Читать книгу Die Farbe von Jade - Luzia Schupp-Maurer - Страница 5
ОглавлениеWenn wir miteinander schliefen, hieltest du immer deine Augen geschlossen. Still lagst du da, als würdest du deinen Körper mir überlassen. Wenn ich dich ganz sanft streichelte, schlossen sich deine Augen noch fester und eine Träne lief glitzernd aus einem Augenwinkel. Ich spürte dich atmen. Meine Hände versuchten nicht, dir zu befehlen, von dir zu fordern, sondern dir zu folgen: den leichten Änderungen deines Atems und jeder Muskelfaser, die sich entspannte. Sie suchten sich einen Weg zu dir, durch deine Mauer, unter deine Haut, in deine Seele. Ob ich dich jemals wirklich fand, weiß ich nicht. Was auch immer dich in deiner Festung hielt, ich hoffte, du würdest es in meinen Armen für einen Moment vergessen können. Ich wünschte es mir so sehr, dass ich schließlich daran glaubte. Oder habe ich es mir doch nur eingeredet? Die Vorstellung, du hättest dir dein Leben hier durch deinen Körper erkauft, legt sich wie eine eiserne Klaue um mein Herz. Ein Gedanke, den ich nicht ertrage und nicht zulassen will. Ich versuche, mich zu erinnern. Habe ich die Zeichen nicht gesehen? Manchmal wurde dein Körper weich und dein Atem tief. Dann hast nicht nur du geweint, sondern auch ich. Bitte, lass es nicht nur Lüge gewesen sein!
Wenn ich mit dir noch einmal sprechen könnte, hätte ich dir so vieles zu sagen – und doch nichts. Es gibt keine Worte. Ich weiß nicht mal, ob ich hoffen soll, dass du noch lebst oder ob es menschlicher wäre, dir den Tod zu wünschen. Ich weiß nur eines sicher: dass ich dir wünsche, endlich frei zu sein. Vor allem frei von Angst.
Ein Dorf bei Ayu, nahe Kawkareik, Südost Birma, 1993
»One, two, three, four, five, six, se-ven. Eight, nine, ten and then e-leven …«, sang die Mutter und schabte dazu mit dem grauen Reibstein über die Thanaka-Rinde. Win San Youn lauschte dem rhythmischen Geräusch und wie es sich in die Gesänge des Regenwaldes einfügte: in das Zirpen und Summen der Insekten und die Melodien verborgener Vögel und Affen. Dieser tausendstimmige Chor füllte die tropische Nachmittagshitze aus, als würde er ihr einen lebendigen Körper verleihen, atmend und bebend. Die Luft war schwer und dunstig von der Feuchtigkeit.
Win San Youn mochte es, vor der auf hohen Holzbohlen erbauten Hütte zu sitzen und ihrer Mutter beim Thanaka-Reiben zuzusehen. Das Holz verwandelte sich unter Mi Mis Händen nach und nach in eine hellgelbe Paste und verströmte einen angenehmen, leisen Duft.
»Mi Mi, wann darf ich endlich in die Schule?«
Die Mutter seufzte. »Du weißt doch, es gibt hier keine.«
»Aber Aung Ni ist doch mal in eine Schule gegangen!«
»Ja, ins Kloster. Das war als Papa noch lebte.«
San Youn schaute traurig zu Boden. Alles war anders, seit Papa fort war.
Mi Mi unterbrach ihre Arbeit, rückte näher zu San Youn und nahm sie in den Arm. »Ich weiß ja, dass es für euch schwer ist, Mi San Youn. Aber ich brauche euch doch hier, alleine schaffe ich die Arbeit nicht. Und der Weg zum Kloster ist auch viel zu weit und zu gefährlich. Ich will doch nicht, dass euch was passiert.« Sie nahm wieder die Reibschale und rieb die Thanaka-Rinde weiter.
Mi San Youn, ihre Mutter nannte sie oft so, kleine San Youn. San Youn beobachtete, wie Mi Mi mit der Hand etwas Wasser auf das zerriebene Holz tropfen ließ.
»Ich durfte auch nicht lange in eine Schule gehen«, sagte Mi Mi. »Glaub mir, ich würde euch gern zur Schule schicken. Aber es geht nicht. Ich kann nur versuchen, euch das beizubringen, was ich selber weiß.«
Mi Mi sah traurig aus. San Youn tat es leid, dass sie Mi Mi mit ihrer Frage traurig gemacht hatte. Sie schaute auf den Jadeelefanten, der stets an einem Lederband auf der Brust ihrer Mutter hing. Es war ein unbehauenes Stück roher Jade in der Form eines Elefanten, grau an den Abbruchkanten, mit einem durchschimmernden grünen Kern. Mi Mi war selbst noch ein Kind gewesen, als sie ihn in einer Edelsteinmine gefunden hatte. Es sei der zu Stein gewordene Geist der Großmutter, Mi Mis Mutter, hatte Mi Mi San Youn erzählt. San Youns Großmutter war erschlagen worden, als ihre Kinder zum Arbeiten in die Minen verschleppt wurden. Lange war dann ihr Geist zornig und verwirrt umhergestreift und hatte nach seinen Kindern gesucht. In der Edelsteinmine hatte der Geist Mi Mi schließlich gefunden und war still und sanft geworden. Seitdem war der Elefant Mi Mis ständiger Begleiter.
Mi Mi mischte duftenden Sandelholzstaub in die Thanaka-Paste. »Hast du schon die Kuh gefüttert? Hast du ihr die Bananenstaude gegeben?«
San Youn nickte.
»Und was heißt Reis auf Englisch?«
San Youn schaute auf den Knoten des roten Longyi, den Wickelrock, den die Mutter um die Hüften trug, und überlegte. »Lice«, antwortete sie.
»Rice«, korrigierte die Mutter, »rice, rrrr …, rice, das ist wichtig. Vielleicht kannst du bald einen Laden aufmachen und Reis verkaufen. Vielleicht verkaufst du ihn sogar ins Ausland. Weißt du, wie weit der Reis auf Reisen geht?« San Youn schüttelte verneinend den Kopf. Die Mutter machte eine ausladende Geste. »Um die ganze Welt. Bis nach Europa und Amerika. Alle essen Reis. Sogar die Engländer.«
San Youn fragte sich, wie wohl Europa aussah. »Mi Mi? Ist Europa weit weg?«
»Weiter als ein Vogel fliegen kann. Und die Menschen da haben alle gelbe Haare und sind so breit wie Elefanten.«
»Kann ich ihnen auch Elefanten verkaufen? Dann reisen die Elefanten auch um die ganze Welt.«
Die Mutter lachte. »Nein, ich glaube, Elefanten sind zu schwer und zu groß für Europa. Denn Europa ist zwar sehr reich, aber auch sehr klein, glaube ich.«
Win San Youn versuchte sich ein kleines Europa mit gelbhaarigen und unglaublich breiten Menschen vorzustellen, in dem es keinen Platz für Elefanten gab. »Kleiner als unser Dorf?«
»Nein. Es ist schon groß. Aber nur groß genug für Europäer. Viele Elefanten passen da auf jeden Fall nicht mehr rein. Aber Reis, weißt du, Reis füllt die Ritzen. Der passt überall rein.«
Als die Mutter mit der Thanaka-Paste ein kleines gelbes Muster auf San Youns Wangen, auf ihre Stirn und ihre für ein birmanisches Kind ungewöhnlich schmale Nase gemalt hatte, fragte San Youn: »Darf ich spielen gehen?«
»Wohin gehst du?«
»Ich reise um die Welt und gehe nach Europa!«
»Du bleibst in der Nähe, hörst du? In Rufweite! Keinen Schritt weiter!«
An Mi Mis plötzliche Strenge war San Youn gewöhnt. Dennoch erschrak sie über das harte Verbot immer wieder aufs Neue und über die Angst, die darin mitschwang, die Angst vor den Soldaten. Die Soldaten. Wegen den Soldaten durfte sie nicht um die Welt und nach Europa reisen, wegen den Soldaten durfte sie nicht frei spielen. Weil ein kleiner Soldat, ein Kind noch, den Vater so schwer verwundet hatte, dass ihm auch die starken Kräuter und die Geister nicht mehr helfen konnten. Es war noch nicht lange her, als die großen Soldaten den Bruder mitgenommen hatten und er jetzt irgendwo in den Bergen, in den Wäldern oder sonst wo, andere Väter totschießen musste. Jetzt hatten sie noch weniger zu essen und mussten noch mehr arbeiten. Doch selbst die Arbeit auf dem Reisfeld war gefährlich, wenn die Soldaten in der Nähe waren. Unter der hübschen gelbweißen Bemalung wurde San Youns Gesicht traurig und ernst. Mi Mi drückte ihr die leere Reibschale in die Hand. »Hilf mir lieber, den Reis zu trocknen und Fackeln zu machen. Und danach kochen wir.«
Während die Mutter sich auf dem kleinen Platz hinter der Hütte um die eingebrachte Ernte kümmerte, den Reis drosch, ausbreitete und wendete, machte San Youn die Fackeln, indem sie in dicken Schichten Kuhdung an Zweige klebte. Die Thanaka-Paste kühlte angenehm ihr Gesicht. Hinter ihr stand die graue Zebu-Kuh und kaute friedlich auf ein paar Blättern herum. San Youn mochte die Kuh, mochte ihren Geruch, ihren Höcker und ihr breites Maul. Wenn es kühler war, genoss sie es, sich an sie zu lehnen und ihre Kraft zu spüren. Heute war es dafür zu warm. San Youn hörte den Dreschflegel der Mutter hinter der Hütte und atmete die feuchte Luft. Sie schaute in den Himmel. Kein Windhauch regte sich, um in den braunen, trockenen Nipapalmblättern des Daches auf der Hütte zu rascheln. Es war Ende Mai, bald würde der Regen anfangen.
Nachdem San Youn mit den Fackeln fertig war, rieb sie die Chilischoten für das Essen und kochte den Reis. Zum Essen kamen ihre beiden Schwestern vom Feld und ihr Bruder Aung Ni aus dem Wald: der, den die Soldaten nicht mitgenommen hatten. Ein leerer Topf kam aufs Feuer und Aung Ni warf seine Beute hinein, die Grillen, die er im Wald gefangen hatte. Er nahm sich zuerst von dem Reis mit Chili und den jetzt knusprig gebratenen Grillen. Danach aßen die beiden Schwestern San Kyi und Nu Kaung, weil sie alle älter waren und so hart arbeiten mussten. San Youn bekam die Reste. Die letzte Ernte war schlecht gewesen. Der Sturm hatte sie weitgehend zerstört. Nun musste man das Essen gut einteilen. Gierig stopfte sie sich mit der rechten Hand die kleine Portion in den Mund, während die Linke ordentlich auf ihrem Schoß lag. In Europa, so hatte sie gehört, aßen die Leute mit beiden Händen. Vielleicht war deren Hunger sehr groß und sie kauften deshalb vielleicht so viel Reis aus Asien, weil ihr eigener nicht reichte.
Jemand hatte San Youn erzählt, dass in Europa die Namen der Menschen keine Bedeutung hatten. Das war hier ganz anders. Ihr voller Name war Win San Youn und jede Silbe hatte eine Bedeutung. Wie es bei Kindern üblich war, stand das erste Wort ihres Namens für den Wochentag, an dem sie geboren wurde, Win, Mittwoch. San und Youn bedeuteten besonders und Schutz. Ihre Mutter hieß Mi Mi, kleine Mutter. Sie war wirklich nicht sehr groß, deshalb passte der Name auch so gut.
Als die Geschwister wieder aufbrachen, schaute die Mutter ihnen hinterher. Dann hockte sie sich vor San Youn nieder und betrachtete ihre mageren Ärmchen. »Du wirst auch bald auf dem Reisfeld helfen. Du bist schon sieben Jahre alt. Da wird es langsam Zeit zu arbeiten. Vielleicht gibt es dann auch wieder mehr Reis.« Sie schaute San Youn in die Augen. Ihr Gesicht war ernst und voller Sorge. »Versuche nie, niemals ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Und wenn du es doch tun musst …«, sie atmete durch, »dann schieß daneben. Egal für wen du schießt. Es könnte genauso gut dein Vater sein.« Sie nahm den Elefanten von ihrem Hals und hängte ihn San Youn um. »Du bist die Jüngste und Schwächste und bekommst am wenigsten Reis. Der soll dir helfen, auch groß und stark zu werden. Er wird dich beschützen.«
Bremen, Deutschland, 2005
Der Tag war verregnet. Lea zog den Reißverschluss ihrer Dienstjacke ganz nach oben unters Kinn und schlug sich die Kapuze über ihr kurzes blondes Haar. Sie fror. Der Regen allein störte sie nicht, der Wind aber trieb die Kälte bis in die Knochen. Wenn Wind und Regen sich gemeinsam in ihrer gnadenlosen Beharrlichkeit zeigten, konnte davor keine Kleidung schützen. Außer vielleicht der warme Mantel der Verliebtheit. Diesen hatte sie allerdings an den Nagel gehängt. Und Sommer war es mal wieder nur auf dem Kalender.
Leas Einsatzgebiet war Oberneuland, ein schöner und reicher Stadtteil Bremens. Selber würde sie sich hier nie ein Haus leisten können. Als Postbotin bestand da wohl keine Aussicht. Es blieb also bei Luftschlössern. Dennoch trug sie hier gerne die Post aus, besonders in der Siedlung mit den kleinen Einfamilienhäuschen. Wenn Lea mit dem Postrad kam, stand in so manchem Wohnzimmer ein Hund am Fenster und zog mit seiner Nase einen nassen Streifen auf das Glas. Es waren meist die teuren Rassen, denen man hier begegnete, stets top frisiert und verwöhnt. In der unmittelbaren Umgebung waren Wiesen, Weiden und kleine Waldstücke. Bauernhöfe durchzogen die Landschaft. Lea liebte es, zwischen den offenen Kuhställen zu den Briefkästen zu gehen, den Geruch von Vieh und Heu einzuatmen und den ein oder anderen unfrisierten Hund zu begrüßen.
Lea mochte Hunde. Sandra, ihre Freundin, hatte einen Hund gehabt. Ihre Ex. An dieses Wort musste Lea sich erst gewöhnen. Sie war ja selbst schuld, schließlich hatte sie Sandra den Laufpass gegeben. Diese ständige Streiterei um nichts war sie einfach leid. Sandra hatte immer was zu meckern, musste über alles diskutieren. Lea hatte sie für andere Dinge geliebt. Sandra hatte ein riesiges Herz für Tiere, was dazu führte, dass ihre sowie Leas Wohnung stets mit Fundtieren belegt waren, die in der Zeit, in denen sie arbeitsbedingt allein bleiben mussten, alles vollkackten, Möbel zerfraßen, Teppiche ruinierten und einen herzallerliebst begrüßten, wenn Mensch heimkam. Sandra spielte Gitarre. Sie spielte gut und Lea liebte es, ihr zuzuhören. Doch Sandra fand kein Ensemble, das mit ihr spielen wollte oder konnte. Sandras Fassade war rau und aggressiv. Dabei war die erste Zeit mit ihr die wohl schönste Zeit in Leas Leben gewesen. Eine romantische Zeit. Lea vermisste Sandras sensible Hände, ihre Umarmungen. Sie vermisste die Hundespaziergänge und die Gitarrenmusik bei Kerzenschein. Was sie nicht vermisste, waren die täglichen Provokationen, das Vergraulen aller Freunde und die Statusgeilheit. Sandra war wie ein Vogel mit brennenden Schwingen. Sie musste flattern, um ihre Flügel zu kühlen, und wenn sie umherflatterte, verbrannte sie alles um sich herum.
