Читать книгу Plötzlich passt ein Schlüssel - Madlen Jacobshagen - Страница 1

Lydia

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Lydia zog überall die Blicke auf sich, obwohl sie mit ihrer unauffälligen Garderobe ihre weiblichen Reize nur ahnen ließ. Es waren wohl ihre großen blaugrauen Augen, von dichten Wimpern umrahmt, die zusammen mit ihren geschwungenen, meist nur andeutungsweise lächelnden Lippen ihre Anziehungskraft ausmachten. Sie hielt sich mit ihrem Minenspiel so zurück, dass ihr Gesicht makellos, wie gerade geschaffen aussah oder wie ein Foto, das sich nie in einen bewegten Film verwandeln durfte. Das erregte in ihrem Umfeld so viel Neugier, dass sie immer von einigen Frauen oder Männern umringt war, die entdecken wollten, was dahinter steckte. Aber sie kontrollierte sich perfekt, und nach einer Weile ließ meist die Neugier nach. Es gab auch junge Menschen, die ihr partout gefallen und ihr ein positives Urteil abringen wollten. Da sie sehr sparsam damit war, spornte es etliche an, aber mancher hatte auch Angst vor ihren sarkastischen Bemerkungen, zumal sie damit häufig die Lacher auf ihre Seite zog.

Diesmal saß sie inmitten einer Gruppe junger Frauen an einem niedrigen, runden Tisch der Cafeteria. Jede hatte einen Cappuccino vor sich stehen. Das Stimmengemurmel im Raum schwoll in Wellen an und ab, manchmal übertönt vom Blubbern, Zischen und Kratscheln der großen Kaffeemaschine. Ein feiner Kaffeeduft breitete sich aus. Lydia hörte dem Geplauder über die jüngste Produktdesign-Ausstellung zu und warf gelegentlich knappe, kritische Kommentare ein. Sobald sie sprach, richteten sich alle Augen auf sie, und man stimmte ihr eilig zu. Bald ging das Gespräch über zu dem jungen, neuen Hochschullehrer.

„Ich glaube, der ist schon vergeben. Doris, kannst Dir ruhig die Blusen mit dem tiefen Dekolleté sparen“, frotzelte Anja.

„Sei mal ganz ruhig. Dein Augenaufschlag vorhin war auch nicht ganz ohne“, konterte Doris. So ging es weiter.

Lydia ödete es an, dass ihre Kommilitoninnen den großen, schlanken Mann mit seinem aufgesetzten Dauerlächeln so wichtig nahmen und sofort versuchten, ihm zu gefallen. Sie lehnte alle „Schönlinge“ in ihren Designerklamotten ab, weil ihr dann sofort ihr eigener Vater einfiel. Stumm stand sie auf und ging zur Toilette, wartete, bis sie allein in den Räumlichkeiten war, und erbrach sich. Schnell wischte sie sich die Spuren im Gesicht ab und schaute sich nun wohlwollender im Spiegel an. Niemand ging etwas an, was sie sich fast täglich antat. So unauffällig wie möglich gesellte sie sich wieder zu den anderen. Es war für sie so leicht, so zu tun, als gehöre sie dazu.

Als ihre Freundin Sandra sie am Abend auf den neuen Dozenten ansprach, meinte sie nur kurz: „Vergiss ihn!“ Sie griff zu ihrer Kunstmappe und breitete ihre letzten beiden Zeichnungen auf dem Tisch aus. Variationen einer Schale, eine in Schwarz-weiß, die andere in Farben.

„Interessant! Und an welches Material hast Du gedacht?“

„Eine in Olivenholz, die andere in Kunststoff, weiß noch nicht genau.“

„Olivenholz ist hier schwer zu bekommen und teuer“, gab Sandra zu bedenken.

