Читать книгу Nächstes Jahr in Bratislava - Lydia Costa - Страница 4

Sur l’eau.

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Sie fragte mich, ob ich Jude sei, und ich nickte ihr zu.

Dann, nach einer kleinen Pause, schüttelte ich den Kopf.

Sie lachte und sagte, Willkommen im Club.

Fragend sah ich sie an, In welchem Club denn?

Im Club derer, die, wenn man sie fragt, ob sie Jude sind oder nicht, weder klar ja noch eindeutig nein sagen können.

Oder wollen, gab ich zurück – und was sind Sie?

Gestylt war sie wie ein russisch-orthodoxer Pope in Frauenkleidern vom Flohmarkt. Irgendwie schien sie es darauf anzulegen, dass ich mehr über sie in Erfahrung brachte. Herausfordernd sah sie mich an: Sie wollen wissen, was ich bin? Nun.

Sie hob die Brauen und guckte verschmitzt: Was tippen Sie denn?

Sie wollte es spannend machen. Das war zu spüren. Ich konnte sie unmöglich einordnen. Auf ihrem Tablet hatte sie in der Jerusalem Post geblättert. Sie trug einen mächtigen goldenen Magén David zwischen den eher kleinen Brüsten, die sich hinter Lagen von grau-schwarzer Klöppelware verbargen. Um die Schultern hatte sie eine ziemlich abgewetzte rot-weiße Kufiya geschlungen. Das Ding sah aus, als hätte sie es vor zwanzig Jahren einem libanesischen Falafel-Verkäufer geklaut. Vor dem birnenförmigen Bauch baumelte ein Holzkreuz. Die von braunen Flecken gesprenkelten Hände zierte Schmuck, der das Devotionalienaufkommen so ziemlich sämtlicher Weltreligionen darbot. Das koschere Abendessen, nachdem sie verlangt hatte, war ihr aus logistischen Gründen verweigert worden. Das Putengeschnetzelte mit Sahne allerdings hatte sie anstandslos bis auf das letzte Körnchen Reis verdrückt. Kein bisschen koscher, wenn man mich fragte. Jetzt schlürfte sie ihren Merlot und grinste kokett: Nur Mut. Ihr Tipp. Los. Was denken Sie, was ich bin?

Keine Ahnung. Ich kenn mich da nicht aus, Also sagen Sie schon – was sind Sie?

Sie wiegte den Kopf hin und her und trällerte: Just like you, I am a Je …

Bis hierhin hatten wir Englisch gesprochen. Phonetisch macht es keinen Unterschied, ob sich jemand als Je oder Jew bezeichnet. Daher half mir ihre Antwort nicht weiter. Jetzt wechselte sie ins Spanische und übersetzte unseren soeben geführten Dialog. Locker, wenngleich mit deutschem Akzent, erklärte sie, dass ich mir das W wegdenken müsse. Also nicht Jew sondern Je. Eine nicht zu Ende gebrachte Jüdin sei sie. Das träfe es irgendwie. Sie wechselte ins Deutsche. Weshalb sie davon ausging, dass ich es beherrschte, war mir so wenig klar wie irgendwas an dieser Dame. Kichernd und einigermaßen selbstverliebt erklärte sie, sie habe sich dieses Wortspiel ausgedacht, um dem Hybriden ihres Bekenntnisses gerecht zu werden. Eindeutig uneindeutig, hihi – das gefällt mir, lächelte sie und sah mich durchdringend an. Ich reagierte nicht. Da nahm sie ihr Tablet zur Hand und beantwortete Mails, checkte Text-Nachrichten oder was auch immer.

Die Boeing hatte ihre Reiseflughöhe schon vor geraumer Zeit erreicht. Der Tinnitus der Maschinen beherrschte alles, was an Bord geschah. Die Passa­giere wühlten sich in ihre Sitze und brachten sich irgendwie in Schlafpo­sition. Auch die Purser und Service-Roboter waren mittlerweile auf Snooze gestellt oder im Standby-Betrieb. Was erstere betraf, dösten sie festgeschnallt auf ihren Jump-Seats und machten die Geräusche, die menschliche Wesen im Schlaf anrührend oder auch Nerv tötend machen, je nachdem wie man die Sache betrachtete.

Sind Sie beschnitten?

Ich fuhr herum. Eine viele Jahre zurückliegende Episode schoss mir unerwartet ins Gedächtnis. Auf einem Markt im Dorf meiner Heimat flüsterte der Verkäufer, während er Wechselgeld zählte: Deine Großmutter war eine Hure. Ich sah ihn an. Er lächelte unbefangen. Was haben Sie gerade gesagt? Fragend die Stirn runzelnd wiederholte er die Summe, die mir zustand. Hatte ich mich verhört? Am Abend davor hatte ich in einer Runde Fußballfans ein paar Bier getrunken und zwei, drei Joints geraucht. Die Wahrnehmung spielte mir Streiche. Die Dame zu meiner Linken hatte ihr Tablet in die Tasche hinter der Rückenlehne geschoben. Auch sie sah unschuldig vor sich hin. Dann aber drehte sie sich mir zu und grinste provozierend. Sie spreizte den kleinen Finger von der rechten Faust und vollführte mit dem Zeigefinger ihrer fleckigen Linken ritzende Kreise in der Luft: Ich hab Sie gefragt, ob Sie beschnitten sind. Brit Mila. Schnibbel, schnibbel. Zirkumzision – Sie wissen, was ich meine!

Äh, ob ich …?

Ja. Genau. Ob Sie beschnitten sind, will ich wissen. Rede ich undeutlich?

Alles was recht ist. Nennt mich verklemmt, aber ich finde nicht, dass es eine zufällige Flugzeugbekanntschaft etwas angeht, wie es um meine Vorhaut bestellt ist. Umso weniger, wenn es sich dabei um eine Dame handelt in einem Alter, von dem meine Großmutter, Gott hab sie selig, nur hatte träumen können. Ich schüttelte ungläubig den Kopf, rollte empört mit den Augen und entließ vorwurfsvoll Luft zwischen den Lippen.

Warum so schüchtern, Miguel. Sagen Sie schon – sind Sie oder sind Sie nicht? Was mich betrifft – ich bin! Oder doch eher nicht. Na ja, um ehrlich zu sein. Höchstens beschni, wenn Sie verstehen? Ein beschni Ju – das bin ich. Können Sie mir folgen?

Ja, ja, schon gut. Keine Ahnung, wovon sie redete: Ich weiß, was Sie meinen …

Ganz BTW: Woher kannte die Schabracke meinen Namen? Mich beschlich das Gefühl, der Flug könnte anders verlaufen, als ich es geplant hatte. Eine dezente Unter­treibung, wie sich herausstellen sollte. Die Alte fing an, in den Archiven ihres Tablets Fotos zu suchen, was so wenig Zeit beanspruchte, dass es schien, als habe sie sich auf unser Gespräch vorbereitet. Warum es allerdings ausgerechnet ich sein musste, den sie mit ihrem Kram belästigte, erschloss sich mir nicht. Ich setzte an zu fragen, woher sie meinen Namen wusste, aber da unterbreitete sie mir eine Reihe von Bildern, die so schockierend waren, dass es mir die Sprache und fast auch den Atem verschlug. Ich erkannte einen Penis. Ein Membrum im Sorbet-Zustand, also halbsteif, dann dasselbe Glied furchtbar entstellt, ganz offensichtlich nach einer Art operativer Vollkatastrophe. Die Leitersprossen einer blutigen Naht um ein Stück aufgedunsener Haut, schließlich, auf einem dritten Foto, das Ganze nochmal, aber dieses Mal war das Membrum beschnitten. Aber nicht ganz. Etwas war von der Vorhaut übriggeblieben, ein dreieckiger Zipfel auf dem Quadranten zwischen 9 Uhr und Mittag, Ein weiteres Foto zeigte die Vergrößerung dieses Rests, verziert mit einem billigen Tattoo, bläuliche Linien bildeten einen Stern, in den etwas gekritzelt war, ein kleiner Asterisk aus sich überschneidenden Linien.

Heilige Scheiße, entfuhr es mir. Ich stand unter Schock. Wäre meine Sitznachbarin ein Mann gewesen, hätte ich vielleicht zugeschlagen. Solche Bilder will keiner sehen. Nicht vierzigtausend Fuß über der Erde, wenn knapp sechshundert Leute sich nur wenige Räumlichkeiten teilten, in denen sich ungestört kotzen ließ.

Niemals, das war mir sofort klar, würde ich diesen Horror wieder los. Mein Appetit auf Tinten­fischringe oder irgendetwas anderes, das bleich, rund und von wabbeliger Konsistenz war, hatte sich auf ewig verflüchtigt.

Etwas in dieser Richtung gab ich der Frau zu verstehen. Sie steckte das Tablet weg. Pikiert wischte sie sich eine Strähne aus der Stirn und murmelte säuerlich: Nun gut. Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. So soll es sein.

Was um Himmelswillen – WAR das, schnappte ich.

Mein Schwanz natürlich. Meine Gurke. Mein Penis. Damals. Zu den tristen Zeiten, als er noch dran war. Als er und ich noch im selben Team spielten. Mein Rohr. Gott hab es selig. Erst ohne, dann mit, dann wieder ohne Beschneidung. Mal so mal so. Verstehen Sie, wovon ich rede?

Oh, ich verstand! Fieberhaft suchte mein Blick nach einer Stewardess um zu fragen, ob sie mich umsetzen könne. Ich griff nach dem Knopf über mir, aber die Chancen, möglichst viele Sitzreihen zwischen mich und diesen Freak zu kriegen, standen denkbar schlecht. Der Flug war fast ausgebucht. Nur in der ersten Klasse gab es noch ein paar wenige freie Plätze. Scheiß drauf. Es wäre die Investition wert gewesen.

Schlapp erwiderte ich den Druck der mir dargebotenen Hand, Nicole Fischer, sagte das Etwas. Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ja, Miguelito. Ich war mal ein Mann – wie Sie. Oder sagen wir du – jetzt, wo wir so viel voneinander wissen?

Skeptisch sah ich sie an. Was wusste sie tatsächlich? Sie zeigte auf meinen Schritt, wischte eine Strähne aus der Stirn und gurrte, Mein Penis und ich – wir gehen jetzt getrennte Wege. Er nach da – ich nach dort. Sie zeigte zu Boden, unter dem sich in dreißigtausend Fuß Tiefe der in kosmisches Schwarz getauchte Atlantik ausbreitete, die große Kloake, in der früher oder später landete, was nicht mehr gebraucht wurde. Dann zeigte sie nach oben, wohin wir, glaubt man den Religionen, einziehen, wenn auch wir nicht mehr gebraucht werden. Also, junger Freund, sagte diese, hm, Nicole, die vielleicht mal Jürgen oder Manfred gewesen war – sei gewarnt! Falls du nämlich unbeschnitten bist und vorhast, diesen Schritt zu gehen, wozu ich dir unbedingt rate, dann lass einen Profi ran. Ein Mohel, der sein Handwerk draufhat, verstehst du?

Sie zeigte auf das Tablet: Das nämlich, Miguelito, kommt raus, wenn zwei verhunzte Beschneidung­en und eine vergeigte Verschiebe-Plastik plus ein grottiges US-Knast-Tattoo an einem Strang ziehen und alles richtig in die Grütze geht. So wird aus einem hübschen kleinen Dödel, der meiner fraglos einmal war, ein optischer Super-GAU. Das nur zu deiner Warnung.

