholischen Gegenden der Schweiz waren zwar trotz häufiger gegenteiliger Anschuldigungen sehr wohl katholisch – die liberale Luzerner Verfassung von 1831 machte sogar ausdrücklich das Stimm- und Wahlrecht von der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche abhängig. Aber in dieser antiliberalen Stimmung der offiziellen Kirche dachte Jakob Joller kaum daran, seinen Sohn Melchior auf die Priesterlaufbahn vorzubereiten. Zumal Melchior als einziger Sohn dereinst den Hof Spichermatt erben sollte.

GYMNASIUM IN LUZERN Für drei Jahre, von 1835 bis 1838, besuchte Melchior Joller die vierte bis sechste Klasse des Gymnasiums in Luzern. Im ersten Jahr hatte er Kost und Logis beim Schuhmacher Isaak in der Werchlaube, mitten in der Altstadt. Ein paar Schritte die Gasse hinunter und über die Reussbrücke – in wenigen Minuten war der 17-jährige Joller an der Höheren Lehranstalt, nahe von Ritterschem Palast, Jesuiten- und Franziskanerkirche. Die nächsten beiden Jahre wohnte er bei Businger im «Schlösslihof». Damit ist eher der Schlosshof im Obergrund gemeint als das Schlössli in der Halde, das mehr als eine halbe Stunde vom Stadtzentrum entfernt lag. Sein rund zehn Minuten dauernder Schulweg führte ihn dem offenen und als stinkende Kloake dienenden Krienbach entlang zum Obertor, wo er den Hirschengraben überqueren und in die noch fast vollständig ummauerte Stadt gelangen konnte.

Zu diesem Zeitpunkt wurde in der Stadt bereits heftig über den Abbruch des Obertors diskutiert. Es lag ein Vorschlag auf dem Tisch, an dessen Stelle die kantonale Zentralschule zu bauen. Doch die heftigen Parteikämpfe zwischen den regierenden Liberalen um den herausragenden Kasimir Pfyffer und der konservativen Opposition verhinderten das Projekt. Die bestehende Höhere Lehranstalt genoss nicht den besten Ruf. Zum einen war sie altertümlich organisiert. Auf das sechsjährige Gymnasium mit Altgriechisch und Latein im Zentrum folgte das Lyzeum. Hier musste der Student wählen zwischen der philosophischen Richtung, die ihn auf den Besuch einer Universität vorbereitete, oder der dreijährigen theologischen Richtung, die ihm zum Priesterberuf führte. Erst 1829 wurde zudem eine polytechnische Abteilung eingeführt, doch bereits 1835 wieder geschlossen, weil sie sich im unklaren Bereich zwischen einer handwerklichen Ausbildung und einem naturwissenschaftlichen Studium auf Hochschulstufe bewegte und damit an den Bedürfnissen der Zeit vorbeizielte.

Freilich geriet die Schule auch aus ganz anderen Gründen ins Gerede. Professor Joseph Anton Fischer, der als liberaler Moraltheologe ab 1834 in Luzern lehrte, wurde verdächtigt, mit seiner Haushälterin und deren unehelichem Sohn im Konkubinat zu leben. Fischer trat darauf 1839 als Professor zurück. Weiteres Ungemach erwuchs der Schule durch den Geschichtsprofessor und Grossrat Alphons Pfyffer von Heidegg. Dieser heiratete 1838 eine schottische Pietistin und wandte sich vom katholischen Glauben ab. Deswegen verlor er alle Ämter und musste Luzern verlassen. Schliesslich erlebte Joller, wie ein Mitschüler 1835 die Hostie verspottete. Dieser wurde zu drei Monaten Zuchthaus verurteilt und von der Schule verwiesen. Im Jahr darauf gab der Regierungsrat in seinem jährlichen Bericht kund, es sei dringend notwendig, «die Zügel der etwas erschlafften Disziplin straffer anzuziehen».