Lydia weihte sie daraufhin in ihre neuesten Pläne ein. Sie habe begonnen, für den Taxischein zu lernen. Die Hälfte des Buches habe sie schon geschafft, jetzt müsse sie nur noch die Straßennamen in 4 Stadtteilen lernen. Natürlich Rechte und Pflichten des Taxifahrers usw. Warum sie das mache? Beide Eltern zahlten ihr regelmäßig je zweihundertfünfzig Euro, aber damit käme sie bei weitem nicht aus. Und die Boutique, in der sie samstags arbeite, zahle auch nicht viel. Taxifahren brächte entschieden mehr, vor allem nachts. Und sie fuhr fort, indem sie mit einer geballten Faust auf den Tisch haute:

„Wenn Du wüsstest, wie leid ich es habe, meine Mutter wegen jedem kleinen Teil um Geld zu bitten. Jedes mal macht sie mir Vorwürfe und überschüttet mich mit ihrer Verachtung. Das will ich mir nicht mehr antun! Ich mache mich jetzt unabhängig, dann werde ich mir auch alles Material kaufen können, was ich benötige.“ Sandra legte besänftigend eine Hand auf ihren Arm.

„Lydia, es tut mir so leid für dich. Ich habe es viel einfacher als Du. Aber sag mal, willst Du wirklich nachts fahren?“

„Das bringt am meisten Geld.“

„Und das hier in der Großstadt! Hast Du keine Angst, nachts als Frau? Ich würde das nie wagen.“

„Mir wird schon nichts passieren“, beendete Lydia entschieden das Gespräch.

Lydia lag an diesem Abend noch lange wach. Ihre Freundin machte sich Sorgen um sie. Und ihre Eltern? Denen war es sicher egal, ob ihr mal was passierte. Hauptsache, sie war hübsch angezogen, hatte tadellose Manieren und war erfolgreich im Studium. Damit sie mit ihr angeben konnten! Vor allem Mama vor ihren Angestellten in ihrem Laden. Sie konnte sich gar nicht mehr an eine Zeit erinnern, in der ihr die Mutter keine Vorhaltungen gemacht hatte. Und an ihren Vater mochte sie gar nicht denken. Der hatte sich schon vier Jahre lang nicht mehr blicken lassen, war angeblich immer geschäftlich so viel unterwegs. Ob er wohl seinen neuen Kindern von seinen Reisen was mitbrachte? überlegte sie. Wie hatte eigentlich Annika die Scheidung verkraftet? Sie war damals ja schon aus dem Haus, hat den ganzen Mist zum Schluss nicht mehr mitgekriegt. Egal. Die könnte sich auch mal wieder melden, fand Lydia, und dann drehte sich das Gedankenkarussell von neuem, bis sie endlich gegen Morgen Schlaf fand.

In ihrer freien Zeit liebte es Lydia, sich mit schönen Dingen zu beschäftigen, sei es beim Besuch von Galerien und Museen oder beim Durchblättern von dicken Kunstbänden. In ihrer kleinen Wohnung stand eine Werkbank aus massivem Holz, auf der sie manchmal stundenlang Farbplättchen zusammenstellte, bis sie die Zusammensetzung gefunden hatte, die für sie stimmig war. Oder sie bog endlos lange an einem Drahtgebilde hin und her, das nie mehr fertig zu werden schien. Ihre Studienfreunde lästerten manchmal über ihr Tun, aber sie ließ sich nicht beirren. Sie lebte für die Schönheit, vor allem die visuelle. Manchmal träumte sie davon, sich eine große Wohnung mit ausgefallenen Ideen ganz nach ihrem Geschmack einrichten zu können. Jede Form und jede Farbe wollte sie auswählen. Sie hatte auch schon angefangen, Zeichnungen von ihrem Traumheim anzufertigen, aber nie gewagt, sie jemandem zu zeigen. Die ästhetischen Fantasien gehörten zu ihrer Innenwelt, die sonst niemanden etwas anging.

