Читать книгу Magda Trott: Goldköpfchen Gesamtausgabe - Magda Trott - Страница 17

Ein Schritt vom Wege

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Mit gesenktem Haupt stand Goldköpfchen vor der Mutter.

»Antworte mir, Bärbel, warum kommst du heute so spät heim? Du hast wieder nachsitzen müssen?«

»Ja.«

»Aus welchem Grunde?«

»Ich habe nicht aufgepaßt, Mutti, ich hatte an soviel anderes zu denken, und sie hat mich gerade gefragt, da wußte ich nicht, was sie gesagt hatte.«

»Weißt du jetzt, was dich Fräulein Greger gefragt hat?«

»Ja, jetzt weiß ich es, denn ich habe es zehnmal schreiben müssen.«

»Zeige mir das Heft!«

Frau Wagner nahm das Schreibheft ihrer Tochter und las die Sätze. »Wenn ich in einer Bahn sitze, und es will noch eine alte Dame oder ein alter Herr einsteigen, mache ich höflich Platz, denn man soll das Alter ehren.«

»Hast du das denn noch nicht gewußt, Bärbel?«

Das Kind schwieg.

»Was hast du Fräulein Greger für eine Antwort gegeben?«

Bärbel senkte das Köpfchen noch tiefer. »Ich habe doch nur gehört«, kam es stockend hervor, »was man tun muß, wenn alles voll ist, und da habe ich gesagt: man schreit: alles besetzt!«

»Es ist dir ganz recht, Bärbel, wenn du dafür nachsitzen mußtest, deine Unaufmerksamkeit wird dir noch manchen schlimmen Streich spielen. Nun aber noch eins, mein Kind. Du weißt, daß der Vati mit uns allen am Sonntag nach der Ruine Hohenfels fahren will. Es soll eine schöne Autotour werden. Wir fahren schon früh ab. Wenn du aber in dieser Woche noch ein einziges Mal in der Schule nachsitzen mußt, darfst du nicht mitkommen. Du weißt, ich halte Wort!«

»Ach, Mutti, ich werde schon aufpassen, ich freu’ mich doch so furchtbar toll auf die Fahrt.«

»Dann nimm dich gut zusammen, Bärbel. Heute ist Dienstag, ich verlange also sehr wenig von dir.«

Bärbel machte einen Luftsprung. Auf die Ausfahrt im Auto freute sich das Kind schon lange. Nun war endlich der kommende Sonntag in Aussicht genommen worden, und Goldköpfchen konnte diesen Tag kaum erwarten.

Am anderen Morgen mußte es natürlich in der Schule sofort erzählen, daß am Sonntag eine Fahrt nach der Ruine vorgesehen sei. Fräulein Fiebiger verwies dem kleinen Plappermäulchen mehrmals die sprudelnde Lebhaftigkeit. Bärbel saß dann wohl für Augenblicke still, aber die Ausfahrt spukte immer wieder im Köpfchen herum, daß das Kind Mühe hatte, den Worten der Lehrerin zu folgen.

Ganz besonders schlimm war es in der Rechenstunde. Heute wurden die Bruchrechnungen durchgenommen, und Bärbel seufzte schwer. Besonders dabei mußte man furchtbar aufpassen, und das wurde ihr sauer.

»Nun, Bärbel?«

Die Kleine fuhr erschreckt zusammen. Sie hatte soeben daran gedacht, daß sie furchtbar gern vorn beim Chauffeur sitzen wollte, um die Uhr zu beobachten. Onkel Senftleben hatte ihr erzählt, daß man mit dem Auto siebzig und mehr Kilometer in der Stunde fahren könne, und daß die Geschwindigkeit auf dieser Uhr angezeigt werde.

»Wieviel macht es, Bärbel?«

Es bemächtigte sich des Kindes grenzenlose Verzweiflung. »Siebzig«, sagte es kleinlaut, wohl wissend, daß diese Antwort falsch sein mußte, denn Goldköpfchen kannte die Frage nicht.

»Du hast ja schon wieder nicht aufgepaßt, Bärbel. Wenn ich dir 66 Äpfel gebe, und dein Bruder will zwei Drittel davon haben, wieviel bekommt er?«

»Er bekommt zuerst Bauchweh!« schrie Georg Schenk dazwischen.

»Ruhe!« gebot Fräulein Fiebiger. »Bärbel, antworte!«

Bärbel machte das liebenswürdigste Gesicht, über das sie verfügte. »Fräulein, das wird etwas viel für den Bruder, er ist noch klein, und dann wird er krank, wenn er zuviel ißt.«

»Er soll die Äpfel auch nicht essen. Du sollst mir Bescheid geben auf meine Frage.«

»Ich würde ihn verhauen«, rief Georg dazwischen, »wenn er zwei Drittel haben will, und ich behalte nur ein Drittel. Solch kleener Kerl braucht noch nicht so viel.«

»Georg, du gehst sofort vorn an die Tafel und schreibst den Satz: ich soll nicht vorlaut sein.«

Die Rechenstunde ging weiter, Georg mußte den Satz fünfmal niederschreiben. Da Bärbel wieder nicht aufpaßte, drohte die Lehrerin, daß auch sie an die Tafel geschickt werde. Es geschah auch schon nach kurzer Zeit.