Irgendwann hatte Lea sich überwunden und die Beziehung beendet. Sie sehnte sich nach einer reiferen Beziehung – oder einfach nur nach Ruhe. In Leas Wohnung brannte es nun nicht mehr, und endlich auch nicht mehr in ihrer Brust. Dort war Ruhe eingekehrt. Ganz langsam. Jetzt musste sie nur noch die Asche zusammenfegen, in Dünger verwandeln und neue Samen ausstreuen.
Die feuchte Kälte kroch Lea unter die Kleidung. Sie zog ihren Kopf tief zwischen die Schultern, als sie auf das letzte Wohnhaus der Siedlung zuging. Es stand ein wenig abseits an der Gabelung der Straße, die sich hier in kleinere Wege aufzweigte und an Gärten vorbei zu den Weiden und Bauernhöfen führte. Es war rundherum von hohen dunklen Hecken umwachsen, die einen noch höheren Zaun verbargen. Dieses Haus wirkte ein wenig einsam und so, als habe der Besitzer ein besonderes Schutzbedürfnis. Allerdings stand das große Tor immer offen und führte den Zaun ad absurdum. Normalerweise. In letzter Zeit war es jedoch immer geschlossen. Schneeweiß war dieses Haus und hatte ein dunkles Dach und dunkle Fensterrahmen. Vor den Fenstern hingen dichte, lange Gardinen, die das Haus vor Einblicken schützten. Dabei war dank der Hecken gar nicht so viel von den Fenstern zu sehen. Das Haus passte irgendwie zu dem Namen seines Herrn, fand Lea: Starrenberg.
Seit einiger Zeit hatte sie fast jeden Tag den Eindruck, hinter den Gardinen eine Bewegung wahrzunehmen. Obwohl Starrenbergs Auto heute nicht da war, hatte sich hinter der Gardine eben wieder ein Schatten bewegt. Also klingelte sie, um ein Päckchen abzugeben. Nichts tat sich. Sie warf einen Brief ein, steckte die abonnierte Zeitung in die Zeitungsröhre unter dem Kasten und wandte sich zum Gehen.
Am nächsten Tag stand das Auto vom Starrenberg wieder in der Einfahrt. Als Lea die Zeitung in die Zeitungsröhre steckte, kam der Mann gerade aus dem Haus. Starrenberg war nicht sehr groß und etwas dicklich. Sein ehemals dunkles, jetzt graumeliertes Haar hatte sich verlegen zu einer Halbglatze zurückgezogen. Dafür versuchte ein schmaler Bartstreifen über Unterkiefer, Kinn und Oberlippe, kokett oder zumindest jung zu wirken, unterstützt von einer schmalen Brille. Er arbeitete bei der Polizei und angeblich war er unter seinen Kollegen sehr beliebt. Das wusste Lea unfreiwillig von einem Nachbarn, den sie mal unverhofft an der Tür getroffen hatte und der gerne zeigte, wie viel er wusste. »Der Starrenberg drückt gern mal das ein oder andere Auge zu bei Kollegen«, hatte er ihr im Verschwörerton verraten, »und liest so ’ne ganz bestimmte erotische Literatur.« Während er dies sagte, hatte der Nachbar mehrmals hintereinander grinsend die Augenbrauen hochgezogen. Er fahre auch immer allein in Urlaub, was er da wohl so mache, ts ts ts. Was andere Leute im Urlaub machten, interessierte Lea nicht. Wahrscheinlich Urlaub. Das bot sich jedenfalls an. Ansonsten wirkte Starrenberg unscheinbar, ordentlich, und war nicht oft zu Hause, wenn die Post kam. Ein Typ, der anscheinend gern allein war und das auch zeigte.
Starrenberg begrüßte sie höflich, als er zum Tor kam, um es zu öffnen.
»Guten Tag«, sagte Lea, »sagen Sie, haben Sie neuerdings Mitbewohner?«
»Warum?«
»Nun, weil seit einigen Wochen ständig jemand hinter ihrer Gardine zu stehen scheint und mich beobachtet. Zumindest sieht es so aus.«
Starrenberg schaute sie ausdruckslos an.
»Ich meine, ich hab’ mich nur gewundert.«
Starrenberg lachte schmallippig. »Ja, das glaube ich. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich habe eine Haushaltshilfe.«
»Ach so. Ja. Hab’ mich nur gewundert, dass die Post nicht angenommen wird, wenn schon jemand da ist. Aber das geht mich ja nichts an.«
Herr Starrenberg nickte. »Jaja. Die Frau ist etwas ängstlich. Hat ’n paar unangenehme Erfahrungen gemacht.«
»Muss ja schon was Ernsteres gewesen sein.« Sie schaute zu den Fenstern hinüber.
»Seien Sie nicht so neugierig. Mehr kann ich ihnen eh nicht sagen.«
»Na klar.« Lea verabschiedete sich mit einem knappen Gruß.
Wenn sie nun vor dem Haus stand und die Post brachte, nickte sie freundlich zum Fenster hinüber. Tag für Tag stand die Frau hinter der Gardine. Seltsam kam Lea das Verhalten allerdings schon vor. Lea winkte, aber nur flüchtig. Sie vermutete, dass diese Frau entsetzlich einsam war, sonst würde sie sicher nicht jeden Tag hier am Fenster stehen und heimlich hinausspähen.
Irgendwann beschloss sie, der Frau eine kleine Freude zu machen. Immerhin beobachteten sie sich seit Wochen gegenseitig. Lea besorgte eine Postkarte mit Sonnenblumen. »Die Welt ist voller Schönheit. Ich hoffe, dass Sie die Sonne bald wiedersehen können. Lea, die Ihnen die Post bringt.« Vor dem Tor angekommen, schaute sie wieder nach dem Fenster, klapperte mit dem Briefkastendeckel. Kurz darauf bewegte sich die Gardine. Lea winkte mit der Karte. Warum hatte die Frau immer noch Angst vor ihr? Sie sollte sie doch inzwischen kennen. Lea zeigte auf sich, dann auf die Karte, dann auf das Fenster. Die Gardine wurde ein Stück zurückgeschoben und ein halbes Gesicht lugte durch den Spalt. Es gehörte zu einer Frau mit rabenschwarzen Haaren, dunklen Augen und einem Blick, der Lea durch Mark und Bein ging. Lea konnte die Bedeutung dieses Blickes nicht einordnen. Es lag nicht nur Verwunderung darin, auch Traurigkeit, doch vor allem – grenzenlose Sehnsucht. Lea ließ unwillkürlich die Hand mit der Postkarte sinken. Dieser Blick war tief und intensiv. Erneut hob Lea die Karte, um sie nun endlich in den Briefkasten fallen zu lassen. Da erschien die Hand der Frau am Fenster. Sie machte eine abwehrende Geste, als würde sie ihr sagen wollen, dass sie dies auf keinen Fall tun sollte. Jetzt löste die Frau den durchdringenden Blick von Lea und schaute suchend an ihr vorbei. Warum durfte Lea die Karte nicht einwerfen? Das war sicher ein Missverständnis. Eine Postkarte konnte wohl niemanden umbringen. Lea warf die Karte ein. Hinter der Scheibe legte die Frau erschrocken die Hand auf ihren Mund. Lea musste sich zwingen, sich umzudrehen und wegzugehen, denn die Frau hielt ihren Blick fest. Als Lea sich noch einmal umdrehte, war da noch das halbe Gesicht hinter dem Glas, unergründlich, sorgenvoll und unglaublich schön.
Lea konnte die halbe Nacht nicht schlafen. Immer wieder kam ihr dieser Blick in den Sinn und jagte einen Schauer über ihren Rücken. Es hatte eine so tiefe Verzweiflung darin gelegen. Eine Botschaft, eine Frage? Sie wusste es nicht genau.
Die ganze nächste Woche lang bewegte sich nichts hinter dem Fenster. Trotzdem ließ sie sich am Tor Zeit, klapperte mit dem Briefkastendeckel, tauschte die Zeitung noch einmal aus. Nichts. Die zweite Woche wollte verstreichen, als Lea wieder Herrn Starrenberg begegnete. Er kam heraus geeilt und sprach sie mit erstaunlich fester, fast grober Stimme durch die Stäbe des Tores an. »Danke für die Karte. Meiner Haushälterin geht es jetzt besser. Sie hat sich Urlaub genommen.«
Lea hatte das Gefühl, sich fürchterlich lächerlich gemacht zu haben. Sie ärgerte sich über sich selbst. Jetzt schrieb sie schon Postkarten an Fremde, die mit ihr nichts zu tun haben wollten. Offensichtlich hatte sie dringend mal eine kalte Dusche nötig. Zu Hause versuchte sie, sich mit einem Buch abzulenken. Nach mehr als einer Stunde gab sie es auf und versuchte es mit einem Film. Doch auch darauf konnte sie sich nicht konzentrieren. Immer wieder war da dieser Blick, den sie nicht vergessen konnte, der ihr nicht aus dem Sinn gehen wollte. Dieser Blick, der nicht von dieser Welt war. Und der diese Welt doch so viel besser zu kennen schien als sie selbst. Was hatte er ihr sagen wollen?
Bei Ayu, nahe Kawkareik, Südost Birma, Ende Mai 1996
Als sie kamen, war San Youn zehn Jahre alt. Es war um die Mittagszeit. Sie arbeitete im Gehölz in der Nähe des Feldes, wo ihre Mutter gerade mit den Schwestern den Reis erntete, suchte nach Kleintieren, die sie später rösten würden. Ihr Bruder Aung Ni sammelte Holz, das geeignet war, um die Hütte auszubessern. Sie konnte ihn hören, er war ganz in der Nähe.
Sie kamen von der anderen Seite des Feldes. Waren einfach plötzlich da. San Youn hörte Schreie und Schüsse. Auch im Dorf fielen Schüsse. San Youn schlich sich ängstlich zum Waldrand vor, von wo aus sie einen Teil des Feldes überblicken konnte. Sie sah Soldaten, ein Knäuel aus Menschen in Uniformen. Plötzlich hörte sie Aung Ni schreien. Vom Waldrand aus rannte er auf das Feld. Dann die Stimme der Mutter. Sie kam aus der zusammengedrängten Masse der Soldaten, aus dem Menschenknäuel. »Lauf weg, lauf weg!« Aung Ni gehorchte nicht. Er lief auf das Feld, auf die Männer zu. Diese drehten sich zu ihm um und gaben den Blick frei auf einen Menschen, der auf dem Boden lag. Es war Mi Mi, sie lag dort und ein Soldat blieb auf ihr liegen, schaute aber hoch zu dem Jungen, der da übers Feld gelaufen kam. Die Soldaten lachten und schienen auf Aung Ni zu warten. Dann, als Aung Ni sie fast erreicht hatte, fielen Schüsse. Aung Ni stolperte, stürzte. Mi Mi schrie. Es war ein Schrei, wie San Youn ihn noch nie gehört hatte. Zwei Soldaten gingen zu Aung Ni und hoben ihn hoch. Er lebte noch. Sie hielten ihn neben der Mutter fest, während ein Soldat nach dem anderen sich auf Mi Mi stürzte.
San Youn konnte sich nicht bewegen. Sie wusste auch nicht, wohin sie sich bewegen sollte. Auf das Feld oder tief in den Wald, sich verstecken. Sie wusste, sie würde Mi Mi und Aung Ni nicht helfen können. Sie musste weg, vielleicht würden sie kommen, um nachzusehen, ob noch mehr Dorfbewohner im Wald waren. Sie würden sie finden und auch erschießen oder über sie herfallen. Oder sie mitnehmen und verkaufen. Es waren keine Gedanken, die ihr da durch den Kopf gingen, sondern Gewissheiten. Sie lief los. Tief, tiefer in den Wald, so schnell sie konnte. Sie kämpfte sich durch das Dickicht, stolperte, fiel, riss sich den Fuß auf, lief weiter. Ihre Schwestern …? Egal, sie liefen hoffentlich auch in den Wald, waren vielleicht schon tiefer im Wald, schon früher losgelaufen. Sie lief, bis sie nicht mehr konnte, bis ihre Beine sie nicht mehr tragen konnten und ihre Lungen zu bersten drohten. Schwer nach Atem ringend kroch sie tief in ein Elefantengrasdickicht hinein. Versuchte, so wenige von den breiten Halmen wie nur möglich umzuknicken und rollte sich zusammen, hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen und versuchte, nicht da zu sein. Sie wartete.
Nur an der Veränderung des Lichtes konnte San Youn abschätzen, wie viel Zeit verstrich. Sie wusste, das konnte täuschen, denn zwischen die Bäume und durch das dichte Elefantengras drang fast kein Licht. Auf ihrer Haut spürte sie das unnachgiebige Kribbeln und Beißen von Ameisen. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, doch das Beißen wurde stärker. Immer wieder versuchte sie verzweifelt, sie abzuwischen, vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, hielt sich dann wieder die Ohren zu. Erst als sich deutlich die Schatten verändert hatten, wagte sie es, ihre Hände von den Ohren zu nehmen. Ganz langsam wagte sie es schließlich, sich aus dem Dickicht zu erheben. Zaghaft begab sie sich auf den Heimweg, langsam, nach jedem Schritt ängstlich lauschend. Es dauerte lange, bis sie wieder den Waldrand und das Feld erreichte.
Mi Mi und Aung Ni lagen reglos auf dem Feld in der goldenen Abenddämmerung.
Erst in der hereingebrochenen Dunkelheit wagte San Youn sich auf das freie Feld. Zuerst kam sie zu ihrem Bruder. »Aung Ni?« Aber Aung Ni reagierte nicht, als sie ihn leise ansprach. Sie fasste ihn an. Ein entsetzter Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Er war kalt. Kälter, als wenn er aus dem Wasser kam. Eilig rannte sie zur Mutter. Mi Mi war nackt, ihre Bluse und ihr Longyi lagen ein paar Meter entfernt, zerrissen, die einst leuchtenden Farben von Schlamm bedeckt. Sie war auch kalt und seltsam steif. San Youn klammerte sich an ihren Körper, der sich plötzlich ganz fremd anfühlte. Sie schrak zurück. »Mi Mi? Mi Mi?« Doch ihre Stimme gehorchte ihr nicht. San Youn wollte weinen, doch vergeblich, ihre Augen blieben trocken, wollten nicht dieses plötzliche Übermaß an Schmerz hinausspülen. Wie in Trance deckte sie notdürftig die Mutter mit den Fetzen ihrer Kleider zu. Dann durchfuhr sie ein neuer Schreck. Menschen wurden zu bösen Geistern, wenn sie gewaltsam starben. Sie hatte nie geglaubt, dass Mi Mi zu einem bösen Geist werden könnte. Aber jetzt war sie kalt und roch nicht mehr nach sich selbst. Jetzt war sie wirklich ein Geist geworden. Man würde ihn verscheuchen müssen. San Youn wollte das nicht, aber sie musste. Mi Mi und auch Aung Ni würden jetzt sehr zornige Geister sein, denn sie waren gewaltsam gestorben. Und San Youn war einfach weggelaufen. Sie würden hier über das Feld schweifen und sie vielleicht suchen, weil sie nicht auf das Feld gekommen war, um zu helfen. Sie würden das ganze Dorf unsicher machen. Aber niemand kam, um sie mit Lärm zu vertreiben. Und sie selbst durfte jetzt nicht laut sein. Vielleicht waren noch Soldaten in der Nähe. San Youn lief zwischen Mi Mi und Aung Ni hin und her und machte mit ihren Armen wilde und abwehrende Bewegungen, um ihre Geister fortzuschicken.