Danke. Ich merk es mir, log ich schief grinsend.

Nun ja. Schwamm drüber. Ich bin ihn los, diesen Pimmel, und das ist gut so. Am Ende war er ohnehin nur noch dazu gut, schlecht zu riechen und beim Pissen zu stressen. Prostata – Sie verstehen?

Na, klar.

Ich rückte soweit es ging ab von ihr. Sie roch nach Knoblauch und Airline-Merlot.

So, so, resümierte ich aus Höflichkeit, Interessant. Sie waren also mal ein Kerl und haben sich beschneiden lassen.

Zweimal, korrigierte sie. Beide Male ist was dazwischengekommen. Money is God in action wissen Sie, und history is where it goes. Jedes Mal, wenn meine Konversion die entscheidende Hürde nehmen sollte, warf Gott mir mit irgendeiner Ins­ze­nierung Knüppel zwischen die Füße. Er hat einen merkwürdigen Humor. Beim ersten Mal, als der Mohel das Messer ansetzte, fiel die Berliner Mauer. Beim zweiten Mal war Nine Eleven und die Zwillingstürme purzelten um. Immer ging irgendwas zu Bruch, wenn ich aufs Ganze gehen wollte. Schließlich nahm ich die Sache persönlich. Gott wollte mich nicht als Clubmitglied. Da gab ich es auf. Die Ereignisse von Rom konnten meine Pläne, eine ordentlich beschnittene Rute zu kriegen, schon nicht mehr durchkreuzen. Als das passierte, war ich längst eine Dame. Ich wollte nicht länger auf klassischem Weg meinen Bund bekräftigen. Ehrlich gesagt waren mir Zweifel gekommen. War es wirklich so, dass ER Männer beschnitten haben wollte? Gingen ihm Menschen nicht generell am Arsch vorbei? Hatte das Thema für IHN irgendeine Relevanz? Als Frau war ich raus aus der Nummer. Es betraf mich nicht mehr. Ich war auf der sicheren Seite. Gottlob gibt es da heute Möglichkeiten, von denen ein Abraham nur träumen konnte. Fortschritt hat eben doch sein Gutes. Ernst fügte sie hinzu: Ja, Rom, nicht wahr? Was für ein Schock! Für uns alle …

Auch ich schwieg pietätvoll. Die Erinnerung an die Katastrophe ließ mich schaudern. Das Ganze war jetzt drei Jahre her, aber der Anschlag auf die friedlichen Menschen, die auf dem Petersplatz zusammengekommen waren, um zu beten und die fatalen Umstände, wie er geschehen war, das ließ einen auch 2033 noch nicht kalt. Wie waren diese Fanatiker in den Besitz unkonventioneller Waffen gekommen? So viele Unschuldige einfach pulverisiert. Obwohl die Katastrophe von Rom eindrucksvoll belegte, wie ehrgeizig die Menschheit darauf drängte, einen neuen Weltrekord in Grausamkeit und Bestialität aufzustellen, war doch auch klar, dass dieser Anschlag nicht annähernd die Schreckensdimension erreichte, die mit dem Namen Deutschland geschichtlich verbunden war. Was das betraf, hatten die Nazis ganze Arbeit geleistet. Auschwitz war einfach nicht zu toppen. Immerhin, die Hysterie gegenüber Arabern allgemein und Moslems im Besonderen, die seit dem Angriff auf das World Trade Center Jahr für Jahr zugenommen hatte, war in Folge dieses neuen Attentats auf ein nicht für möglich gehaltenes Niveau gestiegen. Ein einziges, winziges Symbol, ein unscheinbares Zeichen islamischer Religiosität wurde inzwischen als Hinweis für eine unmittelbar bevorstehende terroristische Gefährdung gesehen. Aus dem Nichts konnte jederzeit eine Massenpanik entstehen. So wird man mir nachsehen, dass ich, als Nicole aus ihren Miedern eine in Silber und Türkis gearbeitete Fatima-Hand kramte, um sie mir umzuhängen, mit einem Aufschrei reagierte.

Als Beschnittener, sagte die Transsexuelle, während sie auf das feingliederige, aber mit der Zeit schwarz gewordene Kettchen zeigte, hätte ich auch in diesem Club was werden kön­nen. Hat mich aber nie interessiert. Schon damals als Mann fand ich den Islam dümmlich mit seiner verklemmten Jungfrauenhypostase und den pubertären Paradiesfantasien als Wichsvorlage angehender Märtyrer. Nein, was Monotheismus betrifft, empfinde ich eher wie bei Cola-Getränke – nichts schlägt das Original.

Ich fummelte mir die Kette vom Hals, um sie zurückzugeben, aber die Alte schüttelte den Kopf: Behalten Sie’s. Steht Ihnen gut. Türkis ist deine Farbe.

Ein Herr, den mein Schrei geweckt hatte, drehte sich um, und ich beeilte mich, das Machwerk aus Billigsilber unterm Pulli zu verbergen.

Also, was ist, flüsterte das Wesen, während es die Ostgrenze von Sitz 21 J, den es eigentlich gebucht hatte, gefährlich weit in Richtung 21 K übertrat: Bist du oder bist du nicht? Sag schon. Du weißt, wovon ich rede!

Es brauchte eine Viertelminute, bis ich kapierte, dass sie erneut das Beschneidungsthema am Wickel hatte beziehungsweise anschnitt, falls der Wortwitz erlaubt war. Sie hob das Kinn, Darf ich raten? Du bist – nicht!

Und wenn doch, gab ich zurück.

Wenn doch? Dann – wow! Also – bist du??

Nochmal: Was ging es diesen Freak an – was eigentlich war die weibliche Form von Freak? Freakin? Freakette – was also ging es ihn an, ob ich meine Vorhaut besaß oder nicht. Ich musste schon bitten. Waren das Themen, über die man sprach, wenn man an einem 12. Oktober den Atlantik überflog, nur weil man zufällig nebeneinandersaß auf Plätzen, die irgendein Algorithmus für einen ausgewählt hatte?

So höflich es ging, machte ich diesem Was-Auch-Immer klar, dass dem nicht so war. Jedenfalls nicht in meiner Welt.

Nicole schien nicht zuzuhören. Vermutlich war sie auf Hörgeräte angewiesen, aber zu eitel, welche zu tragen. So groß war ihre Fortschrittsliebe dann doch wieder nicht.

Komm mit aufs Klo, unterbrach sie meine Gedanken, ich will Beweise.

Das ging zu weit. Ich erhob mich aus dem Sitz, auf dem ich es keine Sekunde länger aushielt. Kaum hatte ich den Knopf gedrückt, erwachte einer der humanoiden Purser aus dem Standby-Modus und kam auf uns zu. Alexahaft dienstbeflissen lächelte er mich an: Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?

Bitte, sagte ich, kann ich vielleicht den Platz wechseln? Erste Klasse?

Entschlossen genug, um auch die letzte soziale Empfindlichkeit über Bord zu werfen, nestelte ich nach Fatimas Hand und legte sie frei: Purser, sagte ich und zeigte auf den Nebensitz, diese Lady hat mir das hier gegeben. Ich wollte es nicht. Das war ihr egal. Ich fühle mich auf diesem Sitz nicht mehr wohl. Ich möchte umbuchen.

Im Kopf des Roboters arbeitete es. Er scannte mich von oben bis unten. Die silberne Chamsa, die jetzt diskret von meinen fünf Fingern umschlossen wurde, zog den Verdacht erstmal auf mich. Das hätte mir klar sein müssen. Der Humanoid richtete den Blick auf meine Sitznachbarin. Seine Freundlichkeit war naturgemäß die einer Puppe: Ist das Ihre Kette, Ma’am?

Aber nein! Schauen Sie mich an! Ich bin eine christlich-orthodoxe Lady mit einem nicht zu leugnenden buddhistischen Touch und einem prononcierten Faible für Judaika. Was habe ich mit der al-Batul am Hut? Wenn ich zu einer Jungfrau bete, dann doch zur verfickten Maria, der Islam und seine verflu …

Ja, ja. Schon gut. Warten Sie einen Moment.

Der Purser drehte bei und weckte einen menschlichen Vorgesetzten, von dem er sich Anweisungen erhoffte in diesem offenbar sicherheitsrelevanten, aber maschinell nicht zu lösenden Fall. Bevor er in Begleitung eines analogen Stewards zurückkam, der tatsächlich Sitzpläne studierte, ließ Nicole Ihre Knoblauch-Merlot-Fahne ungebremst in meine Nase flattern: Hey, Migg. Das war ein Scherz. Jetzt mach kein Gewese. Ich will deinen Schwanz nicht sehen. Vergiss es. Was soll ich mit einem Kind wie dir auf dem Klo? Bitte. Komm runter. Wenn du einen Skandal machst, kann es für uns beide böse ausgehen.

Da hatte sie recht. Seit Rom lagen die Nerven blank. Ich lächelte dem Purser-Paar zu, dessen Fleisch-und-Blut-Exemplar mir zunickte: Sie hatten geläutet, Sir? Kann ich was für Sie tun?

Äh. Ja. Ich … hätte gern, dass …

… Man uns einen Whiskey bringt. Einen Macallan. Das älteste was Sie haben. Und Gläser dazu, wenn’s recht ist. Hier – meine Karte. Mit diesen Worten zog die Dame eine mitternachtschwarze Amex aus ihrer ferkelfarbenen Luis Vuitton Clutch, und kurze Zeit später standen zwei randvolle Becher flüssiger Bernstein vor uns auf den Klapptischen.

Salud, sagte ich.

Le Chaim, meinte die Freakadelle.

Hör zu, sagte sie, kaum hatte der Schnaps unsere Mundschleimhäute verödet, es ist kein Zufall, dass wir nebeneinandersitzen.

Aha. Sowas ähnliches hatte ich mittlerweile geahnt. Dem Merlot-Atem war nun eine schärfere Note beigemischt, und seit der Szene mit den Stewards kam es mir vor, als hätte sich der Knoblauchduft mit einem Hauch Angstschweiß vermischt, der ihren Achselhöhlen entstieg. Soweit es ging, rückte ich ab zum Fenster, wohinter die mit stellarem Deckweiß besprenkelte Schwärze gähnte so wie ich hinter vorgehaltener Hand: Hab ich mir fast gedacht. Wie haben Sie es angestellt? Was genau wollen Sie von mir?

Langsam, mein Freund. Eins nach dem anderen, Miguel. Also. Wie habe ich es geschafft, auf diesen Platz zu kommen? Nun, man hat so seine Beziehungen. Ich wusste, dass du diesen Flug nimmst und bin nach New York gereist, um auf dem Rückflug in derselben Maschine zu sitzen. Ich war Stunden vor dir am Kennedy-Airport und habe alle Register gezogen, um auf diesen Platz zu gelangen. Es war nicht einfach, aber ich bin eine Lady, die nicht so leicht aufgibt. Erst musste ich natürlich rauskriegen, WO du sitzt und wer dein Sitznachbar war, um zu tauschen. Unfassbar, was Menschen für Geld alles tun. Ich selbst habe von Computern übrigens wenig Ahnung. Aber ein guter Bekannter hat sich bei Icelandair eingehackt und die Belegpläne gecheckt. So habe ich es schließlich geschafft.

