Читать книгу Plötzlich passt ein Schlüssel - Madlen Jacobshagen - Страница 2

Ron

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Ron strampelte immer weiter. Kein Lufthauch regte sich, und bei der Hitze wurde in ihm der Wunsch immer stärker, an einem der Badeteiche abzusteigen und ins kühle Wasser einzutauchen. Aber das kam nicht in Frage, weil er die Blicke der Männer und Frauen nicht ertragen hätte. Er hatte keinen sichtbaren körperlichen Mangel, nein, das war es nicht. Niemand durfte erfahren, dass er sich nur mit Badehose bekleidet entsetzlich schämte. Selbst die Andeutung seines Geschlechtsteils unter der Hose war ihm so peinlich, dass er lieber auf alle Badefreuden verzichtete. Mit einem kleinen Seufzer fuhr er weiter. Schließlich hielt er unter einer weit ausladenden Trauerweide, legte sein altes Rad auf den Rasen und setzte sich zwischen zwei Wurzeln mit dem Rücken am Stamm. Von hier aus hatte er einen guten Ausblick auf die Liegewiese, während er selbst kaum gesehen werden konnte. Er kramte umständlich ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ja, hier war es gut.

Nicht weit hinter dem Baum hatten sich zwei junge Männer auf ihren Badetüchern ausgebreitet. Ron mochte sich nicht umdrehen, um sie genauer anzusehen. Ihm genügte es, dass er jedes ihrer Worte verstand.

„Glaube ich Dir nicht. Du hast mit beiden schon?“

„Na klar, war doch ganz einfach, sie nach dem Tanzen abzuschleppen.“

„Und die wollten auch?“

„Du wirst lachen, die waren beide scharf auf mich. Streng dich doch auch mal an! Du siehst doch gut aus. Erzählst den Mädchen erst nette Sachen und dann verabredest du dich. Das klappt bestimmt, wetten?“

„Bisschen habe ich ja auch schon, aber so viele Frauen wie Du auf keinen Fall.“

Während Ron weiter die Ohren spitzte, hörte er wie die beiden aufsprangen und zum See liefen. Er war froh, dass das Gespräch vorbei war, denn die beiden hatten es geschafft, in seiner tiefsten Wunde zu bohren. Er hasste sich, weil er es noch nie geschafft hatte, eine Frau anzusprechen und mit ihr lieb zu tun. Dabei war er schon neunundzwanzig. Er wusste, dass er beim ersten Kontakt kein Wort herausbekommen würde. Er würde sein Leben lang allein bleiben, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte als eine Umarmung mit einer Frau. Ron begann damit, kleine Grashalme vor und neben sich auszurupfen. Nur nicht dran denken, schwor er sich. Nie wieder! Eine Weile starrte er vor sich hin. Die beiden Männer kamen aus dem Wasser zurück, aber das interessierte Ron nicht mehr. Vor ihm, vielleicht zwanzig Meter entfernt hatten sich zwei junge Frauen auf ein großes, buntes Tuch gelegt und einen Mp3-Player angestellt, aus dem laute, rhythmische Musik hervorquoll. Unüberhörbar. Ron musste zu den Frauen schauen und musste ihre kaum verdeckten Busen sehen. Obwohl er sich immer wieder den Befehl gab, sofort wegzugucken, starrte er weiter zu den sonnenhungrigen Damen. Als seine Erektion immer stärker wurde, sprang Ron auf, schnappte sich blitzschnell sein Rad und floh von den Badeseen weg. Dieser verdammte Trieb, er darf mich nicht wieder kriegen. Ich bin stärker, stärker, stärker…Bald erreichte er die Häuserreihen. Kaum jemand war zu sehen auf dem heißen Asphalt. Ron fuhr zügig weiter, bis er seine kleine Wohnung in einem Hinterhaus erreichte, die er sich mit seinem Kumpel Murat teilte. Mit einem erleichterten Seufzer ließ sich Ron auf sein altes Sofa fallen. Diesmal war es noch gut gegangen. Rasch drehte er den Wasserhahn auf, wölbte seine Hände zu einer kleinen Schale und ließ das kühle Nass hineinlaufen. Gierig trank er das Wasser und benetzte anschließend sein Gesicht damit. Murat war zum Glück nicht anwesend, sodass er ohne Widerspruch den Fernseher anstellen konnte. Er sah irgendwelche Szenen, nichts interessierte ihn im Moment. Hauptsache, er kam von den Frauen am Badesee los. Schließlich fragte er sich: Warum fahre ich überhaupt dahin? Warum bin ich so ein Idiot? Hätte mir bei diesem Wetter die Halbnackten ja denken können. Aber seine Selbstvorwürfe halfen nicht weiter, denn er wusste tief in seinem Innern, dass junge Frauen ihn magisch anzogen und er nie von ihnen lassen könnte. Jetzt galt es nur noch den Sonntag zu überstehen, denn ab Montag wäre er wieder gut abgelenkt bei der Arbeit.

