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Kapitel 2: Wiedersehen

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Beinahe schon am Ortsrand von Großrettbach liegt das kleine Häuschen seiner Kindheit: Silbergasse 14. Eingekeilt zwischen zwei großen Höfen erkennt Hans es sofort wieder. Fachwerk, auf einem gemauerten Sockel aus Bruchsteinen. Die Querbalken sind im Laufe der drei Jahrhunderte, in denen das kleine Häuschen die Familie seiner Mutter beherbergt hat - freie Forstarbeiter, die immer am Rande der Armut leben mussten, aus dem Lot geraten. Erstaunlich, wie Paula das geschafft hat, unser Häuschen so in Schuss zu halten. Beim Näherkommen empfindet Hans Respekt vor seiner Schwester, die in Zeiten sozialistischer Mangelwirtschaft offensichtlich permanent findig genug war, in das Haus zu investieren, die Fassade und das Dach in Schuss zu halten.

Hans sagt das auch so zu seiner Familie, während er auf der gegenüberliegenden Straßenseite einparkt.

"Nicht nur als überzeugte Sozialistin, die an das Gute im Menschen glaubt - selbst bei den Mitgliedern des Politbüros der SED - ist meine Schwester eine bemerkenswerte Frau. Das gilt offensichtlich ebenso für manche profanen Dinge des Lebens. Denn wie sonst hätte sie es schaffen sollen, das Häuschen unserer Familie über die letzten drei Jahrzehnte der Planwirtschaft von Günther Mittag zu retten. Alle Achtung! - Jetzt wird es aber Zeit, Ihr Lieben, dass ihr Paula auch endlich kennen lernt."

"Das gleiche gilt für dich doch wohl auch, Hans! Oder glaubst du wirklich die Paula von heute wäre noch dieselbe wie die Jugendliche von damals, wie sie sich in deine Erinnerung eingegraben hat?"

Johannas Bemerkung macht Hans nachdenklich. Doch er ist vergnügt. Denn jetzt will er Paula wieder sehen, und zwar sofort. Er öffnet die Wagentüre und steigt aus. Johanna und die Kinder folgen. Auf der Straße streckt Hans zuerst einmal seine Arme lang gen Himmel aus. Es nieselt ganz leicht. Er atmet die feuchte Novemberluft tief ein. Ein herrlicher Duft von Nadelwald umgibt ihn.

"Ach ja. Ist schön hier."

Hans wechselt auf die andere Straßenseite und geht auf die alte, palisander-schwarz gestrichene Holztüre zu. Um dort hindurch zu kommen, wird er sich bücken müssen, meint Hans. Er klingelt. Im Innern des Hauses ertönt deutlich vernehmbar ein schrilles Rasseln einer jener fürchterlichen Schellen, wie sie auch beinahe jeder West-Haushalt in den 70ern sein eigen nannte.

Die Türe wird geöffnet und Hans blickt in einen von zwei elektrischen Lampen hell erleuchteten Flur. Vor ihm steht eine schlanke, beinahe zierliche Frau von vielleicht ein Meter fünfundsechzig. Die Haare sind bereits leicht ergraut; das hätte Hans nicht erwartet. Doch er macht sich klar, dass seine Schwester natürlich auch schon fünfundvierzig ist. In dem schmalen Gesicht mit der glatten, immer noch jugendlich wirkenden Haut sitzen zwei leuchtend blaue Augen, die ein kraftvolles Feuer ausstrahlen. Hans ist bewegt, und glücklich.

"Hallo Paula. Da sind wir. Schön, im anderen Teil Deutschlands nach Hause kommen zu dürfen."