Na, schön. Glückwunsch. Und was wollen Sie von mir?

Zunächst mal, dass du endlich DU sagst. Wie oft soll ich es dir noch anbieten? Es grenzt schon an Unhöflichkeit, mich so zu übergehen. Ich war mal ein Mann, aber meine Empfindsamkeit ist die einer Dame, ich darf deshalb …

Na, schön. Nicole. Was willst du von mir?

Sie lächelte. Sie war am Ziel. Das feierte sie damenhaft mit einem kräftigen Schluck Whiskey. Sie stellte den Becher aus recyclingfähigem Kunststoff zurück und verletzte erneut in eklatanter Weise die Lufthoheit über der von mir gebuchten Sitzgrenze.

Ich weiß, wer du bist, hauchte sie, du bist ein Killer. Ein Sicario. Du stammst aus einem Slum von Bogotá. Deine Mutter ist indigen, eine Taromenane, wie ich vermute. Du bist das Ergebnis eines One-Night-Stands mit einem sephardischen Touristen aus Montreal. Du bist der typische Vaterjude. Allerdings hast du deinen Erzeuger nie gesehen, du …

Ich gelte als besonnener Mann, aber jetzt war ich soweit. Ich hob die Faust, um eine wildfremde Frau zu schlagen. Eine, die dreimal so alt war wie ich. Niemand nennt mich ungestraft einen Auftragskiller. Dann besann ich mich eines Besseren. Die Faust noch in der Luft, kniff ich ein Auge zu und feixte: Wieder ein Scherz, nicht wahr Nicoletta? Sie oder meinethalben du machst dir den Flug ein wenig angenehm, indem du andere nach Strich und Faden verarschst? Heute bin ich dran – richtig? Mich hat’s erwischt!

Nicole stieß mir den Ellbogen in die Seite und kicherte: Dich kann keiner verarschen. Du bist viel zu clever. Der Plan ist vielmehr der: Ich möchte, dass du mich tötest. Anschließend löst du mich in Flusssäure auf wie bei Breaking Bad. Du kennst die Serie? Mit meiner Leiche füllst du einen Sack aus Vinyl, den ich in einem Koffer mitführe, der sich unten im Gepäckraum befindet. Es ist die Matratze eines Wasserbetts, auf dem du anschließend Sex haben sollst. Und zwar mit folgender, wie ich finde recht attraktiven Person.

Sie beugte sich über ihr Tablet, das sie aus der Gepäcktasche hinter ihrem Vordersitz gezogen hatte. Sie schaltete es ein. Bevor sie weitere Fotos oder was auch immer öffnen konnte, stoppte ich sie, indem ich mit der Rechten ihre Hand packte und festhielt. So zwang ich sie, mir in die Augen zu sehen: Nichts dergleichen werde ich tun, kapiert? Vermutlich ist das wieder nur ein Witz. Es ist aber leider so: Wir beide, du und ich, wir haben komplett unterschiedliche Auffassungen von Humor. Danke für den Macallan. Aber es tut mir leid. Ich werde mich jetzt unwiderruflich woanders hinsetzen lassen, falls es geht. Ich streckte die Linke aus nach dem Knopf.

Okay. Keine Witze mehr, sagte Nicole, Ich habe dein Buch gelesen.

Ach, daher wehte der Wind!

Deine Geschichten über Manhattan am Nullpunkt haben mir Spaß gemacht. 23 Episoden von unterschiedlichsten Charakteren, die nur eins gemeinsam haben. Sie spielen am 11. September 2001. Für das, was ich von dir will, wirst du genau diese Fähigkeit brauchen, dich in andere Menschen hineinzuversetzen. Zu fühlen aus ihrer Sicht. Mit ihrem Herzen zu sprechen. Noch einen Schluck?

Ich verstand kein Wort von dem, was Nicole sagte, ließ mir das Glas aber füllen und nahm einen weiteren Schluck. Der Macallan war kein Tequila, aber es gab deutlich Schlimmeres, um ein wenig Momentum in die Ödnis eines nächtlichen Atlantikflugs zu bekommen. Ich setzte das Glas ab und nickte: Aha. Wir kommen der Sache näher. Es geht um Ghostwriting. Ich soll für dich schreiben?

Bingo. Jetzt verstehen wir uns.

Nicole griff in Ihre Clutch und zog ein Bündel sauber geschichteter Banknoten heraus: Das hier sind fünfzigtausend. Weitere fünfzig, wenn das Buch fertig ist. Es ist aber ein bisschen eilig, denn die Person, die es lesen soll, ist sehr, sehr krank.

Ein Buch soll es sein? Warum gleich ein Buch? Vielleicht reicht ja ein Brief.

Es muss ein Buch sein. So wie das, dessentwegen du jetzt unterwegs bist. Ich weiß Bescheid. Frankfurter Buchmesse. Morgen sitzt du am Stand deines Verlegers und signierst deinen Erstling. Dann wird es ein paar Gedenkveranstaltungen geben. Einhundert Jahre Bücherverbrennung. Was denken junge, lateinamerikanische Autoren heute über das Deutschland von damals? Am Abend drauf wird dir ein Preis verliehen. Irgendein Newcomer des Jahres Quatsch. Dann fliegst du zurück zur Brooklyn Poets Yawp und machst weiter mit deinem Creative Writing Studium. Wahrscheinlich sitzt du längst an deinem nächsten Werk. Roman vermutlich diesmal, wäre ja auch gelacht. Aber gemach! Dein internationaler Durchbruch muss warten. Ich will, dass du vorher MEINE Geschichte erzählst. Wie – das überlasse ich dir. Meinetwegen in Hexametern oder Jamben. Oder du fügst diese läppischen Emojis in den Text ein wie man sie aus SMS-Nachrichten kennt. Du weißt schon, grinsende Kackhäufchen, Smileys, fliegende Herzen. Mir egal. Jedweder Manierismus oder abgedroschener Modernismus soll mir recht sein. Nur die Perspektive muss stimmen. Du erzählst die Geschichte so, wie sie meine Ex-Frau erlebt hat. Dazu bin ich nicht fähig. Es wird eine Liebesgeschichte und sie braucht nur eine einzige Leserin. Meine geliebte Tara. Ich möchte Abbitte leisten. Ich möchte ihr sagen, dass es mir leidtut. Ich möchte sie um Verzeihung bitten für alles und ihr zeigen, dass ich sie verstehe. Ich selbst falle immer wieder auf meine egozentrische Sicht zurück. Das kotzt mich an. Grinse-Kackhäufchen hoch zehn, verstehst du?

Ich soll die Liebesgeschichte zwischen dir und deiner früheren Frau zu einem Roman machen, erzählt aus ihrer Perspektive, damit sie erkennt, dass du sie verstehst?

Ich ließ eine Pause und fügte dann in einem etwas zarteren Ton hinzu: Und dann vielleicht zu dir zurückkommt? Weil du sie immer noch liebst? Schmetterling und fliegendes Herz und all der Kitsch? Ein verficktes scheiß Happy End willst du?

Statt einer Antwort, leerte Nicole ihr Glas und goss sich neu ein. Sie rülpste.

Ich weiß nichts über eure Beziehung, gab ich kopfschüttelnd zu Bedenken.

Nicole zog schweigend ihr Tablet hervor: Lies.

Seufzend nahm ich das Gerät zur Hand und widmete mich der glänzenden Fläche, die ein Tastendruck Nicoles zum Leuchten gebracht hatte. Sie öffnete eine Anwendung, auf der hinter Glas die Illusion eines Blattes Papier zu erkennen war. Es war so hell, dass die kleine, enge Bordwelt, in der wir zwei agierten, in einen hellen Schimmer getaucht wurde. Nicoles schwarz lackierter Zeigefinger flog über das Gorillaglas des mobilen Interfaces, und ein Titel war zu lesen: Nächstes Jahr in Heidelberg. Nicole Fischer stand da auf Seite 1. Ich blätterte weiter, begann zu lesen, doch schon nach den ersten zwei Absätzen gingen meine Gedanken eigene Wege. Ich dachte an das, was vor mir lag, wie müde ich eigentlich war und wie dringend ich meinen Schlaf brauchte, wenn ich den Rest des Flugs und die Frankfurter Messe nicht als totale Folter erleben wollte. Zweihunderttausend Euro waren kein Pappenstiel, aber der Alkohol trübte meinen Blick, und für kein Geld der Welt erträgt man das Leiden eines erfolglosen Schriftstellers, der einen im Flieger abpasst, damit man ihn irgendeinem Verlag andient. Was das betraf, war ich mit meinen nun bald dreiunddreißig Jahren Profi genug. Auf Seite 2 gab ich Nicole das Tablet zurück und schaltete es aus. Es tut mir leid. Ich kann das nicht. Es ist solide geschrieben, aber ich muss jetzt schlafen. Schick mir den Text einfach zu, ich lese ihn, wenn ich in New York zurück bin. Dann reden wir, ob ich daraus was machen kann oder nicht.

Ich leerte mein Glas und schob das der Autorin hinein, so dass ich beide auf ihrem Klapptisch loswerden konnte. Ich brachte meinen Sitz in die maximal mögliche Liegeposition, klappte meinen Tisch hoch und lehnte den Kopf gegen das kühle Lid des heruntergeschobenen Bullauges, in dem die Jets vibrierten. Tatsächlich fiel ich in Schlaf. War es das Stichwort Wasserbett oder mein eigener Gedanke an die Folter, die mein Schlafentzug bringen könnte – jedenfalls erwachte ich Sekunden später aus einem Alptraum. Ich hatte mich an Händen und Füßen gefesselt gesehen in einem orangefarbenen Overall. Um mich herum trieben Koffer wie auf unzähligen Gepäckbändern. Alle möglichen Arten von Koffern. Sie schwebten in alle Richtungen, eine dreidimensionale Installation à la Das fünfte Element. Koffer mit Rollen und solche an Riemen, blau, rot, weiß, grün und grau. Metallkoffer und Ledertaschen. Rucksäcke und riesige Tornister. Ich wollte danach greifen, aber meine Hände steckten in Handschellen. Jemand bedeckte mein Gesicht mit einem rot-weißen Palästinensertuch, einer Kufiya, und dann kam das Wasser. Ja, schrie ich, noch bevor es floss, Ja, ich gestehe, ich gestehe alles, ich bin ein Killer. Ein Sicario. Ein islamistischer Gefährder. Rom – das war ich. Ich ganz allein. Es war erst der Anfang. Ich gebe alles zu! Doch obwohl ich recht unheldenhaft bereits vor der peinlichen Befragung, um diesen mittelalterlichen Euphemismus zu gebrauchen, zusammengebrochen war, strömte das Wasser über mein Gesicht, und … ich wachte auf.

Neben mir saß Nicole und blickte stumpf vor sich hin. Den Whiskey hatte sie nicht mehr angerührt. Die Enttäuschung über meine Absage war ihr anzusehen, aber sie schien sich mit ihrer Niederlage abzufinden. Waren das Tränen in ihren Augen oder war eine Kontaktlinse verrutscht? Jetzt tat sie mir leid.

