Читать книгу Selbstbestimmt und effizient lernen - Magdalena Kuntermann - Страница 9
Оглавление2.1 Impulsweiterleitung im Gehirn
Wahrnehmen kann mit allen Sinnen geschehen: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten (Fühlen), aufeinanderfolgend oder gleichzeitig. In der Regel nehmen wir Informationen über mehrere Sinneskanäle gleichzeitig auf. Eine solche Informationsverarbeitung ist ein sehr komplexer Vorgang, daher betrachten wir an dieser Stelle das Ganze komplexitätsreduziert an der Reizweiterleitung über ein einziges Sinnesorgan.
Folgen wir z. B. einem (nur) visuellen Reiz:
Dieser Hund in Abb. 1 taucht in unserem Sehfeld auf, die von ihm ausgehenden Photonen erreichen das Auge, die Retina und wenn hier an den entsprechenden Rezeptoren ein Aktionspotential ausgelöst wird, gelangt dieser Nervenimpuls durch den Sehnerv über den Thalamus an die Amygdala, einem wichtigen für die emotionale Bewertung von Reizen zuständigen Teil des limbischen Systems. Das limbische System ist ein sehr komplexes Netzwerk von zum Teil recht unterschiedlichen Zentren, welches das gesamte Gehirn durchzieht. Hier werden die Beschreibungen auf die für diese Arbeit notwendigen Informationen beschränkt.
Abb. 1: Weg eines visuellen Reizes in den ersten 100 ms
(in Anlehnung an: MÜLLER, M. (2017) S. 54)
Die basolaterale Kerngruppe der Amygdala ist eine wesentliche Eingangsstruktur für Informationen emotionaler Reize. Sie projiziert unter anderem in die zentrale Amygdala und den Cortex. Die Projektionen in den Cortex sind die Grundlage für das spätere Bewusstwerden der Gefühle2.
Über die Verbindung zum zentralen Kern der Amygdala werden in Hirnstammzentren autonome Reaktionen auf den eingegangenen Reiz eingeleitet, wie z. B. veränderte Herzschlagfrequenz, veränderter Blutdruck oder auch andere direkte Reaktionen des Körpers: schweißnasse Hände, Kloß im Hals, heiß oder kalt im Genick, Korsett um den Brustkorb, schnelle motorische Reaktionen wie Fuß auf das Bremspedal u.Ä.
Die Amygdala reguliert nicht nur Gefühle und körperliche Antworten darauf, sondern vermittelt ihre emotionalen Einflüsse auf die Aufmerksamkeit (etwas später) und Wahrnehmung. Diese eingegangene Information wird innerhalb von weniger als 100 ms durch Vergleichen mit bereits abgespeicherten Erlebnissen emotional bewertet. Ist dieses neue Ereignis von Bedeutung, wird auch dieser Sachverhalt hier abgespeichert.
In der gleichen Zeit gelangt der Impuls des visuellen Reizes vom Thalamus auch zum visuellen Cortex und auch von hier wird ein grobes Abbild mit dem gleichen Zweck der emotionalen Bewertung zur Amygdala weitergeleitet. Das alles passiert nicht bewusst in den ersten 100 ms.
Wie Abb. 2 zeigt, werden die Sinnesareale (hier visueller Cortex) aktiviert und das Bild wird aufgebaut. Auf einer etwas schnelleren ventralen Bahn (Was-Bahn) entsteht sukzessiv das Bild, das Objekt, immer noch unbewusst, und entlang einer dorsalen Bahn (Wo-Bahn) wird dieses verortet.
Abb. 2: Sensorische Verarbeitung in den ersten 100 ms
(in Anlehnung an: MÜLLER, M. (2017) S. 54)
In dieser nichtbewussten Phase der sensorischen Verarbeitung von Sinnesreizen werden diese nach Bekanntheit und Wichtigkeit bewertet. Je neuer und wichtiger ein Ereignis eingestuft wird, umso intensiver wird es in der bewussten Phase der Aufmerksamkeit verarbeitet.