Die höhere Lehranstalt in Luzern sah sich rasch sinkenden Studentenzahlen gegenüber. Das Gymnasium und die philosophische Abteilung des Lyzeums zählten 1830 noch 254 Studenten, acht Jahre später waren es nur mehr deren 109. Die konservative Opposition witterte dahinter eine kirchenfeindliche Schulpolitik der liberalen Regierung. Diese halte die Väter davon ab, ihre Söhne an das Luzerner Gymnasium zu schicken. Sicher spielte der Ausbau der Sekundarschulen eine wichtige Rolle. Denn viele Knaben, die eine über die Volksschule hinausgehende Bildung anstrebten, mussten zuvor das Gymnasium besuchen, auch wenn sie kein Universitätsstudium im Sinne hatten. Und doch war das Argument der Konservativen nicht einfach aus der Luft gegriffen: Das als konservativ geltende und streng an der Kirchendisziplin orientierte Schwyzer Jesuitenkollegium zählte 1838, zwei Jahre nach seiner Eröffnung, bereits 128 Gymnasiasten und damit einige mehr als Luzern. In diesen politisch hoch aufgeladenen Zeiten schickten die Familien ihre Söhne – für Töchter gab es an diesen Schulen noch keinen Platz – auch an politisch entsprechend gefärbte Lehranstalten.

Der junge Melchior Joller bewegte sich als 17- bis 20-Jähriger durch eine kleine, noch beinahe mittelalterlich anmutende Stadt mit düsteren Winkeln und offenem Abwasser. Wer nach Sonnenuntergang in den Gassen unterwegs war, musste eine Laterne mit sich tragen. Andernfalls machte er sich verdächtig und lebte gefährlich. Über Jahrhunderte war das Umland beherrscht von dieser Stadt, der ganze Staat war beinahe Privateigentum einer kleinen Gruppe führender Familien. Die Mauern der Stadt hatten keine andere Belagerung gesehen als die gelegentlichen bewaffneten Zusammenrottungen von eigenen Leuten, von unzufriedenen Bauern und aufbegehrenden Dorfbewohnern. Doch seit etwas mehr als einer Generation war nun alles in Bewegung. Die Zeit der französischen Besatzung, die Helvetik, hatte der alten Herrschaft den Garaus gemacht. Ein neues Gleichgewicht zwischen Stadt und Land, zwischen vorwärtsstrebenden Eliten und der Tradition verpflichteten Familien, zwischen aufklärerisch gesinnten Klerikern und der immer stärker nach Rom orientierten Kirche war noch nicht gefunden.

Der Kampf der Weltanschauungen war in vollem Gange. Die ganze Schweiz wie auch die einflussreichen benachbarten Mächte, allen voran die Habsburgermonarchie unter Fürst Metternich, beobachteten mit Argusaugen, wie es in Luzern kochte und brodelte. Denn mit dem liberalen Umsturz von 1831 erhielten die auf Veränderung sinnenden Kantone in der Tagsatzung eine kleine Mehrheit. Eine Umgestaltung der ganzen Schweiz im liberalen Sinne lag in der Luft. Daran hatten vorab die konservativen Mächte kein Interesse.

Die eifrigen Luzerner Liberalen scheuten sich auch nicht, in die Streitereien in den Nachbarkantonen einzugreifen. Die äusseren Bezirke des Kantons Schwyz gaben sich 1833 eine liberale Verfassung und wollten als «Kanton Schwyz äusseres Land» anerkannt werden, gerade so wie es Basel-Landschaft vorgemacht hatte. Beide Schwyzer Parteien fanden im katholischen Machtzentrum Luzern ihre Verbündeten. Ähnliches geschah noch einmal 1838. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen und einer richtigen Prügelei an der Landsgemeinde zwischen der liberal orientierten Partei der Kleinbauern, die in Anspielung auf deren Ziegen und Schafe als «Klauenpartei» bezeichnet wurde, und der traditionalistisch ausgerichteten «Hörnerpartei» der Grossviehbauern. Die Luzerner Regierung liess es sich nicht nehmen, aufseiten der Klauenmänner in den Streit im Nachbarkanton einzugreifen.

Informiert, angefeuert und zusammengehalten wurden die beiden wichtigsten politischen Strömungen in Luzern von zwei Zeitungen, die beide 1831 gegründet wurden. Auf liberaler Seite war es der Eidgenosse, auf konservativer der Waldstätter-Bote. Generell hatten die Zeitungen in jenen Jahren nur eine Auflage von einigen Hundert Exemplaren. Aber sie wurden eifrig gelesen, vorgelesen und debattiert. Und vielleicht noch mehr als die Politiker selber frönten die Zeitungen der Lust, die Dinge zuzuspitzen und zu polemisieren.