Ich zog das Tablet aus der Gepäckablage und brachte es zum Leuchten. Um es zu aktivieren, bräuchte ich Nicoles Iris. Ohne sich umzudrehen, ein kaum sichtbares Lächeln auf den großzügig geschminkten Lippen, tat sie was nötig war: Du musst nicht ganz lesen. Nur Proben. Es geht ums Thema. Den Stoff.

So uneigennützig wie es vielleicht klingt, war meine Entscheidung, ihren Texten eine Chance zu geben, letztendlich nicht. Not war das Salz, mit dem man das Süppchen Literatur würzte, und diese Alte kannte sich mit Schmerz aus, das war zu sehen. Nichts gegen das andere Geschlecht, aber keiner wurde ohne Leidensdruck vom Mann zur Frau. Aus der Lektüre einer Geschichte, in der ein Mann, nun selbst Frau, eine Frau liebt, würde ich kaum weniger inspiriert hervorgehen als ich in sie eingetaucht wäre. Im ungünstigsten Fall erwartete mich nicht mehr als etwas Unterhaltung. Also ließ ich mich auf ein arbiträres Auswahlverfahren ein, indem ich durch rasches Hin- und Her-Wischen auf dem Touchscreen Textstellen aufrief, zufällige Passagen, ohne Zusammenhang oder verbindendes Element, außer eben dem der Urheberin, doch schon nach drei Leseproben gab ich auf und das Tablet entnervt seiner Besitzerin zurück. Tut mir leid, Nick. Wirklich. Es geht einfach nicht.

Der erste Text war okay gewesen. Er handelte von Liebe und Eifersucht mit einer Beimischung von Sentimentalität und Pathos. Er war kitschig, aber herzergreifend naiv – er lautete: Hirschhorn im Herbst. Eine Fahrt entlang des Neckars. Der blaue R4 meiner Mutter befördert unser Glück. Rasselnden Motors versetzt er Lenki und mich ins In­nere des in allen Goldtönen blühenden Oden­waldes. Auf dem Parkplatz der Burg überlassen wir ihn mit einem nur gedachten Abschiedskuss sich selbst. Wir haben den Nachmittag in der Badewanne verbracht. Jetzt mischt sich der Duft nas­sen Kastanienlaubs mit dem von Patchouli, der die Ära des Grasöls, die bald folgen wird, olfaktorisch eskortiert. Wir sitzen Händchen haltend im Café, von oben eine Land­schaft überblickend, für die man unseren Schlag Mensch nur benei­den kann. Herbst­laub, flirrend in allen Farben. Im Tal schleppt sich ein Kahn tuckernd von Schleuse zu Schleuse. Mein Glück ist immens! Aufschreibenswert. Archivierwürdig. Geradezu von wissenschaftlicher Bedeutung. Wie groß kann Glück sein? Ab wann tut es weh? Fragen, die Forscherherzen höherschlagen lassen. Der Moment ist makellos, einfach perfekt – wäre da nicht … oh, nein, nicht jetzt. Ich gerate ins Grübeln, lasse Sahne die Oberfläche des Kaffees durchdringen, der sich bewölkt wie mein von Eifersucht wundgeriebenes Gemüt. Ein Getränk entsteht von der Farbe der Nou­gatschnitte, die ein Kellner soeben mit der Unschuld des Konditors auf silbernem Tablett zum Nach­bartisch trägt. Ist er es, weshalb wir hier sind? Wie er sie ansieht? Wie er lächelt? Grinst. Ach, schweben wie die Nougatschnitte und nicht immer abstürzen ins Bodenlose, vom Gift der Zweifel niedergedrückt. Merkt sie es denn nicht? Dies hier ist einzigartig. Das sind wir. Nur wir. Nur sie und ich. ICH. Keiner sonst kann ihr das bieten. Und doch: Der Satz ich liebe dich, ist eine Aussage purer Egozentrik, in der das Objekt erst an dritter Stelle steht, und Schuppen fremder Haut auf ihrer, weggeschäumt in den Seifenblasen der Badewanne meiner Eltern, in der sie ihre Haarwolke hennarot färbt …

Dann spielte mir Lektor Zufall eine Stelle zu, in der ein gewisser Nikolaus Fischer kurz davorsteht, seine Jugendliebe Tara Metzger zu heiraten. Er bekennt: Siehe – es war gut. Ich heirate Tara, die Liebe meines Lebens. Ein Triumph. Die schönste Frau der Welt, alles, was ich erträume, in wenigen Minuten ist es mein. Hungrig vom Fasten betrachte ich mein Spiegelbild in der gewaltigen Glasfront dieses Wohnzimmers und erinnere mich des Moments, da diese Liebe in mir das letzte Mal dramatisch auflodert. Eine Bucht vor Taba im roten Meer. Das Land vermint, überall Stacheldraht, staubige Grenzposten. Hier sind wir, mitten im warmen Ozean, hinausgeschwommen. Das Wasser voller Fische. Ihr krauses Haar von Prismen aus Wasser und Licht zu einer Aura geworfen. Ihr schwarzes Antlitz im Weichzeichner meiner Myopie madonnenhaft verklärt, ich ertrinke vor Liebe. Ich hier mit ihr? Wie kann es sein? Mein Herz setzt aus, und einen Augenblick ersehne ich in dieser synkopierten Seligkeit zu sterben. Was soll noch kommen? Wie lässt sich denken, was sich kaum fühlen lässt? Schriftstellern, Dichtern, habe ich immer misstraut. Wie sollte der Schmerz, der Liebe heißt, beschreibbar sein? Was aber sonst wäre es wert, beschrieben zu werden? Ich werde nicht schreiben, niemals. Entschlossen stecke ich ein, was ich aus der Schublade meines Schwiegervaters gezogen habe, korrigiere den Sitz meines Einstecktuchs und mache mich auf den Weg. Ich bin allein in diesem Haus mit seiner Pracht, den Kostbarkeiten, Trophäen, Gemächern. Ein kurzer Blick auf die gerahmte Kinderzeichnung auf Enzos Schreibtisch. Ein bunter Davidstern mit einem zweiten, kleinen Krakelstern in der Mitte. Das Heiße Liebe Zeichen. Gerührt öffne und schließe ich die Verriegelung des Tors, verlasse das Haus über den Hinterausgang. Die wenigen Schritte zur Alten Brücke den Philosophenweg hinab. Tara Metzger. Alles an ihr war quintessentiell. So war es immer. Schon damals, als sie noch ein Mädchen von dreizehn Jahren war. So und nur so kann der Mensch sein, den ich liebe. Auch wenn sie mich zu Tode erschreckt, etwa wenn die Bö einer Panik sie von mir entfernt, weil ich eine Raupe im Haar habe, selbst dann, wenn sie hysterisch ist, hat sie alles Recht auf ihrer Seite. Dass sie mich überragt, ist klar. Aufschauen zu ihr würde ich so oder so. Ihr Blick lässt mich fluoreszieren. Etwas am Stand ihrer Augen ist merkwürdig. Schaut sie mich an, gibt es ein Klacken, ein metallisches Ineinander Rasten, als würde eine Lok auf ein Gleis gesetzt, als würden Waggons aneinanderkoppeln. Nein, dieser Vergleich verbietet sich. Keine Eisenbahnbilder im Zusammenspiel mit Tara. Ihr Kuss einfach perfekt, die Zunge ein Joystick. So möchte meine Seele gesteuert werden. Ich überquere die unbefahrene Uferstraße. Wie der Rücken eines Spinosaurus beugt sich die Alte Brücke über den Neckar. Ich steige ihr aufs Kreuz, höre das Neckarwasser murmeln. Mazldik Tayvl, kannst du überhaupt gehen vor lauter Neid auf den Typ in deinen Schuhen? Quintessentiell ihre Scham. Eine schönere hat es nie gegeben. Alles, was ich tue, dient dem Ziel, sie zu sehen. Der Wurf ihres Hügels. Die anrührende Oase schütteren Haars. Den Schlitz mit seinem Farbspiel von Schwarz zu Pink. Der Duft, streng, salzig, zu rosenhafter Süße umgedeutet von den limbischen Manipulationen meiner Geilheit. Sie zu kennen ist ein Privileg, Lenki zu heiraten Blasphemie. So ist es. So bleibt es. Ich trage die Ikone ihrer Fotze vor der Prozession meines Lebens …

Die Offenheit dieser Sprache berührte mich peinlich. Schnell wischte ich weiter – und geriet prompt in einen Absatz, in dem es erst richtig zur Sache ging: Spät in der Nacht, es dämmert, werde ich wach, weil es auf meinem linken Augenlid kribbelt. Ich blinzele, sehe nichts, schlafe weiter. Kaum zeigen sich die ersten Bilder, kitzelt mein rechtes Lid. Ich öffne das Auge. Strukturloses Dunkel starrt mir entgegen. Ich schließe das Auge, reibe es, döse weiter – jetzt ist es die Oberlippe, die merklich juckt. Schläfrig wische ich mit der Hand die vermeintliche Fliege weg, meine Fingerrücken kribbeln, und dann erreicht das Etwas, das mich libellenflügelleicht berührt, die vom Schlaf feuchte Unterlippe, die ich einsauge, zwischen die Schneidezähne klemme, mit der oberen Reihe Beißer kratze, was mich endgültig weckt.