Hans geht mit einem Lächeln auf Paula zu und umarmt sie. In diesem Moment ist seine Sorge verflogen, es könnte ein krampfhafter Besuch werden, vor allem wegen der Vorwürfe seiner Schwester, die er sich in Gedanken ausmalte. Es war tatsächlich eine gehörige Portion schlechtes Gewissen dabei, dass Hans vor vier Jahren, als seine Mutter starb und sich dies ja sogar über ein paar Wochen abzeichnete, nicht gekommen war. Vor ihrem Tod und noch viel mehr danach befürchtete er nicht mehr, bei einer Einreise in die DDR von den Vopos als Republikflüchtling in den Knast gesteckt zu werden. Ganz im Gegenteil - Paula hatte ihm ein amtliches Schreiben der Kreisverwaltung besorgt: Wegen der familiären Notlage wurde ihm ausdrücklich die Einreise in die Deutsche Demokratische Republik gestattet. Es war tatsächlich etwas ganz anderes. Hans wollte weder seiner Mutter noch seiner Schwester in die Augen sehen und auf die Frage antworten müssen: Warum hast du uns vor einem viertel Jahrhundert, vor ewig langer Zeit, einfach so im Stich gelassen? Wie konntest du das damals tun, eine Kriegerwitwe mit kleinem Lohn und lächerlich niedriger Rente zurücklassen? Und das, obwohl du doch wissen musstest, dass hier im Dorf anders als in den großen Städten jeder Zweite mit dem Finger auf sie zeigen würde: >>Weißt du, erst hat der Staat ihm das Gymnasium in Erfurt ermöglicht, und dann, kaum hat der Hans sein Abitur gemacht, da dankt er es der sozialistischen Gemeinschaft mit der Flucht in den Westen!<<

Ja wirklich. Hans ist verblüfft. Damals, 1960, da gab es - zumindest hier auf dem thüringischen Land - wirklich noch ganz, ganz viele, die dem SED-Regime einen ehrlichen Vertrauensvorschuss entgegenbrachten. Der 17. Juni war bereits lange her. Und in der Zwischenzeit ging es fast allen tatsächlich besser! Na ja, fast allen außer den großen Bauern, die enteignet worden waren und dann in der LPG arbeiten mussten. Aber hier, im Thüringer Wald, da gab es doch überwiegend kleine Holzarbeiter und Landwirte. Die waren nach ein paar Jahren allmählich der Überzeugung, mit dem Sozialismus könne es tatsächlich noch etwas werden. Und irgendwie empfanden es die Menschen auf dem Land viel weniger als die meisten Städter als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit, wenn die Partei viele Bereiche des alltäglichen Lebens sanft zu bestimmen suchte. Sie waren es von den Nazis noch ganz anders gewohnt. Hans erlebte das damals sehr hautnah. In Erfurt, auf der Schule, gab es zwar keine Lehrer, die Kritik geübt hätten. Aber unter den Schülern waren viele aus so genanntem guten Hause. Und die konnten ihren Mund allzu oft nicht darüber halten, was ihre Eltern - Ärzte und Anwälte, Beamte und Ingenieure - zu Hause über Ulbricht und seine >>Marionetten-Truppe der Russen in Ost-Berlin<< von sich gaben. Hans glaubte damals allmählich, der Grund für jene überhebliche Ablehnung sei weniger die Ablehnung des Sozialismus gewesen als vielmehr die Offensichtlichkeit, mit der die SED an der langen Leine aus Moskau geführt wurde. Und damit verband sich oftmals eine Bitterkeit der gut situierten Bürger darüber, dass die Eiszeit zwischen Ost und West während der fünfziger Jahre nicht den Hauch einer Aussicht auf die Widererlangung der deutschen Einheit ließ.

Einheit. - Bei diesem Wort zuckt Hans zusammen und zwingt sich dazu, seinen Tagtraum einer weiteren Reise in die Vergangenheit zu beenden. Es ist ja gerade diese Einheit, die, je länger sie entbehrt werden musste, umso mehr aus dem Bewusstsein der Deutschen verschwand. Jetzt stehe ich hier und die Mauer ist gefallen! Hans schmunzelt. Vor einem Jahr noch, wer hätte es da denn nur im Entferntesten für möglich gehalten, dass der Schutzschild der Sowjetunion über dem SED-Regime tatsächlich fallen, und mit ihm die Mauer bröckeln sollte?