»Du schreibst: ich soll in der Stunde aufpassen.«

»Der Georg hat doch die ganze Tafel vollgemacht.«

Fräulein Fiebiger drehte die Tafel auf die andere Seite und gebot dem Kinde, zu schreiben.

Da stand nun der Satz während der ganzen Stunde mahnend an der Tafel, und jedesmal, wenn Goldköpfchen aufschaute, las es die selbstgeschriebenen Worte; es bemühte sich, seine Gedanken zu sammeln.

Endlich war die schreckliche Stunde vorüber.

»So, Bärbel, nun darfst du den Satz an der Tafel wieder fortwischen.«

Mit Begeisterung wischte die Kleine mit dem nassen Schwamm auf der Tafel herum.

»Fräulein?«

»Was willst du, Bärbel? – Hast du den Satz ausgelöscht?«

»Ja, – darf ich nun auch den hinteren vom Georg abwischen?«

»Ja.«

Georg schrie vor Lachen. Fräulein Fiebiger verwies ihm das Lachen; aber er hörte nicht auf.

»Fräulein, Fräulein«, rief er, »haben Sie gehört, was die Bärbel gesagt hat?«

Die Lehrerin errötete leicht, brach das Gespräch ab und gebot Ruhe.

In der nächsten Stunde aber erfüllte sich Bärbels Geschick. Fräulein Fiebiger hatte ohnehin heute schon ein scharfes Auge auf die kleine Zerstreute. Und da Bärbel immer wieder falsche Antworten gab, wurde die Lehrerin schließlich ernstlich böse.

»Ihr hattet zur heutigen Stunde auf, die erste Strophe zu lernen von dem Gedicht vom braven Mann. Bärbel, beginne.«

»Vom braven – Mann. – Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann.«

Wieherndes Gelächter in der Klasse.

»Das sagt mein Vater auch«, rief Hanna.

»So – Bärbel, – du bleibst nach Schulschluß hier und schreibst dreimal die erste Strophe des Gedichtes nieder.«

Bärbel wurde blaß. Die Worte fielen zentnerschwer auf das Kinderherz. Sie hörte in Gedanken die Worte der Mutter, sah die Eltern am kommenden Sonntag nach der Ruine fahren, man ließ sie daheim. Das stand für Bärbel felsenfest, daß sich die Mutter weder durch Bitten noch durch Versprechungen überreden ließ, sie zu der Ausfahrt mitzunehmen.

Die Tränen traten ihr in die Augen. »Das Lied vom braven Mann«, rief sie ängstlich, und hilfesuchend schaute sie sich um.

»Hoch klingt«, flüsterte Hanna ihr zu.

»Hoch klingt …« Bärbel war viel zu erregt, um die Verse zu wissen. Außerdem hatte sie sie sehr schlecht gelernt.

»Hoch das Bein, das Vaterland soll leben!« flüsterte Georg.

Die Lehrerin hörte den Zuruf. »Wenn du noch ein einziges Wort vorsagst, Georg, und wenn du weiter solch dummes Zeug redest, lasse ich dich auch nachsitzen.«

»Ich hab’ nichts gesagt.«

»Willst du noch lügen, Georg, ich habe deutlich gehört, daß du Bärbel zu verwirren suchtest.«

Georg lachte verstohlen in sich hinein. Fräulein Fiebiger wartete noch ein Weilchen; da aber Bärbel den Anfang nicht wußte, blieb es bei der diktierten Strafe.

Schließlich kam es dahin, daß auch Georg, der die Strophe ebenfalls nicht gelernt hatte, zum Nachbleiben verurteilt wurde; und während der Knabe diese Strafe gelassen entgegennahm, saß Bärbel verstört auf dem Platze und dachte an nichts anderes als an die verlorene Freude.

Um zwölf Uhr verließen die Kinder die Schule, Bärbel und Georg mußten zurückbleiben. Der Knabe schmierte aus dem Buch die erste Strophe ab, Bärbel hatte das Gesichtchen in die Arme gedrückt und weinte.

»Was heulst du denn, – schreib doch lieber! Ich bin bald fertig.«

»Ich darf am Sonntag nicht mitfahren«, klang es schluchzend zurück.

»Ach was, deine Eltern nehmen dich ja doch mit.«

»Nein, – ich darf bestimmt nicht mit. – Die Mutti hat gesagt, wenn ich noch einmal nachsitzen muß, darf ich nicht mit.«

»Sag’s doch nicht!«

Bärbel fuhr auf und schaute Georg an, als habe er etwas Unerhörtes ausgesprochen.