Der Wald umher sprach nun zu ihr. Die Bäume redeten auf sie ein, aber San Youn verstand nicht, was sie sagten. Wie von Sinnen lief sie umher und fuchtelte wild mit den Armen. Die Bäume flüsterten lauter. Alle durcheinander, dass es in San Youns Kopf dröhnte. Überall meinte sie, Schritte zu hören. Die Soldaten kamen sicher zurück und die beiden Geister würden sich auf sie stürzen. Sie musste hier weg. Gab es das Dorf denn noch? Waren da noch die Menschen? Oder waren dort jetzt die Soldaten? Das Flüstern des Waldes schwoll zu einem Brüllen an. Vor dem Wald hatte sie nun panische Angst. Doch wo konnte sie hin, wo sollte sie sich dann verstecken? Der Wald war die einzige Möglichkeit. Der Wald sagte ihr das, drohend, und der Stein auf ihrer Brust sagte das auch. Der Elefant aus Jade. Doch wollte sie die Geister hier nicht alleine auf dem Feld zurücklassen. Sie sollten das Dorf in Frieden lassen. Und sie sollten aufhören, böse zu sein, sollten ihren Frieden und ihre neue Inkarnation finden. San Youn hielt in ihren wilden Bewegungen inne. So würde sie es kaum schaffen, die Geister zu vertreiben oder zu beruhigen. Nicht die der Toten und nicht die des Waldes und des Feldes. Sie hatte nichts, was sie opfern konnte. Also nahm sie ihr Messer und schnitt sich in hastigen, groben Bewegungen das Haar ab. Sie versuchte, so viel wie möglich abzuschneiden. Sonst hatte sie nichts. Ein dickes Haarbüschel legte sie ihrer Mutter in die rechte Hand, ein weiteres ihrem Bruder. Ob das so richtig war, wusste sie nicht. Es war der Elefant auf ihrer Brust, der ihr dazu riet, also tat sie es, trotz ihrer Angst. Den Rest ihrer Haare streute sie in den Wind. Dann breitete sie die Arme aus und sprach mit erstickter Stimme: »Hier bin ich. Ich habe nichts, was ich euch geben kann, außer mich selbst. Ich bin in eurer Hand. Helft mir oder zerstört mich.« Wie in Trance wandte sie sich von ihrer Mutter und Aung Ni ab, ging in den Wald hinein. In ihrem Kopf und in ihrer Brust breitete sich kalte Leere aus.
Im Wald war es erbarmungslos dunkel. Eine Dunkelheit, wie San Youn sie noch nie erlebt hatte. Nicht nur, weil sie noch nie nachts in den Wald gegangen war, sondern auch wegen der zornigen Geister, die es noch dunkler und bedrohlicher erscheinen ließen. Mit einer lähmenden Angst in der Brust tastete sie sich wie eine Schlafwandlerin durch den Wald mit seinen Baumriesen, den hohen Brettwurzeln und den unzähligen dichten Lianen, die die Baumstämme umgaben, sich um sie wanden und aus der Höhe von deren Zweigen herabwuchsen.
Ein paar Tage würde sie sich verstecken müssen. Sie durfte nicht sofort zurück. Ob wohl das ganze Dorf zerstört war? Vielleicht war es nur ein kleiner Überfall von ein paar Soldaten gewesen, die zufällig in der Nähe waren. Vielleicht würde Mi Mi auch wieder warm werden, vielleicht …?
San Youn wusste, dass sie sich da selbst kindisch belog. Sie hoffte nur inständig, dass sie ihre Schwestern finden würde. Und wenn sie sie nicht fand? Wenn sie noch lebten, waren sie vielleicht bei den Tatmadaw, den Regierungssoldaten. Von denen musste San Youn sich auf jeden Fall fern halten, denn die würden mit ihr das tun, was sie mit der Mutter getan hatten. Ob hingegen die Geister des Waldes sie lange schützen würden, das wusste sie auch nicht. Sie musste nachdenken, musste klug sein wie ihre Mutter. Jetzt, wo sie allein war, musste sie ganz erwachsen sein. Hier war sie nicht mehr die Jüngste, sondern die Einzige. Sie konnte nicht länger die kleine, die Mi San Youn sein, von jetzt an musste sie Ni San Youn sein, die starke San Youn.
Um vor Kriech- und Raubtieren wenigstens ein wenig sicherer zu sein, kletterte sie auf einen abgebrochenen, morschen Baum und klemmte sich so zwischen die holzigen Lianen, dass sie nicht herunterfallen konnte. Dort auf dem Baum fiel sie in einen halbschlafähnlichen Zustand. Ob sie schlief oder wachte, wusste sie nicht. Sie sah und hörte nichts mehr. Der Wald um sie herum lebte und deckte sie mit seinen tausend Stimmen zu.
Irgendwann erwachte im aufsteigenden Nebel der Tag-Wald und der Nacht-Wald ging zur Ruhe. San Youn kletterte aus ihrem Versteck. Sie war durstig. Wasser, sie musste Wasser finden. Während sie umherstreifte, las sie Raupen, Ameisen, Grillen und Samen auf und steckte sie sich in den Mund. Als sie einen Bach fand, trank sie gierig. San Youn versuchte, die Wunden an ihren Füßen auszuwaschen, die Wurzeln und Dornen bei ihrer unachtsamen Flucht hineingerissen hatten, zog kleine Holzsplitter aus der Haut und spuckte auf die wunden Stellen, um sie ein wenig zu desinfizieren. In der Nähe des Baches hielt sie nach einem Versteck Ausschau, das ihr den bestmöglichen Schutz bot. Sie fand eine enge Höhle im Hohlraum eines älteren Banyan, einer Würgefeige. Dieser Baum bestand aus dichten Wurzeln, die bis in den Himmel aufragten und einst einen anderen Baum umschlungen hatten, bis dieser abgestorben war. Nun war der einstige Baum in der Mitte verrottet und der Innenraum, den die Feigenwurzeln umschlangen, war leer. Farne und andere Pflanzen umwucherten das Wurzelgerüst. San Youn kroch halb hinein und wischte mit einem Stock die Spinnweben herunter, suchte die Wurzelhöhle nach Giftspinnen und Schlangen ab. Sehr sicher war dieses Versteck nicht, aber auf dem Boden zu schlafen, war wegen der Skorpione noch gefährlicher. Die Angst schnürte sich wie eine Schlinge um ihren Hals. Sie musste jetzt tapfer sein. Bisher hatte sie überlebt. Sie wollte nicht sterben, doch wenn es so käme, dann lieber durch eine Schlange als durch die Soldaten. Aus einem Dickicht schnitt sie in mühseliger und kraftraubender Arbeit ein paar Zweige und Lianen und flocht sie als eine Art Hüttenboden waagerecht in den Hohlraum der Feige. Um das Versteck zu tarnen, stopfte und klemmte sie Farne und belaubte Zweige in die Lücken der Wurzelwand. Mechanisch verrichtete San Youns Körper die Arbeit, mechanisch stellte sie ihre Überlegungen an. Ihre Seele war nicht anwesend. Sie musste auf dem Feld zurückgeblieben oder im Wald verloren gegangen sein.
Ihre Spuren, die zu diesem Versteck führten, versuchte San Youn zu verwischen. Sie kletterte hinein und dann begann das Warten. Sie lauschte, ob sie Menschen hörte. Ihre Schwestern oder Soldaten. Lauschte dem Schreien verborgener Tiere, horchte auf das Knistern und Summen der Insekten und das leise Fallen einzelner Blätter. Versuchte, aus den zahllosen Gerüchen des Waldes, die Tag und Nacht wechselten, eine Botschaft zu lesen, frisch, modrig, scharf, süßlich. Gelegentlich flogen Schmetterlinge vorbei, bunt und formenreich. Bei jedem Schmetterling fragte sie sich, ob er ein Bote war, ein Bote ihrer Schwestern. Denn diese hatten ihr erzählt, dass Schmetterlinge gute Nachrichten überbringen konnten. Doch keiner kam zu ihr ins Versteck.
Am nächsten Tag waren Hunger und Durst so groß, dass sie hinauskriechen musste. Sie trank vom Bach, suchte zum Essen unter der Erde liegende Sprossen und Triebe und Früchte, die Affen fallengelassen hatten. Bei jedem Geräusch, bei jedem Knacken und Knistern erschrak sie. In einem Bodennest fand sie Vogeleier, die sie gierig verschlang. Aber sie aß nicht das ganze Gelege. Sie wollte den Wald nicht verärgern. Sie war auf seine Hilfe angewiesen. Weit ging sie nicht und als sie zu ihrem Versteck zurückkam, verwischte sie ihre Spuren so gut es ging, schlüpfte dann eilig hinein, lag einfach da, zusammengekauert in dieser Mulde aus Zweigen, Wurzeln und Farnen im Inneren des Banyan und lauschte.
Unendlich langsam verstrichen die Stunden. San Youn schlief ein, wachte irgendwann wieder auf. Nichts hatte sich geändert. War das alles wirklich geschehen? War es nicht doch nur ein Traum? Sie schaute aus ihrem Versteck. Blätter fielen, Insekten summten, sonst gab es nichts. Als sei sie der einzige Mensch auf der Welt. Vielleicht war das ja nur eine Prüfung. Vielleicht musste sie hier nur eine Weile ausharren und dann könnte sie wieder zurückkehren. Ihre Mutter würde sie umarmen, ihr Reis geben mit Chili oder es gäbe dann vielleicht sogar Kokosnuss und Bananen. Alle wären sie da. Mi Mi, Aung Ni, Nu Kaung und San Kyi und die Zebu-Kuh. Vielleicht hatten sich Nu Kaung und San Kyi auch nur versteckt und kamen sie gleich holen. Dann hatte sie die Prüfung bestanden. Sie musste ja lernen, sich zu verstecken und sich zu schützen vor den Regierungssoldaten, den Tatmadaw. Vor denen hatten sie alle Angst. Auch Mi Mi. Noch mehr als vor den wenigen scheuen Raubtieren.
San Youn hörte plötzlich die Stimme ihrer Mutter. Sie hatte damals gelauscht, als Mi Mi abends mit den Nachbarn und der Dorfältesten zusammengesessen hatte:
»Selbst die großen Tiger vergewaltigen niemals«, sagte Mi Mi. »Sie schießen niemals und greifen nicht in Gruppen an. Sie töten nicht aus Hass. Wenn sie Angst haben, laufen sie weg und schießen nicht. Raubtiere töten nur, um zu fressen. Oder um ihre Kinder zu beschützen.«
Jemand sagte: »Das tun unsere Soldaten auch.«
Mi Mi seufzte: »Jaja, es gibt gute und schlechte Soldaten. Die guten sind immer die des eigenen Volksstammes.«
Ein älterer Mann schlug mit der Hand auf den Boden. »Die Milizen der Karen vergewaltigen nicht. Sie schießen nur, weil es sonst noch mehr Tote gibt! Die Tatmadaw werden uns alle töten. Sie zerstören die Dörfer, klauen Kinder und Frauen und schlachten uns ab wie Vieh. Das muss aufhören. Die Militärregierung beleidigt und zerstört das ganze Land. Dieses Land war einmal eines der reichsten Länder Asiens. Jetzt haben sie es zu einem der unterentwickeltsten Länder überhaupt gemacht. Die Welt schaut auf uns herab und wir verhungern!«
Ein jüngerer Mann nickte. »Wenn man nicht zurückschießt, werden wir bald alle tot sein und in kürzester Zeit auch andere Volksgruppen.«
Mi Mi nickte zustimmend: »Ja, es ist schlimm, was die Regierung tut. Deshalb dürfen wir aber nicht auch etwas Schlimmes tun.«
Die Dorfälteste meldete sich zu Wort. »Wie stellst du dir das vor?«
»Einen Menschen darf man nur dann erschießen, wenn man ihn ganz genau kennt«, sagte Mi Mi bestimmt. »Wenn man weiß, wovor er Angst hat und was er sich wünscht. Wenn man das so macht, kann und will man kaum noch jemanden erschießen.«
Ein dritter Mann lachte über sie. »Wenn du so klug bist, schreib deinen Mist doch auf.« Er wusste, dass sie nicht schreiben konnte.
Da nahm Mi Mi einen Zweig und malte in die Erde zwei Menschen. Jeden mit einem Maschinengewehr und einem Herz. Dann sagte sie: »Beide sind aus derselben Erde, mit demselben Zweig gezeichnet. Sie haben zwei Dinge bekommen, ein Gewehr und ein Herz. Nun müssen sie sich entscheiden, was sie damit machen wollen.«
Der Mann, der über sie gelacht hatte, schlug ihr ins Gesicht. Die Dorfälteste aber nickte lächelnd.
San Youn erwachte wieder aus ihren Träumen. Mi Mi würde sie niemals so lange in den Wald schicken. Auch nicht, um sie zu prüfen. Sie wollte weinen, wollte schreien, traute sich aber nicht, wollte keine Geräusche machen. So nahm sie ein Stück Holz und biss darauf.
Der Tag wollte und wollte nicht vergehen. Und die Nacht, als sie endlich hereingebrochen war, erst recht nicht. San Youns Beine und Füße waren blutig und wund von zahllosen Zweigen und scharfen Blatträndern. Sie fror, obwohl es nachts sehr warm und schwül war. Die Kälte kam von innen. Bauchschmerzen plagten sie. Vielleicht war es das Wasser vom Bach. Dieses Wasser konnte krank machen. Es lebten winzige, unsichtbare Geister darin. Vielleicht kam das Bauchweh auch von den unbekannten Blättern, die sie hin und wieder aß oder von den ungekochten Insekten. Oder es war die Angst. Oder böse Geister, die umhergingen. Sie hatte ihre Mutter und den Bruder im Stich gelassen. Wie sehr wollte sie wenigstens nach Mi Mi rufen, es ihr erklären, sie um Vergebung bitten. Aber das durfte sie nicht, musste leise sein, musste erwachsen sein. Wo wohl Nu Kaung und San Kyi waren? Und die Zebu-Kuh? Ob die Soldaten die Kuh auch töten würden? Ob sie sie mitgenommen hatten? Ob sie wohl gut zu ihr waren? Der Wald flüsterte wieder. Nun hörte sie Buschmesser, unentwegt, und Schritte. Sie waren überall.
Die Buschmesser wüteten die ganze Nacht. San Youn hatte kein Zeitgefühl mehr. Nun blieb sie in ihrem Banyan, halb wachend, halb schlafend, halb ohnmächtig. Irgendwann konnte sie die Geräusche der Schritte und Buschmesser nicht mehr ertragen. San Youn verließ ihr Versteck – endlich, nach endlosen Stunden, die zäh und langsam durch vier Tage und Nächte gekrochen waren. Sie wollte nach Hause, wollte aus dieser Höhle heraus, die ihre Haut zerschnitt und sie nicht richtig schützen konnte. Sie hatte Hunger, wurde immer schwächer und ihr Geist verlor seine Richtung. Sie wollte weg. Wollte weglaufen. Einfach gehen. Einfach nur gehen. Sonst wusste sie nicht, was sie tun sollte. Es zog sie Richtung Dorf. San Youn suchte sich den Weg zurück durch die dichte Vegetation. Sie kam nur langsam voran, arbeitete sich durch das Gewirr von Lianen, Wurzeln und Ästen, immer darauf bedacht, Schlangen und anderen gefährlichen Waldgeistern aus dem Weg zu gehen. Die Schritte der Soldaten schienen ihr stetig zu folgen, immer unsichtbar, immer da.
