Читать книгу NACHT ÜBER DUNKELHEIT - M. D. REDWOOD - Страница 4
2. Kapitel: Alles im Eimer
Оглавление»So, das ist meine Geschichte«, schloss Volker. »Oder zumindest hat man es mir so zugetragen.«
Er war für einen noch Dreizehnjährigen recht groß und muskulös gebaut. Das war auffallend, weil an dem warmen Frühlingstag beide Jungen die Ärmel hochgekrempelt hatten. Volker hatte schwarzes Haar und ein für einen Jungen markantes Gesicht mit Hakennase. Seine Augen blitzten aufmerksam und klug, trotzdem huschte ihm immer wieder der Schalk durchs Gesicht. Er trug ein halb offenes, hellgraues Leinenhemd, das bis vor nicht allzu langer Zeit weiß gewesen war; pechschwarze Hosen, deren Farbe wohl für eine ganze Familie zum Eindunkeln der Wäsche gereicht hätte, und schwarze Reiterstiefel mit fester Sohle, die ein Vermögen kosteten.
»Und wie hast du Deine verloren?«
Vigor zuckte die Achseln. »Ganz ehrlich, ich habe keinen blassen Schimmer.«
Volker musterte den schlanken Jungen vor sich. Vigor war deutlich kleiner als Volker, aber vor allem sehr mager. Unterernährt, vermutete Volker. Vigor hatte rotbraunes bis dunkelblondes Haar, das ihm ins Gesicht fiel und ein schmales, kindliches Lausbubengesicht. Er war etwa Volkers Alter, sah allerdings doch sehr jung aus. In seinen Augen leuchtete ein Feuer, das ihn für den Sohn des Großherzogs interessant machte. Er schien gebildet und wirkte überhaupt nicht wie einer der Bauernjungen oder Knechte, die Volker bei seinen Streifzügen so über den Weg liefen. Nein, selbst nun nicht, wo er hüfttief im Schlamm steckte. Vigor sah müde, schäbig und dreckig aus. Das graue Leinenhemd, welches er trug, war ausgewaschen, geflickt und ihm deutlich zu weit. Wahrscheinlich konnte er aus dem Hemd auch durch den offenen Kragen schlüpfen, statt es über den Kopf zu ziehen. Kein Wunder, dass es ihm von der Schulter rutschte. Alles in allem ein sehr schmuddeliges Bild. Trotzdem wirkte Vigor stolz und erhaben, mächtig wollte man sagen.
»Was heißt, du kannst dich nicht erinnern?«, fragte Volker.
»Das mir die Erinnerung an das Ereignis fehlt?«, antwortete Vigor. »Dafür würde ich es begrüßen, wenn seine Königliche Hoheit mir helfen könnten.«
»Oh, ja.«
Volker sprang von seinem Ross ab, auf dem er die ganze Zeit über gesessen hatte. Der schwarze Hengst war gesattelt, doch es fehlte jedes Zaumzeug. Volker näherte sich Vigor ein Stück durch das hohe Gras und Schilf, welches auf dem baumüberdachten Schlammufer eines seichten Sees wuchs. Bäume und Gras wurzelten in den See hinein. Die glasklaren Wasserfläche schien auf einen halben Meter nur wenige Zentimeter Tiefe zu gewinnen. Dies war sehr trügerisch, schließlich steckte Vigor in etwa knöcheltiefem Wasser bis zur Hüfte im Schlamm. Volker ging nur so weit bis er Vigors ausgestreckte Arme greifen konnte. Er packte ihn an beiden Arme und begann zu ziehen.
»Fester«, ermunterte ihn Vigor.
Volker zog wie ein Stier.
»Au!«, rief Vigor. »Nicht so fest.«
»Mann, entscheide dich mal.«
»Kann ich wissen, dass du zu viel Kraft hast?«
Volker spannte seinen rechten Oberarm an und spielte mit dem dicken Bizeps hin und her, indem er die geballte Faust drehte. »Ich dachte, dass sei offensichtlich.«
»Ist doch bloß Pudding.« Vigor grinste frech.
»Na, warte.« Volker zog wie besessen an dessen Arme.