Paula hat Hans nach der festen, herzlichen Umarmung wieder losgelassen. Sie lächelt ihn an. In ihren Augen steht ein Hauch von Träne. Da Hans jedoch weiß, dass es keine Träne aus Zorn, sondern eine Träne vor Rührung sein muss, bleibt er völlig entspannt.

"Einfach unglaublich! Es ist ein Wahnsinn, Paula, wieder hier sein zu dürfen. Noch vor vier Wochen habe ich die Ereignisse bei den Leipziger Montagsdemonstrationen mit der sentimentalen Spannung des DDR-Flüchtlings verfolgt. Und dabei habe ich mir für keine Sekunde klar gemacht, dass es mich persönlich von heute auf morgen betreffen könnte, falls die Macht der Partei wirklich zerbröseln sollte. Aber jetzt durfte ich über die Autobahn zu dir kommen, mit nichts weiter als meinem Reisepass. Ich danke dir für die Einladung. Denn wir hätten euch natürlich genau so gerne bei uns zu Hause in Bochum aufgenommen. - Aber das weißt du ja. Haben wir ja am Telefon lang und breit besprochen. Das nächste Mal, bald, ganz bald, da kommt Ihr zu uns nach Westdeutschland.

Ihr und wir - es ist als aller Erstes an der Zeit, dass sich die Familien kennen lernen, die sich hinter uns getrennten Geschwistern verbergen."

"Stimmt genau, Hans. Herzlich willkommen zu Hause, hier bei uns in Großrettbach. Jetzt kommt zuerst mal rein, bei dem scheußlichen Nieselwetter da draußen."

Paula tritt einen Schritt zurück und öffnet dabei weit die Türe. Mit einer auffordernden Armbewegung bittet sie Hans und seine Familie hinein. Jetzt erst bemerkt Hans, dass sich am rechten Ende des Gangs eine Türe geöffnet hat und Paulas Mann in den hellen Flur getreten ist. Etwas schüchtern steht er da, wirkt auf Hans so gänzlich unscheinbar. Paulas Mann Leopold kommt auch aus Großrettbach. So ist es kein Wunder, dass Hans ihn von früher zumindest von Ansehen kennt. Leo ist ein Jahr jünger als Paul und ein Stückchen kleiner als er, vielleicht gute eins fünfundsiebzig. Ein freundliches Gesicht mit schmalen Lippen, braunen Augen, einer breiten Stirn unter den dunkelblonden, streng gescheitelten Haaren erweckt bei Hans den Eindruck eines einfachen Menschen. Ehrgeiz, Biss sucht Hans in Leos Augen vergebens. Wie auch, denkt Hans für sich, bei einem Mann, der Buchhalter der örtlichen forstwirtschaftlichen Genossenschaft ist. So unspannend wie Leos Job, so unscheinbar ist seine Erscheinung. Und dennoch strahlt das sanfte Lächeln seines Schwagers auf Hans eine Ruhe aus, die nicht ohne Selbstbewusstsein ist. Für den Bruchteil einer Sekunde keimt in Hans der Neid, dass Leopold und Paula hier in den zurückliegenden Jahren ein nicht nur einfacheres Leben als er, sondern vor allem ein ausgeglichenes Leben geführt haben dürften. Nichts von alledem, womit sich Hans in seiner Stadt, in der Politik und der Verwaltung, in den zunehmend unangenehmeren Kontakten mit der Kommunalaufsicht wegen der bescheidenen Finanzlage seiner neuen Heimatstadt Bochum seit einiger Zeit so herumzuschlagen hat.