Es dauerte, bis sie das Dorf wiederfand. Im Dickicht des Waldrandes versteckte sie sich. Sie lauschte. Es gab kein Geräusch. Vorsichtig schlich sie sich näher. Die Hütten waren zerstört und ausgeplündert. Der Geruch von Tod hing schwer in der Luft. Keine Menschenseele war da. Keine Kuh und auch sonst kein lebendiges Wesen. Bis sie doch jemanden entdeckte. Zuerst sah sie nur das schmutzige Kleid, das die Frau trug, dann ihr Gesicht. Es war die Dorfälteste, die da halb unter der herausgerissenen und zertretenen Bambustür ihrer Hütte lag. Sie war einundsiebzig Jahre, so alt, wie kaum ein Mensch wird. Sie war unglaublich klug, kannte viele Heilkräuter und wenn man einen Rat brauchte, fragte man sie. Man hatte Respekt vor ihr und ihrem Alter. Jetzt krochen Fliegen aus ihrem offenen Mund, und Maden, ihr Kiefer war seltsam schief und ihre Haut hatte eine bläulich graue Farbe. Sie würde jetzt ein sehr böser Geist sein, der viel Kraft hatte. San Youn konnte sich kaum regen. Übelkeit schnürte ihr den Atem ab. Sie zwang sich weiterzugehen, sie musste zu ihrer Hütte, auch wenn sie sie von hier schon sehen konnte. Die Stützpfosten waren zerstört und die Hütte lag eingestürzt auf dem Boden. San Youn blieb vor der Ruine stehen und begann, leise nach ihren Schwestern zu rufen, den Blick starr auf die Reste der Hütte gerichtet. Da lagen unter den langen, trockenen Nipapalmblättern, die einst das Dach gebildet hatten, der graue Reibstein und die zerbrochene Reibschale, und der Kessel zum Kochen. San Youn nahm sich zusammen und versuchte, in den Trümmern noch etwas Brauchbares zu finden. Ein Buschmesser, etwas Essbares. Aber alles, was brauchbar gewesen wäre, war fort. Sie kehrte um, wollte in den Wald zurück. Als sie wieder an der Leiche der alten Frau vorbeikam, blieb sie stehen. »Dem Dorf kannst du jetzt nicht mehr schaden«, dachte sie. »Aber hierbleiben möchtest du sicher auch nicht.« Sie wollte schreien, um den Geist der Alten fortzuschicken. Aber es wollte kein Laut aus ihrer Kehle kommen. Sie tastete nach dem steinernen Elefanten auf ihrer Brust. Wo waren nur Nu Kaung und San Kyi? Wo waren die Dorfbewohner?
Sie war alt genug, um zu wissen, was mit den Dörfern passierte. Nur nicht alt genug, um es zu verstehen. Mi Mi hatte gesagt, dazu ist niemand alt genug. Nicht einmal die Elefanten. Nicht einmal Schildkröten. Die Flüchtlingslager waren völlig überfüllt. Schlimme Arbeit musste man dort machen oder man wurde getötet oder geschändet. Und oft wurden Menschen verschleppt. So wie ihr Bruder damals. Und deshalb schießen die Karen zurück, die Shan und alle anderen, jeder schießt auf jeden.
»Und jeder Schuss macht noch mehr Schüsse, die dann von der anderen Seite kommen«, hatte die Mutter gesagt, als sie mit den Nachbarn zusammensaß.
»Du kannst das ja gar nicht beurteilen«, sagte eine Frau zu ihr.
Mi Mi nickte dazu. »Das stimmt.« Dann hatte sie zu weinen begonnen. »Ich hasse jeden, der ein Gewehr in der Hand hält.«
Jemand sagte: »Dein eigener Sohn, dein Ältester, den haben sie doch auch. Der hält jetzt wahrscheinlich auch ein Gewehr in der Hand.«
Mi Mi antwortete nicht.
»Also ist es doch richtig, zu schießen«, behauptete ein Mann.
Mi Mi stand auf und sagte nur leise: »Wie ihr meint. Gott hat es uns in die Hand gelegt. Uns allen. Und jeder muss nun sehen, was er damit macht.«
Die Leute sagten oft, Mi Mi tue nur so, als sei sie klug, aber in Wahrheit sei sie zu dumm, um so etwas zu wissen. Manche hatten sie für verrückt erklärt.
San Youn war jetzt die Älteste. Sie war jetzt ihre Mutter. Sie versuchte, die Mutter in sich zu finden und die alte, weise Frau. Versuchte, sie zu befragen. Wie lange konnte sie im Dschungel überleben? Und was könnte sie retten? Was sollte sie tun? Im Wald konnte sie nicht ewig bleiben. Wo sollte sie hin? Nach Europa, kam es ihr in den Sinn. Und jetzt fiel ihr plötzlich auf, dass ihre Mutter sie all die Jahre darauf vorbereitet hatte: Sie sollte nach Europa. Aber wo lag Europa – und wie reiste man um die Welt? Im Süden und im Westen solle das Meer sein, hatte die Mutter ihr gesagt. Und nach Europa komme man am besten durch die Luft oder mit einem Schiff. Wenn aber das Meer im Süden ist und Europa im Norden – wie sollte sie dann mit einem Schiff dorthin kommen? Und hier in den Wäldern gab es keine Flugzeuge. Die gab es in der großen Stadt, in Rangun. Die war im Westen und man musste ein großes Stück Meer umwandern, um dorthin zu kommen. Und da war das Militär. Doch vielleicht auch ein paar Europäer, die dort Reis einkauften und die sie mitnehmen konnten. Mi Mi hatte San Youn auf Europa vorbereitet. »One, two, three, four, five …«, so hatte sie ihr Englisch beigebracht, »six, se-ven«. San Youn hielt den Elefanten auf ihrer Brust fest und schaute sich hilflos um. »Eight, nine, ten and then e-le-ven …« Sie sprach ängstlich den Zählreim vor sich hin und die Wörter, die sie gelernt hatte, suchte nach den Wörtern wie nach einer schützenden Hand. »Rice, coconut, thank you, love«, sie ging zögerlich zurück durch das Dorf in die andere Richtung, Richtung Westen, »yes, no … fish … yes, no …« Aber wie man ein Flugzeug finden kann, das wusste sie nicht.
Wieder kam sie an ihrer zerstörten Hütte vorbei. Sie blieb stehen. Dann verließ sie der Mut. Sie kauerte sich auf den Boden in der Ruine, zog ein paar Palmblätter des eingestürzten Daches über sich und rollte sich ein. Die zerbrochene Reibschale nahm sie fest in den Arm und endlich lösten sich die Tränen. Erst Stunden später, als sie sich völlig müde geweint hatte, ihre Augen brannten und keine Tränen mehr da waren, schlief sie ein.
Bremen, Deutschland, 2005
Lea trug weiterhin die Post aus, bei Sonne, bei Regen und bei Wind. Hinter der Gardine war es still geworden. Manchmal bildete sie sich noch ein, hinter dem Fenster einen Schatten zu sehen, aber sie schaute kaum noch hin. Es wurde Herbst, es kam der lange November, der Januar. Das Jahr 2006 war angebrochen. Monate waren ins Land gezogen. Die Tage waren kürzer geworden und die Abende unendlich lang. Eigentlich wurde es zurzeit gar nicht erst hell, zumindest fühlte es sich so an.
Ein kalter Wind blies ihr den Regen ins Gesicht und die Hände wurden klamm. An diesem Nachmittag stand das Tor des Hauses Starrenberg wieder offen. Lea überlegte, ob sie die Post weiterhin hier am Tor in den Kasten werfen sollte oder in den Kasten direkt am Haus. Sie entschloss sich für den Kasten am Tor. Mit steifgefrorenen Fingern fasste sie nach den Zeitungen in ihrer Wagentasche und zog dabei versehentlich ein paar andere Zeitungen mit hinaus, die unversehens auf das nasse Pflaster klatschten. Natürlich musste genau in diesem Moment der Wind auffrischen und in die Zeitungen greifen. Lea fluchte in ihre Kapuze hinein, die sie fest um den Kopf gezogen hatte, und sammelte die Zeitungen auf. Sie stapfte ungelenk hin und her und raffte die Zeitungsblätter zusammen, legte sie gegen den Willen des Windes wieder zurecht. Hoffentlich waren sie nicht allzu schmutzig geworden. Sie hatte nämlich keine Lust, sich eine Beschwerde einzufangen. Plötzlich nahm sie dicht hinter sich einen Schatten wahr. War ja klar. Jetzt musste auch noch der Starrenberg ihr begegnen und sie bei einem solchen Missgeschick erwischen. Abrupt drehte sie sich um. Hinter ihr stand eine Frau, die sich eingepackt hatte wie ein Yeti und aus deren Kapuze heraus Lea ein Blick traf, der ihr die Knie weich werden ließ, tief und unergründlich, jener Blick, den sie versucht hatte, zu vergessen.
»Verzeihung«, stammelte Lea und ging einen Schritt zur Seite, um ihr mehr Platz zu machen. Dabei war da genug Platz. Die Frau stand still wie ein Baum bei Windstille und schaute Lea an. Lea schluckte, stammelte ein unschlüssiges »Guten Tag«. Ihre Stimme war plötzlich belegt. »Na, wieder da?« Lea hasste sich für diese blöde Frage. Was sollte die andere denn antworten – nein, ich bin nur eine Erscheinung? Außerdem mischte sie sich mit dieser Frage schon wieder ein.
Die Frau senkte den Kopf. »Ja«, sagte sie kaum hörbar. Kurz darauf schaute sie verstohlen wieder auf und lächelte. »Danke. Für Karte.« Ihre Stimme war leise und warm. Sie hatte einen starken Akzent.
Lea konnte im ersten Moment nicht antworten. Dass die Frau sofort an die Karte dachte, wunderte Lea, immerhin war das jetzt schon fast ein halbes Jahr her. »Gern«, sagte sie und lächelte unsicher. Die Frau wirkte gar nicht so abweisend, wie Lea es vermutet hatte. Ganz im Gegenteil. In Lea regte sich der Impuls, nach ihrem Namen zu fragen. Der feige – oder auch vernünftige – Teil in Lea stellte sich eifrig dagegen. Sie überlegte, ob es nicht eine unverfängliche Frage gab, die sie stellen könnte, denn sonst wäre es jetzt eigentlich an der Zeit zu gehen. Und sie stellte fest, dass sie das nicht wollte. Sie wollte noch mit dieser Frau sprechen, wollte herausfinden, wer sie war, wollte wissen, ob sie tatsächlich für den Herrn Starrenberg nur arbeitete, oder ob da noch mehr war – wollte eigentlich nur in ihrer Nähe sein. »Sagen Sie, soll ich die Post hier am Tor einwerfen oder am Haus?« Die Frau schien die Frage nicht zu verstehen. Lea zog einen Brief aus dem Wagen und zeigte auf die beiden Briefkästen. »Post – da oder da?«
Die Frau zögerte und wies auf den Kasten am Tor: »Da.« Dann lächelte sie verschwörerisch und zeigte auf den anderen Kasten, direkt am Haus. »Nein, da.«
Über Leas Gesicht zog sich unwillkürlich auch ein breites Lächeln. »Gut«, sagte sie. »Also bis bald.« Sie gab sich innerlich einen Tritt in den Hintern, um zu gehen.
Während sie über das Kopfsteinpflaster durch die Weiden fuhr, konnte sie nicht umhin, innerlich vor Freude zu hüpfen, ohne so genau zu wissen, warum. Darüber, dass sie der Frau endlich doch begegnet war, dass sie mit ihr gesprochen hatte? Darüber, dass sie noch einmal so einen Blick bekommen hatte? Darüber, dass die Fremde sich noch an die Karte erinnerte? Darüber, dass sie die Briefe bis ans Haus bringen durfte? Letzteres war doch vollkommen albern. Was machte es schon für einen Unterschied! Die Frau hatte sie nicht auf größtmöglichem Abstand gehalten. Das war der Unterschied. Na und? Lea war ja nicht … Nein, das konnte ja nicht sein, das wäre ja Blödsinn, sie konnte nicht … Sie grinste glücklich in sich hinein und musste gleichzeitig über sich lachen und mit sich schimpfen, denn sie war es offensichtlich doch – verliebt. Zumindest ein wenig.
Zu Hause kochte Lea sich eine Riesenportion Nudeln. Während sie die Tomaten schnitt und im Hintergrund Mercedes Sosas voluminöse Stimme sang, grinste sie immer noch zufrieden. Nein, das war doch sinnlos. Sie sollte sich das ganz schnell aus dem Kopf schlagen. Als sie den Knoblauch hackte, dachte sie an das Lächeln dieser Frau. Sie war vielleicht unsicher, darunter allerdings schimmerte eine enorme Stärke durch. Und Verletzlichkeit. Vielleicht auch Verletztheit. Das Basilikum ließ traurig die Blätter hängen. Wo sie wohl herkam? Nein, Quatsch, das war doch völlig egal. Außerdem war sie wahrscheinlich mit diesem blöden Typen zusammen. Okay, er hatte Lea nichts getan. Vielleicht war er ja gar nicht blöd. Wenigstens hatte sie noch gefrorene Kräuter im Tiefkühlfach. Möglicherweise war sie ja auch verheiratet und hatte tausend Kinder. Ach Scheiße. Das Olivenöl breitete sich langsam in der Pfanne aus. Was wohl die Muttersprache der schönen Fremden war? Lea dünstete den Knoblauch und die Tomaten kurz an und mischte die Kräuter unter. Als sie aß, saß die Frau mit ihr am Tisch, Lea sah ihren unergründlichen Blick, hörte ihre warme Stimme und suchte nach Antworten.
Es wurde Montag. Leas Herz begann zu hämmern, als sie auf das Haus Starrenberg zuging. Hoffentlich war er nicht da. Hoffentlich war sie da. Herr Starrenberg war ihr irgendwie unangenehm. Lea warf ganz langsam den ersten Brief in den Kasten an der Haustür. Irgendeine Werbung. Sie ließ den Briefkastendeckel geräuschvoll zufallen, bevor sie gemächlich in den Wagen griff und nachschaute, wo denn nur der zweite Brief und der andere Werbemüll war, der in diesen Kasten gehörte. Heute war es viel. Natürlich hatte sie das sofort überprüft, als sie den Postberg sortiert hatte. Sie hatte sogar noch einen Bonus an Werbematerial dazugegeben.
Endlich regte sich was am Fenster. Die Gardine wurde zurückgeschoben und das Gesicht der bezaubernden Fremden erschien. Sie lächelte und winkte. In ihrem Blick lag Wehmut. Lea schmolz förmlich dahin und musste aufpassen, dass sie nicht eine Pfütze vor der Haustür bildete, einen kleinen See aus Entzücken. Warum kam die Frau nicht heraus, warum nahm sie die Post nicht persönlich entgegen, wenn sie schon zum Fenster kam? Wie auch immer, ihr Lächeln war einfach mehr als Gold wert. Auch am folgenden Tag winkten sie sich nur durch das Fenster zu und am nächsten und am übernächsten auch. Sie waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, naja, einen halben Meter oder doch eher einen ganzen. Jedenfalls viel zu weit. Und immer war da diese Glasscheibe zwischen ihnen.