»Ist ja gut. Ich glaube es dir.«
»Los, strampeln!«, keuchte Volker. »Damit Bewegung in die Soße kommt.«
Vigor trat Morast, während Volker unablässig zog. Vigor bewunderte die Ausdauer, während seine Füße lahmten. Was natürlich auch daran lag, dass Vigor schon seit mehr als einer Stunde um seine Freiheit kämpfte. Jedes Mal wenn Vigor den Fuß nach oben riss, schien der Schlamm den Fuß mit ungeheurer Kraft wieder nach unten zu zerren. Langsam, ganz langsam bewegte Vigor sich aufwärts.
»Es geht. Es geht«, keuchte er vor Anstrengung.
»Verdammt, ich kann nicht mehr«, japste Volker, ohne das sein Zug nachließ.
»Noch ein Stück.« Vigor versuchte ihn wieder anzuspornen. »Du schaffst es. Nicht nachlassen!«
»Und weiter!« Volker zog als hinge sein eigenes Leben davon ab. Es schien eine Ewigkeit zu dauern und die Kräfte der Jungen schwanden schnell.
Vigors Oberschenkel waren frei, aber er konnte die Beine immer noch nicht aus dem elenden, beigefarbenen Morast heben. Als ob die oberste Schlammschicht harter Stein wäre. Doch es war der Sog der Hohlräume, die Vigor beim Weg nach oben hinterließ, welche ihn mit solcher Gewalt festhielten. Die zähe Masse füllte die Kammern nur sehr langsam nach.
»Obsidan.« Volker rief seinen Hengst zu sich. Vigor runzelte die Stirn. Den Rappen nach dem schwarzen Gestein zu benennen wäre treffend, aber das Zeug hieß Obsidian. Vielleicht war es aber auch ein Eigenname, Vigor wusste es nicht; war aber im Augenblick auch egal.
»Kopf runter«, sprach Volker zum Hengst. »Kopf runter.«
Währenddessen drückte er den Kopf des Pferdes nach unten. Der Hengst gehorchte und Volker konnte seinen rechten Arm um Obsidans Hals legen. Mit der linken Hand hatte er immer noch Vigor fest im Griff. Vigor konnte den Schweiß zwischen ihren Händen spüren. Die nassen Hände waren wohl der Grund, dass Volker ständig fester zupackte.
»Schritt zurück«, sagte er zu dem Pferd. »Zurück, Zurück.«
Der Rappe machte einen Schritt rückwärts.
»Ah, langsam!«, schrie Vigor. »Du brichst mir die Füße.«
Volker ließ Vigor los und der Druck ebbte ab. Der kleinere Junge atmete auf und beugte sich vor um seine Füße zu massieren. Dabei stieß er mit seinen Händen in den weichen Schlamm und zog sie schnell wieder nach oben. Der Schmerz in seinen Knöcheln musste warten.
Volker sah kurz ratlos drein. »Mist.«
»Du kannst mich nicht quer herausziehen, sonst brichst du mir Füße und Schienbeine«, erklärte Vigor. »Ich muss hoch, nicht vor.«
Volker nickte, dann sammelte er Äste auf und warf sie vor Vigor auf den Morast. Insbesondere die langen, legte er quer vor Vigor. Dazwischen trat er auf die Äste, um zu sehen ob sie im Morast verschwanden.
Es dauerte eine ganze Weile, bevor Volker zufrieden war. Er hatte insgesamt etwa ein ganzes Lagerfeuer voll Holz vor Vigor versenkt, in eigentlich tellertiefem Wasser. Dann tastete sich Volker vorsichtig über den Schlamm. Er ging in die Knie und packte Vigor im Bärengriff. Auf Vigors Rücken fasste Volker seine eigenen Ellenbogen. Schließlich ging der große Junge in die Hocke, die Arme glitten nach unten um Vigors Hüfte. Volker hatte ihn so eng, dass Vigor flach in der Brust atmen musste, den Volkers Kinn bohrte sich in Vigors Bauch.
»Auf Drei streckst du die Zehen weg«, wies Volker an und Vigor nickte. Die beiden Jungen zählten gemeinsam.
»Eins, Zwei...und Drei!«
Mit einer Art Brunftschrei streckte Volker die Beine durch und stemmte seinen eigenen Oberkörper so aufrecht wie möglich nach oben. Dabei riss er Vigor mit einem lauten „Blob“ aus dem Morast. Volker setzte ihn neben sich ab. Der Schlamm verschlang gerade die obersten Äste ihrer Unterlage und kroch langsam zu ihren Füßen. Vigor beugte sich hinunter und zog einen Holzring an dessen schmiedeeisernen Griff aus dem Schlamm. Der Junge zerrte den Holz -eimer heraus, während der Schlamm seine Zehen eroberte.