Hans tut es seiner Schwester gleich und tritt einen Schritt zurück, um für Johanna und die Kinder Platz zu machen. Die haben in respektvollem Abstand gewartet und ohne ein Wort zu sagen die Begrüßungsszene zwischen Hans und seiner Schwester verfolgt. Johanna ist Paula gleich sympathisch. Ihr erster Gedanke ist die Hoffnung, dass diese Frau, wie sie eine innere Stärke ausstrahlt, in den folgenden zwei Tagen ihrem Hans durch die Ruhe ausführlicher Gespräche und durch die Freude des Wiedersehens ein wenig Abschalten, etwas Zufriedenheit verschaffen möge. Johanna verfolgt es seit Monaten mit Unbehagen, dass Hans nach langen Sitzungen der Fraktion oder ihrer Arbeitskreise und der dazugehörigen Ausschüsse immer abgespannter, entnervter, und leider auch verschlossener heimkehrt. Von der Vertrautheit aus den ersten Jahren ihrer Ehe ist immer weniger geblieben. Hans liebt es nicht, von der Arbeit zu kommen und sich darüber auslassen zu sollen, was sich denn am Tage Interessantes ereignet habe. Doch indem er immer mehr nur noch seine Ruhe haben möchte, sich mit einem guten Buch zurückziehen möchte, sind Johannas Gespräche und ebenso die der Kinder mit Hans immer spärlicher geworden. Daher hat sich Johanna mit Hans gefreut, als sich Paula am 11. November telefonisch meldete, ohne ein Wort der Anklage den Fall der Mauer als ein Glück für die Geschwister bezeichnete und dann Hans ganze Familie nach Thüringen einlud.

"Guten Tag Paula. Ich freue mich richtig, und ich bin neugierig, dich kennen zu lernen. Hans hat mir immer gesagt, Du seiest eine bemerkenswerte Frau, weil du eine starke Frau und zugleich eine überzeugte Sozialistin bist. Deshalb glaube ich, dass sich unsere Familien eine Menge zu sagen haben werden."

Johanna umarmt Paula ein wenig zaghaft. Sie möchte nicht aufdringlich wirken, gegenüber einer Frau, die bis heute ja noch nicht einen einzigen Spross der Familie Berger aus dem Ruhrgebiet persönlich kennen lernen durfte. Johanna war vor ihrer Abreise, ja sogar noch heute Morgen davon überzeugt, es werde nicht leicht werden, einen echten persönlichen Draht zwischen den diversen Mitgliedern der zwei Familien aufzubauen, wenn sie von Hans und Paula einmal absieht. Aber im Gegensatz dazu wächst in ihr beim Anblick ihrer Schwägerin der Optimismus, dass diese Frau gerade heraus reden, mit der aktuellen Situation der Familie genauso wie mit der Lage in der gesamten DDR umgehen werde. Johanna weiß, dass Paula das leichter fallen, ja sogar besser gelingen wird als ihrem Hans. Das stimmt sie zuversichtlich. Johanna nimmt sich vor, zu einer offenen, ungezwungenen Stimmung beizutragen, ohne sich mehr als nötig in tiefer schürfende Gespräche zwischen den Geschwistern über persönliche Wunden und gesellschaftspolitische Ansichten einzumischen. Insgeheim hofft sie, ihre Kinder und ebenso Paulas siebzehnjähriger Sohn Bert werden sich diese Zurückhaltung mit dem jugendlichen Recht der manchmal schroffen Neugierde nicht auferlegen.

"Hallo Johanna. Du bist also die Frau, die sich in den letzten zwanzig Jahren mit meinem Bruder herumschlagen musste. Ich hoffe für Dich doch sehr, dass es dir besser gelungen ist als mir in unserer Jugend. Ich habe es einfach nie geschafft, mir einen vernünftigen Reim auf Hans persönliche Wünsche und seine politischen Ansichten zu machen. Jedenfalls fügte sich das für mich nie wirklich zu einem einheitlichen Bild von seiner Persönlichkeit zusammen. Aber der Hans von heute wird ein anderer sein als der junge Mann von 1960. Ich jedenfalls habe mich auf euren Besuch wahnsinnig gefreut. Und ich glaube fest daran, dass wir uns schon am Ende der nächsten zwei Tage besser verstehen werden, Deutschland besser verstehen werden als noch heute Nachmittag."