In dieser Welt lebte der junge Joller, sie prägte den Studenten an der Höheren Lehranstalt in Luzern. Er wird sich später Kopf voran sowohl ins Pressewesen wie in die Politik stürzen. Doch in Luzern erlebte er auch andere Veränderungen. Kurz vor seinem Schulantritt brannte in der Altstadt, Unter der Egg und am Kornmarkt, eine ganze Häuserzeile nieder. Dies war der Startschuss für die bauliche Modernisierung der Stadt. Mit dem Schutt der abgetragenen Brandruinen wurde das sumpfige linke Reussufer befestigt, es entstand vor der Jesuitenkirche eine Quaianlage. An diesem Quai wurde ab 1837 das Stadttheater gebaut. Der Schwanenwirt, dessen Haus ebenfalls ein Raub der Flammen geworden war, baute sein Hotel an einem neuen Ort wieder auf: Dort, wo es heute noch steht, seine Fassade erstmals nicht mehr der Gasse, sondern dem See zugewandt. Den Vorgarten seiner Wirtschaft liess der Wirt aufschütten und zu einem repräsentativen Platz umgestalten. Zu diesem Zweck wurde 1835 das Hoftor abgerissen und die Hofbrücke um 75 Meter verkürzt. Zwei Jahre später war Melchior Joller dabei, als die «Stadt Luzern», das erste Dampfboot auf dem Vierwaldstättersee, erstmals hier am Schwanenplatz seine schwarzen Rauchschwaden in den Himmel stiess. Die Stadt kehrte sich unter Jollers aufmerksamem Blick von einem bäuerlich anmutenden Nest in eine sich mondän herausputzende Touristendestination.

STUDIUM IN FREIBURG UND MÜNCHEN Nach der sechsten und letzten Klasse des Gymnasiums verliess der inzwischen 20-jährige Melchior Joller Luzern und schrieb sich im August 1838 an der Universität Freiburg im Breisgau ein. Da er das Lyzeum noch nicht besucht hatte, verfügte er nach damaligem Gebrauch nicht über die Hochschulreife. Er schloss sich deshalb im ersten Jahr der Philosophischen Fakultät an, die neben dem Lyzeum als zweite Möglichkeit zum Einstieg in das eigentliche Studium diente. Seit zwei Jahren wirkte hier Joseph Anselm Feuerbach als Professor für alte Sprachen und Altertumskunde. In ihm begegnete Joller einem feinsinnigen und von einem romantischen Kulturideal beseelten Lehrer, dessen Tätigkeit nur ab und zu von seiner Nervenkrankheit unterbrochen wurde. Mit Feuerbach berührte Joller aber auch die äusseren Fäden eines dichten Netzes von Gelehrten und Denkern, welche die Mitte des 19. Jahrhunderts prägten: Feuerbachs Bruder Ludwig war Philosoph und als scharfer Religionskritiker bekannt. An seinen Thesen schärfte der junge Karl Marx – er war aufs Jahr gleich alt wie Joller – die philosophische Begründung seiner Kapitalismuskritik.

Der Vater der beiden Brüder, der Rechtsgelehrte Paul Johann Anselm Feuerbach, nahm Ende der 1820er-Jahre den Findling Kaspar Hauser bei sich auf. In den ersten zwei Jahren seiner bekannten Existenz hatte Kaspar Hauser im Haushalt von Georg Friedrich Daumer gelebt, der ihn erzogen und gefördert hatte. Daumer war ein begnadeter Dichter und ein romantischer Sucher nach dem Absoluten. In seiner Jugend ein schwärmerischer Pietist, wurde er später einer der schärfsten Religionskritiker, befreundet mit Ludwig Feuerbach und von Karl Marx in der Rheinischen Zeitung rezensiert. Um Joller herum, den Bauernsohn aus der ländlichen Innerschweiz, flirrte in Freiburg eine Welt von radikalen Ansichten, von romantischer Innigkeit, von eifriger Suche nach der innersten Kraft, welche die Welt zusammenhält, aber auch eine Welt von heftigen Polemiken und jähen Wendungen. Es war eine Welt, in der die Biologie und die Rechtswissenschaft, die Philosophie und die Physik ihre Argumente in die grosse Debatte warfen, in der das romantische Weltbild bis tief in die Wissenschaften hinein nachklang.

