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Der Tag des Einzuges für die Bewohner war gekommen. Christin sowie ihre anderen Kolleginnen und Kollegen fanden sich morgens um sieben Uhr in der Seniorenresidenz ein, um die älteren Herrschaften am Anreisetag zu begrüßen, einzuweisen und auf ihre Zimmer zu begleiten. Ab Punkt acht Uhr stand das komplette Personal, jeder mit einem Schreibbrett unter dem Arm, auf dem die Neuankömmlinge mit Namen und Zimmernummern vermerkt waren, in der Hofeinfahrt bereit. An diesem Tag wurden achtzehn Senioren erwartet und Christin war ziemlich aufgeregt. Der erste Wagen, ein großer silberfarbener Mercedes, rollte mit knirschenden Geräuschen die Einfahrt hoch und kam vor dem Eingangsportal zum Stehen. Der Fahrer, ein junger Mann um die fünfunddreißig, stieg aus, streckte sich ausgiebig und ging um den Wagen herum. Er öffnete die hintere Tür und reichte seine Hand hinein. Er half einer ergrauten elegant gekleideten Frau aus dem Auto heraus, übergab ihr einen Gehstock und ging schnellen Schrittes auf die andere Seite seines Mercedes. Dort wiederholte sich das ganze Spiel mit fast demselben Ergebnis. Eine weitere Dame mit grauem Haar stieg aus und sie sah der ersten Frau ziemlich ähnlich. Der Unterschied war kaum zu bemerken, nur, dass eine Lady ein helles, fast weißes Kostüm trug und die andere ein zart fliederfarbenes Ensemble anhatte und keinen Gehstock benötigte.

Christin schaute auf ihr Schreibbrett und blätterte in der Liste. Sie konnte sich daran erinnern, dass sie in der Spalte der Zimmernummern zwei Namen mit dem Vermerk Schwestern gelesen hatte. Das mussten sie sein; Frau Käthe Sickendick und Frau Gertraude Hohenstein. Herr Feist, der in einem edlen schwarzen Anzug mit Hemd und Krawatte neben Christin stand, löste sich aus der Gruppe und ging mit einem breiten Lächeln auf die beiden Seniorinnen zu, um sie auf das allerherzlichste zu begrüßen. Überschwänglich schüttelte er ihnen die Hände und man merkte ihm dabei seine Aufregung an. Er war sehr darauf bedacht, dass heute am Eröffnungstag alles glatt und reibungslos ablief. Er drehte sich um und schaute geradewegs auf Christin. Er streckte die Hand zu ihr aus und wandte sich an die beiden Damen.

»Darf ich Ihnen unsere Frau Berger vorstellen? Frau Berger wird sich Ihrer annehmen und Ihnen Ihre Zimmer zeigen. Sollten Sie Fragen haben oder irgendetwas vermissen, so können Sie sich vertrauensvoll an unsere Frau Berger wenden.«

Christin machte einen Schritt nach vorne und war fast versucht, einen Knicks vor diesen eleganten Damen zu machen. Sie räusperte sich kurz, ging dann aber schnurstracks auf die beiden Frauen zu.

»Guten Tag Frau Sickendick, guten Tag Frau Hohenstein. Wie Herr Feist soeben erwähnte, mein Name ist Berger. Sie können aber auch gerne Christin zu mir sagen«, sprach sie die beiden mit einem Lächeln an. »Ich werde Ihnen Ihre Zimmer zeigen, das Gepäck wird unser Hausmeister Herr Kerner hinterherbringen. Wenn Sie mir bitte folgen ...« Christin machte eine einladende Handbewegung in Richtung des Hauses. Sie betraten die Eingangshalle und die beiden Damen blieben mit einigen »Aahs« und »Oohs« stehen.

Die Halle war es aber auch wert, solche Ausrufe hervorzulocken. Auf der linken Seite stand ein großer weißer Flügel mit einem Klavierhocker davor und spielte die Melodie von Richard Clayderman. Überall standen kleine und große Vasen mit frischen Blumen und an den hellen Wänden hingen Bilder in dezenten Farben.