Am nächsten Tag machte er sich schon gleich nach dem Frühstück auf. Murat schlief noch. Es würde wieder ein heißer Tag werden, diesmal mit einer schwer erträglichen Schwüle. Ron klemmte eine Wasserflasche an die Halterung und schob sein Rad auf die Straße. Heute wollte er eine weite Strecke den Fluss entlang fahren bis zu den Pferdekoppeln und einem Wäldchen. Dort würde er höchstens Menschen begegnen, die ordentlich angezogen wären. Ron liebte es, in die Pedale zu treten, den Fahrtwind im Gesicht. Noch waren wenig Leute unterwegs, nur hin und wieder einige Jogger. Es dauerte fast eine Stunde, bis er an seinem Wäldchen angelangt war. Dort stellte er sein Rad an einen Baum und setzte sich auf eine Bank, noch immer ein wenig außer Atem. Hier war er ganz allein. Man hätte meinen können, er wäre ein Naturliebhaber und wollte den sonnendurchfluteten Wald genießen und den Vogelstimmen lauschen. Weit gefehlt, Ron bekam von seiner Umgebung nicht viel mit. Bilder von Frauen tauchten in ihm auf. Manche schob er schnell weg, andere wurden zu Hauptfiguren in erotischen Tagträumen. Er malte sich in allen Einzelheiten aus, wie er als Frauenheld eine der Schönen verführte. Und wurde scharf. Als es stärker wurde, stand er schnell auf und verschwand im Dickicht hinter der Bank, um sich zu erleichtern.

Zurück auf der Bank nahm er sich ein paar Schluck Wasser und begann sich zu bedauern. Wie viel einfacher haben es andere Männer! Die brauchen nur im Ehebett neben sich zu greifen, dachte er. Mich wird nie eine wollen, nahm er die Gedanken vom Vortag wieder auf. Ich kann ja froh sein, dass sie mich beim Tiefbau genommen haben. Klar, harte Arbeit, aber besser als auf der Straße sein. Zuhause wollen sie seit Jahren nichts mehr von mir wissen. Die wissen gar nicht, wie gemein sie sind! Als ich damals wegen der Sache mit dem Mädchen verknackt wurde, hatte ich Glück, dass ich erst neunzehn war. Sonst hätte ich noch länger brummen müssen. Die Eltern und Marianne konnten sich im Gerichtssaal nicht verstellen. Ich sah ihnen schon von weitem ihre Verachtung an. Als ob sie was Besseres gewesen wären! Es gab doch zu Hause kaum einen Abend ohne Schlägerei. Immer war er voll. Immer hat er Mama brutal geschlagen. Warum sie nach dem Frauenhaus wieder zurückgekehrt ist, keine Ahnung. Zuhause war es beschissen. Punkt, und die sollen sich- verdammt noch mal- nicht so aufspielen. Schließlich habe ich das Mädchen nicht erwürgt, sondern ihr nur ein bisschen damit gedroht. Auch die Kumpel im Knast haben so getan, als ob ich ein Sexualmörder gewesen wär. Was haben die mir oft zugesetzt. Schluss, mag ich jetzt gar nicht dran denken. Es darf mir nur nie wieder passieren! Nie!

Wie macht das eigentlich Murat? Er ist nur zweimal im Jahr bei seiner Frau im Kosovo. Und so viel Geld verdient er auch nicht, dass er sich das oft leisten könnte. Muss ihn mal fragen.