Lea hielt es einfach nicht aus. Entgegen aller Vernunft schrieb sie eine neue Postkarte: »Sie sind für mich wie eine Gazelle in der Nacht: schön, flüchtig – geheimnisvoll. Doch auch das Bild auf dieser Karte passt zu Ihnen: sanft, aber zugleich stark, wie jemand, der nicht vergessen kann.« Auf der Karte war ein Elefant.
Vor dem Haus klapperte sie mit dem Briefkastendeckel. Ihr Herz klapperte mindestens genauso laut. Als das Gesicht erschien und die Frau ihr winkte, hielt Lea die Karte ans Fenster. Die Augen der Frau senkten sich auf das Bild, sie wirkte erst erschrocken, dann erfreut. Sie verschwand. Kurze Zeit darauf öffnete sich die Tür. Leas Herz machte einen Sprung. Die Frau stand im Türrahmen und begrüßte sie mit leiser Stimme. »Guten Tag … Was ist das?«
Lea hielt ihr die Karte entgegen. »Ein Elefant«, sagte sie und biss sich sofort auf die Zunge. Warum gab sie so eine blöde Antwort, die Frau war ja nicht blind!
»Was?«
»Äh, Elefant. Wir nennen das Elefant. Naja, das wissen Sie sicher schon.« Lea atmete durch, gerade noch gerettet.
Die Frau betrachtete die Karte in Leas Hand. Dann öffnete sie ihre dunkelbraune Strickjacke, die sie bisher fest um sich geschlungen hatte, und gab damit ihren Hals und den Ansatz ihres Dekolletés frei. Ein leiser Duft ging von dieser Frau aus, kaum greifbar. Geheimnisvoll und weich. Ein Duft, der viele Geschichten in sich barg. Lea schluckte. Ihr Blick glitt den zarten, sehnigen Hals herunter, die Wollränder der Jacke entlang, über die Schlüsselbeine und die Schnüre eines Lederbandes bis zur Brust der Fremden. Dort hing ein kleiner graugrüner Stein, unbehauen und ungeschliffen.
»Elefant«, sagte die Frau und versuchte damit, das Wort auf Deutsch zu wiederholen. Ihre Stimme war leise und zurückhaltend, klang wie ein Stück losgelöste Borke im Herbst. Wie rauer Samt, wie ein Ausschnitt eines großen Tuches, unter dem sich Dinge verbargen. Lea schaute etwas genauer hin und versuchte, sich nicht von der warmen Haut der Frau ablenken zu lassen. Der Stein sah tatsächlich wie ein Elefant aus. Die Frau lächelte, aber ihr Lächeln schien aus einer tiefen Trauer zu kommen.
Lea schaute in das wehmütige Gesicht. »Woher ist dieser Elefant?«
Die Frau legte ihre Hand auf den Elefanten. »Elefant aus … Asien. Aus Birma. Ist Geschenk. Zum Schutz vor Tod.«
»Und? Hat er Sie beschützt?«
Die Frau nickte verhalten. »Ich habe Mann kennengelernt. Guter Mann.«
Lea rutschte das Herz in die Hose. Sie schluckte. War ja klar.
Die Stimme der Frau klang nun wie aus weiter Ferne. »Hier Arbeit. Gute Arbeit. Das gut.«
Lea lächelte gezwungen. »Das freut mich.« Sie ließ die Postkarte in ihrer Hand sinken. Jetzt schämte sie sich dafür. Sie sollte sie ihr nicht mehr geben. Wie konnte sie nur so blöd sein!
Die Frau schaute zu der Karte herunter. »Karte für mich?«
Lea heftete ihren Blick an die Hauswand, als sie log. »Nein, nein, die ist für jemand anderen. Ich fand das Bild so schön. Ich wollte es ihnen nur zeigen. Ich … mag Elefanten.«
»Schön, ja.« Die Frau nickte. »Elefanten gut. Hier keine Elefanten. Hier komische Kühe.«
Lea lächelte gequält. »Ja, hier komische Kühe«, und in Gedanken ergänzte sie, ich zum Beispiel. »Ich muss jetzt weiter. Tschüss.« Lea drehte sich um und ging. Im Gehen steckte sie die Karte wieder ein und ging wie auf Glatteis ihren Botengang beenden.
Südost Birma, Ende Mai 1996
Als San Youn erwachte, lag sie auf einer Bastmatte im Wald. Das Blätterdach war hier dünner als da, wo ihr Versteck war. Einige Bäume waren kahl. Das Dorf war verschwunden. Dafür roch es nach Feuer und gegrilltem Fleisch. San Youn schrak hoch, sah fremde Menschen. Sie trugen Uniformen. Schnell legte sie sich wieder hin und stellte sich schlafend. Schritte näherten sich. »Wach auf«, sagte eine Stimme über ihr, jemand schüttelte sie, dann bekam sie ein paar Ohrfeigen. Langsam und widerstrebend öffnete sie die Augen. Eine junge Frau in einer Soldatenuniform saß neben ihr und hielt sie an den Schultern. Sie hatte kurzes, struppiges Haar, das ihr spröde wie Stroh vom Kopf abstand. »Setz dich auf, iss was.« Sie half San Youn, sich aufzurichten. Dann reichte sie ihr eine kleine Schale mit Reis. »Iss.« San Youn hatte schrecklichen Hunger. So Hunger, dass ihr Magen sich zusammenzog und kaum etwas aufnehmen wollte. Außerdem war ihr übel vor Angst. Trotzdem gehorchte sie und zwang sich zu essen. Langsam rollte sie den Reis zu Bällchen und schob ihn sich in kleinen Häppchen in den Mund. »Da«, sagte die Frau und gab ihr einen gegrillten Frosch. »Du musst zu Kräften kommen.« San Youn nahm das Holzstäbchen, auf dem der Frosch steckte, und nagte vorsichtig Stück für Stück das Fleisch herunter.
Ängstlich schaute sie sich um. Die Schlafstelle, auf der sie lag, bestand aus zwei nebeneinanderliegenden langen Baumstämmen, über die dicke Zweige gelegt waren, sodass sie etwas erhöht über der Erde lag. Da waren Zelte und Leute saßen um ein Feuer. Sie aßen ebenfalls. Es waren Erwachsene und auch Kinder. Viele trugen Uniformen und Gürtel, an denen Handgranaten hingen und fast alle hatten ein Gewehr auf dem Rücken. Auch die Kinder. San Youn erschrak. Ob sie jetzt auch schießen musste? Die Mutter hatte es ihr doch verboten. San Youn fragte sich, ob Nu Kaung und San Kyi auch da waren und suchte zwischen den fremden Rücken und Gesichtern ihre Schwestern. Doch es gab niemanden, den sie kannte. Sie spähte nach den Kennzeichen auf den Uniformen – wenigstens waren es die Soldaten der Karen. Erleichtert atmete sie auf. Vielleicht war sie jetzt gerettet, vielleicht würden die Soldaten sie nach Europa bringen. San Youn schaute auf ihren Reis. Ohne Mi Mi wollte sie nicht nach Europa. Wieder wollten Tränen in ihr aufsteigen, blieben aber in einem Kloß in der Kehle stecken. Niemand beachtete sie. Ob sie weglaufen sollte? San Youn rollte nervös den Reis zwischen ihren Fingern und schluckte trocken.
Bald wurde es dunkel und einige Kinder kamen auf San Youn zu. Ohne sie zu beachten, breiteten sie Bastmatten auf dem Schlaflager aus und legten sich in einer langen Reihe neben sie. Die Kinder sahen seltsam aus, ihre Gesichter waren ausdruckslos. San Youn konnte nicht sehen, ob sie traurig waren oder böse. Es waren Gesichter, die nicht zu Kindern passten. Sie mussten erwachsen sein für den Krieg, doch wirklich Erwachsene schießen nicht, hatte Mi Mi gesagt. Weil wenn man erwachsen ist, wirklich erwachsen und nicht nur alt, dann weiß man, dass man sich damit nur selber schadet, dass es keinen Sinn macht zu töten. Bald waren alle eingeschlafen. San Youn wagte nicht, sich zu bewegen. Grillen sangen das Nachtlied des Waldes, sie hörte vielfaches Schnarchen. San Youn lauschte, bis auch sie endlich wieder einschlief.
Mit den Schreien der Gibbons begann der neue Tag. Bevor San Youn die Augen öffnete, prüfte sie mit den Ohren ihre Umgebung. Schritte, vereinzelt Stimmen, das Klappern von Dingen, die aufeinandergestapelt wurden, das Knistern von Bastmatten, die man zusammenrollte. Die anderen Kinder waren schon aufgestanden. Als San Youn sich bewegte, stieß sie jemand an. Es war dieselbe Frau wie gestern. »Bist du wieder kräftig? Kannst du aufstehen?« San Youn verharrte. »Versuch es, los. Wir brechen gleich auf. Wenn du nicht stark genug bist, musst du hierbleiben, also versuch es.« San Youn erhob sich schwerfällig. Die Frau rollte für sie die Matte zusammen. »Hier«, sagte die Frau und drückte ihr einen dicken Zweig in die Hand, den sie als Gehstock benutzen konnte. »Damit geht’s besser.« San Youn stand auf wackeligen Beinen. Die Anstrengung der letzten Tage und das wenige Essen hatten sie geschwächt. Nichts desto trotz gab die Frau ihr einen recht schweren Rucksack. »Entweder du trägst oder du bleibst hier«, sagte sie und ging zu der Gruppe, die sich in einer langen Reihe in Bewegung setzte. Auf dem Rücken trug sie ein riesiges Tragegestell, beladen mit einem Zelt, Panzerfäusten und Töpfen. Die Männer trugen viel weniger Gepäck als die Frauen. Die Rücken der Frauen waren so vollgeladen, dass San Youn nur die wankenden Tragegestelle und die aufgeladenen Sachen sehen konnte. Ganz vorn, mit Abstand, gingen zwei Kinder.
Die Gruppe bewegte sich auf schmalen Pfaden, die sich durch den Wald schlängelten. San Youn folgte unbeachtet, Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer. Niemand wartete auf sie. Bei diesen Leuten gab es Essen, gab es Sicherheit. Also ging sie, ging und stolperte, ohne nachzudenken, immer darauf bedacht, nicht zurückzufallen. Der Wald war hier heller als in der Umgebung ihres Dorfes, er ließ mehr Licht zum Boden dringen. Dafür war aber der Boden viel dichter mit Pflanzen überwuchert und das Gehen anstrengender. Außerdem begannen hier die Ausläufer der Berge, stetig ging es bergauf. Jetzt im Mai, dem Ende der Trockenzeit, war es unerträglich heiß und schwül. Sogar Tiger würden jetzt hechelnd im Schatten liegen und sich so wenig wie möglich bewegen. Der Schweiß lief einem nur so herunter, während ein Fuß vor den anderen gesetzt wurde und die Rucksäcke auf den schmerzenden Schultern schwerer und schwerer wurden.
Nach einem stundenlangen Fußmarsch erreichten sie eine freigeräumte Lichtung. Hier lagen bereits ein paar Baumstämme, Äste und Bretter. Gräben waren an den Seiten der Lichtung ausgehoben, der Boden war lehmig. Sofort begann man, Bretter über die Baumstämme zu legen und Zelte und Schlaflager darauf zu errichten. Die Kinder gingen im Wald nach Grillen und Fröschen suchen. Zwei Feuer wurden angezündet und bald gab es Mohinga, Suppe mit Reis und einer Fischsoße, gegrillte Frösche und Grillen. Zum Essen saß man auf Bastmatten, die Gewehre blieben auf den Rücken hängen, man aß schweigend. San Youn schlürfte gierig die Suppe herunter und verschlang die gerösteten Grillen. Die anderen schenkten ihr kaum Beachtung. Vor Erschöpfung war sie dem Umfallen nahe und man erlaubte ihr nach dem Essen eine Ruhezeit. Sie breitete eine Bastmatte über das erbaute Schlaflager aus und schlief unter dem Zirpen, Zwitschern und Rufen des Waldes sofort ein.
Nach ein paar Stunden wurde sie erneut geweckt, bekam Wasser und wurde zu einer Gruppe Kinder geschickt, die im Halbkreis auf Matten saßen und einer Frau in Uniform zuhörten. Die Frau redete von Nationalstolz und Tapferkeit, von Opferbereitschaft und lauter Dingen, zu denen Mi Mi sicher anderes gesagt hätte. Immer wieder hatte San Youn Schwierigkeiten, sie zu verstehen, weil sie einen Dialekt sprach, den San Youn nicht so gut kannte. In ihrem Land gab es viele Sprachen und selbst innerhalb der einzelnen Volksgruppen viele Dialekte, die untereinander kaum verstanden wurden. Die Soldaten hier sprachen überwiegend Sgaw oder auch Birmanisch, das in dieser Region oft als Verständigungsbrücke benutzt wurde und das San Youn immerhin ein wenig verstand.
Die Soldatin sprach davon, dass die anderen – das waren immer wieder unterschiedliche, besonders aber das Militär der Regierung – das Volk unterjochten, versklavten und demütigten, sprach von Widerstand und Freiheitskampf. Sie fragte die Kinder laut: »Wer ist unser Anführer?«, »Was ist unsere Heimat?« und »Wer sind wir?« Alle Kinder riefen die Antworten laut heraus. Alle dieselben. Mi Mi hätte etwas anderes geantwortet. Instinktiv wusste San Youn, dass sie sich die Antworten, die man von ihr erwartete, schnellstmöglich einprägen sollte und so begann sie, nach und nach, zögerlich mitzurufen. Und dann wurde sie unerwartet von der Lehrerin angesprochen. Sie musste vor die Gruppe treten und konnte sich nicht mehr zwischen den anderen Kindern verstecken. Alle schauten sie an.
»Dieses Mädchen war allein in ihrem zerstörten Dorf. Ohne unsere Hilfe wäre sie gestorben.«
San Youn wurde aufgefordert zu erzählen, was die Soldaten mit ihrem Dorf getan hatten. Ihr schnürte sich die Kehle zusammen. Sie wollte nicht erzählen, konnte es nicht. Da waren keine Worte und die Bilder wollte sie auch nicht sehen, wollte sich nicht erinnern. Der Befehl wurde wiederholt. San Youn biss sich auf die Lippen und schaute zu Boden.
»Hier wird nicht geweint. Jede Träne ist ein Sieg für den Gegner! Du wirst Rache üben und unser Volk befreien. Erzähl uns, was die Regierung unserem Volk antut!«
San Youn wimmerte leise.
»Unsere Schwäche ist die Stärke der Tatmadaw. Mit jeder vergossenen Träne werden sie stärker und werden noch mehr Dörfer überfallen. Deine Tränen töten dein eigenes Volk! Durch Jammern werden die Toten nicht lebendig. Nur durch eiserne Härte und Entschlossenheit. Willst du den Feind stärken? Oder willst du dein Volk befreien?«
Alle schauten sie erwartungsvoll an. San Youn hatte nicht alles genau verstanden. Sie versuchte, sich zusammenzureißen und sich zu konzentrieren.
»Befreien«, murmelte sie leise.