An der Rezeption stand Frau Bleiken, eine Mittvierzigerin, die hier, da ihre Kinder nun fast erwachsen waren, eine neue Arbeitsstelle gefunden hat. Frau Bleiken erkundigte sich nach den Namen der beiden Neuankömmlinge und gab die Zimmerschlüssel heraus. Frau Sickendick und Frau Hohenstein hatten ein großes Doppelzimmer mit Durchgangstür gebucht, ebenerdig mit großer Terrasse und Blick aufs Meer.

Die Zimmer Nummer 5 und 5a lagen am Ende des Flures, fernab von der Rezeption und den beiden Fahrstühlen, die sich gleich am Anfang des Empfangs befanden. Christin ging voran und schloss die erste Tür auf. Sie öffnete sie weit und betrat das Zimmer, auf dem Fuße folgten die beiden Schwestern. Das Zimmer war in einem zarten Gelb gehalten und freundlich eingerichtet. Mit Absicht wurde darauf verzichtet, die Räume mit allzu viel Deko auszustatten, denn jeder Bewohner sollte die Möglichkeit erhalten, sein neues Wohndomizil individuell zu gestalten und Erinnerungsstücke wie Bilder oder Sonstiges hier unterzubringen.

Der Raum hatte die Größe von vierundzwanzig Quadratmetern, war quadratisch und hatte ein großes Fenster. Daneben war das große Terrassenfenster, alles umgeben von weißen, schlichten Gardinen. Der Fußbodenbelag war aus hellem Parkettboden und die Möbel ebenfalls aus hellem Holz. Auf dem Tisch lag eine Tischdecke mit einem dezenten Muster und eine Vase mit frischen Sommerblumen bot dem Betrachter einen netten Anblick. Frau Sickendick ging zur Durchgangstür und öffnete sie. Sie stand in einem gleich eingerichteten Zimmer wie eben, nur dass die Möbel und die Fenster spiegelverkehrt angeordnet waren. Es klopfte an der Tür. Herr Kerner stand mit dem jungen Mann, der die beiden Damen zur Seniorenresidenz begleitet hatte, vor der Tür. Herr Kerner hatte einen großen Rollwagen dabei, mit Unmengen von Koffern und Taschen beladen.

»Na Tante Käthe, wie gefällt es dir hier?«, fragte der Neffe und drückte Frau Sickendick.

Der junge Mann zwinkerte Christin zu und sagte: »Meine Tante hatte doch ein klein wenig Bedenken, als sie das hier buchte«, griente er. »Sie hatte das ganze Objekt nämlich nur auf meinen Computer gesehen und hatte Angst, auf einen Trick hereinzufallen. Sie war in Sorge, dass diese Residenz gar nicht existiert und Kriminelle mit ihrem Geld, was sie hier als Anzahlung geleistet hatte, durchbrennen würden.«

»Markus, was soll das?«, unterbrach Frau Sickendick das Gerede ihres Neffen und warf ihm einen erbosten Blick zu.

»Na war doch so«, erwiderte Markus. »Erst als ich vor vier Wochen hierhergefahren bin und mich von der Existenz der Seniorenresidenz überzeugt hatte, hast du Ruhe gegeben. Tante Gertraude hat nicht so herumgezetert«, schmunzelte er.

»Was habe ich nicht gemacht?«, kam ein schmales Stimmchen aus dem Nebenraum. Frau Hohenstein trippelte in das Zimmer.

»Ach nichts Tantchen, alles gut«, sagte Markus. Er wollte keinen Streit anfangen und ging zur Terrassentür, zog die Gardinen zur Seite und öffnete die Tür. Er trat hinaus und seine beiden Tanten taten es ihm gleich. Man hörte das Meer rauschen, einige Möwen zogen kreischend ihre Runden und es umgab sie eine himmlische Ruhe.