Ron machte sich wieder auf den Weg. Er wollte eine kleine Schleife durch die Gärten nehmen und hinten am Freibad vorbeischauen. Nur ein kleines bisschen! Nach einiger Zeit traf er nun auch auf Spaziergänger, diese selbstzufriedenen Dickbäuche. Sie wollten sich wahrscheinlich noch ein wenig Hunger fürs Sonntagsmenü erlaufen. Könnten seine Eltern sein, aber wenn er genauer hinguckte, waren sie es doch nicht. Er radelte weiter. Am Weg, der an die Liegewiese des Freibads grenzte, machte er halt und lehnte sein Rad an den Drahtzaun. Ein bisschen Mädchen gucken wird ja noch erlaubt sein, sagte er sich. Und er kam an diesem Vormittag durchaus auf seine Kosten. Gerade breiteten zwei hübsche Frauen mit knappen Bikinis ihre Badetücher in der Nähe des Zauns aus, Ron konnte es kaum glauben. Da begann es plötzlich zu blitzen und zu donnern, und die ersten großen Tropfen fielen herab. In wilder Hast schnappten alle Badegäste ihre Sachen zusammen und rannten zu den Unterständen. Schade, dachte Ron und schaute sich in Ruhe das Getümmel in der Badeanstalt an. Ihm machte der Regen nichts aus. Im Gegenteil fand er ihn angenehm erfrischend, aber die Donnerschläge erschreckten ihn doch so, dass er sich beeilte, nach Hause zu kommen.

„Ein bisschen Tempo bitte! Ihr schlaft ja bald ein!“ schrie der Vormann zu den Männern runter. Die Schneidemaschine neben ihnen machte einen solchen Lärm, dass man ihn kaum hörte. Die Männer stellten sich taub. Dann kam er näher und brüllte noch mal. Klar, sie wollten heute Nachmittag mit dem Abschnitt fertig sein, aber bei der Hitze ging es eben nicht so schnell. Murat schrie zurück: „Wir beeilen, geht nicht schnell bei heute Hitze.“

Der Vormann, rotgesichtig, zuckte mit den Schultern und ließ von ihnen ab. Murat hatte recht. Er war für ihn der Vernünftigste, und die 5-Männer-Gruppe arbeitete eigentlich gut. Sein Chef musste halt kapieren, dass er zu viel von ihnen verlangt hatte. Soll er doch selbst mal hier bei den Abflussrohren arbeiten, der arrogante Kerl.

Ron wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel ab, seufzte, setzte seine Kappe wieder zurecht und wünschte sich dringend einen kühlen Schluck. Noch eine Dreiviertelstunde war es bis zum Feierabend. Eine Stunde später ging es ihm schon wesentlich besser, als er mit Murat an einem Kiosk Bier trank. „Gut Arbeit hier, aber Leben schlecht“, begann Murat. Seine Frau hatte ihn gestern Abend angerufen, dass sie mit der Ernte allein nicht zurecht käme. Sie sei schon einmal umgekippt auf dem Feld, und der kleine Mirko habe ausgerechnet jetzt im Sommer hohes Fieber und Durchfall bekommen. Was sie machen solle? ‚Du musst kommen‘ habe sie gesagt. „Geht aber nicht!“ brummte Murat in Rons Richtung „Dann Arbeitsvertrag weg. Du hast gut, hast keine Frau und Kinder…“ Ron wusste nicht, was er ihm raten sollte, und legte nur beschwichtigend seinen Arm auf Murats Schulter.

Als sie abends im Fernsehen ein Fußballspiel anschauten, hallten Murats Worte noch in ihm nach: Du hast es gut, hast keine Frau und Kinder… Wenn der wüsste, wie sehr er sich eine Frau wünschte. Aber er würde es ihm natürlich nie sagen. Murat wusste auch nichts von seinen Jahren im Gefängnis; er wusste nur, dass Ron gerade keine Freundin hatte. Irgendwann hatte Ron sich mal getraut Murat zu fragen, ob er manchmal ins Rotlichtviertel ginge. Murat hatte ihn angegrinst und gemeint:

„Ist was für Deutsche, nicht für Moslems.“

„Ich dachte ja nur.“ Mehr hatte sich Ron nicht zu sagen getraut. Aber Murat hatte seine Gedanken erraten und gesagt: „Musst anders machen.“ Ron war dabei rot geworden, aber Murat hatte es nicht gemerkt, weil der Raum nur vom Fernseher beleuchtet worden war.

Fast hätte er sie nicht erkannt, als er ein paar Tage später aus dem Hauptbahnhof kam und an einer Gruppe Punker vorbeischlenderte. Vier Frauen und drei Männer saßen oder standen da an einer niedrigen Mauer und prosteten sich mit kleinen Flaschen Bier zu. Die meisten hatten pink oder türkis gefärbte Haare an den Stellen ihrer Köpfe, die nicht rasiert waren. Silbern glänzende Ringe an Nasen, Mundwinkeln oder Ohren komplettierten ihr Outfit. Einer der Männer grölte ein englisches Lied und eine Frau beugte sich gerade herunter zu ihrem Schäferhund, der brav auf einer Decke zu ihren Füßen lag. Eigentlich ein Bild, an das wir uns schon gewöhnt haben. Aber nicht Ron. Er erkannte plötzlich in dieser Frau seine Schwester Martina, die er seit der Gerichtsverhandlung vor zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie schien betrunken zu sein, weil sie sich an der Mauer festhalten musste, um nicht zu fallen. So weit war es also auch mit ihr gekommen. Er schaute ihr wortlos in die Augen und sagte dann halblaut „Martina, du hier?“