»Ja, rette den kostbaren Eimer«, lachte Volker. »Während dir das matschige Zeug die Füße hoch kriecht.«
Vigor streckte ihm scherzhaft die Zunge raus. Beide eilten zur Sicherheit des trockenen Ufers und ließen sich dort ins Gras fallen. Der schwere Eimer rollte scheppernd neben die nächste Buche.
Vigor und Volker atmeten schweigend nebeneinander durch. Zu sagen gab es nichts. Es war einfach irgendwie so wie es sein sollte. Der süße Geschmack des Sieges: die Aufgabe war bewältigt, sie außer Gefahr und der Morast bezwungen. Vigor sah sich um. Die Bäume des Waldes überschatteten den schmalen Rasenstreifen zu weiten Teilen. Es waren dicke Buchen und Eichen, hier und da stand auch etwas anderes dazwischen, wie Ahorn, Linde und Ulme oder eine Hasel. Am Wasser tummelten sich Erlen und ein paar Weiden. Die Sonne schien warm an diesem milden Nachmittag im Auroramond, dem vierten Monat des Jahres. Nur vereinzelte weiße Schönwetterwolken zogen gemächlich mit der Brise über den blauen Himmel. In diesem Teil des Forstes schienen nur wenige Insekten geschäftig zu sein. Es herrschte eine angenehme Stille, mit dem entfernten Plätschern von Wasser und dem Rauschen der Baumkronen im Hintergrund. So nah am See war die Luft angenehm frisch und kühl.
Vigor fühlte Volkers Blick und sah zu ihm hinüber. Der große Junge lag ausgestreckt auf dem Rücken, als würde ihm das Ufer gehören. Streng genommen, tat es das auch, irgendwie.
»Lustig«, meinte Volker, »machen wir gleich nochmal.«
»Ja«, stimmte Vigor zu, »aber diesmal gehst du rein und ich zieh dich raus.«
»Das will ich sehen«, lachte Volker. »Das schaffst du gar nicht mit den dünnen Ärmchen.«
»Klasse statt Masse«, konterte Vigor.
»Ah, und wie wäre es mit einem Ringkampf?«
»Sag mal, kriegst du eigentlich nie genug?«
»Ich? Nein, warum auch?«
»Weil wir uns erst aus dem Schlammloch gekämpft haben?«
»Ach so, das war heute«, erwiderte Volker, als hätte er das schon vergessen. »Wo wir gerade dabei sind, was machst du eigentlich hier?«
»Ich soll Wasser für das Waisenhaus holen«, erklärte Vigor. »Befehl vom Obersten Aufseher.«
»Bitte?« Volker sah ihn ungläubig an. »Das ist doch bescheuert. Es sind mindestens zwölf Kilometer bis ins Dorf.«
Dass es eine hirnrissige Idee war, stand auch für Vigor außer Frage. Doch schienen für ihn Idiotie und Oberster Aufseher irgendwie zusammen zu gehören.
»Zuerst sollte ich zehn Eimer vom Strom holen«, berichtete er. »Das passte dem Aufseher aber dann nicht mehr und er sagte, ich solle einen Eimer vom See im Norden holen. Er hat mir diesen Tümpel hier beschrieben.«
»Er mag dich nicht«, stellte Volker fest. »Um nicht von hassen zu reden.«
»Irgendwie hatte ich das Gefühl mittlerweile auch.«
»Vergiss dein Gefühl«, entgegnete Volker. »Wenn dich jemand an den See ohne Boden zum Wasserholen schickt. Dann dafür, dass du nicht wieder kommst.«
»Danke, sehr beruhigend«, brummte Vigor. »Warum ohne Boden?«
»Dreimal darfst du raten.«
»Schlamm oder Magie. Ich nehme an Ersteres.«
»Richtig«, antworte Volker. »Und du hattest Glück, das war eine der seichteren Stellen.«
»Wirklich? Das erklärt alles«, erwiderte Vigor. »Ich hatte versucht, eine feste Stelle zum Wasser zu finden und dachte ich hätte mich vertan.«
»Nein, Hut ab. Das ist so ziemlich die beste Stelle.«
»Die anderen gingen mir dann bis zum Hals?«
»Ja, wenn du auf meinem Pferd sitzt.«
Vigor machte große Augen. Volker schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, dass er dir nur einen Eimer gab.«
»Klar, damit er nicht zwei verliert.« Vigor seufzte. »So ein Blödmann.«
»Hattest du Schuhe an?« Volker deutete auf Vigors nackte Füße.