»Na, du bist schön dumm, wenn du alles sagst, – meine Mutter weiß nie, wenn ich nachbleiben muß.«

»Wenn du aber so spät heimkommst?«

»Dann bin ich eben mit einem Freunde ein Stück mitgelaufen, oder ich habe für die Lehrerin etwas besorgt. – Man muß eben ’ne Ausrede finden!«

»Du belügst deine Mutti?«

»Das ist keine richtige Lüge, sie ärgert sich, wenn ich nachbleiben muß, und den Ärger mache ich ihr nicht.«

Bärbel starrte sinnend vor sich hin. Es wollte der Kleinen nicht in den Sinn, daß man seinen Eltern etwas Unwahres sagen dürfe. Die Mutti würde es auch sofort merken, wenn sie so spät aus der Schule kam.

»Ich würde es nicht sagen«, fuhr Georg fort, »es findet sich schon eine Ausrede. Dann darfst du mit nach der Ruine fahren. Es schadet auch gar nichts, wenn man mal schwindelt.«

Bärbel schluckte wieder an den Tränen. Die Ausfahrt, die sie nicht mitmachen durfte, bereitete ihr den größten Kummer. Wenn es möglich gewesen wäre, daß die Eltern von dem heutigen Nachsitzen nichts erfuhren, durfte sie am Sonntag mit zur Ruine fahren. Aber die Mutti paßte genau auf.

Plötzlich fing Bärbel an, in größter Eile die Strophe niederzuschreiben. Es wurde ein Geschmiere, daß die einzelnen Buchstaben kaum zu erkennen waren, und noch ehe Georg die Strophe zum zweiten Male niedergeschrieben hatte, war sie fertig. Bärbel nahm das Heft, stürmte damit ins Nebenzimmer, in dem Fräulein Fiebiger saß und korrigierte.

»Ich bin fertig«, rief sie atemlos, »darf ich nun heimgehen?«

Die Lehrerin nahm das Heft, ihre Stirn furchte sich. »Nennst du das schreiben? – Das ist geschmiert! – Du gehst sofort wieder zurück und schreibst die ganze Strophe noch einmal sauber und fehlerlos ab.«

Aufs neue tropften die Tränen aus Bärbels Augen. Georg grinste ihr entgegen.

»Aetsch – wer schnell fährt, zerbricht ein Rad, – wer langsam fährt, kommt auch zur Stadt.«

Mutlos machte sich Bärbel an die Arbeit. Nun wurde es ja doch mit der Ausfahrt nichts mehr, da konnte sie das Gedicht schön abschreiben.

Als sie endlich eine halbe Stunde nach Schulschluß das Klassenzimmer verließ, stand Georg unten auf der Straße und wartete.

»Ich hab’ auf dich gewartet«, sagte er, »wir gehen zusammen heim; wenn meine Mutter am Fenster steht und uns sieht, sage ich ihr, wir haben heute länger Unterricht gehabt. Das glaubt sie.«

Bärbel erwiderte nichts. Die Kleine war so verstört, daß ihr alles gleich war. Aber schließlich horchte sie doch auf, denn dumpfes Trommeln kam näher und näher.

»Ein Bär, – ein tanzender Bär!«

Man lief in die Nebenstraße, sah dort zwei eigenartig gekleidete Männer, von denen der eine ein Tambourin in der Hand hatte, der zweite führte einen Bären, der auf den Hinterbeinen stand und hin und her tänzelte. Für Augenblicke war Bärbels Kummer vergessen. Man lief fröhlich hinter dem Bär her, der den Weg durch die Bergstraße nahm, also geradeswegs hin zur Apotheke.

Eine Unmenge Kinder begleitete die beiden Männer, von denen der eine in die Häuser ging und Geld einsammelte.

Als sich Georg endlich von Bärbel trennte, flüsterte er der Schulkameradin zu: »Heute haben wir Glück gehabt, jetzt braucht es deine Mutter nicht zu erfahren, daß wir nachsitzen mußten. – Wir sind mit dem Bären gegangen, – das ist nicht gelogen.«

Sehr langsam betrat Bärbel das Elternhaus. Am Fenster stand Frau Wagner und schaute auf den Tanzbären. Sie nickte der Tochter freundlich zu. Dann stand Bärbel vor der Mutter.

»So spät, Bärbel? – Bist wohl mit dem Bären mitgelaufen?«

»Ja.« Das Kind suchte eifrig in der Schulmappe und hob den Kopf nicht.

»Du sollst aber pünktlich heimkommen, mein Kind. Der Bär geht durch alle Straßen, und du weißt, wir warten auf dein Kommen.«

Bärbel hatte sich abgewandt, sie fühlte, daß ihr der Kopf glühte.

»Bekomme ich denn heute kein Küßchen, mein Kind?«

Scheu kam das Kind heran. »Aber, Goldköpfchen, du siehst so erhitzt aus, bist du so sehr gelaufen?«

»Ich bin mit dem Bären mitgegangen.«

In demselben Augenblick wurde Frau Wagner gerufen, da das Essen fertig war. Weil sie stets selbst die letzte Hand anlegte, ging sie rasch davon; Goldköpfchen atmete erleichtert auf.