»Was? Sag es lauter. Ohne Entschlossenheit kannst du gar nichts! Was willst du?«
»Befreien«, sagte San Youn nun lauter.
»Noch mal!«
»Befreien«, presste sie laut heraus und zwang sich, es fest und entschlossen klingen zu lassen.
»Gut«, sagte die Soldatin. »Und nun sag, was mit deinem Dorf ist. Hat die Armee auf euch geschossen?«
»Die Armee hat geschossen.« San Youn musste nun jedes Gefühl zurückdrängen und tief in sich vergraben.
»Haben sie getötet?«
»Sie haben getötet!« San Youn musste die Antwort schreien, sonst hätte sie sie nicht herausgebracht, denn die Worte klammerten sich in ihrer Kehle fest und mussten mit Gewalt hinausgeschleudert werden.
»Wen haben sie getötet?«
»Meinen Bruder und meine Mutter!« Sie biss sich auf die Zunge, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
»Willst du, dass sie aufhören?«
»Ich will, dass sie aufhören!«
»Wer ist dein Anführer?«
San Youn wiederholte das eben Gelernte, ohne viel nachzudenken. Sie hoffte nur, dass es richtig sein würde und sie sich bald wieder zwischen den anderen Kindern verstecken konnte, und dass das alles bald aufhören würde. Sie ließ die Fragen über sich ergehen: »Was ist deine Heimat?« Laut rief sie die Antworten heraus und es tat beinahe gut, zu rufen, zu schreien, auch wenn es Worte waren, die ihre Mutter traurig gemacht hätten.
»Was ist dein Auftrag?«
»Mein Volk zu befreien! Befreien!« San Youn schrie die Antworten hinaus. Ja, sie wollte ihre Mutter befreien, wollte sich befreien, aus dieser Situation, hier vorne zu stehen, wollte sich von den Erinnerungsbildern befreien, die in ihrem Kopf lauerten, von ihrer Angst und Verzweiflung. Und das Schreien half.
Die Soldatin klopfte ihr auf die Schulter. »Sehr gut. Das war wirklich sehr gut.« Sie wandte sich an die Gruppe. »Eure Schwester hat großen Mut, Stärke und Tapferkeit bewiesen. Zum Dank und zur Ehre nehmen wir sie in unsere Gruppe auf.« An San Youn gerichtet befahl sie: »Knie nieder!« San Youn kniete sich hin. »Gehorsam der Gruppe gegenüber in allen Situationen ist unsere größte Stärke und unser größter Schutz. Nur so kannst du überleben und alle andern auch. Ungehorsam bringt den Tod in die Gruppe. Wirst du gehorchen?«
»Ich werde gehorchen.«
Die Soldatin überreichte San Youn ein aus Holz geschnitztes Gewehr. »Dies ist dein erstes Gewehr. Auch wenn es eine Holzwaffe ist: trage es stets am Körper. Lege es nie ab, nicht zum Essen, nicht zum Schlafen. Bald wirst du lernen, eine echte Waffe zu halten und zu benutzen. Zuerst musst du lernen und deinen Gehorsam beweisen.« San Youn sollte sich wieder zu den Kindern setzen. Sie war eine der wenigen mit einem Holzgewehr. Die meisten hatten echte. Dabei waren manche Kinder noch viel kleiner als sie.
Am folgenden Tag befand man sie für kräftig genug und sie sollte am Training teilnehmen. Ein schwerer Sack baumelte an einem Baum. Die Kinder standen in einer Schlange und bekamen nacheinander Befehle. Je nach Befehl liefen sie auf den Sack zu und traten oder schlugen ihn und stellten sich eilig wieder hinten an. In der schwülen Gluthitze des Nachmittags war das Training unerträglich anstrengend. Ein Junge machte das Falsche. Er schlug, anstatt zu treten, denn ihm ging langsam die Kraft aus und der Sack hing ziemlich hoch. Er bekam eine deftige Ohrfeige und musste unzählige Liegestütze machen, bis seine Arme zusammenbrachen. Danach musste er erneut zum Sack, im Sprung treten und sich anschließend bei dem Soldaten bedanken.
San Youn versuchte, die Befehle so gut wie möglich zu verstehen und zu befolgen. Da sie noch recht schwach war, musste sie an diesem Tag nicht das gesamte Training mitmachen. Erst am nächsten Tag, nach einer Nacht, die sie dicht gedrängt auf dem Schlaflager verbracht hatte, begann für San Youn das volle Programm. Während unweit die älteren Kinder und die Erwachsenen Schießübungen machten, wurde für die Jüngeren ein Feuer angezündet. Sie mussten mit ihren Gewehren und lauten Schreien darüber springen, sich gegenseitig mit Schlägen traktieren, um den Körper und den Geist hart zu machen. Sie übten, sich anzuschleichen und sich zu verstecken und wer zu leicht gefunden wurde, bekam einen Schlag mit einer Rute. Es gab Übungen, bei denen einer allein gegen fünf Gegner kämpfen musste. Jeder war mal dran. Die Gruppe schlug mit mäßig starken Schlägen auf das Opfer ein. Das Opfer musste sich wehren, so gut es ging. Mit Händen und Füßen, mit kleinen Stöckchen, die Messer darstellten. Für San Youn, die sich fast noch nie geprügelt hatte und die die anderen Kinder noch nicht kannte, war das schlimm. Als sie sich zusammenkauerte, um den Schlägen möglichst wenig Fläche zu bieten, musste sie feststellen, dass sie nicht aufhörten, und Schläge und Tritte prasselten unentwegt auf sie ein. Der Soldat, der daneben stand, schrie ihr etwas zu. Sie solle aufstehen und kämpfen. San Youn traute sich nicht, die Hände vom Gesicht zu nehmen und ihren Körper aufzurichten und dadurch zu öffnen. Einige Kinder hielten unschlüssig inne. »Weiter«, schrie der Soldat sie an, »sie muss lernen, zu kämpfen. Sonst ist sie eine Gefahr für sich selbst und für uns alle. Weiter! Bis sie aufsteht und kämpft!« Als die Schläge nicht aufhörten, stürzte sich San Youn in voller Verzweiflung nach vorn gegen ein tretendes Bein, packte es und stieß mit ihrer Schulter dagegen. Der Junge fiel. Ein Tritt traf San Youn am Kopf. Als der gefallene Junge aufstehen wollte, stürzte sie sich erneut auf ihn und sie fielen gemeinsam wieder hin. San Youn drehte sich im Fallen so, dass der größere Junge auf sie drauf fiel. Sie packte seinen Kopf von hinten und legte ihren Arm um seinen Hals. Während sie ihn würgte, benutzte sie seinen Körper als Schutzschild gegen die Tritte. Fest griff sie zu, bis der Junge röchelte und kurz darauf still wurde. Der Soldat schrie: »Stopp, aufhören! Das reicht!« Die Kinder sprangen auseinander. »Loslassen!«, brüllte der Soldat und jetzt erst ließ San Youn den Jungen los und kroch unter ihm hervor. Der Mann ohrfeigte den Jungen, der sich nicht mehr bewegte. Nochmal und nochmal, dann schüttelte er ihn. Der Junge öffnete benommen seine Augen. Er brauchte eine Weile, bis er aufstehen konnte. »Na also«, rief der Soldat, »geht doch. Nur musst du bei den Übungen nicht gleich deine Kameraden töten. Lass sie das nächste Mal am Leben und bewahre dein Feuer, bis du dem Feind begegnest. Selbstbeherrschung und Besinnung sind genauso wichtig wie Gehorsam, hörst du?«
Damit waren die Kinder entlassen und das Training beendet. Der Junge, den San Youn besiegt hatte, obwohl er größer war als sie, schaute sie böse an und spuckte auf den Boden. Die Kinder gingen auseinander. San Youn war sich nicht sicher, ob sie sich Respekt verschafft oder den Hass der Kinder zugezogen hatte. Dem Jungen versuchte sie so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Sie fürchtete sich vor seiner Rache.
San Youn fühlte sich schrecklich allein. Die Kinder befreundeten sich kaum untereinander und es gab niemanden, dem sie vertraute. Inständig hoffte sie, hier bald wieder wegzukönnen. Doch wo sollte sie hin? Sie bekam mehr und mehr das Gefühl, dass man hier nicht weglaufen durfte. Man würde sie bestimmt suchen und bestrafen. Das strenge Regelwerk in der Gruppe, die Befehle, das Schweigen, die Uniformen und die Waffen sperrten sie in einen unsichtbaren Kerker und legten ihr unsichtbare Ketten an. Die Angst, bestraft zu werden, fesselte ihren Geist und versiegelte den Kerker.
Nach einem Abendessen beobachtete San Youn, wie ein Mädchen von einem Soldaten einen Befehl zugeflüstert bekam. Sie war ungefähr elf Jahre alt. Das Mädchen hörte sofort auf, den restlichen Reis aus ihrer Schale zu sammeln und bewegte sich nicht mehr. Der Soldat stieß sie an: »Na los.« Er nickte in die Richtung des großen Zeltes. Das Mädchen stellte die Reisschale weg und stand auf. Langsam ging sie auf das Zelt zu. Vor dem Zelt saß der Kommandant der Guerillagruppe und rauchte. Er winkte das Mädchen heran. Sie zauderte, der Kommandant winkte erneut und sagte etwas. Zaghaft trat sie zu ihm. Der Mann legte seinen Arm um ihre Hüfte und hielt ihr die Pfeife an den Mund. Das Mädchen hustete und keuchte und der Anführer lachte leise. Ein Soldat kam zum Zelt, blieb stehen, ließ sich die Pfeife reichen und zog. Den Blick hielt er dabei auf das Mädchen gerichtet. Der Kommandant erhob sich und schob das Mädchen ins Zelt. Der Soldat folgte ihnen.
San Youn fühlte sich komisch. Sie verstand nicht, was da passierte, obwohl sie eine vage Vermutung hatte. Angst pochte in ihren Ohren. Hier war sie bei den Karen. Das waren doch die guten Soldaten, die so etwas nicht taten. Sie irrte sich sicher und das Mädchen bekam nur etwas Wichtiges gesagt. San Youn wurde angestoßen. Sie musste aufräumen helfen, das Lager ausfegen, ein Pulver um das Lager herum ausstreuen, das Schlangen und Skorpione fernhalten sollte. Das Mädchen ging ihr nicht aus dem Kopf. Es wurde dunkel und die Kinder legten sich auf ihr Lager, Seite an Seite, dicht gedrängt. Das Nachtlied des Waldes begann. San Youn lauschte, ob sie aus dem Zelt etwas hören konnte. Doch da waren nur das Zirpen der Grillen, die leisen Stimmen einiger Soldaten, sonst nichts. Nichts, was sie irgendwie erkennen und verstehen konnte. Bald überwältigte ihre Müdigkeit die würgenden Zweifel und sie schlief ein.
Am nächsten Morgen stand das Mädchen, das San Youn am Vorabend beobachtet hatte, wie jeden Tag mit den Kindern in dem sich langsam hebenden Frühnebel auf. Ihr Gesicht war blass und unbewegt. Vielleicht war alles nur ein schlechter Traum gewesen, belog sich San Youn. Sie erinnerte sich an ihren eigenen schlimmen Traum der letzten Nacht. Ihre Mutter hatte mit Thanaka überall Gewehre an die Wände der Hütte gemalt, dann kamen Maden aus den Wänden. San Youn hatte sich nicht zu weinen getraut, als sie aufgewacht war. Mi Mi hatte gesagt, wenn man Opium rauche, bekäme man Albträume. Auch San Youn war schon einmal eine Pfeife angeboten worden. Sie hatte vorsichtig so getan, als ob sie es inhalierte, aber darauf geachtet, den komisch schmeckenden Rauch nicht in die Lunge zu ziehen. Sie hatte ihn im Mund behalten und dann langsam ausgeblasen. So war es keinem aufgefallen, dass sie nicht echt geraucht hatte. Trotzdem war ihr schwindelig und komisch geworden. Seither war es ihr gelungen, sich an der Pfeife oder den Schlafmohnzigaretten vorbeizudrücken. Genauso machte sie es jetzt auch mit den seltsamen Tabletten, die sie immer heimlich ausspuckte. San Youn hatte Angst, man könne ihren Betrug erkennen. Hier rauchten alle und alle nahmen diese Pillen. Vielleicht waren deshalb die Menschen hier so eigenartig. Sie sagten, dass es gut sei. Es mache sie ruhig und mutig. Es helfe zu schlafen nach der anstrengenden Arbeit und es helfe gegen Angst.
San Youn wollte gern, dass auch ihre Angst aufhörte. Aber Mi Mi wäre dann böse. Sie hatte gesagt, wirklich Erwachsene würden nicht rauchen, weil sie wüssten, dass es ihnen nicht guttue. Denn Erwachsensein bedeute, dass man Verantwortung für das Leben übernähme. Vielleicht käme Mi Mi ja doch zurück und holte sie nach Hause. Vielleicht hatte ihr Geist nur für kurze Zeit ihren Körper verlassen. San Youn hatte furchtbares Heimweh. Das Rauchen würde auch gegen Heimweh helfen, sagte man ihr. Niemand hier hatte mehr Heimweh. San Youn fragte den Elefanten auf ihrer Brust, denn er würde alles sehen, was sie tat, und würde es der Mutter sagen. Vielleicht war der Geist der Mutter selbst da drin, in dem Stein, und beobachtete sie.
Der Elefant sagte, sie solle nicht rauchen. Denn dadurch würde sie ihre Seele verlieren. Auch wenn die Seele jetzt wehtat – ihr Heimweh und ihre Angst zeigten ihr, dass sie noch lebte. Das war eine Antwort, die nur Mi Mi gegeben hätte. Sie musste wirklich in dem Stein sein.
Obwohl die Soldaten Gewehre hatten und schossen, obwohl Mi Mi sagte, das würde die Seele kaputtmachen, hatten die Soldaten Stärke. Je älter sie wurden, desto stärker wurden sie, denn hier war man jemand. Hier war man wichtig und bekam eine Aufgabe. Die Leute hier sagten, dass es ihrem Leben einen Sinn gäbe. Sie wären nicht mehr nur hilflose Opfer. Sie würden das Land befreien und dann wäre endlich Frieden. Mi Mi hätte etwas anderes gesagt. Dass Frieden so nicht geht. Dass Frieden kein Ziel ist, sondern ein Weg. Hier sagte man, dass durch stilles Leiden kein Frieden käme. Sie sagten, dass es nicht friedlicher wäre, nur weil Mi Mi jetzt tot war. Zumindest damit hatten sie Recht. Die Tatmadaw hatten Mi Mi und Aung Ni getötet und vielleicht auch das ganze Dorf. Und sie würden weitermachen. San Youn wusste nicht, was sie tun sollte. Vielleicht gab es einen Kompromiss. Oder sie würde abwarten, was noch geschehen würde. Die Zeit würde ihr so manche Antwort geben. Also funktionierte sie einfach, gehorchte, tat, was man ihr sagte und wenn sie bestraft wurde oder gelobt, ließ sie es über sich ergehen. Sie folgte und gehorchte wie ein Zombie. Wenigstens musste sie niemanden töten, noch war ihr Gewehr aus Holz. Auch eine Uniform bekam sie noch nicht, sie trug nur ein graues Hemd und eine braune Hose. Ein bisschen freute sie sich auf die Uniform, denn die machte stark. Dann wäre alles leichter. Sie machte ihre Übungen und tat nur, was man ihr sagte. Wenn sie keinen Befehl bekam, stand oder saß oder lag sie stumm da und wartete.