Es war überhaupt schwer an sie ranzukommen. Weder ihre verlockend schönen Träume noch ihre grauenvollen Ängste hatte sie bisher jemandem offenbart. Auch Sandra kannte Lydia nur oberflächlich, und ihren beiden männlichen Freunden musste sie immer ein unerreichbares Rätsel bleiben, denn Vertrautheit mit ihnen hätte sie nie ausgehalten. Andreas hatte sich eine Weile um sie bemüht, bis er schließlich resigniert aufgegeben hatte. Mit Thomas war sie erst ein halbes Jahr befreundet. Sie respektierte ihn wegen seines großen Kunstverständnisses, und irgendwann hatten sie auch miteinander geschlafen. Aber das war für Lydia ein Akt ohne jedes Gefühl. Wenn Männer das brauchten, bitte schön! Aber sie spürte ihren Körper fast gar nicht dabei. Thomas hatte das natürlich gemerkt und war selber unsicher geworden. Seither waren sie sich körperlich aus dem Weg gegangen. Keine Berührung, erst recht keine Zärtlichkeit war die unausgesprochene Parole.

Lydia wusste, dass die meisten Frauen in ihrer Umgebung anders auf Erotik und Sex reagierten, aber meistens tat sie dies als billiges Getue zwischen Mann und Frau ab, nicht ihrer würdig. Aber im Laufe der Zeit wurden die Momente immer häufiger, in denen sie sich eingestand, selbst ein Problem mit ihrem Körper zu haben. Tiefe Selbstzweifel fraßen sich in sie hinein. Da war auch noch die Geschichte mit dem Essen. Tagelang zwang sie sich, sehr wenig zu essen, um ihrem Idealgewicht nahezukommen, und dann brach es wieder aus ihr hervor, und sie lieferte sich wahre Fressorgien mit dem elenden Erbrechen im Anschluss. Weder Mutter und Schwester noch Sandra und Thomas ahnten was davon. Sie fühlte sich nach diesen Essattacken derartig mies und hilflos, dass sie sich jedes mal schwor, mehr Kontrolle über ihr Leben zu bekommen. Harte Arbeit und tägliches Jogging halfen ihr dabei. Die schöne, rätselhafte und leistungsstarke Lydia führte wahrlich ein Doppelleben.

Frau Delius, die Therapeutin, hatte gut zugehört, als Lydia ihr erklärt hatte, warum sie so unglücklich sei. Nun fragte sie, indem sie Lydia freundlich anlächelte:

„Warum müssen Sie immer eine tadellose Figur haben?“

„Weil es schöner ist.“

„Für wen soll es schön sein?“

„Für mich natürlich. Ich liebe das Schöne.“

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie niemandem gefallen wollen…“

„Egal, ich… ich…ich muss attraktiv sein.“

„Was wäre, wenn Sie es nicht mehr wären?“

„Ich zählte nicht mehr…! “

Dabei begann Lydia zu weinen. Sie wischte sich die Tränen ab, begann aber kurz danach umso heftiger zu schluchzen. Die kleine, rundliche Therapeutin legte eine Hand beruhigend auf Lydias Arm und wartete in Ruhe ab.

„In unserer Familie mussten wir immer alle attraktiv sein: meine Mutter, meine Schwester und ich.“

„Wieso?“

„Sonst hätte uns unser Vater noch eher verlassen.“ Wieder ein Aufschluchzen.

„Sie haben sich also alle nach dem Vater gerichtet…“ Lydia nickt.

„Jede von uns wollte seine Schönste sein. Als kleines Mädchen war ich seine Prinzessin, er hat mir die süßesten Kleider gekauft. Aber kaum war Annika drei oder vier, war ich abgemeldet, und sie kam dran. Es ist vielleicht albern, aber mich hat das sehr getroffen. Ich habe damals nicht begriffen, was er für ein Casanova war und dass er nur Macht über uns haben wollte. Wie oft hat meine Mutter geweint.“