Trotzdem konnte das Kind heute nicht froh werden. Es mied die Nähe der Mutter, beschäftigte sich mehr denn je mit den Zwillingsbrüdern und ließ von Zeit zu Zeit das Köpfchen hängen, denn im Innern rief eine Stimme: Bärbel, was hast du getan?

Gewaltsam zwang sich die Kleine, an etwas anderes zu denken. Die Schularbeiten wurden heute mit peinlicher Gewissenhaftigkeit gemacht, aber gerade dabei kam immer wieder die Erinnerung an die Unwahrheit. Trotzdem gewann es Bärbel nicht über sich, das Unrecht einzugestehen, denn der Vater hatte gerade heute so schöne Bilder von der Ruine Hohenfels gebracht, daß Bärbel unmöglich auf die Fahrt verzichten wollte.

Am nächsten Tage war sie in der Schule brav und aufmerksam. Alle Lehrerinnen wunderten sich darüber, es kam heute nicht eine einzige falsche Antwort, das Kind saß kerzengerade da; nur von Zeit zu Zeit zuckte es um den Kindermund wie von verhaltenem Weinen.

»Na«, flüsterte Georg, »hat deine Mutter was gemerkt?«

»Nein.«

»Siehst du, das haben wir fein gemacht.«

Bärbel erwiderte nichts, sie atmete schwer. Immer wieder fielen ihr Dinge ein, die davon zeugten, wie gut die Mutti war; und nun war diese gute Mutti von ihr belogen worden.

In der Pause näherte sich Georg wieder dem kleinen Mädchen. Wegen der Tauschgeschäfte, die man machte, kam es zu Streitigkeiten, Georg wurde immer dreister, und schließlich schrie er Bärbel zornig an:

»Wenn du mir morgen nicht die Pappschachtel mitbringst, sage ich deiner Mutter, daß du gestern hast nachsitzen müssen.«

Bärbel erschrak und versprach die verlangte Schachtel.

Die Schachtel wurde auch wirklich gebracht, der Provisor Senftleben hatte einen Seifenkarton ausgeräumt und ihn der Kleinen ausgehändigt. Aber Georg Schenk erkannte, daß er jetzt ein feines Mittel hatte, um Bärbel zum Herausgeben von allerhand ihm nützlich erscheinenden Dingen zu bewegen. Vor allen Dingen hatte es ihm der Federhalter angetan, in dem ein Loch war, durch das man ein Bild sah.

»Wenn du mir deinen Federhalter nicht gibst, sage ich deiner Mutter, daß du sie belogen hast.«

»Den Federhalter habe ich von meiner Großmama.«

»Na, meinetwegen, brauchst ihn mir ja nicht zu geben, aber deine Mutter muß es doch wissen, daß du nachgesessen hast.«

So wurde das kleine Kinderherz gepeinigt. Immer fester zog Georg die Schlinge zu, und Bärbel wußte in seiner Herzensangst nichts anderes zu tun, als sich vom geliebten Federhalter zu trennen.

Aber es kam noch schlimmer. Georg brauchte Geld und forderte von Bärbel, sie solle ihm fünfzig Pfennige geben. Damit sollte sich Bärbel sein ewiges Stillschweigen erkaufen.

»Ich habe kein Geld!«

»Dann laß dir was geben. Der Provisor hat doch die Kasse.«

»Ich hab’ kein Geld«, rief Bärbel leidenschaftlich.

»Bring es mir morgen mit!«

Georg ließ nicht nach, und als Bärbel am Freitag heimging, fühlte sie sich so unglücklich, daß sie am liebsten laut geweint hätte.

Fünfzig Pfennige! – Woher sollte sie das viele Geld nehmen? Wenn doch erst der Sonntag vorüber wäre, dann wollte sie ganz gewiß der Mutti alles sagen. Aber auf die Fahrt nach der Ruine wollte sie nicht verzichten. – Wenn sie morgen das Geld nicht mitbrachte, kam der Georg in die Apotheke und erzählte alles. Er würde auch sagen, daß sie das Geschenk der Großmama weitergegeben hatte, und würde dadurch die Mutter noch mehr erzürnen.

Fünfzig Pfennige! Wer gab ihr diese Summe?

Ob sie sich deswegen an den Onkel Provisor wandte? Nach langem Überlegen tat sie es.

»Wozu brauchst du das Geld, Goldköpfchen?«

»Ich brauche es eben.«

»Nein, Kind, dann kann ich dir nichts geben. Geh zum Vati.«

»Nur ein einziges Mal gib mir das Geld.«

»Nein, Bärbel, das darf ich nicht.«

Die Kleine überlegte ein Weilchen. Vor zwei Tagen war ein neues Hausmädchen gekommen; ob sich Bärbel an Ella wandte? Aber sie hatte zu der Fremden noch kein Vertrauen, und wahrscheinlich würde Ella auch fragen, wozu sie das Geld brauche. Vielleicht würde sie es sogar der Mutter sagen, und das war noch schlimmer.

Als Bärbel am nächsten Mittag die Küche betrat, sah es neben dem Kohlenkasten etwas blinken. Die Kleine beugte sich nieder, ein Fünfzigpfennigstück glänzte ihr entgegen.

