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QING-LI-FA ODER FA-LI-QING?
DAS 1x1 DER SOZIALEN GRUNDREGELN
ОглавлениеWelches sind die wichtigsten Unterschiede zwischen deutscher und chinesischer Kultur? Im Grunde kann man diese Frage sehr schnell beantworten: In der europäischen Kultur kommt als erstes das Gesetz (法 fǎ); danach kommen Gebräuche, Logik und Umgangsformen (理 lǐ); auf dieser Basis entwickeln sich Beziehungen (情 qíng). In China ist es genau umgekehrt: Zuerst kommen die Beziehungen (情 qíng); dann zählen Gebräuche, Logik und Umgangsformen (理 lǐ) und erst danach schaut man nach dem Gesetz (法 fǎ). Also Qing-Li-Fa statt Fa-Li-Qing.
Die Grundlage der chinesischen Kultur ist das Streben nach Harmonie. Hierbei spielt die Hierarchie eine zentrale Rolle: Ranghöhere haben gegenüber Rangniederen Fürsorgepflichten. Dafür schulden Rangniedere den Ranghöheren Gehorsam. Um die Harmonie nicht zu gefährden, wird zudem jegliche Form der Provokation oder der aggressiven Kommunikation vermieden. Harmonie und Höflichkeit sind in China oft wichtiger als Ehrlichkeit. Daher spricht man Unangenehmes nie direkt an, übt keine offene Kritik, stellt niemals die Schwächen eines anderen bloß und wird sich nie zu einem klaren Nein verleiten lassen. Behutsames Kommunizieren ist die Stärke der Chinesen, und leider müssen auch Europäer, die in China Geschäfte anbahnen möchten, lernen, die eigentlichen Aussagen hinter der verbalen Schonkost zu erkennen. In Geschäftsbeziehungen mit Chinesen kann es durchaus vorkommen, dass man sich in unverfänglicher, scheinbar harmloser Kommunikation wähnt, während unter der Oberfläche Konflikte brodeln, die über die Zeit wachsen, aber nie zur Sprache kommen. Unter Umständen eskaliert die Situation zum offenen Krieg und man sieht sich vor Gericht wieder. Die Rolle von Dolmetschern darf hierbei nicht unterschätzt werden. Es geschieht häufig, dass ein chinesischer Übersetzer potenziell provozierende Inhalte oder Untertöne aufweicht oder rauskürzt.
Für die Harmonie ist es außerdem unerlässlich, jedermanns Gesicht zu wahren. Hierunter muss man sich jedoch kein hochkomplexes Verhaltenssystem vorstellen. Es genügt, sich einmal mehr an die einfache Umgangs- und Gesellschaftsformel zu halten: gegenseitiger Respekt. Es gilt sicher nicht nur für China, sondern auch für andere Kulturen, dass niemand es schätzt, vor anderen eine Absage zu erhalten, kritisiert oder bloßgestellt zu werden (das Gesicht zu verlieren). In China wird dies nur stärker gewichtet und der Unmut bei respektlosem Verhalten greift tiefer als etwa hierzulande. Wo eine offen geübte Kritik in Deutschland vielleicht bald vergeben und vergessen ist, kann sie in China einer Beziehung nachhaltig schaden. Umgekehrt wird es sehr positiv gewertet, jemandem Gesicht zu geben – das beginnt mit kleinen, scheinbar unbedeutenden Gesten wie zum Beispiel jemandem Feuer zu geben, Tee einzuschenken, etc.
Natürlich geht ohne Beziehungen – Guanxi – nichts bis gar nichts; hierbei geht es nicht um Korruption oder Seilschaften (wobei eine Mitgliedschaft in diversen Seilschaften in China keineswegs von Nachteil ist), sondern um Beziehungen zwischen Menschen, die auf gegenseitigem Nutzen aufbauen. Das Wort Guanxi lässt sich kaum in eine westliche Sprache übertragen und ist doch eines der wichtigsten überhaupt, das die chinesische Gesellschaft kennt. In Wörterbüchern findet man Beziehungen oder Netzwerk als Übersetzung, doch beide Begriffe geben das Konzept, das hinter Guanxi steckt, nur unzulänglich wieder. Guanxi sind Beziehungen zwischen Menschen, die sich über einen langen Zeitraum hinweg entwickeln müssen. Sie entstehen zum Beispiel, wenn man aus dem gleichen Dorf stammt, die gleichen Vorfahren oder gemeinsame Bekannte hat. Guanxi müssen permanent gepflegt werden, vor allem, indem man anderen ab und zu einen Gefallen erweist. Diese sollten sich dann irgendwann mit einem Gegengefallen erkenntlich zeigen.