»Wie herrlich«, murmelte Tante Käthe und schloss die Augen. »Hier können wir in Ruhe alt werden!«

Alle lachten und es herrschte wieder Frieden unter ihnen.

Ein Bewohner nach dem anderen trudelte im Laufe des Vormittags in der Residenz Seestern ein. Christin hatte alle Hände voll zu tun und es herrschte ein reges Treiben auf den Fluren. Der arme Hausmeister Herr Kerner brachte unermüdlich sämtliches Gepäck aller Bewohner in deren Zimmer, schnaufte ziemlich viel dabei und in der letzten Runde hielt er sich den Rücken.

»Ich hoffe, das war die letzte Ladung, ich kann nicht mehr. Mein Rücken macht das nicht mehr lange mit«, stöhnte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Nun hab dich mal nicht so. Bist doch noch ein junges Bürschchen«, ertönte eine dröhnende Stimme hinter ihm. Herr Kerner drehte sich um und sah den letzten ankommenden Gast des Hauses: Herr Schiefelbein aus Berlin. Er war ein kräftiger, großer Mann und ehemaliger Fleischermeister. Er war achtundsiebzig Jahre alt und hatte Hände wie Pranken. Der Kopf saß direkt auf den Schultern und man konnte meinen, er hätte keinen Hals. Über seinen riesigen strammen Bauch spannte sich ein buntes Hawaiihemd in Größe XXL und seine dünnen Beinchen, die so gar nicht zu seinem Körperbau passten, steckten in kurze Shorts. Er lachte donnernd und einige der Senioren, die sich ebenfalls auf dem Flur befanden, zuckten erschrocken zusammen. Herr Kerner quälte sich ein Lächeln ab und sah zu, dass er schnellstens verschwand. Seine Dienste wurden nicht mehr benötigt und er sehnte sich nach einem Liegestuhl und einem kühlen Bier.

Gegen zwölf Uhr Mittag kehrte Ruhe in der Residenz Seestern ein. Alle achtzehn Bewohner waren wohlbehalten angekommen und hatten ihre Zimmer bezogen. Christin machte mit dem Pfleger Johannes, einem sechsundzwanzigjährigen gebürtigen Sylter die Runde von Zimmer zu Zimmer und bat sämtliche Bewohner, sich zum gemeinschaftlichen Mittagessen in dem großen Salon einzufinden. An der letzten Tür – Zimmer 18 – blieb sie ratlos stehen. Auch nach mehrmaligem Klopfen kam keine Reaktion aus dem Zimmer. Sie zog ihre Liste vom frühen Morgen aus der Tasche, um zu schauen, wer dieses Zimmer bezogen hatte. Herr Heinrich Westphal aus Dortmund, dreiundsiebzig Jahre alt, stand auf ihrer Liste.

Sie klopfte nochmals – diesmal etwas kräftiger – und blieb weiter abwartend vor der Tür stehen. Sie hatte bereits ihre Hand auf die Klinke gelegt, als die Tür sich plötzlich öffnete. Herr Westphal stand vor ihr und schaute sie fragend an. Er nestelte an seiner runden Brille, in der linken Hand hielt er ein dickes Buch.

»Ach entschuldigen Sie, hatten Sie schon mal geklopft?«, fragte der ältere Herr. »Ich saß auf dem Balkon und hatte gelesen.« Herr Westphal war ein kleiner schmaler Mann mit schütterem grauem Haar und trug einen hellbraunen Sommeranzug, das weiße Hemd darunter war am Kragen etwas geöffnet. Er sah aus wie ein Professor oder ein Oberschullehrer, fand Christin, als sie ihn betrachtete.

»Ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, dass wir uns alle in zwanzig Minuten zu einem Willkommensessen im großen Salon zusammenfinden. Ich würde mich freuen, wenn Sie ebenfalls dort erscheinen.« Christin strahlte ihn an.

»Aber gerne, vielen Dank für die Einladung«, sagte er und lächelte zurück.

Residenz Seestern: Nie zu alt für eine neue Liebe

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