Taras Arsch ist vor meinem Gesicht. So dicht, dass meine Nase die Schweißperlen auf ihrem Damm verreibt. Mit dem Faden ihres Tampons hat sie mich wach geküsst. Mein Schwanz schnalzt hoch, füllt sich platzvoll mit Fickstoff, ich wühle die Zunge durch Taras Kimme, schlürfe den Saft ihrer Papaya. Falbe Lichtpfützen reflektieren das Morgengrau, das durch die Vorhänge sickert. Beidhändig knete ich ihre Backen, klemme die Nase in die Schlucht, lecke ihr Loch. Tara stöhnt. Ich richte mich auf. Packe den Faden mit den Zähnen, zerre am Tampon, sie windet sich, bedeckt das Bändchen mit der Hand, beginnt, sich die Möse zu massieren, so druckvoll, stürmisch, so volle Kraft voraus, dass ihre Lippen Bugwellen werden. Ich schaue zu, küsse ihre Finger, führe die Rechte zwischen ihren Schenkeln durch, um sie zu bremsen. Weiter richte ich mich auf, schiebe ihre Hand weg, greife den Faden. Sanft ziehe ich am Pfropfen. Tara schüttelt den Kopf. Die Zähne weiß wie das Laken, in das sie hineingrinst, zieht sie die Knie unter den Bauch, reckt den Po, der sich vor mir aufwölbt und öffnet. Ihr Zeigefinger weist auf den Schlot inmitten zweier Kraterränder, den meine Fickspucke zum Maar macht. Bleib wie du bist. Im Bogen um den am Boden liegenden Geigenkasten schlurfe ich meinem Dödel hinterher. Im rechtschaffen unordentlichen Bad finde ich die Nivea, trotte zurück, gewieft der Luxusfiedel ausweichend. Kniend hinter Tara auf dem Bett mache ich den Kratersee zum Wintermärchen, schneeweiße Kremlawinen, von Fingerkuppen verweht. Taras Anus wird geschmeidig. Finger rodeln das Rektum ab, Lenki seufzt, ich tauche den Index durchs Eis, tief, tiefer, so tief ich kann, bis der Schließreflex ihn wieder ausstößt. Tara zieht das Knie höher, hebt den Hintern, zeigt mir das Einsatzgebiet. Ich penetriere ihren Anus mit dem Zeigefinger. Weich und elastisch, fest und eng gibt sich ihre Höhle. Mehr Nivea. Eine halbe Minute lasse ich Tara liegen, quäle sie mit ihrer Geilheit, bis sie ungeduldig mit dem Arsch rollt. Alles liegt vor mir, die fickfeine Kerbe ihrer tropfnassen Fotzenfurt, die von Speichel und warmer Hautcreme glänzenden Gipfel ihres zuckersüßen Arschgebirges. Ich spucke ihr einen halben Liter Geilschmiere auf den Anus, so dass ich jetzt mit einem zweiten, dritten Finger in sie eindringen kann. Tara stöhnt. Die Spannung der Haut, ihr Widerstand, ein Schmerzlustparcours. Hart und krumm steht mein Stoßzahn, lang bis zum Nabel. Wenn ich sie jetzt nicht ficke, kriege ich Mumps. Ich stelle mich hinter sie, federnd in den Knien, bis die Höhe stimmt. Mit der Rechten packe ich mein Ding, lege die Spitze in den von Schlibberschlabber und geschäumter Creme strotzenden Sphinkter. Ich gehe höher, beuge mich über sie, dosiere den Druck. Nach und nach bedrängen weitere Portionen meines Gewichts ihren Muskel, der sich langsam entspannt. Jetzt ist es soweit, die Eichel ist eingeparkt. Ich fasse um Lenkis Hintern, streiche ihren Rücken, greife ihr Haar, durchkämme es mit den Fingern, ertaste die Brüste, massiere sie, bevor ich den Schwanz mit einem Stoß bis zum Anschlag in sie ramme. Ksssst. Autsch. Schmerz verzieht Taras Gesicht. Ich gehe raus. Sie schüttelt den Kopf, wichst sich die Klit, zappelt weiter! weiter! Ich tauche neu ein, fange an, das Becken vor und zurück zu schieben, langsam, dann schneller, bis der Reflex übernimmt und alles automatisch wird. Es dauert nicht lange, ich fühle die Ohnmacht nahen. Mein kleiner Astronaut, verloren im All Ihres Astralarschs, geschützt vom Helm seiner Vorhaut. Kein Kackkontakt, null störende Noppen. Nur Weite, konturloser, unendlicher Raum. Eine Welle schöpfungswilliger Geilheit droht, über mir zu brechen, mich wegzuspülen, zurück auf den vermüllten Strand postcoitaler Dysphorie, kommen hieße gehen, bloß also jetzt nicht den Kopf verlieren. Ich leiste mir einen Flashback, zwinge den Augenblick zu verweilen, mein Hirn zurück zu spurten zu dem Streit, der einsetzt, kaum ist Mohel Childers weg. Wie wird es sein, wenn der Beschneider hat, was er und Tara wollen? Wird der Kosmonaut sich helmlos und nackt noch schmerzfrei rauswagen in die lichtfernen Winkel ultimativer Geilaxie?

Was ist? Tara dreht sich auf den Rücken, ich verlasse sie, sie packt mein Rohr, steckt es an seinen Platz zurück. Komm! Sieh mich an!

Die 797 durchschoss ein paar Dutzend Meilen Luftraum, ohne dass einer von uns etwas sagte. Darf ich was fragen, meldete ich mich schließlich zu Wort.

Nicole nickte. Ich fühlte mich ermutigt: Lenki und diese Tara – die sind identisch?

Darauf kannst du einen lassen.

Aha. Zwei Namen für eine Person. Wozu machst du es deinen Lesern so schwer?

Leser? Was denn für Leser? Es gibt keine Leser. Es braucht keine. Es gibt nur Tara. Tara alias Lenki alias Mbele alias Danay. Lenki war ihr Spitzname. Den bekam sie von mir. Geboren ist sie in Uganda, als Mbele. Davor, bei ihrer brasilianischen Adoptivfamilie, hieß sie Danay. Tara hat sie sich später selbst genannt. Das war ihre Entscheidung. Tara. Wie das Gewicht der Welt nur ohne Welt. War’s das?

Und sie ist Jüdin?

Nicole schüttelte nickend den Kopf.

Noch jemand aus dem Club?

Vielleicht seine Ehrenvorsitzende. Jedenfalls zu kompliziert, um es in ein paar Sätzen zu sagen. Du willst den Kram nicht lesen – ist okay für mich. Also, wenn du keine weiteren Fragen hast, lass uns jetzt schlafen. Du wirst deinen Schönheitsschlaf brauchen. Oder willst du bei deiner Rede zum 100. Jahrestag der Bücherverbrennung aussehen wie einer, der damals das Streichholz besorgt hat?

Warum diese – na ja, Direktheit? Du glaubst doch nicht, ich schreibe einen Porno für dich. So nämlich klingt es. Es verletzt jeden Anstand. Ich muss an mein Image denken. Für kein Geld der Welt versaue ich meine Karriere mit solchem – Schweinkram.

Wie gesagt. Es ist meine Perspektive. Was dabei rauskommt, wenn du es aus Taras Sicht erzählst, wird man ja sehen.

Was ich gelesen habe – ich zeigte auf das Tablet – ist, was es ist. Egal aus welchem Blickwinkel man es betrachtet. Ein, ähm, wie nennt man es …?

Arschfick bleibt Arschfick – willst du das sagen?

Herrje. Ängstlich sah ich mich um, senkte die Stimme, Ich dachte, es geht um Liebe.

Klar geht’s um die, nickte Nicole. Dann schüttelte sie den Kopf: Es geht nicht um Liebe. Es gibt keine Liebe.

Es geht um Liebe – und auch wieder nicht?

Vielleicht.

Das nächste Problem! Zu viele Namen – kein klares Thema.

Es gibt keine Liebe, sagte Nicole, nicht nach Ausschwitz. Sie wirkte ernst. Nach einer Pause fügte sie hinzu: Adorno. Schon mal gehört? Theodor Wiesengrund Adorno. Ein ziemlich Großer. Er sagte: Es gibt keine Poesie nach Auschwitz.

Ja, weiß ich, hat er gesagt. Später hat er das relativiert.

Um es im Grunde noch radikaler zu postulieren. Ich darf zitieren: Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.

Chapeau, da kennt einer …

… seine Horkheimer. Korrekt. Adorno wusste vielleicht nicht, wo das Reflexivpronomen hingehört. Aber was Sache ist, hat er gepeilt: Wo Leben moralisch nicht mehr möglich ist, muss Liebe von vornherein amoralisch sein. Nur als Pornografie kann sie noch funktionieren.

Holla. Und deshalb jetzt dieser – Schund? Mir scheint, als ob du dir da was vormachst.

Ach ja?

Du nutzt einen Vertreter der Frankfurter Schule als Rechtfertigung für einen, sagen wir mal, leicht pennälerhaften Blick auf die Liebe.

Die Liebe?

Nähe, Beziehung, das ganze Zeug.

Pennälerhaft? Sagt wer? Der verklemmte Jungautor, der sich weigert, einer alten Dame seinen Lurch zu zeigen, damit sie weiß, ob er verfickt nochmal beschnitten ist?

Nicht das jetzt wieder! Geräuschvoll riss ich die Klappe über dem Fenster auf und betrachtete die Sterne. In was war ich da reingerasselt. Prüften diese Fluggesellschaften denn nicht, ob ihre Passagiere noch alle Tassen im Schrank hatten?

Du bist ein ganz Hübscher, hörte ich Nicole gurren, Du schaust dir die Sterne an, dabei ist deine Anmut kein geringeres Wunder, Miguel Calderon Gutiérrez.

Ich seufzte. Sie muss es als Zeichen der Zustimmung verkannt haben, denn sie wurde umgehend wieder kess: Was ist, schöner Bengel, zeigst du der Lady deinen Schwengel?

Laut stöhnend kniff ich die Augen zusammen so fest ich konnte. Der Grad der Peinlichkeit hatte ein Niveau erreicht, dem mit Worten kaum beizukommen war. Auge um Auge, Übergriff um Übergriff. Ich leerte ihren Whiskey in einem Zug, knallte das leere Glas, unter dem noch mein Becher klebte, auf ihren Klapptisch zurück und schüttelte mich: Brrrr!!!!

Gilt dieses Brrr! dem Whiskey oder meinem Ansinnen, mit dir aufs Klo zu gehen?

Warum ich! Ausgerechnet ICH! Ich bin nicht der einzige südamerikanische Jungschriftsteller. Nicht mal der einzige mit semitischer Cuvée im Genmix. Angehende Autoren gibt es wie Sa …

… gen wir lieber Altersflecken auf einer Greisinnen-Haut? Wie du siehst – ich bewahre dich vor Stereotypen. Ich bringe dir schreiben bei. Du solltest dankbar sein!

WARUM ICH?

Hab ich doch schon gesagt. Ich mag dein Buch. Dreiundzwanzig Stories über Nine Eleven. Für jemanden, der, als das geschah, noch nicht einmal Mamita sagen konnte, geschweige denn laufen, eine recht beachtliche Fantasieleistung.

Danke. Gibt es eine Geschichte, die dir besonders gefiel? Eine Art Lieblingsepisode? Wenn ja – welche?

Nicole griff nach dem Trinkgefäß, sah, dass es leer war, stellte es zurück auf seinen Platz. Während sie sprach, trennte sie ihren Becher von meinem, Ich fand sie alle gut. Eine besser als die andere. Wirklich. Ich war begeistert. Von jeder einzelnen.

Sehr schmeichelhaft. Aber man hat doch immer irgendwelche Favoriten.

Na ja, da war … diese eine … wo, du weißt schon, mit den zwei, äh …

Video-Jungs? Die zwei aus Soho, die einen auf Num June Paik machen?

Ja, genau. Die besonders. Die mit den Video-Jungs. Wie war das noch mal?

Na ja – die beiden installieren Ihre Videokunst in Fenstern, so dünn, dass man sie nicht als Monitore erkennt. Trompe-l’œil 2.0. Es geht ihnen darum, wie die Menschen auf die Täuschung reagieren. Einmal filmen sie ein Bewerbungsgespräch von einer jungen Frau im achtunddreißigsten Stock des Sony Buildings. Die Bewerberin schaut, während sie die Fragen des HR Managers beantwortet zum Fenster. Plötzlich sieht sie dort King Kong zwischen den Wolkenkratzern spazieren und mächtig Chaos anrichten. Menschen wirbeln durch die Luft, Autos werden geknackt wie Paranüsse. Die Bewerberin bekommt Panik, weiß nicht, ob sie den Sony-Mann warnen soll oder einfach weglaufen. Sie hat keine Ahnung, dass die Fenster Bildschirme sind. Dieses Video geht viral. Die Jungs werden berühmt. Alle möglichen Firmen machen sich an sie ran. Die zwei lassen in der Folge UFOs landen, Tsunamis rollen, und eines Tages präsentieren sie vor der USA Marsh, wie man Investoren sensibilisieren kann für Themen wie Insurance Broking und Risk Management etc. Na ja, am Tag, als die Präsentation im 93. Stock stattfinden soll, stimmt was nicht mit dem Konferenzraum. Sie werden umquartiert in einen Konfi auf Stockwerk 100 und schaffen es nicht mehr, die Fenster rechtzeitig gegen ihre Monitore auszutauschen. Die zwölf Marketingmanager in ihren Maßanzügen wissen das aber nicht. Als sich ein riesiges Flugzeug den Fenstern nähert, erschrecken sie erst, grinsen dann breit, erheben sich schließlich wie ein Mann von ihren Sitzen und klatschen begeistert. Es wird ihr letzter Applaus, ist ihre letzte Präsentation. Natürlich auch für die Video-Jungs aus Soho. War es die?