Zuerst war Bärbel sprachlos, dann griff es nach dem Geldstück, und ein Jauchzen kam über die Kinderlippen.

Das Geldstück wanderte in den Federkasten, und Bärbel fühlte sich erleichtert und beglückt.

Am nächsten Morgen bekam Georg die fünfzig Pfennige. »Wenn du jetzt noch mal klatschen willst, bist du ein ganz gemeiner Lügner«, sagte Bärbel, als sie das Geld übergab. »Du hast gesagt, du wirst nicht mehr klatschen.«

»Was ich gesagt habe, das weiß ich«, erklärte Georg, »ich wollte ja nur die fünfzig Pfennige haben.«

Da die Fahrt nach der Ruine nahe bevorstand, nahm sich Bärbel auch heute wieder in den Stunden zusammen. Sie durfte nicht nachsitzen, sie wollte aber auch den Eltern eine Freude bereiten, wollte das eigene Gewissen beschwichtigen. Daß sie der Mutter das Nachsitzen verschwiegen hatte, war allerdings ein kleiner Stachel, der in dem Kinderherzen saß. Aber Bärbel wollte nun nicht mehr daran denken und durch Fleiß und Aufmerksamkeit dieses Unrecht wieder gutmachen. War erst die Fahrt nach der Ruine vorüber, dann sollte auch Georg seine Strafe haben, dann wollte sie sich mit ihm messen. Es würde eine regelrechte Prügelei geben, denn das kräftige Mädchen wagte den Kampf mit dem nicht gar zu mutigen Georg Schenk.

»Ich werde ihn mächtig verhauen«, sagte die Kleine in Gedanken vor sich hin und sah sich bereits als Siegerin.

»Bärbel! – Sage mir, warum die Räuber den Samariter auszogen?«

»Sie wollten ihn verhauen!«

»Bärbel, wo sind deine Gedanken?«

Goldköpfchen erschrak. Es hatte sich doch fest vorgenommen, in den Stunden immer gut aufzupassen.

»Ach – Fräulein«, sagte das Kind kleinlaut, »ich habe wirklich im Augenblick an ganz was Wichtiges gedacht.«

Fräulein Fiebiger hatte heute keinen Grund mehr, über Bärbel zu schelten, die Kleine nahm die Gedanken zusammen und paßte gut auf.

Sonnabend mittag! – Nun bestand keine Gefahr mehr, morgen ging es zur Ruine. – Wenn sich nur nicht immer in die große Freude der Gedanke an den braven Mann einschleichen wollte. Diese abscheulichen Gedichte! Richtig, – zu Montag mußten sie ja auch wieder einige Strophen auswendig lernen. Es stand im Aufgabenbuch.

Bärbel nahm sich vor, auch heute wieder alle Schularbeiten recht gut zu erledigen, sogar das Gedicht zu lernen.

So saß sie in der Laube im Garten, schlug das Buch auf und begann zu lesen:

Vor allem eins, mein Kind, sei treu und wahr.

Laß nie die Lüge deinen Mund entweih’n.

Bärbel stutzte und hob das Köpfchen. Ihre Stirn färbte sich rot. Wieder fiel ihr die Unwahrheit ein. Hatte Fräulein Fiebiger vielleicht doch etwas gemerkt und darum gerade dieses Gedicht zum Auswendiglernen gewählt? – Laß nie die Lüge deinen Mund entweih’n. Das brauchte Bärbel ja gar nicht erst zu lernen, denn diese zwei Zeilen brannten sich sofort in ihr Gedächtnis ein. Und nun weiter:

Leicht schleicht die Lüge sich ans Herz heran.

Zuerst ein Zwerg, ein Riese hinternach.

Doch dein Gewissen zeigt den Feind dir an.

Und eine Stimme ruft in dir: sei wach!

Bärbels Augen wanderten von dem Buch. Ja, das Gewissen klopfte auch heute noch. Sie hatte gelogen, eine ganz winzige Unwahrheit gesagt. Wie gut, daß nun alles erledigt war, und daß diesmal kein Riese daraus geworden war.

Seufzend wiederholte sie das Gedicht. Sie brauchte es nur zwei-, dreimal zu lesen, da wußte sie Wort für Wort auswendig; ob sie wollte oder nicht, immerfort sprach eine innere Stimme: laß nie die Lüge deinen Mund entweih’n!

Diese Stimme, die aus dem Gewissen kam, nahm Bärbel die Ruhe. Sie hörte es ganz deutlich, wie das Herz bei jedem Schlag sagte: laß nie die Lüge deinen Mund entweih’n!

Das kleine Mädchen versank in Grübelei. »Ach, die Tauben haben es vielleicht recht gut, die können die Stimme des Gewissens nicht hören, und bei mir klopft es immerfort.«

Sie nahm die Schreibarbeit vor, hörte die Mutter im Garten, die mit den beiden Brüderchen sprach; sie sah den Vater kommen, aber sie ließ sich im Arbeiten nicht stören, emsig schrieb sie weiter.