»Nein, glücklicherweise nicht.«
»Schade«, bemerkte Volker beiläufig.
»Warum?«
»Das schließt aus, dass du von Adel bist.«
»Wenn du das sagst«, meinte Vigor. »Und was ist daran so wichtig?«
»Du könntest sonst mein bester Freund werden.«
»Oh, kann dir leider nichts versprechen«, erwiderte Vigor. »Die Schuhe hätte ich bis zum Waisenhaus ohnehin verloren, so wie alles andere auch. Ist trotzdem eher unwahrscheinlich.«
»Komm, wir gehen zurück«, sagte Volker grinsend, »du Bauer.«
»Vielleicht bin ich nicht einmal ein Bauer«, bemerkte Vigor. »Ich brauche auch noch einen Eimer Wasser.«
»Denn kriegen wir an jedem Brunnen voll.« Volker stand auf. Vigor sammelte seinen Eimer ein. „Es ist mir verboten, an einem Brunnen Wasser zu holen.“
„Das ist mir so was von Wurst.“
Die beiden Jungen schlenderten durch die Bäume. Obsidan folgte ihnen, ohne Volkers zu Tun, wie ein treuer Hund. Die Jungen erzählten sich gegenseitig alles mögliche, während sie durch den Wald schlenderten. Volker löcherte Vigor über dessen Alltag und Pläne im Waisenhaus, musste dafür im Gegenzug Vigor alles über das Großherzogtum und das Leben am Hof erklären.
Die Zeit verging wie im Flug und schließlich lichteten sich die Bäume und gaben den Blick über flache Hügel frei hin zum Dorf, welches irgendwo dahinter lag. An einem alten Einsiedlerhof, etwa sechs Kilometer vom Waisenhaus entfernt, hielten sie an einem Brunnen. Es war ein sehr alter Dreiseitenhof mit weitem Dachüberstand. Den u-förmigen Hof bildete ein einfaches Fachwerkhaus, mit zwei fast genauso hohen Scheunen als Anbauten. Nur das Wohnhaus hatte ein Obergeschoss, dass zur Hälfte bereits die Dachschräge war. Die Dächer waren allesamt mit Reet eingedeckt. Alles sah recht heruntergekommen aus. Der weiße Putz im Fachwerk war abgeblättert, die Dächer hatten Flicken und Trümmer oder Unrat lagen im Hof aus nackter Erde verstreut. Viele der dunklen Sprossenfenster des Wohnhauses verbargen sich hinter ihren olivfarbenen Läden. Bei den Offenen hing meist der Fensterladen krumm in der Angel. Die Scheunen bestanden aus langen, dunkelbraunen Dielen, bei denen helle Bretter die Nachbesserungen verrieten, welche nach oben stetig abnahmen. Der Hof war geschäftig. Etwa zehn Männer und Frauen verrichteten gerade ihre Arbeiten.
Als Vigor und Volker näher kamen, erkannten sie, dass der Hof nicht vergammelt war, sondern die Schäden alles recht frische Kampfspuren waren. Die in der Gegend hausenden Kreaturen ließen den Bewohnern nicht viel Frieden.
In der Mitte des Innenhofs war ein Steinbrunnen gemauert. Er hatte keine Seilwinde, sondern nur ein Strick lag daneben. Einkerbungen im Stein verrieten, dass auch dieser Brunnen einst ein Trägergerüst für eine Seilwinde gehabt hatte. Doch das war wohl schon lange verschwunden. Die beiden Jungen gingen an die Wasserstelle. Volker streckte auffordernd die Hand zu Vigor aus. »Darf ich bitten.«
»Es ist mir eine Freude.« Vigor ließ den Henkel des Eimers in Volkers Handfläche fallen. Volker knotete den Eimer an den Strick, doch der Hanf war sehr dick und widerspenstig. Volker musste mehrfach festzurren. Ein Mann kam von einem der Ställe herüber, nachdem drei andere ihn auf die beiden Jungen aufmerksam gemacht hatten. Das konnte Vigor daran erkennen, dass ein Knecht mit seiner Mistgabel in ihre Richtung deutete.