Ja, genau. Das war super. Meine absolute Lieblingsgeschichte.

Tja. Meine auch. Dumm nur, dass ich sie mir gerade ausgedacht habe. Die war nicht drin im Erzählband. Kein Verlag, der einen Ruf zu verlieren hat, würde so einen Schwachsinn drucken. Du lügst mich an. Du hast Below Zero nie gelesen. Nicht eine Zeile. Du belügst dich selbst. Das merkt man an deinem Text. Es läuft nicht. Nicht so jedenfalls.

Nicole griff nach der Flasche, die im Gepäcknetz über ihren Füßen verstaut war. Sie schraubte sie auf und goss nach. Als sie den gläsernen Hals meinem Glas näherte, hob ich abwehrend die Hand: Ich habe genug. Von allem. Vom Fusel ebenso wie von deinen Lügen.

Hast du auch genug Geld? Nicole nippte und ließ den Whiskey geräuschvoll zwischen ihren Zähnen kaskadieren, Ich meine, reden wir Tacheles. Was hat dein Büchlein denn schon gebracht? Ihr Jungautoren nagt doch am Hungertuch, mehr oder weniger, gib es ruhig zu. Acht Prozent vom Verkaufspreis! Beim nächsten Werk dann vielleicht zehn. Dreißig Prozent davon gehen an deinen Agenten. Wieviel hast du verkauft? Zweihunderttausend? Dreihundert? Nicht schlecht. Aber reicht das zum Leben? In einer Stadt wie New York? Vermutlich hast du noch nicht mal den Vorschuss wieder raus. Mit Glück wird dein nächster Wurf ein Hit. Hollywood kauft die Rechte. Aber wenn du Pech hast, wird es ein Flop. Dann bist du weg vom Fenster wie deine Video–Boys. Fährst Taxi, übersetzt weiter deutschen Schund fürs Goethe Institut oder unterrichtest Träumer wie dich in fucking Creative Writing. Typen, die du anguckst und denkst: Du schaffst es eh nie. Die wiederum sagen sich, während sie tun als hingen sie an deinen Lippen: Was willst du Arschloch denn? Hättest du einen Plan von Büchern, würdest du welche schreiben statt hier dumm rumzulabern.

Nicole beugte sich nach vorn, hielt die Gläser fest, klappte den Tisch hoch und zückte erneut ihr Tablet, Ich biete dir eine Zukunft in finanzieller Unabhängigkeit. Ohne Geldsorgen. Du musst nur machen, was ich dir sage. Wie hört sich das an? Leben, wo du willst. Schreiben, was dir passt. Was sagst du?

Auf dem Bildschirm leuchtete eine Seite auf. TESTAMENT war sie überschrieben, und dann: Mein letzter Wille. Vor einer Linie, die freigeblieben und schwarz war, gezogen knapp unterhalb der Schrifthöhe, las ich: Ich, Nicole Fischer, geboren als Nicolaus Johannes Benjamin Fischer, zu Schlierbach bei Heidelberg am 13. Februar 1956 ordne hiermit an, dass mein gesamtes Vermögen an … Nicole zog einen Smartpen und setzte ihn an, knapp oberhalb des leeren Feldes über der Linie, Gutierrez mit einem R oder mit zwei? Und der Akzent auf dem ersten E? Ich bin kein Bill Gates. Aber das eine oder andere kam mit den Jahren zusammen. Ich besitze ein Hotel auf einer griechischen Insel. Und eine Immobilie in Hamburg. Nicht ganz City-Lage, aber das Betten-Geschäft parterre geht gut. Zusammen mit etwas Erspartem und einem Bausparvertrag hier plus einer Lebensversicherung da beläuft sich mein Vermögen auf roundabout acht Millionen. Ich brauche sie nicht mehr. Ich brauche Frieden für meine Seele – und da kommst du ins Spiel.

Nicole schrieb meinen Namen mit dem Smartpen, der ihre zittrige, kaum lesbare Handschrift unverzüglich in serifenfreie Druckbuchstaben umwandelte. Miguel Calderón Gutiérrez stand da nun als Begünstigter ihres Vermächtnisses. Sogar meinen zweiten Vornamen hatte sie recherchiert, Ich schicke das dem Notar, sobald wir Netz haben. Zusammen mit dem Vertrag. Sie wischte über die glatte Fläche, und unser Flugzeug-Winkel wurde vom Weiß eines neuen Dokuments beschienen. Es war ein Vertrag, abgefasst in einer Schrift, die ich nicht lesen konnte. Nicole erklärte: Costa, mein Notar ist Grieche. Er hat das für mich aufgesetzt. Ich will dir sagen, worum es geht. Du verpflichtest dich zu Folgendem: Dieser Flug nach Frankfurt geht, wie du weißt, über London. Du steigst in Heathrow aus. Statt deinen Weiterflug nach Deutschland zu nehmen, fährst du erstmal mit dem Taxi in die Bond Street zu Hill & Sons. An Bord dieses Flugzeugs ist ein Koffer. Den nimmst du mit. In einer Seitentasche dieses Koffers findest du ein kleines Buch. Es ist eine recht kostbare Originalausgabe der Minima Moralia von Adorno. Zwischen den Seiten des Aphorismus’ Sur l’eau findest du einen Abholschein und eine Quittung. Damit holst du eine Violine ab, die ich ersteigert und vom besten Geigenbauer Londons, ja vermutlich der Welt habe wiederaufbereiten lassen. Mit dieser Geige und dem Koffer fliegst du nach Berlin. Dein Flug nach Brandenburg BER geht noch am selben Abend. Vom Willy Brand Airport zur Innenstadt nimmst du den Shuttle, das geht am schnellsten. In Charlottenburg findet am nächsten Morgen die Bat Mizwah von Taras Enkelin statt. Die Geige ist ein Geschenk. Die Mutter der Kleinen hat sich von ihrem Mann getrennt und ist auf Männer derzeit schlecht zu sprechen. Dennoch – eine echte Guarneri del Gesú sollte Vertrauen aufbauen. Melanie jedenfalls ist die einzige, die dir Taras Aufenthaltsort verraten kann. Ich habe alles versucht, keine Chance. Wo immer sie auch steckt, wo immer sie sich zum Sterben zurückgezogen hat – flieg hin und rede mit ihr. Verlier keine Zeit. Bring ihr den Koffer und gib ihr seinen Inhalt.

Was ist da drin?

Ein Wasserbett. Das Wasserbett, das sie uns seinerzeit zur Hochzeit geschenkt hat. Das sollte reichen, damit sie dir erzählt. Aus ihrer Geschichte machst du ein Buch.

Was für ein Unsinn! Wasserbett! Geige! Koffer! London! Berlin! Völliger Quatsch. Woher soll ich wissen, dass das funktioniert? Wer soll das glauben?

Hör dir meine Geschichte an. Dann glaubst du es nicht nur, dann weißt du es.

Warum machst du es nicht selbst?

Was mich betrifft – ich habe andere Pläne. Gleich wenn wir landen, geht es los. Aber den Koffer, den hole ich für dich noch vom Gepäckband.

Nicole goss sich einen Schluck Macallan ein und spülte damit ihre maroden Zähne. Geräuschvoll passierte der Schnaps ihre Gurgel. Er ließ den Adamsapfel unter ihrem gebräunten, faltigen Hals hüpfen. Düster starrte die alte Dame geradeaus.

Jetzt war ich dran. Aber ich schwieg. Acht Millionen Euro war eine Perspektive, mit der man leben konnte. Buchstäblich. Immer hatte ich gehofft, ich würde es mit der Schreiberei zu Geld bringen. Sicher sein konnte ich nicht. Wer weiß schon, was die Leute lesen wollen? Der Weg zu Ruhm und Reichtum konnte langwierig und steinig werden. Was war einzuwenden gegen eine sauber asphaltierte Abkürzung? Trotzdem konnte ich mich nicht dazu durchringen, die mir dargebotene Hand zu nehmen und zu schütteln. Doch dann geschah etwas, das alles änderte. Ein unvorhergesehenes Detail, das mein Leben neu aufstellte und das auch mir das Gefühl gab, die Begegnung zwischen Nicole und mir habe der Himmel eingefädelt.

Du willst nicht, konstatierte sie, nachdem ihre welke Hand fast eine Minute drohnengleich im Luftraum über unserer Sitzgrenze geschwebt hatte. Wieder sah es aus, als wären ihre Kontaktlinsen verrutscht. Ihre Stimme klang brüchig.

Es tut mir leid, sagte ich und berührte ihre Schulter, Ich will es selbst schaffen. Das alles wäre ein zu großes Geschenk. Aber wenn es dir wichtig ist, dann erzähle mir die Geschichte. Ein Flug über den Atlantik kann öde sein, und etwas Abwechslung täte mir gut. Schlafen kann ich nach all dem Macallan nicht. Also. Wenn du was loswerden willst – nur zu! Nimm mich als Beichtvater. Oder Beichtsohn.

Loswerden? Wohl kaum …

Nicole schob unsere Becher ineinander und steckte sie in das Gepäcknetz über ihren Füßen. Sie streifte die Pumps ab, massierte sich die Zehen und brachte nun auch ihren Sitz in die Position, die dem Liegen am nächsten kam. Sie drehte den Kopf von mir weg und schloss die Augen.

Hey, alte Dame. Nichts für ungut. Nicht böse sein, ich wollte dich nicht verletzen.

Schon gut, knarzte Nicole im Halbschlaf, Dulces sueños, pendejo.

Hey – Nic, lass uns aufs Klo gehen. Ich zeig dir, ob ich beschnitten bin oder nicht.

Haha. Lass gut sein. Das habe ich nur gesagt, um dich wach zu rütteln. Damit du aus deiner spießigen Millenial-Borniertheit herauskommst. Ich will dein Ding nicht sehen. Was soll ich damit. Ob du beschnitten bist oder nicht, geht nur dich was an. Und Gott. Da würde ich mich aber nicht zu sehr drauf verlassen. Gute Nacht.

Hey – hast du Spiele auf deinem Tablet? Filme? Ich möchte mir ein bisschen die Zeit vertreiben, während du schläfst. Vielleicht übermannt mich der Schlaf dann irgendwann auch.

Bedien dich. Nic nickte in Richtung ihres Tablets, ich zog es aus dem Fach.

Sie ruckelte auf dem Sitz, um es bequemer zu haben. Ohne sich umzudrehen murmelte sie: Die Nummer ist 130256. Mein Geburtstag. Viel Spaß.

Es zeugte von Vertrauen, dass sie mich einfach machen ließ. Ich aktivierte das Gerät, ungläubig, Ich darf es nutzen? Einfach so? Hast du keine Angst, dass ich auf Daten stoße, die besser geheim bleiben?