Plötzlich hob sich der blonde Kopf. Vater und Mutter standen ganz in der Nähe der Laube und sprachen zusammen. Man schien die Nähe Goldköpfchens vergessen zu haben.

»Ich glaube«, sagte Frau Wagner, »ich werde Ella wieder entlassen müssen, sie scheint nicht ehrlich zu sein.«

»Hast du sie auf die Probe gestellt?« fragte der Vater.

»Ja, – sie hat Zucker genascht, aber dann hat sie mir Geld nicht abgeliefert.«

»O weh!«

»Ich habe absichtlich ein Fünfzigpfennigstück neben den Kohlenkasten gelegt, um ihre Ehrlichkeit zu prüfen. Heute habe ich gefragt, ob sie das Geldstück nicht gefunden hat. Ich hätte gestern einiges verloren. Ella hat verneint, und doch muß sie es gesehen haben, denn er lag gleich neben dem Kohlenkasten.«

»Das ist freilich schlimm. Unehrliche Menschen können wir in unserem Hause nicht brauchen.«

»Sie macht eigentlich einen so guten Eindruck, Erich.«

»Kann jemand andres das Geld genommen haben?«

»Nein, die Köchin war an jenem Nachmittag fort, nur Ella war in der Küche. Als ich zwei Stunden später unauffällig nach dem Gelde schaute, war es bereits fort.«

»Dann ist es wohl das beste, du läßt Ella bald wieder gehen, denn einen Dieb wollen wir nicht im Hause haben.«

Die Eltern entfernten sich, leise sprechend; aber Goldköpfchen saß wie gelähmt.

»Einen Dieb wollen wir nicht im Hause haben.« Einem schrecklichen Gespenst gleich, stand dieser Satz vor dem Kinde. Ein Dieb!

Zuerst ein Zwerg, ein Riese hinternach!

Goldköpfchen schrie entsetzt auf. Sie hatte gelogen, eine ganz kleine, winzige Unwahrheit gesprochen, nicht einmal eine Unwahrheit, sie hatte nur die Wahrheit verschwiegen. – Zuerst ein Zwerg! Und aus diesem kleinen Fehler war dann ein Diebstahl geworden. Ella wurde beschuldigt, das Geld genommen zu haben, das Bärbel an Georg verschenkt hatte. Hätte sie nicht der Mutter sagen müssen, daß sie das Geldstück gefunden habe, – hätte sie nicht überhaupt gleich am Dienstag alles gestehen müssen?

Und Ella? – Du bist ein Dieb, würde ihr die Mutti sagen, und Ella hatte doch das Geld gar nicht genommen.

Goldköpfchen hatte ein Gefühl, als bekäme es keine Luft. Die Kehle war ihr plötzlich wie zugeschnürt, hinter der Stirn stach und schmerzte es. Raschelte es nicht in den Blättern? Das Kind schrak angstvoll zusammen, die Augen weiteten sich in bangem Entsetzen.

Bärbel sprang auf und eilte aus der Laube. Wie ganz anders sah auf einmal der große Kastanienbaum aus. Der eine Ast wirkte wie ein drohender Arm, und dort die Wolke am Himmel erschien dem Kinde wie ein grimmiges Gesicht.

Lärmend kamen die Zwillinge herangesprungen und baten die Schwester, sie möge mit ihnen spielen. Die Zehnjährige schüttelte den Kopf und schlich davon, ohne die Brüder eines Blickes zu würdigen. Sie wollte Ella aufsuchen, traute sich aber nicht recht.

Einen Dieb will ich nicht im Hause haben. – Hatte der Vater diese strengen Worte gesprochen, weil er gewußt hatte, daß sie in der Laube saß? Nein, – man hatte Ella im Verdacht, und niemand wußte, daß sie selbst das Geldstück gefunden hatte.

Morgen ging es zur Ruine! Zu der schönsten Ruine mit dem verfallenen Turm.

Bärbel bohrte sich die Fäuste in die Augen. Sie wollte die Ruine nicht sehen, wollte gar nicht mitfahren, sie würde doch keine Freude daran haben, sie würde nur immerfort die Eltern ansehen müssen, würde an Ella denken und an das Gedicht.

Sie fürchtete sich plötzlich vor den Menschen und kroch ganz hinten im Garten in die Zweige eines Baumes. In dieser Einsamkeit überfiel sie grenzenloser Jammer. Es kamen keine erlösenden Tränen, aber von Zeit zu Zeit rang sich ein leises Stöhnen von den Kinderlippen.

Endlich rief man laut nach ihr. Sie wollte hastig hinabsteigen, blieb mit dem Kleidchen an einem Ast hängen und riß den Rock von oben bis unten auf.

»Es geht schon los«, sagte Bärbel mit zitternden Lippen. »Wenn man ein Unrecht begeht, kommt die Strafe knüppeldick.«

Beim Abendessen fiel den Eltern das veränderte Betragen Goldköpfchens auf. Besorgt legte Frau Wagner die Hand auf Bärbels Stirn.