Nach unzähligen Tagen wurde San Youn einer kleineren Gruppe zugeteilt. Die Gruppe ging in einer Reihe hintereinander durch den Wald. Vorne ein paar Kinder, hinten die Erwachsenen. Ganz vorne tasteten sich mit einem Stock das Mädchen, das in dem Zelt gewesen war, und die Soldatin, die San Youn bei ihrer Ankunft das Essen gegeben hatte, voran. Diese Frau war wie die anderen sehr streng und redete nicht, außer den Sachen, die zu sagen waren. Auch sie ging hin und wieder in das Zelt des Kommandanten. San Youn beneidete das Mädchen, das vorn bei ihr sein durfte. Die Frau war sehr stark und sicher auch sehr klug. Sie könnte San Youn vielleicht zeigen, was sie tun sollte, könnte ihr helfen und sie beschützen. Ihre Haltung war gerade, aber ihre recht großen Augen wichen jedem aus. Manchmal aß sie nicht alles auf, dann gab sie ihr Essen den Kindern. San Youn hatte auch schon einmal was von ihr bekommen. Wann durfte sie endlich auch vorne gehen, damit sie bei dieser Frau sein konnte?
Die Gruppe kam in ein Waldstück, wo die Bäume nicht so dicht standen und es nur wenig Gesträuch gab. Sie bewegten sich leise und vorsichtig voran, hielten die Gewehre bereit, spähten, lauschten. Zwischendurch stoppten sie und erst auf ein Winken des Anführers gingen die Frau und das Mädchen vorne langsam weiter. Bis auf das Zirpen im Wald und das entfernte Rufen einiger Affen war nichts zu hören. Dann ein leises »Klick«. Die Frau blieb abrupt stehen und bewegte sich keinen Millimeter mehr. Nach der ersten Schrecksekunde schmolzen ihre verschlossenen Gesichtszüge. Sie schrie dem kleinen Mädchen vor ihr etwas zu, das erschrocken zur Gruppe zurückrannte.
»Mine! Zurück!«, rief nun auch ihr Anführer laut. Die Gruppe sprang ängstlich zurück, während die Frau vorn zu weinen begann. Sie war auf eine Tretmine getreten. Das klickende Geräusch hatte sie gehört, noch bevor sie den Fuß wieder anhob, um weiterzugehen. Geistesgegenwärtig behielt sie ihren Fuß auf der Mine und verhinderte damit die sofortige Explosion.
Einer der Männer legte das Gewehr auf die Frau an und schaute den Anführer fragend an. Dieser schüttelte den Kopf. »Wir gehen da lang.« Der Soldat, der sein Gewehr immer noch im Anschlag hielt, sagte leise: »Sie wird sowieso …« Der Anführer der kleinen Gruppe überlegte kurz. Er nickte: »Na gut.«
Der Schuss fiel, die Frau brach zusammen und im selben Moment krachte es laut und die Mine explodierte. Der Knall war ohrenbetäubend. Ein Pfeifen hallte noch lange in San Youns Kopf nach. Noch hartnäckiger brannte sich das Bild des zerrissenen Körpers in ihr Gehirn und das Bild, wie die Gruppe einfach weiterging, an der Toten vorbei, sie selbst als erste voran. Denn San Youn war es jetzt, die das Kommando bekam, zusammen mit dem anderen Mädchen vorweg zu gehen und eventuelle Tretminen mit ihren Füßen aufzuspüren oder den ersten Angriffspunkt für Schlangen darzustellen. Denn nun konnte man auf sie am ehesten verzichten. Das war also das Privileg, vorneweg zu gehen.
Sie pirschten weiter, ohne weitere Zwischenfälle. Irgendwann kehrten sie zum Lager zurück, ohne dass San Youn erfuhr, was genau der Ausflug sollte. Von der Frau wurde nicht mehr gesprochen. Noch wochenlang kam der Geist der Toten San Youn in ihren Träumen besuchen. Sie verlangte ihren Körper zurück, verlangte nach ihrem Bein, nach ihrem Fuß. Auch der abgerissene Fuß kam San Youn besuchen. Tagsüber hatte sie immer wieder den Eindruck, überall Füße zu sehen. In Bäumen, unter Büschen, im Feuer.
Mit dem einsetzenden Regen gaben die Geister plötzlich Ruhe. Hoch über dem Wald ballten sich die undurchdringlich wirkenden Wolken zusammen, der Monsun brach mit heftigen Gewittern das windstille Schweigen der Hitze und brachte in Strömen sein lebenspendendes Geschenk. Nun würde es fast jeden Tag regnen. Der Regen rauschte in den Blättern hoch über San Youn. Er begoss die Köpfe und durchtränkte die Kleidung. Der Boden wurde schlammig und rutschig. Blitze zogen durch den Himmel und krachend schlug der Donner in San Youns Seele, gefolgt von tiefem Grollen. Normalerweise war der Beginn der Regenzeit ein Fest im Dorf, denn der Regen brachte neue Lebensgeister, machte das Land fruchtbar. Die Luftfeuchtigkeit stieg noch mehr und nach jedem Regenguss stieg der Nebel dampfend und dicht zwischen den Bäumen empor. Hier wurde kaum darauf geachtet. Es wurden lediglich zusätzliche Zelte gebaut.
Auch San Youn ließ den Regen unbemerkt über ihr Gesicht laufen. Sie bekam kaum noch etwas von dem mit, was sie dort tat und erlebte. Es passierte einfach. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr und fühlte auch sonst nichts mehr, nicht, wenn sie Hunger hatte, nicht, wenn man sie schlug. Es war, als wäre sie gar nicht da, sie bemerkte nicht, dass Tage, vielleicht Wochen vergingen. Ob sie schlief oder wach zwischen den dicht gedrängten Körpern der anderen lag, wusste sie nicht. Ob sie etwas aß oder nicht, wusste sie auch nicht.
An einem Morgen wurde sie einem Versorgungstrupp zugewiesen. Früh am Morgen brachen sie auf und mit San Youn voran marschierten sie mehr als einen halben Tag durch den regennassen, dampfenden Wald, fast ohne Pausen zu machen. Die Luft war jetzt so dunstig, so feucht, dass man die einzelnen Tröpfchen in der Luft zu sehen vermeinte. Sie wanderten auf zugewachsenen Trampelpfaden, die nach und nach zu kleinen Wegen wurden und schließlich zu einem größeren Dorf führten. Im Dorf wartete ein Geländewagen. Sie stiegen ein. Erschöpft schaute San Youn während der Fahrt aus dem Fenster.
Hpa-an war die Hauptstadt des Karen-Staates. San Youn hatte davon gehört, war aber noch nie in einer echten Stadt gewesen. Sie suchte nach den Froschskulpturen, die in den Pagoden stehen mussten und die der Stadt den Namen gaben – Hpa bedeutet Frosch. Vielleicht würden die Frösche sie zu buddhistischen Mönchen führen, die gut waren. Von dort könnte sie dann Europäer suchen gehen, die sie nach England mitnahmen. Die Frösche aber ließen auf sich warten.
In einer Seitenstraße hielten die Soldaten und stiegen aus, begrüßten einen Mann und diskutierten über irgendetwas. Der Mann winkte jemandem, den San Youn nicht sehen konnte. Säcke wurden herangeschleppt und zu San Youn in den Wagen geworfen. Die Soldaten gaben dem Mann Geld. Der Mann schaute durch das Fenster und musterte San Youn. Er fragte die Soldaten etwas, es wurde erneut verhandelt. Der Mann bezahlte etwas von dem Geld zurück und legte dem Soldaten eine Flasche Orangenschnaps in die Hand. Der Mann, der Birmanisch mit einem starken Hpa-an-Dialekt sprach und den San Youn nicht verstand, klopfte an die Scheibe und winkte. San Youn schaute fragend zu den Soldaten herüber. Die winkten ihr bestätigend zu. Sie stieg aus, die Soldaten stiegen ein, grüßten den Mann und fuhren davon.
San Youn erschrak. Sie wollte dem Wagen hinterherlaufen, aber dieser Fremde hielt sie am Arm fest. Sie wollte schreien, aber der Wagen war schon fort. Nun war sie allein mit diesem Mann. So sehr sie vor den Soldaten Angst gehabt hatte, sie waren doch vertrauter als dieser Mann und die Stadt. Sie verstand nicht, warum die Soldaten sie hier zurückgelassen hatten. Warum hatte der Mann sie aus dem Wagen gewunken? Regungslos stand sie da. Sein kantiges Gesicht flößte ihr Respekt ein. Ob es freundlich war oder nicht, vermochte San Youn nicht zu sagen. Der Mann führte sie ins Haus. Sie war noch nicht oft in einem Steinhaus gewesen und auch der Straßenlärm war ihr fremd. Die Gerüche waren hier anders. Im Haus führte der Mann sie in einen Waschraum, bedeutete ihr, sich zu waschen, gab ihr ein einfaches Leinenkleid und verschwand. Hier gab es fließendes Wasser, das aus der Wand kam. Es musste ein sehr reiches Haus sein. Vielleicht bekam sie nun doch Hilfe. Dennoch war es ihr unangenehm, sich jetzt waschen zu sollen. Unbeholfen tat sie es. Nachdem sie sich angezogen hatte, rief der Mann sie heraus, brachte sie in ein Zimmer und schloss von außen die Tür ab. Durch die Tür hörte sie ihn kurz darauf mit jemandem sprechen. Seltsamerweise hörte sie den Gesprächspartner nicht. Vielleicht hatte er so ein Telefonding, mit dem man mit Menschen sprechen konnte, die weit weg sind. Davon hatte San Youn schon gehört und auch schon mal eins gesehen. Alltäglich waren diese Dinge aber nicht für sie.
Es war beklemmend in diesem leeren Raum. Warum sind in diesen Häusern die Türen so dick und stark? Und die Wände und der Boden so kalt und hart? Es gab nur ein kleines Fenster, das mit Gitterstäben versehen und mit einem Papier zugeklebt war, sodass gedämpftes Licht hereinfiel. San Youn fühlte sich eingesperrt und bekam wieder Angst. Sie setzte sich auf den nackten Boden und wartete. Erst nach Stunden kam der Mann wieder, mit einer Schale Reis, einer Fischsoße und einer Flasche Wasser und einem Eimer. Der Eimer schien für die Notdurft zu sein, zumindest machte der Mann solche Andeutungen. Kurz darauf war er wieder weg.
Die Zeit verging quälend langsam. Irgendwann schlich die Nacht heran. San Youn konnte nicht schlafen, es gab keine Grillen, es roch nicht nach Wald. Stattdessen drang von draußen Straßenlärm herein. Der Steinboden war kälter als jedes Holz und jede Bastmatte. Die Stunden krochen zäh dahin. Vielleicht würde sie hier in der Stadt einen Europäer treffen, der ihr sagen konnte, wie sie nach Europa gelangen könnte. Und in Europa würde sie sich dann im Wald eine Hütte bauen und Reis pflanzen. Vielleicht gab es dort keine Soldaten, weil die Soldaten vor ein paar Jahren hierher, nach Birma gegangen waren. Vielleicht war Europa ein friedliches Land. So träumte San Youn vor sich hin, um sich von ihrer Angst abzulenken. Jetzt würde sicher alles gut werden.
Wo bist du? Ich suche dich in meiner Wohnung, in meinem Kopf, in meinem Herzen. Alles, was ich finde, ist Sehnsucht. Ich kenne dich so wenig, so flüchtig. Es war so plötzlich, dass du da warst in meinem Leben, stelltest dort alles auf den Kopf, und genauso plötzlich warst du wieder fort. Ich suche nach deinen Spuren, suche in meiner Küche, auf meiner Haut, in jedem Gesicht, das mir auf der Straße begegnet. Ich will dich auch im Rest der Welt suchen gehen. Wenn ich nur wüsste, wo du bist, wenn ich nur wüsste, ob du noch lebst. Dann könnte ich dich holen kommen. Oder könnte wenigstens um dich trauern. So aber weiß ich nicht, wo ich anfangen kann, dich zu suchen.
Bremen, Deutschland, Januar 2006
Lea warf sich auf ihren Küchenstuhl. Wie konnte sie nur so blöd sein! Einer völlig fremden Frau eine romantische Postkarte schreiben mit fast einer Liebeserklärung, obwohl die Wahrscheinlichkeit groß war, dass sie verheiratet war oder zumindest mit einem Mann zusammenlebte. Womöglich noch mit diesem Bullen. Lea stand auf und holte die Karte aus ihrer Jackentasche. Sie schaute den Elefanten an. Das Bild der Haut dieser Frau kam ihr in den Sinn, ihr Hals, der kleine Anhänger aus Stein auf ihrer Brust. Ihr Duft stieg in Lea auf und umhüllte sie, stärker als bei der realen Begegnung. In der kalten Luft hatte sie ihn kaum bemerkt, hatte nur einen flüchtigen Hauch wahrgenommen. Warm, tief und geheimnisvoll. Wie aus einer Welt, die Lea nicht kannte, die groß war, größer als sie es sich vorstellen konnte. Lea schluckte eine Träne herunter. Es war Spinnerei. Nichts als Spinnerei. Sie riss die Karte in der Mitte durch. Derselbe Riss zog sich mit dem scharfen Geräusch des aufreißenden Papiers durch ihr Herz.
Sie ließ sich wieder auf den Küchenstuhl fallen, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und vergrub ihr Gesicht in ihrer Armbeuge. Enttäuschung bedeutet, dass die Täuschung aufhört. Sie schlug mit der Faust auf den Tisch. Es war so eine schöne Täuschung. Lea legte die beiden Postkartenhälften zusammen. Jetzt war der Elefant schief, hatte eine große Narbe im Gesicht. Wieder blickte sie an dem Hals der Frau herab, hörte ihre leise Stimme, sah in ihre unergründlichen dunklen Augen, das Gesicht umrahmt von schwarzen Haaren, die braune Strickjacke, die sie mit den Armen geschlossen hielt. Es wäre besser, wenn Lea ihren Einsatzort wechseln würde. Abstand täte ihr jetzt sicher gut. Doch warum sollte sie ihren Einsatzort, den sie doch so gerne mochte, tauschen? Das war doch albern. Sie betrachtete den kaputten Elefanten. »Wie eine Gazelle in der Nacht«, wiederholte sie ihre eigenen Worte, »Kaum vermutet und schon weg … Schade.«
Lea tauschte ihren Einsatzort nicht. Sie wollte weiterhin jeden Tag Blumen sehen und Stroh und Kühe riechen. Kühe, die gelassen vor sich hin kauten – ohne irgendwelche dummen Briefe zu schreiben. Das besagte Haus zu ignorieren, gelang ihr freilich nicht. Sie hoffte nur, dass sich das bald ändern würde. Die Frau stand wieder am Fenster, kam jetzt regelmäßig zur Tür. Sie nahm die Post persönlich entgegen, sobald sie Lea bemerkte. Sogar Tee hatte sie vorbereitet und brachte eine kleine Tasse an die Tür. Lea fand das rührend und musste all ihre Kraft aufbringen, ihre Emotionen und ihre dummen, kleinen Vorstellungen unter Kontrolle zu halten. Nicht flirten! Keine Komplimente! Nüchternheit, Nüchternheit, Nüchternheit!