Martina sah ihn erstaunt an und lallte dann in Richtung ihrer Freunde:

„Darf ich hick… vorstellen …hick… mein Bruder Ron, kommt direkt aus dem Bau.“ Die anderen grinsten Ron an. Er fand die Leute widerlich, wollte so schnell wie möglich weg, aber er wollte auch wissen, was mit Martina los war.

„Sag mal, wo schläfst du nachts? “

„Ich kenne da einen Hausflur.“

„Hast du denn genug zu essen?“

„Brauch ich nicht, hab ja das Bier!“

„Nein Martina, so gehst du vor die Hunde.“

Ron hatte sich vor ihr aufgebaut und sie an einem Arm gepackt, als sie schon wieder umzukippen drohte. Einer von den angetrunkenen Männern trat von hinten an sie ran und riss sie sich an die Brust.

„Das ist meine, Kumpel, hau ab! Wir machen das schon! Hol uns lieber noch ne Runde!“

Ron blickte noch einmal unsicher vor sich hin und beeilte sich dann, die Gruppe zu verlassen. Martina lebte also auf der Straße und soff. Grausam! Sie war früher so ein hübsches Mädchen, war seine liebe Martina. Wenn ich nur dran denke, wie wir uns gemeinsam hinter den Möbeln versteckt haben, wenn der Vater betrunken nach Hause kam. Einmal haben wir zusammen versucht, die Mutter vor den Prügeln zu schützen. Martina hatte sich vor die Mutter gestellt, und ich war auf den Vater losgegangen. Schrecklich war das, denn Papa hat mich so stark gegen die Wand geschleudert, dass mir alle Knochen wehtaten, wahrscheinlich war auch was gebrochen. Es war so fürchterlich! Wir waren ihm alle total ausgeliefert. Im Kinderzimmer haben wir dann gemeinsam geheult. Niemand hat es gewusst, denn die Zimmerwände waren leider so dick. Und Mutter, die doofe Ziege, warum kehrte sie aus dem Frauenhaus mit uns zurück? Wollte sie wieder so schlimm zugerichtet werden? Es war eine grausame Zeit, und Martina und ich, wir haben immer zusammengehalten. Und dann hat sie sich vollkommen von mir abgewendet, nur, weil ich ein Mädchen vergewaltigt habe. Was hat man denn mit uns getan? Oder haben die Eltern sie gegen mich aufgehetzt? Viele Bilder und Gedanken wirbelten durch Rons Kopf. Am Ende der Straße kehrte er zur Punkergruppe um. Er wollte von Martina mehr wissen, sich vielleicht auch um sie kümmern. Als er wieder ankam, fragte er sie aber als erstes: „Sag mal, leben die Eltern noch?“

Martina lallte ihm entgegen:

„Ach, lass mich in Ruhe. Papa hat sich totgesoffen und Mama ist im Irrenhaus! Nur mir geht es – hick – gut! Prost!“ Dabei sank sie zu Boden neben den Hund. Rons Magen krampfte sich zusammen und ihm wurde schwindelig. Jetzt suchte er selbst Halt und setzte sich zu den anderen auf die niedrige Mauer.

„Willkommen bei den Ätzenden! Oder willste wieder gehn?“

Ron erwiderte nichts. Sein Blick verschleierte sich. Dicke Tränen liefen ihm über die Wangen. Jetzt war es ihm egal, was Zuschauer dachten. Immer mehr Tränen quollen aus ihm hervor, bis er schluchzend am ganzen Körper zitterte. Es wollte gar nicht aufhören. Da spürte er, wie Martina zu ihm rüberlangte und „armer Ronny“ stotterte. Augenblicklich versiegte der Tränenstrom. Da hatte sich ein Zipfel von der alten Vertrautheit gezeigt, ein kleines Trostpflästerchen. Es wurde still in der Gruppe. Nach einer Weile erhob sich Ron, nickte seiner Schwester noch einmal zu und verschwand im Menschengewühl vorm Bahnhof.