»Fühlst du dich nicht wohl, Goldköpfchen?«

»Doch«, sagte die Kleine leise.

»Deine Stirn ist heiß, du machst auch sonst einen so ängstlichen Eindruck. – Hast du etwas Unrechtes getan, Bärbel?«

Das Kind stopfte ein großes Stück Brot in den Mund, um der Antwort überhoben zu sein. Es würgte an dem Brot, der Bissen wollte nicht rutschen.

»Du wirst doch nicht krank werden, mein Goldköpfchen«, sagte Herr Wagner zärtlich, »morgen soll es doch zur Ruine gehen.«

»Nein, ich werde nicht krank.« Das war in solch einem hoffnungslosen Tone gesagt, daß Frau Wagner die Tochter prüfend musterte.

»Nun, Bärbel, ich denke, wenn du irgend etwas auf deinem Herzchen hast, wirst du zur Mutti Vertrauen haben. Nun iß, mein liebes Kind, und wenn dich etwas drückt, kommst du nachher zu mir.«

Da zitterte es wieder verdächtig um die Mundwinkel, wieder kam die verräterische Röte in das liebliche Gesichtchen, und schließlich traf ein verzweifelter Blick die Mutter, in dem unnennbares Weh stand.

Frau Wagner fragte nichts mehr. Es war ihr klar, daß im Herzen Bärbels ein Aufruhr tobte. Bis jetzt hatte ihre Tochter stets am Abend vertrauensvoll ihre kleinen Schwächen gebeichtet; auch heute würde es wohl nicht anders sein. Jetzt wollte sie Bärbel nicht quälen.

»Sie kommt von selbst«, flüsterte Frau Wagner ihrem Gatten zu.

Nach dem Abendessen tobte und lachte Bärbel nicht wie sonst. Die Zwillinge wurden zu Bett gebracht, Bärbel erbot sich, dabei zu helfen.

»Laß nur«, wehrte Frau Wagner ab, »geh’ lieber noch ein Weilchen in den Garten, Kind, aber in einer Stunde kommst du herein.«

Bärbel ging. Sie sprang nicht fröhlich umher, sie schlich an den Fenstern der Küche vorüber und schaute nach Ella aus, die unter fröhlichem Singen das Geschirr abtrocknete. Die Mutter hatte ihr wahrscheinlich noch nichts gesagt. Aber morgen, wenn man das große Vergnügen auf der Ruine genoß, würde Ella hier sitzen und weinen, weil man sie für eine Diebin hielt.

Bärbel kämpfte einen gar schweren Kampf. Mitunter war sie nahe daran, zur Mutter zu laufen und ihr alles einzugestehen: dann war es die Scham, die ihr die Lippen versiegelte, und auch die Aussicht, an der Ausfahrt nicht teilnehmen zu können. Diese Ausfahrt! Ob sie morgen wohl Freude daran hatte?

Bärbel wurde gerufen, schweigend kleidete sie sich aus und ging zu Bett. Das Gebet, das sie mit der Mutter sprach, kam nur stockend über ihre Lippen. Frau Wagner wartete noch ein Weilchen, nahm dann die Tochter in die Arme und drückte ihr einen Gutenachtkuß auf die Stirn.

»Schlafe recht gut, mein Liebling.«

»Danke, Mutti. – Gute Nacht, Mutti!«

»Gute Nacht, mein Kind. – Hast du noch etwas auf dem Herzen?«

»Fahren wir morgen zur Ruine?«

»Jawohl, – da du dich die ganze Woche über brav gehalten hast, darfst du mitfahren.«

Da warf sich Bärbel rasch auf die andere Seite und drückte das Gesicht fest in die Kissen.

Frau Wagner verließ das Zimmer. Sie wurde heute aus ihrem Töchterchen nicht klug. Irgend etwas war vorgefallen, aber durch drängendes Fragen wollte sie es dem Kinde nicht entlocken. Vielleicht enthüllte Bärbel morgen auf der Fahrt das Geheimnis.

Bärbel lag in ihrem Bett und bemühte sich vergeblich, zu schlafen. Es gelang nicht. Bald stand das Gedicht vor ihrem Geist, dann erschien die weinende Ella, kurz darauf blitzten überall Geldstücke am Boden, die Möbel bekamen Gesichter, schnitten gräßliche Fratzen und rückten näher und immer näher.

Auf der Stirn des Kindes standen dicke Schweißtropfen.

Die Decke lastete heute so schwer auf ihm, daß es sie von sich warf. Dann kam ein Frostgefühl, und fester wickelte sich Bärbel wieder ein.

Sie hörte die Uhr schlagen, sie rief mit jedem Schlage: Dieb – Dieb – Dieb! Das kleine Mädchen kroch unter die Decke, aber es fand auch hier die ersehnte Ruhe nicht. Es hörte, daß nebenan die Eltern zur Ruhe gingen, vernahm deren leises Flüstern, aber der innere Aufruhr ihrer Seele legte sich nicht.