Die einstmals jesuitische Universität Freiburg im Breisgau ist eine der ältesten im süddeutschen Raum. Freiburg war ein katholischer Flecken in einer weitherum pietistisch angehauchten Landschaft. Das Klima in der Stadt Freiburg musste Joller von Luzern her bekannt vorkommen. Eine Gruppe akademisch geschulter Juristen bildete den Kern einer katholisch-liberalen Bewegung, die insbesondere den Vorrang des Staates gegenüber dem Klerus betonte und den Einfluss der konservativen römischen Kurie innerhalb der Kirche zurückdrängen wollte. In diesem Klima begann Joller seine Studien, begleitet vom gleichaltrigen Franz Bali aus Buochs.

Franz Bali hatte bereits ein Jahr Studium in München hinter sich. Ob er es war, der Joller zu einem Studienjahr in München animierte? Jedenfalls fand sich Joller im Wintersemester 1839/40 und im Sommersemester 1840 als Student der Rechtskunde an der Ludwig-Maximilians-Universität in der bayrischen Residenzstadt. Er wohnte in einem Zimmer an der Neuhauserstrasse 24, zehn Minuten zu Fuss vom kurz zuvor errichteten Universitätsgebäude entfernt. Dort wohnte er auch Vorlesungen aus anderen Fächern bei, wie sein Hinweis auf die «bestaubten Collegienhefte von Professor Sieber [sic!] in München über Experimentalphysik» belegt. Der Benediktinerpater Thaddäus Siber war nicht nur Professor für Physik, sondern mehrfach auch Rektor der Münchner Universität. Kaum in München eingetroffen, hatte Joller im August 1839 die Möglichkeit, an einer Aufsehen erregenden Ausstellung das ganz neue Verfahren der Daguerreotypie kennenzulernen. Für die Zeitgenossen grenzte es an ein Wunder, wie die ersten Fotografen mit dieser Technik ohne Pinsel und Farbtöpfe, sozusagen allein mit dem Licht, in kurzer Zeit ein realistisches Abbild entstehen lassen konnten. Mehr als die Chemie dahinter faszinierte die Magie des herbeigezauberten Bildes.

Zurück in Freiburg, schrieb sich Melchior Joller für das Wintersemester 1840/41 und das Sommersemester 1841 wieder an der Universität ein, diesmal an der Juristischen Fakultät. Im Wintersemester besuchte er unter anderem eine Vorlesung über Strafrecht und Strafprozess bei Professor Johann Georg Duttlinger: Als liberaler Abgeordneter zum badischen Landtag brachte Duttlinger seine rechtswissenschaftlichen Kenntnisse in die praktische Gesetzgebung ein. Er war sehr geachtet, seine Vorlesungen galten als äusserst übersichtlich und klar. Das Parlament wählte ihn 1841 gar zu seinem Präsidenten, doch starb er bereits im August 1841 im Alter von 53 Jahren. Im Sommersemester 1841 besuchte Joller die Vorlesung von Leopold August Warnkönig über das Völkerrecht und die Geschichte des europäischen Staatensystems. Warnkönig war ein weitgereister und vielseitig interessierter Rechtshistoriker, der auf Deutsch, Französisch und Latein publizierte. Der liberale Katholik befasste sich unter anderem einlässlich mit der staatsrechtlichen Stellung der katholischen Kirche.

Schliesslich hörte Joller Staatsrecht bei Professor Karl Theodor Welcker. Dieser war, wie Duttlinger, Abgeordneter zum badischen Landtag, wo er sich insbesondere dem Kampf gegen die Pressezensur widmete. Gemeinsam mit seinem Professorenkollegen Karl von Rotteck gab er für kurze Zeit die Zeitung Der Freisinnige heraus, die aber sehr bald verboten wurde. Sein gewichtigstes Werk war, ebenfalls in gemeinsamer Arbeit mit Rotteck, das Staatslexikon. Zwischen 1834 und 1843 arbeiteten die beiden daran, der bürgerlichen Öffentlichkeit alle Aspekte des Staates, seiner Organisation und seiner Funktion aus ihrer liberalen Sicht darzulegen. Viele bekannte Juristen und Politiker ihrer Zeit lieferten Beiträge, unter anderen auch Kasimir Pfyffer aus Luzern. Es waren noch nicht alle 15 Bände erschienen, als Joller in Freiburg bei Welcker studierte. Jollers Staatsrechtslehrer bündelte also die aktuellsten liberalen Ansichten und Argumente im gesamten deutschsprachigen Raum.