Paula drückt Johanna nochmals feste die Hand und zieht sie zu sich in den Flur ihres Hauses hinein. Johanna lässt sich gerne von ihrer Schwägerin lotsen und gelangt nach wenigen Schritten zu Leopold. Der streckt ihr freundlich zunächst nur den rechten Arm zum Händedruck entgegen. Danach drückt Leo sie bis zu einem Hauch von Berührung an sich, um sogleich wieder loszulassen.

"Guten Tag Johanna. Ich bin Leo. Uns beide dürfte wohl einen, dass wir uns ein bisschen wie die Zuschauer auf der Bühne des Wiedersehens fühlen dürften. Ich denke, wir wollen daran teilhaben, ohne dabei zu stören."

"Das hast du schön gesagt, Leo. Mit anderen Worten, die beiden sollen Wissen, dass sie keine Scheu davor zu haben brauchen, uns zu sagen, wenn sie uns los sein wollen, um unter vier Augen tief in die Vergangenheit vor Hans Flucht abzutauchen."

Leopold nickt und lächelt. Dann geleitet er Johanna in das Wohnzimmer, aus dem er vorhin in den Flur getreten ist.

Inzwischen hat Paula unter den milden Augen ihres Bruders Petra und Christian per Handschlag begrüßt und sie in Thüringen herzlich willkommen geheißen.

"Es muss für euch schon ein merkwürdiges Gefühl sein, zum ersten Mal im Leben hinter die Grenze zwischen den zwei Welten gereist zu sein. Lasst euren Fragen und Zweifeln freien Lauf! Ich will mir alle Mühe geben, keine Frage als unberechtigt abzutun. Wie sollte es euch auch leicht gelingen, mit dieser deutsch-deutschen Realität zurecht zu kommen, wenn schon euer Vater und ich, die wir doch so viel mehr darüber wissen und dazu erlebt haben, es aus vielleicht sehr verschiedenen Gründen überhaupt nicht begreifen konnten, als vor drei Wochen die Mauer fiel."

Außer einem knappen "Hallo Paula" kommt den beiden nichts über die Lippen nach dieser für beide überraschenden Ansprache. Petra, Christian, Hans und Paula folgen Leo und Johanna durch den Flur ins Wohnzimmer. Leo schüttelt seinen drei ihm noch unbekannten Verwandten, die er bisher noch nicht begrüßt hat, kräftig die Hände und bittet darum, Platz zu nehmen. Seiner Frau bedeutet er, den Kuchen holen zu wollen, Kaffee frisch aufzubrühen und für sonstige Getränke zu sorgen. Sie solle sich indes ungestört um "ihre" Familie aus dem Westen kümmern. Johanna ist ein wenig gerührt von dieser zurückhaltenden Rolle, die Leo für sich soeben reklamiert. Sie fragt sich, ob ihr Hans unter umgekehrten Vorzeichen denn wohl so ähnlich reagieren würde. Johanna ist sicher, dies gelte nur an einem seiner guten Tage, doch davon habe ihr Hans in der letzten Zeit zunehmend weniger.

"Lieber Hans, liebe Johanna, liebe Petra und lieber Christian, darf ich euch zur Begrüßung mit einer traditionellen Spezialität aus der DDR aufwarten? - Natürlich, ihr braucht gar nicht zu antworten. Wenn es bei uns im Osten mal richtig etwas zu feiern gibt, dann trinken wir uns einen schönen roten Rotkäppchen-Sekt. Ich sage euch, das muss jetzt auch sein, damit Ihr euch wirklich stilecht von euren neuen Verwandten begrüßt fühlt."

Das Lachen der gesamten Runde gibt den Auftakt zu einem lockeren Gespräch darüber, wie die Fahrt gewesen sei, wie ihnen die thüringische Landschaft gefallen habe und dann was die Menschen in Westdeutschland während der letzten drei Wochen denn für Gedanken und Gefühle mit dem anderen Teil Deutschlands verbunden hätten. Paula hebt ausdrücklich hervor, dass Menschen wie sie und Hans durch ihre familiäre Betroffenheit von der deutschen Teilung einfach nicht dazu in der Lage sein könnten, die Empfindungen der anderen, der völlig normalen Deutschen realistisch und ohne falsche Sentimentalität zu erfassen und zu beurteilen.