Geheim? Wozu denn bitte?

Na ja. Damit sie geheim sind. Weil sie nicht ganz legal sind. Weil du dich dafür schämst.

Schämst? Ich mich schämen? Ich bin eine alte Frau. Mit Scham habe ich es nicht mehr. Das letzte Mal, dass ich mich für etwas geschämt habe, hat mich gelehrt, nie wieder Zeit und Energie auf andere zu verschwenden. Und was die Legalität betrifft – drauf geschissen. Nicole drehte sich wieder um und begann zu schnarchen.

In den zwei Terrabyte ihres Tablet-Speichers fand ich ein reichhaltiges Angebot an Unterhaltungsmedien. Ganze Staffeln von Serien waren darin verborgen, Transparent 5, Prequel und Sequel von GOT, drei Spin-Offs von Breaking Bad sowie Musik aller Genres und Epochen. Ich stieß auf Dutzende von Bands, von denen ich nie gehört hatte, Grand Funk, Golden Earring, Iron Butterfly, um nur drei zu nennen, und schließlich las ich einen Namen, der bei mir etwas zum Klingen brachte. Hatte die Mutter meiner Mutter nicht Charles Trenet gehört? Jenen Franzosen, dessen traurige Heiterkeit ansteckend wirkte. Sie hatte ihn geliebt, obwohl er nicht gerade als aufrechter Antifaschist beleumundet war. Nicht uneitel genug, mich davon abzuhalten, nach meinem eigenen Werk in Nicoles Bibliothek zu forschen, stieß ich auf einen Tanach, die christliche Bibel, eine gratis Ausgabe des Heiligen Q’ran, das Buch Mormon und die Milindapanha. Below Zero? Fehlanzeige. Stattdessen fand sich ein schmales Bändchen, das betitelt war mit Reading Below Zero, eine Art Spickzettel für Englisch-Studierende. Von seiner Existenz hatte ich nichts gewusst. Ich war dabei, kanonisch zu werden. Das schmeichelte mir. Doch nach wenigen Seiten brach ich auch diese Lektüre ab.

Insgesamt war mir eher nach hören als lesen. Ich hatte keine Kopfhörer zur Hand, daher unterließ ich es, irgendeine von Nicoles Alben zu spielen, und auch die alten Serien und Filme konnten mich nicht fesseln. Nach einer Weile juckte es mich in den Fingern, doch bevor ich das fremde Tablet weglegte, klickte ich ins Fotoarchiv, im kindlichen Zwiespalt zwischen wonnigem Ekel und gruseliger Neugier, dem vom Betrachten des wohl intimsten, was Nicole einmal besessen hatte in mir zurückgebliebenen Gefühlsmix. Ich öffnete die Schwanz-Bilder nicht. Das Thumbnail eines anderen Fotos weckte mein Interesse. Das JPG war mit dem Datum der Aufnahme gekennzeichnet, als Namen diente das Kürzel MSHD. Es war das Portrait einer jungen Frau mit dunkler Haut, soviel war selbst in der Miniaturansicht erkennbar. Ich zögerte. Bevor Diskretion zwischen mich und Nicoles Tablet trat und uns trennte, obsiegte die Neugier. Ich tippte mit dem Finger auf das Bild. Es öffnete sich.

Mich traf ein Augenpaar mit einem Blick, der mich, wenngleich digital, bis ins Mark erschütterte. Mir war, als tauchte der Flieger in ein Luftloch. Mein Magen hob sich, ich sah mich um. Kein Mitreisender hatte von den Turbulenzen etwas bemerkt. Ich sah das Foto an. Ein metallisches Geräusch, als hätte die Boeing mitten in der Troposphäre das Fahrwerk ausgestoßen. Ich suchte erneut den Blick des Augenpaars. War irgendwo eine Gepäckklappe aufgesprungen, ein Koffer rausgefallen? Ich konnte nicht wegsehen von diesem Gesicht. Du hast ein Ziel, funkten meine Gedanken an mich selbst ohne mein Zutun, du bist nicht länger irgendwer, irgendwas, irgendwo. Alles ist anders. Du hast jetzt ein Ziel.

Ich beugte mich nach links und rüttelte Nicole an der Schulter: Wer ist diese Frau, wollte ich wissen, wer ist sie? Ich will sie kennenlernen? Wo wohnt sie, wie heißt sie, ich muss sie sehen!

Ach ja? Eben noch hieß es, du willst es nicht.

Ich kann nicht folgen.

Ich hatte dich gebeten, zu der Bat Mitzwa zu fahren. Nach Berlin Mitte. Erinnerst du dich? Du hast gesagt, du machst es nicht. Die Mutter von dem Mädchen, das die Geige bekommen soll – das ist sie. Melanie Serwar.

Melanie. Ein schöner Name …

Was ist los mit dir – alles in Ordnung?

Ist noch was da von dem Macallan?

So wie du aussiehst, hast du genug.

Nein, nein. Das ist nichts. Ich glaube nur, ich … bin verliebt.

Heilige Scheiße. Und jetzt?

Bitte. Erzähl mir deine Geschichte. Ich will es wissen. Jedes Wort. Gib her – ich unterschreibe.

Ungläubig prüfend sah Nicole mich an. Nach einer Weile reichte sie mir Stift und Tablet, und ich unterzeichnete die vertragliche Abmachung, die meinen Reiseplan völlig durcheinanderwerfen würde. Im Gegenzug fügte sie meinen Namen ein als Begünstigter ihres Vermächtnisses. Als dies getan war, bekräftigten wir unseren Vertrag mit einem Schluck Whiskey, von dem nur noch etwa ein Drittel in der Flasche war. Das sollte genügen für Nicoles Bericht, den ich mit dem Mikrophon meines Smartphones aufzeichnete, damit ich ihn bei Gelegenheit noch einmal hören konnte, falls Fragen an der Logik unserer Vereinbarung aufkämen. Oder für den Fall, dass mir die zu interviewende Tara nicht glauben sollte.

Wo fange ich an, zögerte die alte Dame, als es an ihr war zu erzählen.

Nun, sagte ich, einer unserer besten Dozenten, ein erfahrener Autor, Booker und Pulitzer Prize Träger, sagt in solchen Fällen: Leute, wenn ihr euch fragt, wo ihr bei einer Geschichte beginnen sollt, nehmt einfach den Anfang.

Okay, begann Nicole zögerlich, aber dann kam sie langsam in Fahrt, also – als Kind hatte ich einen Freund. Er hieß Tobi, genannt Bias. Tobias Schornak. Wir teilten so ziemlich alles. Waren jeden Nachmittag zusammen, strichen durch Wälder, lagen nebeneinander auf der Neckarwiese oder im Tiergarten-Schwimmbad, traten den Fußball, ein räudiges Stück Leder, gegen das morsche braune Tor der Einfahrt zu seinem Elternhaus, mal ich Torwart, er Stürmer, mal umgekehrt, und wenn sie uns vertrieben („haut ab!“ „Spielt woanders!“), saßen wir auf dem von Hundepisse und Birkenblüten verklebten Grenzstein vorm Haus und machten mit dem Brennglas Jagd auf Ameisen. Selten mischten wir uns unter die anderen, Kinder der Bauern und Handwerker im Dorf, die größer waren, weiterentwickelt. Wir waren wie Zwillinge, die, durch Widrigkeiten getrennt, wieder zusammengefunden hatten. Käsenasig, pickelig, klein, zart, sommersprossig, bebrillt, mit fettigem Haar, das lang und strähnig war. Was uns unterschied, war, wie es zu diesen Mähnen kam. Bias verdankte seine Frisur dem nonchalanten laisser faire et pousser seiner Eltern. Ich musste sie erkämpfen. Regelmäßig kam es zu Streit, an dessen Ende ich erkannte, dass ein Beharren auf den eigenen Kopf nichts wog gegenüber: Die Leute reden schon. Du siehst ja aus wie ein Mädchen. So gehst du mir nicht vor die Tür. Dass sich gesellschaftlicher Status damals an Haarlänge maß, war meinen Eltern schnuppe.

Lange vor meiner Geburt waren sie nach Heidelberg gekommen. Mein Vater bekleidete das Pfarramt in Schlierbach, einem schattigen Vorort zu Füßen des Königstuhls. Ich war das dritte von vier Kindern. Lukas und Matthias, älter als ich, waren Zwillinge. Meine Schwester Maria, genannt Ria, kam auf die Welt, nachdem mein Vater die Friedensgemeinde in Handschuhsheim übernommen hatte. Ja, Friedensgemeinde. Gut klingen tat’s ja, und mein Alter wurde nie müde, den Pazifismus zu betonen, den er als Mitbringsel aus Hitlers Schlachten im Tornister von der Ostfront mitgebracht hatte. Tatsächlich war es damit nicht weit her. Er schlug uns mit dem Teppichklopfer, knallte uns Bibeln an den Kopf, sperrte uns im Keller ein, wenn wir nicht artig waren. Wie anders bei Schornaks. Aus Kalifornien waren sie nach Heidelberg gekommen, gelandet in einer zum Wohnhaus umgebauten Scheune in Handschuhsheim. Bias’ Vater war Jazz-Musiker, verbandelt mit dem legendären Cave-Club in der Altstadt. Die Mutter, gebürtige Schwedin, war Professorin in Nephrologie. Als ihr die erste Nierentransplantation gelang, hatte sie ihren Moment Weltruhm, an dem die Ehe dann zerbrach. Bias’ Vater sah man nur mehr sporadisch, in schnittigen Alfas mit furzenden Motoren. Frau Larsson sorgte allein für ihre fünf Kinder, wobei ihr Liebe und Humor zur Hand gingen. Puss o kram hieß die Devise, Kuss und Umarmung. Hellblaue Augen, dicke Zöpfe, deren Blond seit der Scheidung ins Grau changierte, sie verbreiteten eine bullerbühafte Wollpulloverwärme. Wie anders die Fischers. Geküsst wurde heimlich, und nur der Rosenkranz. Mein Vater hatte darauf bestanden, dass meine Mutter Protestantin würde, bevor er sie zur Frau nahm. Sie hat’s getan – und bereut. Ein Leben lang. Die Depression kleinbürgerlich enger Seelen äußerte sich in couragiert zur Schau gestellter Beliebigkeit. Nur keine Hoffart, bitte, keine Eitelkeiten. Die großzügige Dienstwohnung mit Stillosigkeit verbaut, so war es wohlgetan dem Herrn. Anders bei Bias. Der stilistische Feinsinn seiner Mutter, ihr Händchen für Form, Farbe, Linie schufen ein Ambiente, in dem der Seele Flügel wuchsen. Designklassiker von Thonet, Mies van der Rohe, LeCorbusier, geschmackvoll kombiniert mit Erbstücken. Dazu leicht hingetupft Persönliches, etwa eine Kinderzeichnung, ein frischer Wiesenblumenstrauß, ein knorpelgrauer Treibholz-Fund. Schon aus ästhetischen Gründen hätte ich mich von Elsa adoptieren lassen, doch meine Eltern hielten irgendwie an der Idee fest, ich sei ihr Sohn. Was konnte ich tun, um sie eines Besseren zu belehren?