Aus diesen Elementen hatte sich Jollers Weltbild geformt, mit dem er im Sommer 1841 nach Stans zurückkehrte. Einen Abschluss hatte er nicht in der Tasche, doch war dies für seine Zukunftspläne nicht notwendig. Joller war von seiner Bildung her ein kritischer und primär auf die damalige rational-naturwissenschaftliche Linie eingeschworener Geist. Es sei «die ewig frische Quelle der Forschung», schrieb er, «aus der ich in so mancher unmuthvollen Stunde neue Stärkung schöpfte». Als guter Katholik und gesättigt mit romantisch grundierter Philosophie, hatte er jedoch in einem Winkel seines Herzens einen kleinen Platz für die Faszination magischer Vorstellungen offen gelassen.

DIE FAMILIE JOLLER Im Umfeld der ersten zaghaften Erscheinungen vom Herbst 1860 erwähnt Joller zum ersten Mal seine Frau, mit der er zu diesem Zeitpunkt fast zwanzig Jahre verheiratet war. «Als ich von einem Geschäfte, das ich auswärts zu besorgen hatte, nach Hause kam, erzählte mir meine Frau, dass ihr und der zweitältesten Tochter letzte Nacht etwas Sonderbares begegnet wäre.» Ein rasches und häufiges Klopfen an den Tisch neben dem Bett habe sie und die Tochter, die mit ihr in der Kammer schlief, aufgeweckt. «Ihre Verwunderung habe sich bis zur Angst gesteigert, wobei sie noch einmal zu klopfen aufforderten, wenn es etwas zu bedeuten habe, worauf sich dasselbe in gleicher Weise wiederholte. Sie hätten sich jetzt beide sehr gefürchtet, und mit schwerer Angst dem Morgen entgegengeharrt.»

Joller lernte die um zwei Jahre jüngere Karoline Wenz während seines Studiums in Freiburg im Breisgau kennen. Sie stammte aus einer Familie der kirchlichen und staatlichen Verwaltungsbürokratie in Baden. Ihr Vater Bernhard Wenz war Teilungskommissär, ihr Onkel grossherzoglicher Kanzlist, der Grossvater fürstbischöflicher Kanzleirat, und der andere Grossvater, der Vater ihrer Mutter Elisabeth Chorhummel, amtete als Stadtsyndikus. Die Verbindung mit der Familie Wenz zeugt von Jollers Interesse an der Staatsverwaltung und an der praktischen Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie barg zudem in ihrem Kern einen Gegensatz zwischen zwei sehr verschiedenen Formen des Glaubens. Karoline Wenz wuchs im Umfeld einer kirchlichen Hierarchie auf, die den Glauben stark an das Vertrauen in die Institutionen band. Joller stammte aus einem Gebiet mit starker gemeindekirchlicher Tradition, zudem war er überzeugter Liberaler. Sein Glaube bestand eher im Vertrauen auf den individuellen Heilsweg über das «gute Leben» und die Sakramente. Der kirchlichen Ordnung gegenüber, insbesondere soweit sie den Bereich der Pfarrei überstieg, hegte er grosse Skepsis. Joller las seinen Kindern aus Zschokkes Andachtsbuch vor, nicht aus den frommen katholischen Traktaten seiner Zeit.