Es war ihm, als hätte man mit dem Holzhammer auf ihn eingeschlagen, gleich von drei Seiten. Während der Jahre im Gefängnis hatte er sich sehnlichst gewünscht, sie hätten ihn mal besucht, hätten ihm seine Straftat verziehen und ihm ein bisschen Mut zugesprochen. Aber als niemand kam, hatte er sich geschworen, niemals mehr an sie zu denken. Seine ganze Kindheit wollte er vergessen, doch es gelang lange nicht. Immer wieder tauchten Erinnerungen auf, manchmal hartnäckiger als je zuvor. Dann endlich ließen die Bilder nach und wurden immer blasser und blasser; sie schienen von einem dichten Nebel eingehüllt zu sein. Und heute hatte er mit seiner Frage selbst den Nebel aufgerissen. Vater war tot, Mama verrückt und Martina total abgerutscht. Schlimmer, schien es ihm, hätte es nicht kommen können. Wie ein Roboter ging er durch die Straßen und nahm nichts in seiner Umgebung wahr. Ein Wort hämmerte in seinem Kopf auf ihn ein: „verflucht“. Unsere ganze Familie ist verflucht, dachte er immerzu. Früher meinte er, er sei allein der Verbrecher, der „Abschaum der Gesellschaft“, wie er mal jemanden über die Strafgefangenen hatte reden hören. Jetzt fand er seine Eltern und Martina nicht minder schlimm. Wir sind verflucht in alle Ewigkeit, sagte er sich. Niemand kann uns helfen. Alle sind wir verloren. Fast wäre er über ein kleines Kind gestolpert, was sich in der Fußgängerzone von seiner Mutter losgerissen hatte. Kurz schrak er auf und ging dann automatisch weiter, bis er schließlich einen großen Park erreichte. Eingerahmt von zwei größeren Büschen fand er eine allein stehende Bank, auf die er niedersank. Er saß dort nach vorn gebeugt, hielt mit beiden Händen seinen Kopf. Ihm drängte sich das Bild einer tobsüchtigen, die Augen verdrehenden Frau auf, welche die Anstalt zusammen schrie. So wäre jetzt seine Mutter. Es war niemand da, der ihm widersprach, und so steigerte er sich immer weiter in Schreckensgespinste hinein. Sein Vater hatte sie sicher zum Äußersten getrieben. Ein Glück, dass er jetzt tot ist. Aber kaum hatte er das gedacht, fühlte er sich schuldig, ihm den Tod gewünscht zu haben. Er sei auch nicht besser, fand er dann. Ich werde genauso enden wie er, vielleicht noch schlimmer wegen des verflixten Triebes. Jetzt habe ich mich jahrelang von den Frauen ferngehalten, doch das werde ich nicht mehr lange durchhalten. Wenn ich neulich am Badeteich nicht geflohen wäre…

Ron raufte sich fortwährend die Haare und dachte, dass er es nicht schaffen werde. Er sei sowieso verflucht, weil er aus der verfluchten Familie stamme. Alles sei jetzt egal. Wozu sich noch anstrengen? Für wen denn? Er sank vollständig in sich zusammen.

Vielleicht hätte Murat ihn etwas trösten können, aber da er kein Wort über seinen Kummer verlor, kam auch kein Trost. Das Leben ging grau und stumpf weiter. Am nächsten Montag hätte er fast jemanden umgebracht. Bei der Arbeit fragte plötzlich Roberto, den er sowieso nicht gut leiden mochte, ob denn die besoffene Nutte am Bahnhofsvorplatz wirklich seine Schwester sei. Er habe die Szene genau beobachtet. Außerdem hätte er nicht gewusst, dass Ron schon gesessen habe. Ron war so wütend, dass er ihm fast die Schaufel auf den Kopf geschlagen hätte. Im letzten Moment hatte ihm Murat seinen Arm auf die Schulter gelegt und den Schlag verhindert. Murat hatte Roberto angefahren mit „Halts Maul, du Arschloch!“ und Roberto hatte sich mit hämischem Lachen abgewendet. Zum Glück hatte der Vormann nichts mitgekriegt. Zuhause meinte Murat nur: „Roberto gemein“ und drang nicht weiter in Ron.

Doch nun begann Ron auch noch um seinen Arbeitsplatz zu fürchten. Roberto könnte ihn jederzeit beim Chef anschwärzen. Wenn er die Arbeit verlöre, wäre die Wohnung auch hin und das Zusammensein mit seinem Kumpel.

Wieder krochen die Gedanken von letzter Woche in ihn hinein: Alles wird schlimm. Es gibt kein Halten mehr. Ich bin verflucht. Verflucht, verflucht.

Plötzlich passt ein Schlüssel

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