Nicole, ein tückisches Grinsen im Gesicht, tauchte ihren Mittelfinger in den Macallan und leckte ihn ab, Bias Halbbruder war älter als mein Freund. Er entstammte einer früheren Beziehung. Dieser Claes bewohnt einen bungalowartigen Flachbau, der seitlich an die Scheune angebracht war, groß wie eine Doppelgarage und architektonische ähnlich reizlos, aber in der Mitte stand ein Wasserbett, das auch nur anzuschauen für uns Zwerge verboten war. Eines Tages, noch ganz zu Anfang unserer Freundschaft, bekam ich mit, wie ein kleines schwarzes Mädchen mit nackten Füßen auf diesem Bett rumhopste. Wie eine Furie stürzte Claes sich auf die Kleine und riss sie runter. Sie weinte und versteckte sich unterm Rock von Frau Schornak, die sie mit Puss o Kram erstversorgte. Die Kleine war, wie ich erfuhr, Adoptivkind brasilianischer Kollegen von Bias Mama, die bei der WHO arbeiteten und in Heidelberg zu Besuch waren. Sie hatten das Mädchen aus einem Waisenhaus in Uganda befreit und nannten sie Danay. Eine Weile sprach Bias von nichts anderem. Der Grad seiner Verliebtheit war der eines ernsthaften Romeos, nicht der eines Achtjährigen. Ich hatte mich ebenfalls in sie verguckt, was er gespürt hat. Er sagte, als wir einmal Rothändle rauchend im schwarzen Einspänner saßen, der den Weg zum Haus zierend bei mancher Party als museales Séparée diente: Lass die Finger von der, verstanden? Wir spielten Autoquartett. Zigarettenrauch biss ihm ins Auge. Lässig kassierte Tobi meinen Jaguar E, den er mir durch taktisches Herumreiten auf der Vier-Zylinder-Vier-Takt-Frage abgezockt hatte. Hubraum? Lass deine Wichsgriffel von der, sonst … drohend formte er mit der Hand eine Schusswaffe, die exakt zwischen meine Augen zielte. Augen, die jetzt, Jahre später, folgendes sahen: Claes, wie er das Wasserbett strich. Tiefes Schwarz zierte Ecken und Kanten, dazu ein neonhelles Grün rings um den Rahmen. Claes besaß eine Schwarzlichtlampe. Vermutlich würde dieses Grün im Dunkeln leuchten. Wie er an all das kam, war ebenso rätselhaft wie der auf dem Klo sitzende und offenbar kackende Zappa oder der wuschelköpfige, weggetretene Jimmy Hendrix an den getünchten Betonwänden.

Was willst du, fuhr mich Claes an, auch er eine glimmende Rothändle zwischen den Lippen.

Zusehen wie du malst, gestand ich.

Verschwinde!

Ich ging zur Küche, wo es nach frischem Kappes-Brot roch, das Frau Schornak aus der besten Bäckerei Heidelbergs besorgte. Die Durchreiche der modernen Küche gestattete mir zu verfolgen, was mit dem Wasserbett geschah. Claes hatte sich Schrift-Schablonen besorgt, die er mit schwarzem Lack besprühte. Bald entstanden luftige Druckbuchstaben auf den Bettflanken. FUCKING IS HOLY war da jetzt zu lesen.

Wenige Tage später gab es bei uns Suppe als Vorspeise zum Sonntagsbraten. Das Tischgebet war gesprochen, die üblichen Ermahnungen, uns zu benehmen bereits erfolgt, knapp war ich der Verbannung vom Tisch entgangen, die Zwillinge hatten was abgekriegt, aber nur lässliches Ziehen am kurzen Schläfenhaar, was sie aufjaulen ließ, wodurch Ria zu weinen begann. Lang lebe der Sonntagsfrieden. Es schellte an der Tür. Vater ging öffnen. Als er zurückkam, sah er mich mit den Krücken meiner Mutter albern. Sie hatte sich ein paar Tage zuvor den Knöchel gebrochen. Er nahm mir die Gehhilfen ab, schüttelte den Kopf, knurrte, nichts, aber auch gar nichts auf der Welt sei mir heilig. Wortlos schob ich ihm meinen Teller hin, auf dessen Rand ich, obschon zu jung für den praktische Aspekt, eine in Suppennudeln abgefasste Kopie des Wasserbett-Mantras geschrieben hatte. Mein Vater brauchte, bis er verstand, dass die hüpfenden Teig-Zeichen nicht zufällig gelegt waren, sondern in einem Idiom, in dem sie Sinn ergaben, wenn auch nicht in dem, was er Sinn nannte. Ich rechnete mit Gewalt. Aber der Teppichklopfer kam nicht. Der Grad meiner Verderbtheit war nicht mehr pädagogabel. Vater sprach nie mehr mit mir, bis zum Tag meiner Hochzeit mit Tara Metzger, die zwei Jahre nach der Buchstabensuppen-Episode in mein Leben trat.

Nicole hatte eine Pause eingelegt, war zur Toilette gegangen, um Whiskey loszuwerden, wie sie sagte. Jetzt kam sie zurück, drängte sich auf ihren Pumps staksend und mit seiltänzerisch erhobenen Händen an der schlafenden Dame links von ihrem Platz vorbei und schaltete das Leselicht über uns aus. Gerade noch konnte ich erkennen, dass sie den Kopf schüttelte, Tss, tss. Also, da war so ein junger Mann auf dem Klo. Ich musste warten. Halb so alt wie du, Mig. Wie der mich angesehen hat! Ja, die Geschichte. Schon seltsam. Mir kommt es vor, als drehe sich alles nur um die Art, wie wir einander anschauen. Als ich so jung war wie dieser Typ, da haben wir genauso gegafft. Waren aufeinander neugierig. Prüften jeden, ob da was ging. Damit habt ihr Schluss gemacht. Ihr Millenials mit eurer ewigen Angst vor allem. Zuviel Rom, zu viel HIV. Doch diese jungen AI – wie nennt ihr sie gleich?

Artificial intelligence device alienated sociopaths, kurz AIDAS.

Genau. Die glotzen jedenfalls wieder. Knallen dir ihre Blicke rücksichtlos gegen die okularen Glaskörper, bis sie herausgefunden haben, ob dein Wegschau-Reflex menschlicher Schüchternheit folgt oder lediglich der maschinellen Simulation desselben. Dabei – was sollte es für einen Sinn machen, Roboter wie mich zu bauen, eine alte Frau mit welker Haut und Kropf? Als Pornopuppe für Männer mit abartigen Vorlieben? Aber zurück zum Thema. Wo waren wir stehengeblieben?

Tara trat in dein Leben.

Das habe ich gesagt? Dann korrigiere ich hiermit: Unser Leben. Denn es war klar, dass Bias und ich uns in dasselbe Mädchen verlieben würden. Also setzte ich alles daran, dass keiner sie bekam. Unsere Freundschaft war heilig. Das sagte ich ihm. Tobias sah mich an: Heilig? Was soll das heißen? Vier Zylinder, vier Takt. Glaubst du an Gott?

Ich nickte. War irgendwie selbstverständlich. Hatte nie groß darüber nachgedacht. Dass man auch nicht an Gott glauben konnte, hatte meine katholisch-protestantisch geprägte Fantasie einfach nie erreicht. Du etwa nicht, fragte ich Bias, der lächelnd den Kopf schüttelte. Jetzt klaffte ein zweiter Abgrund zwischen uns, denn noch etwas war passiert. Er war gewachsen. Heimlich aber mit der Unbeirrtheit eines Judas war aus dem kleinen Schornak ein dünner Schlacks geworden, der mich um einen Kopf überragte. Mit einem Messer gingen wir in den Wald, um Blutsbrüder zu werden, schafften es aber nicht, einander in die Hände zu ritzen.

Hör zu, Schwachkopf, sagte Tobias, das mit dem Blut ist Blödsinn. Lass es uns anders machen. Trinken wir zusammen einen Liter aus dem Wasserbett.

Das taten wir. Claes, der mit Trips dealte, war verhaftet worden und saß im Faulen Pelz in U-Haft. Wir knackten die verschlossene Zimmertür, entfernten die Wäsche vom Bett, schraubten den Verschluss auf und füllten durch Ansaugen des Schlauchs zwei Liter in eine leere Milchflasche. Anschließend tranken wir die lauwarme Flüssigkeit, die nach Chemie und Fahrradschlauch schmeckte. Danach füllten wir die Flasche jeder mit seiner Pisse und gossen es zurück ins Bett für den Fall, Claes könne nach seinem Freispruch die fehlenden zwei Liter vermissen.

Aber noch nicht genug gefrevelt. Nebeneinander legten wir uns auf das Bett und schworen bei allem, was uns heilig war. Für Bias war es das Gitarrenspiel Julian Breams. Keiner spielte De Fallas La Vida breve wie dieser. So wie Breams Finger auf den Seiten tanzten wollte auch Tobi das Instrument beherrschen.

Was es für mich war, sagte ich nicht. Im Bücherschrank meiner Eltern gab es einen Bildband. Er hieß: Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr. Die deutschen Verbrecher dokumentierten darin mit unverhohlenem Stolz, wie sie die jüdischen Menschen in Polens Hauptstadt vor ihrer Ermordung drangsalierten. Ein Junge war darauf zu sehen, vielleicht zehn, die Augen weit geöffnet, die Hände ausgestreckt nach oben. Eine Schirmmütze sitzt auf seinem Kopf. Er steht einem SS-Mann gegenüber, dessen Gewehr man nicht sieht. Ich will nicht werden wie mein Vater, dachte ich, auf dem plätschernden Wasser. Dann: Habe ich irgendwann mal einen Sohn, soll er japanisch sein, außerirdisch, jüdisch oder was auch immer, aber nicht Deutsch. Auf keinen Fall. Das behielt ich für mich. Wir schüttelten einander die Hand – Bias und ich. Wir würden beide auf das schönste Mädchen der Welt verzichten. Um unserer Freundschaft willen. Ein heiliger Eid auf einem heiligen Bett.

Den du verraten hast, griff ich den Dingen vor, denn ich ahnte, worauf es hinauslief. Im Dunkeln tastete Nicole nach dem Tablet und öffnete den Tanach, also das dreiteilige Kompendium aus Thora, Propheten und Schriften, das die jüdische Bibel darstellt: Kennst du die Geschichte von Adam und Eva im Paradies?

Ich schüttelte den Kopf. TL;DR, sagte ich, too long – didn’t read.

Verstehe. Und ja, die Bibel ist kein Trump-Tweed, auch keine Short Story, aber gerade was das erste Liebespaar der Geschichte betrifft, hätte sie nach meinem Geschmack etwas ausführlicher sein können. Was ist mit: Adam nahm den Apfel und roch daran, dann gab er ihn zurück? Oder: Er polierte den Apfel auf seiner blanken Arschhaut, bis die Frucht glänzte und er sich in ihr spiegeln konnte? Wie steht’s mit: Und Adam grub den seit Jahren nicht geschnittenen Nagel seines kleinen Fingers durch die platzende Apfelhaut und schmeckte mit der Zungenspitze den schäumenden Saft, der aus der Frucht austrat? Ich will damit …

Ihr habt es nicht sofort getrieben. Das drückst du damit aus.

Bingo. So könnte man es sagen.

Nächstes Jahr in Bratislava

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