„Das haben Sie oft mitbekommen?“

„Allerdings. Zum Glück war sie finanziell nicht von ihm abhängig, als er sie wegen einer anderen Frau verließ. Sie hatte schon vorher begonnen, ihn zu hassen. Bei mir war das anders. Ich hatte mir gerade ein Super-Kleid für den Abschlussball in der Tanzstunde gekauft und hatte mich so darauf gefreut, meinem Papa zu zeigen, wie hübsch ich darin war. Und er? Ist nicht mal mitgekommen, sondern hat einen Tag vor dem Ball Mama erklärt, er habe die Nase voll von uns drei Weibern und werde noch heute ausziehen. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Seitdem ist das mit dem Kotzen.“

Lydia hatte lange gezögert, bis sie sich um einen Therapieplatz bemühte. Sie wollte auf keinen Fall jemanden einweihen in ihre Essprobleme, schon gar nicht eine fremde Person. Sie hatte die Suche immer wieder aufgeschoben, bis sie schließlich nach mehreren schlimmen Essattacken so verzweifelt war, dass sie den ersten Schritt machte. Sie fand, die Therapeutin habe ein Durchschnittsgesicht und eine unschöne pummelige Figur, mache allerdings einen recht kompetenten Eindruck auf sie. Noch drei Stunden wollte sie abwarten. Doch mit jeder Sitzung fasste sie mehr Vertrauen zu Frau Delius. Nun dauerte die Behandlung schon zwei Monate. Ihren Freunden hatte sie natürlich nichts davon erzählt.

Lydia verließ nach dieser Stunde die Praxis mit steifen Schritten. Fast wäre sie auf dem Bürgersteig über eine Unebenheit gestolpert. Sie war noch ganz in Gedanken bei ihrem Vater. Immer mehr Bilder von Verletzungen kamen in ihr hoch. Sie wurde wütend und hätte ihm am liebsten die Pest an den Hals gewünscht. Dabei wurde ihr Tempo schneller und ihre Absätze hämmerten auf den Gehweg. Doch nach einer Weile schlug ihre Stimmung um. Warum musste ich auch einen solchen Vater haben! Einen Weiberheld, der unzuverlässiger nicht sein könnte! dachte sie. Und der sich noch was auf seine eigenes gutes Aussehen einbildete. Okay, schön war er, aber mit dem miesesten Charakter auf der Welt! Und mich hat er damit zugrunde gerichtet. Wenn ich genau hinschaue, versuche ich noch immer ihm zu gefallen. Vergebens. Auf ewig vergebens.

Zu Hause angekommen warf sie sich aufs Sofa und weinte hemmungslos. Als sie keine Tränen mehr hatte, richtete sie sich auf, drehte das verweinte Kissen um und verschwand in ihrem kleinen Badezimmer, wo sie sich das Gesicht wusch. Heute wollte sie weg von den alten Geschichten, wollte ein ganz normales Leben beginnen. Sie ging zu ihrer Kochnische und machte sich eine Schnitte mit Butter und Käse, nicht mehr und nicht weniger; dazu trank sie ein Glas Orangensaft. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und sah ihre Aufzeichnungen vom letzten Seminar durch. In diesem Moment klingelte das Telefon. Sie hörte ihre Mutter:

„Hallo, ich wollte nur mal sehen, ob es stimmt, dass du zu Hause sitzt und so viel arbeitest. Als ich dich neulich in der Stadt sah, dachte ich gleich, dass du mich mit dem eifrigen Studieren ganz schön angelogen hast.“

„Dann musst du ja jetzt hoch zufrieden sein!“

„Und was machst du jetzt? Verplemperst du jetzt deine Zeit, indem du wieder so lange an dem Drahtgestell herum werkelst?“

„Was geht das dich an?“

„Und ob mich das angeht! Schließlich muss ich dir jeden Monat die Hälfte deines Wechsels hinblättern.“ Ihr Ton wurde dabei immer schärfer.