Wieder schlug die Uhr. Da hielt es Bärbel nicht länger im Bett aus. »Ich kann nicht schlafen«, flüsterte sie verzweifelt, »das Gewissen ruft immerzu: sei wach! – Ob die Ella schon schläft? Ach, warum habe ich der Mutti nicht alles gesagt!«

Bärbel begann zu weinen. Anfangs drückte sie das Gesichtchen in die Kissen, um das Schluchzen zu ersticken; aber immer jämmerlicher wurde ihr zumute, immer ungestümer klopfte das kleine Herz. Da erhob sie sich leise. Sie schlich zur Tür, die nur angelehnt war und stieß sie auf. Einige Augenblicke stand die Kleine regungslos in ihrem Nachthemdchen da. Sie sah die Betten der Eltern, sie sah die Mutter mit geschlossenen Augen liegen, und nun gab es kein Halten mehr.

»Mutti – Mutti!« Beide Arme warf Bärbel um die Schlafende, die erschreckt auffuhr. »Mutti, ach, Mutti!« Weiter kam kein Wort über die Kinderlippen, Bärbel zitterte am ganzen Körper, und rasch hob Frau Wagner das Kind zu sich ins Bett.

»Goldköpfchen, du glühst ja, – du fieberst!«

Auch der Vater war erwacht, er drehte das Licht an und stand neben der Kleinen, die sich wie ein verängstigtes Vöglein in die Arme der Mutter drückte, dessen Körperchen vor Erregung bebte.

»Mein gutes Goldköpfchen, hast du einen bösen Traum gehabt? Du bist doch bei deiner Mutti, da darf dir niemand etwas tun.«

»Wenn ihr morgen nach der Ruine fahrt – müßt ihr mich daheim lassen.«

»Bist du krank?«

»Ich bin furchtbar böse und schlecht!«

Frau Wagner atmete erleichtert auf. Jetzt wußte sie, daß Gewissensqualen die Kleine zu ihr getrieben hatten, und daß schon in wenigen Minuten das kleine Herzchen wieder ruhiger klopfen würde, wenn das Kind gestanden hatte.

Frau Wagners Stimme wurde sehr weich und zärtlich. »Sieh, mein kleines, liebes Goldköpfchen, ich habe es dir schon lange angemerkt, daß dich etwas bedrückt. – Warum hast du nicht gleich gesprochen? Du hättest dann gut und friedlich geschlafen. Nun hat dich dein Gewissen nicht zur Ruhe kommen lassen. Erzähle mir, was du getan hast.«

»Mutti – Mutti!«

»Ist es etwas so Schlimmes?«

Goldköpfchen nickte.

»Dann sag es mir ganz leise ins Ohr, mein liebes Kind.«

Stoßweise kam das Geständnis heraus; vom Georg, der Bärbel zum Lügen verführt hatte, vom Federhalter, von dem Gelde und von dem schrecklichen Wort des Vaters: einen Dieb will ich nicht im Hause haben.

Schweigend hörte die Mutter diese Beichte an. Sie ließ Bärbel nicht aus ihren Armen. Aber ein paarmal atmete sie schwer auf. Mit den Augen hatte sie dem Gatten einen Wink gegeben, daß er Mutter und Tochter allein lassen möge. Und Herr Wagner hatte nachgegeben. Unter dem Vorwande, Bärbel einige Beruhigungstropfen zu holen, war er aus dem Zimmer gegangen.

»Du hast deine Mutti recht betrübt, mein Kind.«

Goldköpfchen preßte die Arme um den Hals Frau Wagners, als wolle es sie ersticken.

»Laß mich wieder dein Liebling sein, Mutti, hier drin tut alles so weh!«

Mit umflorter Stimme hielt Frau Wagner dem Kinde den Fehler vor.

»Wenn ich Ella nun entlassen hätte, Bärbel?«

Das Kind weinte noch immer. Diesen großen Kinderjammer ertrug die Mutter nicht länger. Erst waren es sanfte Vorwürfe, dann waren es zärtliche Mutterworte, die den Weg zum Herzen der Kleinen fanden. Und als Herr Wagner zurückkehrte, da lag wohl auf Goldköpfchens Gesichtchen noch ein Schatten großen Kummers, aber aus den Augen war das Unruhige gewichen.

»Ich will auch gewiß nicht mitfahren, Mutti. – Wenn ich wieder besser geworden bin, sollt ihr mich mitnehmen.«

»Auf die Ruine kommst du morgen nicht«, sagte Frau Wagner, »aber auch deine Eltern werden nicht fahren, denn sie sind sehr traurig.«

»Wenn ich aber nie mehr lüge, Mutti, werdet ihr dann wieder froh?«

»In dieser Stunde, mein liebes Kind, in der ich dir all deine Fehler verzeihe, präge dir jenes Gedicht tief in das Herz ein, das dir jetzt vor Augen steht: Vor allem eins, mein Kind, sei treu und wahr, laß nie die Lüge deinen Mund entweih’n.«

Magda Trott: Goldköpfchen Gesamtausgabe

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