Der Mann war etwa fünfzig und kam von der anderen Seite, sodass er neben Vigor nur Volkers Oberkörper sehen konnte. Der große Junge ließ einen Eimer in den Schacht hinab. Obsidan hielt der Mann für eines seiner Pferde. Obwohl ihm hätte auffallen müssen, dass er einen Hengst von derartiger Zucht nicht besitzen konnte. Schließlich war er soviel wert, wie der ganze Hof. Doch der Mann war mehr auf die fremden Jungen bedacht und Obsidan hatte sich die Freiheit genommen, sich an einem ausgehöhlten, alten Baustamm zu erfrischen, der als Pferdetrog diente.
»Und Jungs, was macht ihr hier?«, rief der Mann schließlich. Seine leicht blau gefärbte Kleidung verriet Vigor, dass er ein hoher Angestellter auf dem Gut war. Vermutlich war die Farbe aus Holunderbeeren gewonnen, denn die färbten sogar, was sie gar nicht färben sollten.
»Wasser holen, Herr«, antwortete Vigor ehrlich. Er sah sich zu Volker um und flüsterte: »Was für eine Frage.«
Volker grinste und schwieg. Der schwere Holzeimer klatschte ins Wasser.
»Ihr seid nicht von hier«, schimpfte der Mann. »Ihr habt kein Recht.«
»Äh, es ist nur ein Eimer voll«, beschwichtigte Vigor. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Mann so knausrig war. Eine Wasserknappheit war im Großherzogtum schließlich unbekannt.
»Waisenhaus, was?« Der Mann schien nun noch aufgebrachter. »Macht das ihr weiterkommt!«
»Lass mich mal machen«, meinte Volker nun und drückte Vigor den Strick für den Eimer in die Hand. Vigor zog den schweren Eimer nach oben. Volker faltete die Hände auf dem Rücken zusammen.
»Ich denke, ich darf Wasser aus diesem Brunnen holen«, stellte Volker fest, während er den Brunnenstein umrundete. »Denkt Ihr nicht auch?«
»Ganz und gar ni...« Dann sah der Mann den Reiterstiefel, den Volker demonstrativ auf den Brunnensims stellte, um sich die festen Schnüre zu binden. Währenddessen blickte Volker den Mann erwartungsvoll an. Dieser stockte, dann fiel bei ihm der Groschen. Vigor konnte es förmlich in seinem Gesicht lesen, wie es sich von einer zornigen Strenge zu einer gütlichen Miene wandelte. »Königliche Hoheit, ich hatte Euch nicht erkannt. Verzeiht mir.«
Volker zuckte die Achseln. »Nichts passiert.«
»Es ist uns eine Ehre, dass Ihr unser Wasser zu nutzen gedenkt. Erlaubt mir mich vorzustellen«, sprach der Mann und als Volker keine ablehnende Geste machte, tat er auch so. »Ich bin Matthias Heuer, der Haushofmeister des Torfgründer Hofs und Euer ergebener Diener. Soll ich Euch einen Träger schicken?«
»Nein danke, wir sind bestens versorgt.« Volker kramte in seinem Lederbeutel, den er am Gürtel trug. Es musste sehr viel Inhalt darin sein, denn Volker kramte eine ganze Weile. Dann warf er eine kleine Geldmünze zum Haushofmeister. Doch Heuer konnte sie nicht fangen und sie fiel auf den Lehmboden vor dem Brunnen. Sie war so klein wie ein Daumennagel, aber glänzte golden. Heuer hob sie auf und sah Volker vor sich ungläubig an.
»Für Eure Mühen«, brummte Volker. »Und wir waren nicht hier.«
»Selbstverständlich nicht, Königliche Hoheit.« Der Haushofmeister verbeugte sich so tief, bis seine Nase den Erdboden berührte. Vigor sah, dass er dabei die Münze unauffällig zwischen die Zähne steckte, um zu überprüfen, ob sie beim Biss nachgab. Die Münze war weich, es war also Gold. Der Haushofmeister kam wieder nach oben.
»Wie Ihr wünscht«, sagte er schließlich und wandte sich ab. Dann scheuchte er die anderen Hofangestellten an ihre Arbeit.