„Verdienst du denn so wenig? Mir kommen ja die Tränen.“

„Darauf kommt es nicht an. Ich möchte, dass du zügig studierst und in einem Jahr tatsächlich fertig bist. Verstanden?“

„Ich will dir mal was sagen. Ich mache gerade den Taxischein, und bald werde ich auf deine großzügigen Wechsel von zweihundertfünfzig € im Monat nicht mehr angewiesen sein. Dann kannst du mich mal! Und Papa ist es sowieso egal!“ schrie Lydia jetzt ins Telefon.

„Du spinnst wohl! Was sollen denn unsere Kunden denken, wenn du sie kutschierst! Einige haben dich schon bei mir im Laden gesehen.“

„So bist du immer, denkst nur ans Geschäft! Ich übrigens auch, habe mir nämlich fest vorgenommen, vorzugsweise nachts zu fahren, weil das am meisten einbringt.“ Dann hörte sie nichts mehr, ihre Mutter hatte aufgelegt.

An diesem Abend kratzte Lydia ihr letztes Geld zusammen und ging in eine Disco. Die Musik dröhnte. Es war brechend voll. Sie hatte keine Lust zu schauen, ob irgend jemand Bekanntes auf der Tanzfläche war, wollte nur tanzen. Bald war sie ganz Rhythmus und tanzte immer schneller. Als die Musik schließlich abriss, wischte sie sich mit dem Arm den Schweiß aus dem Gesicht. Weiter sollte es gehen, weiter und immer weiter. Lydia vergaß alle ihre Sorgen und tanzte bis früh in den Morgen. Sie war so auf den Tanz konzentriert, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, dass mehrere Männer am Rande standen und sie fasziniert anstarrten. Selbstvergessen war sie schöner denn je.

Nachdem sie am frühen Morgen in ihre kleine Wohnung zurückgekehrt war, legte sie sich gleich erschöpft in ihr Bett. Sie hatte nicht einmal Lust, ihre Kleider vorher auszuziehen, und schlief so tief wie lange nicht mehr. Als ihr Blick am Mittag auf den Wecker fiel, erschrak sie, weil sie ein wichtiges Seminar verpasst hatte. Nicht mehr zu ändern, sagte sie sich gelassen und begann sich ein ganz normales Frühstück zu richten. Während sie in ein Marmeladenbrot biss, tauchten die Erinnerungen an den gestrigen Tag wieder auf. Erst der ätzende Anruf ihrer Mutter und vorher die Therapiestunde, in der ihr klar geworden war, wie wichtig ihr noch immer der Vater war, der sie alle im Stich gelassen hatte. Ich will nicht mehr auf die beiden angewiesen sein, muss so schnell wie möglich an eigenes Geld kommen, fand sie bald. Während sie ein Stück Zucker in ihrem Kaffeebecher geduldig verrührte, wurde sie von Minute zu Minute entschlossener, sich aus ihrer unwürdigen Abhängigkeit zu befreien. In diesem Moment ahnte sie nicht, dass sie bald noch mehr würde wegstecken müssen. In der vergangenen Nacht war einiges durcheinander gewirbelt worden. Und das durch eine angeblich gute Freundin!

Michaela wartete in dieser Nacht schon fast eine halbe Stunde. Es war mittlerweile halb zwölf, und sie wurde an der verabredeten Kreuzung schon mehrfach angesprochen, mindestens aber angegafft von einigen Männern. Erst der stressige Job als Kellnerin und nun die Warterei! Sie wählte Kais Nummer, aber der hatte sein Handy abgestellt. Hoffentlich ist ihm nichts Schlimmes dazwischengekommen, dachte sie nun ängstlich. An mir kann es nicht liegen, er wollte mich doch unbedingt sehen. Sie zupfte sich ihren Minirock diskret zurecht und stöckelte dann enttäuscht in Richtung Haltestelle. Mich schon beim zweiten Rendez-vous versetzen! Das darf er mit mir nicht machen, sagte sie sich zornig. Er hätte mich doch anrufen können, der Hund. Aber gleich danach gewann wieder die Sorge um ihn die Oberhand und bedrückt und bange stieg sie in die U-Bahn ein, die sie nach Hause brachte.