Das Gegenteil von Harmonie ist übrigens das Chaos, welches es unbedingt zu vermeiden gilt. Weil jedoch in China in vielen Lebensbereichen Chaos herrscht, braucht man einen unbeirrbaren Blick für das Wesentliche. In China besteht die Herausforderung eben nicht darin, Gelegenheiten zu identifizieren, sondern eher darin, aus der riesigen Masse der Gelegenheiten die passende herauszufiltern. Daher passiert es zum Beispiel relativ schnell, dass chinesische Gesprächspartner sich recht abrupt aus einem Gespräch verabschieden oder eine zunächst vielversprechende E-Mail-Kommunikation scheinbar ohne ersichtlichen Grund zum Erliegen kommt: In diesem Fall kann es sein, dass der chinesische Partner die Gelegenheit zu diesem Zeitpunkt als ungünstig einstuft und beschließt, sich einstweilen anderen Themen zuzuwenden.
Wenn man die obigen Kernpunkte zusammenbringt, gelangt man unweigerlich zu dem Schluss, dass eine gehörige Portion Flexibilität zum chinesischen Handwerkszeug dazugehört. Deutsche Geschäftsleute planen ihre Chinareisen oft minutiös bis ins letzte Detail, und dies Wochen oder gar Monate im Voraus. Chinesische Geschäftsleute hingegen planen ihre Deutschlandreisen oft mit gerade so viel Vorlauf, wie sie für die Visum-Beantragung benötigen. Wenn zum Beispiel ein Deutscher mit einem Chinesen einen Termin in acht Wochen vereinbaren möchte, wird der – vermutlich leicht verwunderte – Chinese erst einmal zusagen. Für den Deutschen ist das Thema damit erledigt, der Termin steht. Der Chinese wird aber natürlich den Termin nur als lose Absichtserklärung sehen, denn welcher gesunde Mensch plant denn so lange im Voraus? Es gibt doch immer wieder unvorhergesehen auftretende Termine, insbesondere wichtige Verabredungen mit Kunden oder Behördengänge. So kommt es in der Praxis ständig vor, dass der von den Deutschen sorgfältig und lange im Voraus geplante Termin einen Tag vorher oder sogar noch am selben Tag von chinesischer Flexibilität umgeworfen wird. Da jedoch chinesische Geschäftsleute mit dieser Flexibilität gut vertraut sind, gehört das Verlegen von Terminen ganz einfach mit dazu und stellt für gewöhnlich kein Problem dar. Für Deutsche sind diese ständigen Änderungen jedoch oft sehr ermüdend und für den unerfahrenen Chinareisenden kaum umsetzbar. Deutsche mit viel Chinaerfahrung hingegen kommen meist gut damit zurecht und können trotzdem effektive Reisen organisieren.
Wem zwischen den verschiedenen Punkten, die hier beschrieben wurden, Widersprüche aufgefallen sind, der hat auch noch den letzten wesentlichen Zug der chinesischen Kultur entdeckt: Für Chinesen ist es oft kein Problem, völlig konträre Meinungen oder sogar Tatsachen zu erdulden. Viele Dinge erscheinen für Westler oft unvereinbar. Meist pflegen Chinesen einen indirekten Kommunikationsstil; wenn sie dann doch einmal direkt werden, wirkt dies auf Nicht-Asiaten oft sehr überraschend: Auf die überbordende Höflichkeit gegenüber Gästen folgt im gleichen Atemzug das barsche Anherrschen einer Hotelangestellten. Rührendes Kümmern um den etwas älteren Kollegen steht im krassen Gegensatz zur Rücksichtslosigkeit beim Einsteigen in die U-Bahn. Meist gibt es eine Erklärung für diese scheinbaren Widersprüche: Wenn man etwas klarmachen möchte, ist manchmal Direktheit der beste Weg. Hierarchien beherrschen das Leben und bestimmen die Rolle von Gästen und Dienstpersonal. Und wenn man keine Beziehung zu jemandem hat, dann existiert man de facto für diese Person nicht – so viel zur Ellenbogengesellschaft in der U-Bahn. Aber manche Widersprüche können nicht erklärt oder aufgelöst werden. In diesem Fall wird der Widerspruch oft einfach akzeptiert. Übrigens gibt es im Chinesischen kein semantisch hergeleitetes Wort für Widerspruch; das entsprechende Wort (矛盾 máodùn) beruht auf einer Legende über einen Waffenhändler, der von seinen Speeren (盾 dùn) behauptete, dass sie jeden Schild (矛 máo) durchstoßen würden. Gleichzeitig pries er Schilde an, die angeblich jedem Speer standhalten könnten.
Je mehr man über die chinesische Kultur lernt, desto bewusster wird einem, wie wenig man weiß. Die Kultur ist tief, breit und kompliziert. Das Gute hierbei ist, dass niemand von einem Europäer erwartet, sich perfekt in die chinesische Kultur einzupassen. Chinesen freuen sich, wenn sich ein Ausländer aktiv mit der chinesischen Kultur befasst, und die geschicktesten Besucher nutzen ihr beschränktes kulturelles Wissen, um Gespräche anzufangen und Freundschaften zu vertiefen. Es gibt keinen besseren Weg, Beziehungen aufzubauen, als gemeinsam Kulturen zu ergründen!
Lutz Berners und Miriam Fritz, Berners Consulting Stuttgart