Vigor hatte mittlerweile den Eimer über den Brunnenstein gehoben und grinste. »Was war das jetzt?«
»Bestechungsgeld«, antwortete Volker. »Der oberste Heimtrottel, muss ja nicht unbedingt wissen, woher sein Eimer leckeres Seewasser kommt.«
»Wenn ich wüsste, dass er das trinken würde«, sagte Vigor. »Dann würde ich jetzt hinein pinkeln.«
»Gute Idee«, lachte Volker. »Aber wahrscheinlich kriegt es doch eines der Pferde.«
»Darum macht es auch keinen Sinn.«
»Obsidan!« Das Pferd verließ die Tränke und trabte zu Volker. Dann stieß der Rappe mit der Nase an seine Hand.
»Ach so, du hattest heute noch nichts Süßes«, brummte Volker und kramte im gleichen Lederbeutel. Er holte ein Sammelsurium hervor. Darunter waren ein nachtblauer Feuerstein, ein goldener Pyrit, ein langes Stück Schnur, ein platter, runder Haferkeks, einen dunkelbraunen, unförmigen Klumpen, ein Stück Holz und mehrere Gold- und Silbermünzen, von denen einige dem Keks in Größe um nichts nachstanden. Volker pickte den Keks heraus und hielt ihn dem Pferd auf seiner Handfläche hin. Obsidan holte das Gebäck mit den Lippen von der Hand und kaute. Volker stopfte den Rest zurück. Vigor starrte Volker ungläubig an. »Sag mal, war das Zucker?«
»Ja, was sonst?«
Vigor sah nur fassungslos drein. Zucker gab es im Waisenhaus nur sehr wenig. Lediglich beim Frühstück gab es eine staubdünne Portion für die Haferflocken.
»Moment.« Volker kramte im Beutel und holte den Klumpen wieder hervor. »Willst du einen?« Er hielt Vigor das Stück Zucker hin. »Die bleiben bei mir öfter mal übrig.«
»Äh, das kostet ein Vermögen.«
»Du sollst ihn ja nicht bezahlen.«
»Ist schon in Ordnung«, wimmelte Vigor ab. Der Hengst beobachtete die Jungen interessiert.
»Jetzt iss ihn halt«, beharrte Volker. »Sonst kriegt Obsidan den und dann wird er noch fett.«
Vigor steckte das Stück Zucker in den Mund und lutschte es. Es war furchtbar süß. Vigor schüttelte sich.
»Noch nie Zucker gehabt, oder?« Volker lachte und erwartete ein Nein von seinem Freund. Doch der schlanke Junge zuckte die Achseln. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl. Den verboten süßen Geschmack auf den Lippen kannte er irgendwo her.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich. Vigor dachte eine Weile darüber nach. Das Zusüß verband er mit einer Flüssigkeit, vielleicht Tee oder dergleichen. Dann legte Volker ihm die Hand um die Schultern. »Sei es drum.«
Vigor nickte.
Die Hügel wurden noch ein wenig flacher und die Waldausläufer bedeckten sie von Süden her. Lichtung und Forst wechselten sich ab. Dann gaben die Bäume erneut die Hügel frei. Der Weg, dem die Jungen folgten, war ein ausgewaschener Trampelpfad. Hausrotschwanz, Nachtschwalbe und Nachtigall sangen bereits ihre Lieder. Die Sonne stand schon tief am roten Himmel als Volker ihm den Eimer reichte. »Hier trennen sich unsere Wege.«
»Danke für alles«, sagte Vigor.
»Keine Ursache«, entgegnete Volker. »Erzähl mir auf jeden Fall vom dummen Gesicht des obersten Hansels.«
»Ja, der Aufseher wird nicht damit rechnen, dass ich ihm den Eimer bringe.«
»Denke ich auch, insbesondere weil du echten Mörderschlamm am Körper hast.« Volker bestieg den Hengst ohne Mühe. »Und das orange-beigefarbene Zeug gibt es sonst nirgends. Bis die Tage.«
»Bis die Tage«, verabschiedete sich Vigor. »Sehen wir uns dann?«
»Ja, wir treffen uns bei Gelegenheit im Dorf«, erklärte Volker. »Der Hof ist momentan im Jagdschloss. Es ist unsere Sommerresidenz.«
»Ach so.« Vigor winkte Volker nach, der davon ritt um die Hügel in Richtung des Dorfs.
Dann stieg Vigor den Hügel hinauf. Er würde sich die verschlammte Kleidung erst am nächsten Tag im Fluss waschen. Nicht nur weil er den Beweis brauchte, dass er am See ohne Boden gewesen war. Für heute hatte er einfach genug.