Joller und Karoline Wenz heirateten am 7. November 1842. Karoline zog in die Spichermatt, wo ein Jahr später, am 20. Dezember 1843, der erste Sohn Robert zur Welt kam. Dieser war in der Zeit der «mystischen Erscheinungen» beinahe volljährig, lebte aber noch im Vaterhaus. Joller stellte in seiner Schrift seine Kinder eines ums andere kurz vor. Die älteste Tochter Emaline wurde am 5. Oktober 1845 geboren. Die zweitälteste war Melanie, die am 6. Mai 1848 zur Welt kam. Sie trug einen für die Zeit ungewöhnlichen Namen, der zudem ein Anagramm des Namens ihrer älteren Schwester Emaline ist. Die dritte Tochter kam am 12. März 1850 zur Welt. Sie ist mit vier verschiedenen Schreibweisen ihres Namens überliefert: Von der Magd wurde sie Heinricke genannt, im Stammbuch des Nidwaldner Staatsarchivs ist sie als Heinrika verzeichnet, Joller nennt sie Henrika, und Fanny Moser schreibt von Henricke. Am 13. Oktober 1851 folgte Eduard, am 4. Februar 1853 Oskar. Schliesslich wurde am 23. November 1858 der jüngste und letzte Sohn geboren, Alfred.

Karoline Joller fühlte sich in Stans nicht wohl und hatte auch zu ihren eigenen Kindern keine innige Beziehung. Wenigstens wurde dies in Stans herumerzählt. Henrika sei von der Mutter am wenigsten geliebt worden, berichtete Moser. Dem Tagebuch Zelgers ist einer der Gründe zu entnehmen, warum Karoline in Stans nicht glücklich wurde: Sie wurde zum Teil heftig abgelehnt. Zelger berichtet von wutschnaubenden Predigten des Pfarrhelfers Franz Josef Gut (1794–1871), «die von der maaßlosesten Selbst Vergötterung und von den pöbelhaftesten und unchristlichsten Ausfällen gegen die Liberalen angefüllt» waren. Und in einer solchen Predigt, am Freitag, 12. Oktober 1849 zum Fest des heiligen Remigius, habe Gut gegen die grossen Städte gewettert, die mit Verdorbenheit angefüllt seien. Und dann habe er geklagt, dass Söhne zur Ausbildung «gut in solche Städte gegangen und verdorben heimgekommen wie sie statt als Geistliche mit einer armseligen elenden Heurath zurükgekehrt seien!!!» Sogar Walter Zelger war ob einem solch derben Schlag gegen Melchior und Karoline Joller entsetzt, wie seine drei Ausrufezeichen im Tagebuch deutlich machen.

ERSTE ERSCHEINUNGEN Joller erinnerte sich erst nach dem 15. August 1862, nach dem heftigen Einbruch der erschreckenden Erlebnisse in das Leben der Familie, daran, dass die merkwürdigen Phänomene schon viel früher begonnen hätten. Seit zwei Jahren schon, seit dem Herbst 1860, sei gelegentlich das eine oder andere Mitglied der Familie zu ihm gekommen und habe von unerklärlichen und beängstigenden Dingen berichtet. Joller wollte aber als strenger Familienvater und aufgeklärter Liberaler gelten, er durfte solche Ammenmärchen nicht hinnehmen. Regelmässig wies er angeblich die Überbringer der Nachricht zurecht und stellte die Wahrnehmungen als Sinnestäuschung dar. Allenfalls liess er die Möglichkeit eines Konstruktionsfehlers im Möbel oder ein des Nachts umherschleichendes Tier als Ursache der Geräusche und Erschütterungen zu. «Der Aberglaube war in unserem Hause, wie von jeher, so auch jetzt ein verpöntes Ding, und ich darf behaupten, dass kaum eine Familie mit weniger Gespensterfurcht ist aufgezogen worden, als die meine.»

Zum ersten Mal klagte die damalige Dienstmagd im Frühherbst 1860 über ein deutliches, hör- und spürbares Klopfen des Nachts an ihre Bettstatt. Joller verwehrte sich streng gegen ihre Ansicht, dass ihr gekündet, also der Tod eines Hausbewohners angezeigt worden sei. Und weil im Hause alle gesund blieben, war der Vorfall bald vergessen. Im Herbst 1860 hatte Joller eine schwierige Entscheidung zu fällen. Er musste sich klar werden, ob er noch einmal für das Amt des Nationalrats antreten sollte. Ob er eine Kampfwahl wagen konnte oder sich eingestehen sollte, auf verlorenem Posten zu stehen.

Schreckliche Gesellschaft

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