Eines Tages schien die Frau wie verändert. Ihr Blick haftete erwartungsvoll an Lea und ihre Hände zitterten. Es waren schöne Hände. Lange Finger, ausgeprägte Knöchel.
»Ist was Besonderes?«
Die Frau senkte nur den Kopf. »Es ist nichts.« Als sie jedoch den Kopf wieder hob, schaute sie Lea mit einem Blick an, der Bände sprach. Lea wusste nur nicht welche.
»Ich weiß zwar noch nicht, wie Sie heißen«, sagte sie, »aber ich kenne Sie schon lange genug, um zu sehen, dass etwas geschehen ist.«
Für einen Moment schauten sie sich in die Augen. Lea hatte den Eindruck, in einem tiefen Braungrün zu versinken. Dann blickte die Frau sich um, als wolle sie sichergehen, dass niemand sie belauschte oder sah.
»Ich muss noch ein paar Briefe austragen«, sagte Lea. »Ich brauche noch ungefähr eine Stunde. Ich kann noch einmal wiederkommen. Dann hab’ ich mehr Zeit.«
Die Frau schaute auf die Uhr und nickte.
»Ich beeil mich. Bis gleich dann.«
Lea griff nach ihrem Postrad. Sie überschlug sich fast in ihrer Eile. Zwischen den Bauernhöfen trat sie in die Pedale, als sei eine wildgewordene Kuh hinter ihr her. Dabei war die einzige Kuh, die hier unterwegs war, jene komische Kuh auf einem Rad, die noch dazu dumme Nachrichten auf Postkarten schrieb. Die Hunde auf den Höfen bellten, sie waren es nicht gewöhnt, dass Lea so rannte. Das Rad ratterte über die Wege und sie hatte den Eindruck, kaum vorwärts zu kommen. Was würde die Frau ihr gleich erzählen? Leas Herz hämmerte, als hätte sie eine riesige Prüfung vor sich. Als würde gleich der Vorhang aufgehen und sie auf einer unbekannten Bühne stehen und eine ihr bisher noch unbekannte Rolle spielen müssen vor einem Millionenpublikum. Naja, vor zwei Menschen, vor denen sie jetzt gerade nicht scheitern wollte: sie selbst und diese Frau.
Nachdem sie endlich ihre Tour beendet hatte und alles erledigt war, eilte sie aus dem Postgebäude, hinunter zur Ecke, bog ab, überquerte die Straße. Ein Auto bremste gerade noch rechtzeitig, Lea stolperte und fiel, sprang sofort wieder auf. Ein Mann schnauzte sie durch das Seitenfenster an, stieg aus.
»Tschuldigung«, rief Lea gehetzt, »Meine Schuld! Alles in Ordnung, hab ’s furchtbar eilig!« Lea lief wieder los und ließ den schimpfenden Mann zurück. Mist, sie hatte sich die Hand aufgeschürft. Erst als sie kurz vor dem Haus war, wurde sie langsam. Sie wollte erst zu Atem kommen, kontrollierte ihre Hand. Sie blutete ein klein wenig. Schmutz hatte sich in die Haut gesetzt. Die Wunde brannte. Egal. Atmen, ruhig werden, klingeln.
Die Frau öffnete und Lea musste an sich halten, sie nicht zu umarmen. Sie folgte ihr ins Haus, während ihr Blick die Frau betrachtete, ihre zierliche Gestalt, ihren leisen Gang, wie sie wieder mit den Armen ihre Strickjacke um sich geschlungen hielt. Das Wohnzimmer war ein aufgeräumter weißer Raum mit hellem Teppich und den zugezogenen langen Gardinen. Der Tisch war gedeckt und es stand duftender Reis darauf und eine Schale mit köstlich aussehendem Curry. Daneben standen ein Korb mit in Streifen geschnittenem selbstgemachtem Fladenbrot und ein Schälchen mit gewürztem Joghurt. Das Essen roch köstlich orientalisch.
Die Frau bat sie zu Tisch. »Entschuldigung. Nicht Zeit zu kochen.«
Lea staunte nicht schlecht. Da stand eine Königsmahlzeit und die Frau behauptete ernsthaft, sie hätte keine Zeit gehabt, richtig zu kochen. Was würde sie erst an Festtagen zubereiten? Kandierten Elefanten versteckt in selbstgefangenem Dinosaurier-Sauerbraten mit Edelweiß-Pastetenmantel? Lea kam sich plötzlich vor, wie ein dummes, faules Küken. »Sie müssen doch nicht für mich kochen. Das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Natürlich gibt es Essen. Wenn Besuch, dann essen.«
Ja, natürlich. Lea selbst hätte einfach einen Kaffee gemacht. Sie schämte sich ein wenig. Vielleicht war diese Person doch eine Liga zu hoch für sie. »Ist ihr Mann nicht da?«, fragte Lea, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden und um endlich Klarheit zu kriegen, welche Rolle der Starrenberg hier spielte.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Fast zwei Stunden. Dann er kommt.«
Die Frau hatte nicht widersprochen, Starrenberg schien also doch ihr Mann zu sein. Lea versuchte sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Darf ich mir die Hände waschen?«
»Sicher, kommen Sie.« Die Frau führte sie eine Treppe hinauf. »Da.« Ihr Blick fiel auf Leas Hand. »Was passiert?!«, rief sie. »Kommen Sie!«
Sie ging mit Lea ins Badezimmer und nahm aus einem Schrank ein dunkles Fläschchen und aus einem anderen einen Waschlappen. Sie spülte das ohnehin saubere Waschbecken aus, ließ heißes Wasser einlaufen und legte eine Seife hinein.
Lea winkte ab. »Nein, nein, das geht schon, das ist nicht schlimm.«
»Muss sauber sein. Sonst krank.«
»Danke, aber das geht schon.«
»Kommen Sie, komm.« Die Frau winkte Lea beharrlich heran und zog sie zum Waschbecken. Mit einem erstaunlich festen Griff umfasste sie Leas Handgelenk. »Tut weh. Nur kurz, bald vorbei. Muss sauber sein.« Sie reinigte mit der Lauge und dem Waschlappen die Wunde. Ja, es tat weh. Die Frau war nicht zimperlich, sondern wusch die Wunde beherzt und zügig aus. Dann spülte sie sie ab und tupfte den scharf brennenden Alkohol mit einem Wattebausch darauf. Alles, was sie dazu sagte, war: »Tut kurz weh.« Lea wollte bei dem plötzlichen Schmerz die Hand zurückziehen, doch der Griff dieser Zierde der Menschheit ließ nicht einmal ein Zucken zu. Von ihrer Schüchternheit war nichts mehr zu spüren.
»Ah, Scheiße!«, schrie Lea auf.
Da lächelte sie die andere auch schon wieder sanftmütig an. »Schon vorbei. Jetzt besser. Nur noch was zum Schutz.«
»Zum Schutz? Einen Elefanten?« Leas Blick fiel auf den steinernen Elefanten auf der Brust der Frau. Sie schluckte, um sich wieder loszureißen.
Die Frau lachte leise. »So stark muss es nicht sein. Reicht Stoff.«
Lea setzte sich auf den Badewannenrand. Die Frau holte einen Mullverband aus dem Schrank und griff nun zart nach Leas Hand. Lea schloss die Augen, um ihr nicht auf die Hände zu starren oder ins Gesicht. Die Frau wickelte ihr behutsam den Verband um die Hand. Als sie fertig war, lag Leas Hand in ihrer Linken und sie legte die rechte Hand darüber. Lea öffnete die Augen und sah auf diese Hände, die ihre hielten. Sie hob ihre gesunde Hand und strich über den Handrücken der Frau. Sie konnte nicht anders. Spürte die zarte Haut, die Knochen darunter. Lea hatte Angst, die Frau könnte die Geste verstören, doch sie hörte nur wieder diese leise, warme Stimme: »Jetzt besser?«
Lea schaute zu diesen tiefgrünen Augen auf, die ihr verboten waren. Sie zwang ihren Blick davon wieder weg und nickte. »Ja. Danke«, sagte sie und ihre Stimme war so schwach wie ihr Herz, das sich wie ein krankes Tier in einer Höhle verkriechen wollte. Die Frau hielt sie noch eine lange Sekunde fest, bevor sie sie losließ und aus dem Bad ging.
Unten setzte Lea sich an den Tisch. »Das sieht köstlich aus«, sagte sie. Ihre Stimme war immer noch so schwach wie die einer Maus. »Es freut mich wirklich sehr … Deutschland muss ihnen sehr kalt vorkommen. Hier wird nicht immer sofort gekocht, wenn jemand kommt.«
Die Frau hatte sie wahrscheinlich nicht ganz verstanden. »Ja, kalt«, sagte sie.
»Sie wollten mir etwas erzählen.«
Die Frau musterte sie und überraschte sie mit einer Frage. »Warum traurig?«
»Wer?«
»Sie«, sie deutete mit der Hand auf Lea.
Lea lächelte verlegen und wandte den Blick wieder ab. »Es ist nichts. Es ist nur … Ach, es ist nichts. Ich bin zu viel alleine, glaube ich. Es hat schon lange niemand mehr meine Hand so gehalten.« Lea lächelte. Es hatte ohnehin keinen Sinn, jetzt großartig zu lügen. So formuliert war es vielleicht harmlos genug.
Der tiefe grünbraune Blick wurde noch dunkler. Die Frau nickte. So leise und ernst, dass es kaum zu sehen war und doch so viel Verständnis daraus sprach. Dass es keine Worte mehr brauchte, um zu vermitteln, dass auch sie nur zu gut wusste, was Einsamkeit bedeutete. Dass sie eine Einsamkeit kannte, die Lea niemals kennengelernt hatte, die so tief sein musste, tiefer als die Abgründe der Meere und leerer als die unendlichen Leeren der Steinwüsten.
»Eigentlich geht es mir gut«, ergänzte Lea. »Nur als Sie eben meine Hand gehalten haben, ist es mir aufgefallen. Ansonsten bin ich zufrieden. Ich habe alles, was ich brauche … Wissen Sie, dass ich ihren Namen immer noch nicht kenne? Ich bin Lea. Verraten Sie mir ihren Namen?«
Die Frau zögerte einen kurzen Moment, so als müsse sie über die Antwort erst nachdenken. »Farimah. Ich heiße Farimah.«
»Farimah«, wiederholte Lea und lächelte leise. »Woher kommt der Name?«
»Ist arabischer Name.«
»Arabisch. Ah.«
Auch Farimah lächelte, doch irgendetwas verbarg sie wieder in ihrem Lächeln. Sie füllte die Teller und die beiden Frauen aßen. Als sie fertig waren, fragte Lea erneut. »Was wollten Sie mir vorhin nicht sagen, was ist passiert?« Farimah schaute zur Seite zum Fenster. Sie atmete angestrengt durch. Als sie nicht antwortete, fragte Lea vorsichtig nach. »Betrifft es ihren Mann auch?«
Farimah nickte.
»Farimah, was ist es?« Lea ließ ihre Frage im Raum stehen und ließ ihr Zeit.
»Ich glaube, ich schwanger.«
Lea presste ihre Kiefer aufeinander, dass ihre Wangenknochen hervortraten. »Freuen Sie sich?«
Farimah nickte: »Ich glaube, ja … Ich schon.«
»Und ihr Mann?«
»Ich weiß nicht.« Farimahs Stimme zitterte. Sie schien Angst zu haben. »Er weiß noch nicht. Ich hoffe, dann endlich heiraten. Er will nicht heiraten. Jetzt Kind. Ich hoffe, jetzt heiraten. Jetzt muss, sonst schlimm für Kind.«
In Lea formte sich ein Gedanke. »Können Sie für lange Zeit hier in Deutschland bleiben?«
Farimah schien die Frage zu beunruhigen. Sie antwortete nicht, rutschte nur unsicher auf ihrem Stuhl hin und her.
»Naja, es wäre sicher besser für Sie, wenn Sie heiraten. Sie könnten ohne Probleme hierbleiben.«
Farimahs Miene verfinsterte sich. Sie schien sich innerlich in irgendwelche Untiefen zurückzuziehen und nachzugrübeln. Auf ihrer Stirn lagen tiefe Falten, ein farbloser Schatten hatte sich auf ihr schmales Gesicht gelegt. Dann nickte sie. »Ich mache Kaffee.«
Lea schaute auf die Uhr. »Vielen Dank, ich würde gern noch bleiben, aber ihr Mann kommt gleich.«
Auch Farimah schaute auf die Uhr und schien sich ein wenig zu erschrecken. »Aber Sie haben noch keinen Kaffee.«
»Das macht nichts. Ich denke, ihr Mann ist müde nach der Arbeit. Es ist sicher besser, wenn ich jetzt gehe. Ich kann ja noch mal wiederkommen.«
Farimah lächelte dankbar. An der Tür drehte Lea sich noch einmal zu ihr um. »Sagen Sie es ihm bald. Und danach sagen Sie mir, wie es war. Wahrscheinlich wird er Sie heiraten.« Noch immer lag ein tiefer Schatten auf Farimahs Augen. Sie nickte, doch es wirkte so, als würde sie Lea nicht glauben. Und da war auch wieder diese Sehnsucht, dieses Festhaltenwollen, diese unsichtbaren Hände, die nach Lea griffen. Lea sank tief in dieses unergründliche grünbraune Meer. »Danke«, sagte sie und riss sich los. Sie wollte Starrenberg nicht begegnen.
In den folgenden Tagen traf Lea Farimah nicht. So auch in der folgenden Woche. Lea war nervös. Was war geschehen? Hatte Starrenberg seine Freundin etwa rausgeschmissen, weil sie schwanger von ihm war? Das würde er doch nicht ernsthaft tun. Haushaltshilfe hatte er sie damals genannt. Er hatte nicht zu ihr gestanden. Ob Farimah selbst die Schnauze voll hatte und gegangen war? Lea hatte nicht den Eindruck, dass Farimah so etwas tun würde. Nicht, ohne ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Oder etwa doch? Vielleicht war ihr Lea ja gar nicht so wichtig.
Zu Hause lag sie auf ihrem Bett und schlug in ihr Kopfkissen. Farimah hatte ihr von der Schwangerschaft erzählt, bevor sie es ihrem Mann erzählt hatte. Das tat man nur bei Freundinnen. Wegen der dummen Hand hatten sie gar nicht genügend Zeit gehabt, sich zu unterhalten und Lea hatte es verpatzt, die richtigen Fragen zu stellen. Sie griff sich in die Haare und zerrte daran. In diesem Moment konnte sie sich selbst nicht leiden.
Lea wusste nicht mehr, welche ihrer Wahrnehmungen und Intuitionen richtig waren und welche nur dumme Lügen. Ihr Eindruck ließ sie vermuten, dass Farimah in einer sehr großen Abhängigkeit gefangen war. Das konnte jedoch auch Einbildung sein. Welche konkreten Hinweise gab es schon – Lea kam nur einmal am Tag für eine halbe Minute vorbei, stand nur vor dem Haus. Farimah war immer da, hatte aber noch nie irgendwelche Post bekommen. Jetzt war sie plötzlich verschwunden oder kam nicht mehr zum Fenster. Möglicherweise machte sie dem Starrenberg wirklich nur den Haushalt. Das wäre zwar nicht unbedingt romantisch, aber durchaus möglich. Sehnsucht wuchs in Leas Brust und nahm von Tag zu Tag immer mehr Raum ein. Sehnsucht und die stetige Frage, wie es Farimah wohl ging.