"Wir haben uns einfach nur gefreut", kommt es spontan aus Christian heraus. "Warum auch sollen sich denn junge Deutsche wie wir" - dabei zeigt er auf sich und Petra - "übermäßig den Kopf darüber zerbrechen, was jetzt in den nächsten Monaten und Jahren kommen mag. Irgendwie werden die Deutschen wieder näher zusammen finden. - Und, mir persönlich ist es doch ziemlich egal dabei, ob Deutschland dabei schnell wiedervereinigt wird oder ob wir und die DDR bald so unkompliziert miteinander umgehen können wie heute zum Beispiel die Deutschen und die Holländer."

"Na, na, scheiß egal ist das aber nicht, was aus der deutschen Einheit wird, Christian!"

Hans mischt sich spontan ein und erntet dafür einen strafenden Blick seiner Schwester.

"Ich finde, Christian hat ganz Recht. Was schert uns heute eigentlich die große Politik von morgen? Auf einen Schlag ist es jetzt wieder möglich, dass die Menschen zusammen kommen. Also bin ich auch der Meinung, dass es für heute doch völlig ausreicht, wenn wir uns darüber ganz aufrichtig freuen können. Bert ist da auf demselben Trip wie ihr."

Paula dreht den Hals nach links in Richtung Küche und ruft:

"Leo, wo ist eigentlich dein allzu wohlgeratener Sohn abgeblieben? Der sollte doch eigentlich hier sein."

"Kommt gleich wieder, Paula. Ist nur mal kurz bei Alexander. Tauschen mal wieder Platten oder so was Ähnliches."

Paula nickt verständnisvoll.

"Ihr seht. Bei meinem Sohnemann ist das wohl kaum anders als bei euch. Am Wochenende mit Freunden Platten hören und so. Ihr werdet euch vermutlich gleich anfreunden."

Leo kehrt aus der Küche zurück, eine Kuchenplatte mit einer hervorragend aussehenden Schwarzwälder Kirschtorte vor sich her tragend. Mit dem stolzen Gesichtsausdruck des verantwortlichen Bäckermeisters bittet er seine Gäste zu Tisch. Sofort darauf verschwindet Leo erneut in der Küche, um ein Tablett mit Kaffee, Wasser, Milch und Zucker zu bringen. Paula bittet ihre Gäste zu Tisch. Eine kurze Stille überbrückend beginnt sich Johanna anerkennend über die gemütliche Atmosphäre des alten Fachwerkhauses zu äußern.

"Wirklich schön habt ihr es hier!"

Unterdessen starrt Paula unentwegt auf die Torte in der Mitte der Kaffeetafel. Sie fühlt sich dreißig Jahre zurückversetzt. Es war zu Hans achtzehntem Geburtstag, dem letzten Geburtstag, den sie zusammen mit Mutter feierten. Ihre Mutter buk damals auch eine Schwarzwälder Kirschtorte, exakt nach dem gleichen Rezept, nach dem Paula mit ihrem Mann die Torte gestern Nachmittag und heute Morgen gebacken haben. Mutter war damals so glücklich! Und stolz war sie, denn Hans stand kurz vor dem Abitur. Ihr Sohn würde als einer der ganz wenigen jungen Menschen des Dorfes in Jena oder vielleicht in Berlin studieren dürfen. An die zweite Möglichkeit mochte sie indes gar nicht denken, denn ein Studium in Berlin hätte ihren Hans doch aus dem lieb gewonnenen alltäglichen Zusammensein herausgerissen.