Als sie sich am nächsten Vormittag auf der Straße begegneten, versuchte Kai sich erst ungesehen an ihr vorbeizuschleichen. So peinlich war es ihm, dass er gestern Abend total die Zeit vergessen hatte. Als er schließlich am Treffpunkt angekommen war, war sie natürlich schon gegangen. Wer wartet auch mehr als eine ganze Stunde? Jetzt versuchte er eine Entschuldigung herauszubringen, aber seine unvollständigen Sätze fielen Michaela sofort auf. Warum schaute er ihr nicht ins Gesicht dabei? Misstrauen nistete sich bei ihr ein. Seine Vorschläge für ein neues Rendez-vous wies sie barsch zurück. Das hatte er nun davon. Eigentlich hatte er nur kurz auf ein Bier in die Disco gehen wollen. Was konnte er dafür, dass er diese wunderschöne Frau dort tanzen sah? versuchte er sich zu entschuldigen. Er konnte einfach nicht aufhören, sie sich immer weiter bewegen zu sehen. Sie faszinierte ihn so sehr, dass er um sich herum alles vergaß.

Kai schlug sich Michaela bald aus dem Sinn. Seine Tage spulten sich irgendwie ab, während er immer wieder an die Frau in der Disco dachte. Ihr Bild begleitete ihn überall hin. Er kam sich vor wie ein pubertierender Schwärmer, vermochte es aber überhaupt nicht abzustellen. Und dann geschah es: Ausgerechnet auf dem Bauernmarkt an einem Mittwoch Nachmittag sah er sie wieder. Sie reichte gerade einen Geldschein einer Marktfrau rüber und griff nach zwei Tüten mit Obst. Als die Sonne kurz auf ihr Gesicht schien, erschrak Kai. Kühl und verschlossen war der Ausdruck ihres makellosen Gesichts. Keine Bewegung war darin, nichts. Nicht einmal die Spuren früherer Bewegungen. Auch ihr Gang war keineswegs federnd sondern eher steif. War das dieselbe Frau, die er vor ein paar Wochen in der Disco bewundert hatte? Ich habe mich doch nicht in eine Schaufensterpuppe vergafft. Bin ich denn bekloppt? fragte er sich nun ernsthaft. Ganz verwirrt fand er sich vor einem Rätsel.

Michaela wachte im ersten Ansturm des morgendlichen Vogelgezwitschers auf und setzte sich auf den Bettrand; die Sonne war gerade dabei aufzugehen und tauchte ihren Schlafraum in das weiche Licht der Morgendämmerung. Thomas schien noch fest zu schlafen. Er hatte sich auf die Seite zu ihr gedreht, sodass sie sein Profil studieren konnte. Er hatte auffallend lange, dunkle Wimpern und volle, leicht geöffnete Lippen. Seinen rechten Arm hatte er auf ihr Kopfkissen ausgestreckt. Hätte er nicht so gut küssen können, hätte sie ihn wohl nicht mit nach oben genommen. Daraus war eine wunderbare Liebesnacht geworden. Sie hatte sich immer geschworen, nie einer Freundin den Mann auszuspannen. Und nun war es doch geschehen. Thomas schien gar nicht genug von ihr bekommen zu können. Er hatte zärtlich und lustvoll ihren ganzen Körper berührt, bevor er in sie eingedrungen war. Kurz zuvor hatte sie ihm noch ins Ohr geflüstert: „Und was ist mit Lydia?“ Er hatte sie gerade angeschaut und dann den Kopf zur Seite wendend gesagt. „Ich weiß genau, dass sie mich nicht will. Was soll’s also?“ Und im selben Atemzug hatte er ihre Brüste zu küssen begonnen. Michaela stand nun leise auf und presste ihre Nase an die kühle Fensterscheibe. Wenn wir uns wiedertreffen, wie kann ich dann Lydia unter die Augen treten? Gewiss, sie ist nicht meine beste Freundin, aber trotzdem!Thomas studiert mit ihr und sieht sie fast täglich und ich? Womöglich ist er bald wieder so fasziniert von ihr, dass er mich fallen lässt. Ach, egal, jetzt ist er bei mir, und wir werden uns sicherlich wiedersehen. Noch kenne ich ihn kaum. Beim Tanzen gestern Abend fand ich ihn super. Bin gespannt, wie er im vollen Tagelicht ist, lächelte sie in sich hinein. Oh, jetzt wird er wohl wach…