Erst nach ca. 300 ms wird das Bild mit den im Temporallappen vorhandenen Netzwerken abgeglichen (Abb. 3). Im Frontallappen wird das Bild kurzfristig aufrechterhalten (Kurzzeitgedächtnis).
Abb. 3: Bewusstsein nach ca. 300 ms
(in Anlehnung an: MÜLLER, M. (2017) S. 54)
Das ist ein energieintensiver Schritt, hoher Sauerstoffverbrauch und viel Zucker für den Hirnbetrieb-Stoffwechsel, die Speicherkapazität ist gering, daher wird nur ein Ausschnitt aus unserem Sehfeld aufmerksam betrachtet (siehe dazu auch 2.3. Aufmerksamkeit und 2.4. Arbeitsgedächtnis).
Diese bisher nur visuelle Räpresentation wird mit Hilfe im Temporallappen gespeicherter Netzwerke sprachlich kodiert
(Abb. 4).
Abb. 4: Sprachliche Codierung nach ca. 500 ms
(in Anlehnung an: MÜLLER, M. (2017) S. 55)
Neuronale Schleifen zwischen dem Frontallappen und dem auditiven Cortex halten die Wörter anschließend präsent, nur einige – des hohen Energieaufwandes und der geringen Speicherkapazität des Arbeitsgedächtnisses wegen. Ein intaktes Kurzzeitgedächtnis bzw. das Aufrechterhalten sensorischer oder mentaler Inhalte im Bewusstsein ist Vorraussetzung für Lernen.
Wie wir bereits gesehen haben, hält das Arbeitsgedächtnis das eingegangene Bild durch Feuern der entsprechenden Neurone nur kurzfristig im Cortex aufrecht. Um das Ereignis aber längerfristig abzuspreichern, werden neue Verbindungen zwischen bisher unverknüpften Bereichen sowohl innerhalb als auch zwischen den visuellen und semantischen Netzwerken angelegt. Die Neuverknüpfung erfolgt zunächst vorübergehend über den Hippocampus (Abb.5).
Abb. 5: Beginn der Konsolidierung
(in Anlehnung an: MÜLLER, M. (2017) S. 55)
Werden die über den Hippocampus verknüpften Neurone häufig gleichzeitig aktiviert, bilden sich im Cortex direkte Verbindungen aus. Die Erinnerung ist kosnsolidiert, das heißt, im Langzeitgedächtnis gespeichert (Abb. 6). Diese Überführung der Inhalte aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis wird auch als intermediäres Gedächtnis (Zwischengedächtnis) bezeichnet und beginnt seine Arbeit bereits einige Sekunden nach dem Bewusstwerden der Lerninhalte.
Abb. 6: Konsolidieren bis zum Lebensende
(in Anlehnung an: MÜLLER, M. (2017) S. 55)
Man nimmt an, dass diese Überführung vorwiegend während des Schlafes geschieht (siehe 2.2. Konsolidieren oder Lernen im Schlaf), während das wache Gehirn vor allem für die Encodierung der Lerninhalte zuständig ist. Der Hippocampus ist demzufolge für die mittel- und langfristige Einspeicherung und den Abruf neuer Erinnerungen nötig.