Nur wie von Ferne dringen die Stimmen ihrer Schwägerin, von Hans und Leo an Paulas Ohr. Sie unterhalten sich über die Mühen der vergangenen Jahre, immer einmal wieder etwas für das Haus an Baustoffen oder an Einrichtung zu ´organisieren´. Paula hingegen gibt sich ihrer Erinnerung hin, denn plötzlich hat sie das angsterfüllte Gesicht ihrer Mutter vor Augen, als es damals, im Dezember 1959 bei Hans Geburtstagskaffee im kleinen Kreis der Familie mit Tante Elfriede und ihrem Mann, zwischen Hans und Paula zum Streit kam. Was war noch einmal der Auslöser? Ach ja, Paula ist sich wieder ganz sicher. Sie hatten über den Sputnik-Schock im Westen gesprochen. Sie hatte behauptet:

>>Das sitzt jetzt tief bei den Amerikanern. Nicht sie sind es, die mit der Eroberung des Weltraums begonnen haben, sondern wir! Dieses kleine Wörtchen Sputnik und diese in hohen Pfeiftönen nachhallenden Funksignale werden sich in das Gedächtnis der Menschen eingraben. Das wird haften bleiben als diejenige Begebenheit, bei der allen Kapitalisten und Imperialisten des Westens endlich klar geworden war, dass sie die Sowjetunion nicht mehr in das zweite Glied schieben können.<<

>>Wir und die Sowjetunion - dass ich nicht lache!<<

Hans Stimme nahm damals eine unnatürlich hohe Tonlage an. Für Paula und ihre Mutter bedeutete dies stets ein Alarmsignal. Immer in solchen Stimmungslagen geriet Hans in Wallung, und meist hatte das dann politische Ursachen.

>>Was haben wir denn damit zu tun, dass unser großer Verbündeter, die Sowjetunion, von jetzt an nicht nur einen Großteil des Volksvermögens für die Produktion von Waffen statt von Maschinen, Autos und Kindergärten ausgibt, sondern jetzt sogar auch noch für diese absolut blödsinnige Eroberung des Weltalls? Es ist doch die pure Prestige-Sucht, die unsere Spitzengenossen im Kreml rund um Chruschtschow dazu verleitet, gesellschaftlichen Reichtum auf diese Weise zu verplempern! Aber nein, Hauptsache die Gemeinschaft der antifaschistischen Staaten beweist den Imperialisten, dass wir es sind, die von nun an technologisch die Nase vorne haben. Ich jedenfalls bin nicht stolz auf den Genossen Gagarin. Mir tun die alten Säcke im Politbüro in Moskau nur herzlich leid, wenn sie nicht einsehen wollen, dass ihr Volk und unser Volk hier in der DDR andere Wohltaten viel nötiger hätten als Mister Eisenhower, dem Reaktionär Adenauer und Mon General de Gaulle einen Sputnik-Schock zu versetzen.<<

>>Nun streitet nicht, Kinder!<<

Maria Berger suchte Hans in seiner Aufregung zu besänftigen. Abwechselnd blickte sie Hans und Paula mit ein wenig schüchternem Gesichtsausdruck an. Paula schwieg. Sie wusste, dass Hans letztes Wort noch nicht gesprochen war.

>>Ach Mutter! Ich habe keine Lust mehr, mir immer dann den Mund verbieten zu lassen, wenn es um die Politik im real existierenden Sozialismus geht. Du und Paula, ihr haltet euer schützendes Händchen aber auch über wirklich alles, was von dieser Bande alter Kommunisten in Berlin verkündet wird. Sicher, ihr seid gute Sozialisten. Das will ich überhaupt nicht bezweifeln.