Thomas hatte sich tatsächlich in Michaela verliebt und wollte so oft wie möglich bei ihr sein. Als er es Lydia sagte, zuckte sie nur kurz mit den Schultern und ließ ihn stehen. Einen Augenblick stand Thomas wie gelähmt da; ihre Kälte traf ihn schmerzlich, weil er sie geradezu verehrt hatte. Ein bitteres Gefühl stieg in ihm auf, eines, das zwar allmählich schwächer wurde, aber doch länger bei ihm blieb, als ihm recht war. Er machte sich zunächst einmal auf den Weg zur Fachhochschule und versuchte wieder an Michaela zu denken, was ihm nach einem Weilchen auch gelang. Heute Abend wollten sie sich erst an einem Kiesteich treffen und dann bei ihm zusammen kochen. Sie ist so zärtlich, warm und weich. Allein schon die Vorstellung ihrer Stimme entzückte ihn, und nicht nur die. Wieder würde es eine wunderbare Nacht werden. Ob es ihr wohl etwas ausmachte, dass er mit seinem Studium noch nicht fertig war? Sie verdiente schon und konnte sich viel mehr leisten als er. Abwarten, befahl er sich. In vier, nein fünf Stunden sehe ich sie schon.

„Sie sehen so bedrückt aus“ fragte die Therapeutin Lydia zwei Wochen später. „Ist was passiert?“

„Denke schon. Habe prompt einen Rückfall bekommen. Die 3 Wochen ohne Erbrechen sind schon wieder vorbei. Mein Vater rief nämlich gestern an. Meinen Sie, er hat sich nach mir erkundigt? Fehlanzeige! Er hat mir nur mitgeteilt, dass ich wieder einen Halbbruder bekommen habe. Und den hat er ausgerechnet auch noch Thomas genannt. Ich war bedient.“

„Fiel Ihnen der Abbruch der Beziehung mit Thomas doch nicht so leicht?“

„Ich hatte geglaubt, er sei nicht so wie andere Männer. Wir hatten beide so viel Freude an Ästhetik und jetzt? Er geht einmal tanzen und versackt gleich mit einer ehemaligen Freundin von mir. Die turteln jetzt rum, geht mir so auf den Nerv. Worauf ist denn noch Verlass? Wissen Sie, ich habe alle Männer über. Alle! Die können mich mal! Sie sind zum Kotzen!“ Mit funkelnden Augen schaute sie die Therapeutin an.

„Ich verstehe, dass Sie sehr enttäuscht sind!“

„Und wütend und fühle mich verarscht! Ich will nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Höchstens mich an ihnen rächen.“

„An ihnen rächen?“

„Hätte nicht übel Lust dazu. Da fällt mir ein, Sie wissen noch gar nicht, dass ich letzte Woche den Taxischein gemacht habe. Morgen werde ich zum ersten Mal einen Wagen fahren. Am liebsten würde ich meinen Papa und Thomas mal in ein Auto laden und mit ihnen eine so wilde Fahrt veranstalten, dass Sie vor Angst schreien, und ich werde es genießen.“

Frau Delius musste lächeln und meinte dann:

„Offenbar wollen Sie sich von Männern, die Ihnen wichtig sind, nichts mehr gefallen lassen!“

„Nicht nur von denen.“ Lydia hatte sich in ihrem Sessel aufgerichtet. Ihr Betrübtsein war verschwunden.

Plötzlich passt ein Schlüssel

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