Es gibt eine Cortex-Hippocampus-Schleife: Der Hippocampus erhält Informationen aus allen Teilen des Cortex, die mit Wahrnehmen und kognitiven Leistungen zu tun haben, verarbeitet diese innerhalb der hippocampalen Strukturen und sendet das Ergebnis wieder in die entsprechenden Cortex-Areale zurück. Forschungen haben gezeigt, dass während der Gedächtnisbildung, während des Lernens, synchronisierte Aktivierung vieler Neurone auftritt. Dadurch erfolgt die Festigung der Plastizität innerhalb der Synapsen durch Proteinsynthese und morphologische Veränderung.4
Im Hippocampus enden auch Eingänge aus vielen anderen Zentren, darunter aus der Amygdala und dem Nucleus accumbens, die emotional-modulierend auf den Hippocampus einwirken. Die emotionale Einfärbung der Geschehnisse ist bedeutsam für ihre Verankerung im Langzeitgedächtnis, da sie die Konsolidierung verstärkt.5
Wenn es sich bei der Wahrnehmung um einen akustischen Reiz handelt, sind es lediglich Schallwellen, die unser Ohr erreichen. Das sind Luftdruckunterschiede, die in unserem Innenohr in Nervenimpulse umgewandelt werden, aus welchen das Gehirn Sprache, Musik, Geräusche oder Lärm macht. Auch hier werden diese im Bruchteil einer Sekunde analysiert, im Falle von Sprache als solche erkannt und mit Inhalten des Sprachgedächtnisses verglichen. Vorhandene Inhalte, die am besten passen, werden aktiviert und in den folgenden Bedeutungskontext eingebunden. Wenn das für das Verständnis der Sprache notwendige Vorwissen im Gehirn des Hörers vorhanden ist, geht diese Bedeutungskonstruktion relativ schnell. Je mehr unbekannte Wörter oder aber unbekannte, komplexe Sachverhalte der Sprecher verwendet, umso schwieriger und langwieriger ist die Bedeutungskonstruktion durch den Hörer. Bei multisensorischem Input wirkt alles gleichzeitig auf unser Gehirn ein und dieses hat dementsprechend viel zu tun.6
Unser Langzeitgedächtnis ist dynamisch, das heißt, es wir durch neue Erlebnisse und Erfahrungen ständig umgeschrieben, umstrukturiert und bei jedem Erinnern unter den neuen emotionalen Einflüssen eingespeichert. Diese Konsolidierung findet im hippocampalen Gedächtnissystem statt. Daran sind Hippocampus, die parahippocampale Rinde und der cerebrale Cortex beteiligt. Das Nagerexperiment von Maviel und Mitar-beiter (2004)7 deutet darauf hin, dass die neuronale Aktivität zu Beginn des Lernprozesses im Hippocampus hoch und im Isocortex niedrig ist und später (bei den Nagern waren es 30 Tage) werden die Plastizitätsprozesse im Isocortex wichtiger und im Hippocampus abgeschwächt. Demnach wird der Hippocampus als der Organisator des Langzeitgedächtnisses betrachtet aber nicht als der Speicherort.
Das Langzeitgedächtnis arbeitet modular. Es gibt die verschiedenen sensorischen Module und darin Teilmodule z. B. für Objekte, Farben, Gesichter usw. Diese weisen ihrerseits wieder Untermodule auf, das Gesichtermodul z. B. für Augen, Nasen, usw.8
Jeder Stimulus durchwandert demnach eine Reihe von Verarbeitungsebenen, angefangen mit der ersten unbewussten Wahrnehmung bis hin zur rationalen Bewertung und jede dieser Ebenen verfügt über eine bestimmte Gedächtnisart: emotionales Gedächtnis, Kurzzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis, episodisches Gedächtnis, autobiografisches Gedächtnis u. A. (siehe 2.5. Organisation des Gedächtnisses). An dieses Ereignis werden wir uns auch später noch erinnern, wenn es einen gewissen Neuigkeitswert besitzt, wenn es anders ist als das, was wir bisher abgespeichert haben.
Die aus der Wahrnehmung gefolgte Impulsweiterleitung und Informationsverarbeitung geschieht sowohl nichtbewusst als auch bewusst (nichtbewusst zuerst) und wir nehmen ein neues Ereignis auf der Grundlage der Erfahrungen wahr, die wir schon gemacht und abgespeichert haben. Das führt dazu, dass das gleiche Ereignis von jedem anders wahrgenommen wird und dass ein und dieselbe Person das gleiche Ereignis zu verschiedenen Zeitpunkten auch unterschiedlich wahrnehmen wird.