Aber ich, Mutter, und darauf bestehe ich, bin ein genauso guter Sozialist, auch wenn ich das Gehirn nicht abschalte bei allem, was im Neuen Deutschland steht. Ich bin dankbar für alles, was unser Land und die SED für mich tun, keine Frage. Aber die zukünftige Intelligenz unserer Deutschen Demokratischen Republik, und zu der soll ich ja eurer Meinung nach irgendwann einmal unbedingt gehören, wird unsere Zukunft nicht besser machen, wenn sie zu allem Ja und Amen sagt. Der Fortschritt muss von unten wachsen! Die Kreativität, die Energie und die Lebensfreude jedes überzeugten jungen Sozialisten, das ist unser Kapital von morgen! Und was tun diese Ignoranten im Politbüro? Sie verbieten Bücher und Musik, verteufeln alles, was jenseits des so genannten Eisernen Vorhangs passiert. - Wenn das so weitergeht, dann frage ich mich allen Ernstes, was ich für dieses Land überhaupt noch tun kann. Wofür soll ich Jura studieren, wenn Gesetze in diesem Land letzten Endes keine Rolle spielen, sondern nur noch der Wille der Partei und der Staatssicherheit? Und warum sollte ich in die SED eintreten, wenn man in dieser Partei nicht diskutieren darf, sondern nur am 1. Mai aufmarschieren soll?<<

Paula hatte sich das damals alles ganz in Ruhe angehört. Und noch heute, dreißig Jahre später, hier am Kaffeetisch, an demselben Tisch, an dem sie endlich wieder demselben Bruder gegenübersitzt, begreift sie immer noch nicht, wie sie damals so unglaublich cool bleiben konnte.

>>Aber Hans, keiner will dir hier den Mund verbieten. Und keiner von uns zweifelt auch nur im Geringsten an deiner guten, aufrichtigen sozialistischen Überzeugung.<<

Bestätigendes Kopf-Nicken aus milde dreinblickenden Gesichtern der Mutter und von Tante Elfriede schlug Hans und Paula entgegen. Deshalb sagte sie zu sich: Nur schnell weiter reden, bevor Hans endgültig der Kragen platzt.

>>Aber andererseits wollen wir doch alle hier, bei uns im Dorf, im schönen Thüringen glücklich werden. Und weil es sich für mich in deiner Rede beinahe so anhörte, als sei dieses Land nicht mehr so ganz dein Land, möchte ich dazu noch etwas sagen: Viele, verdammt viele und viel zu viele gehen jedes Jahr über West-Berlin in den Westen. Ob unsere Republik dabei allmählich ausblutet, will ich jetzt einmal dahin gestellt sein lassen, denn das ist jetzt nicht mein Punkt. Viel wichtiger für alle, die da gehen und meinen, sie kämen in eine bessere Welt, ist etwas ganz Anderes: Da drüben jenseits der Grenze im kapitalistischen Teil Deutschlands gibt es freie Wahlen, so genannte freie Gewerkschaften. Und es gibt sogar eine SPD. Aber die hat nichts zu sagen, sondern die CDU dieses Reaktionärs Adenauer, der alles daran setzt, den Amerikanern zu gefallen.

Doch selbst falls einmal andere Tage in der BRD kommen sollten und Ollenhauers SPD die Bundesregierung stellen dürfte, ja was passierte denn dann? Es würde sich nichts wirklich Grundlegendes ändern! Das Kapital bliebe unangetastet, Abrüstung und Austritt aus der Nato ein ebenso frommer Wunsch. Gerechtigkeit für die Arbeiterkinder, freier Zugang zum Studium, selbst das bliebe ein Wunschtraum. Hans, alle, die heute in den Westen gehen, werfen früher oder später ihre sozialistischen Ideale von Brüderlichkeit und Gerechtigkeit über Bord. Stattdessen beißen sie sich ganz für sich alleine durch. - Im Westen, in der so genannten Demokratie der Parlamente wird es nie einen echten Sozialismus geben! - Weil es nie Mehrheiten dafür geben wird, die Verfassung zu ändern, um die Herren über das Kapital wirklich im Interesse der Werktätigen dafür verantwortlich zu machen, dass alle Arbeit haben und es ihnen dabei auch noch gut geht.<<

Hans saß da, auf dem Stuhl, auf dem heute seine Frau Johanna sitzt. Einen Moment lang schwieg er. Dabei sah er unentwegt Paula in die Augen, so als habe er vollkommen vergessen, dass noch andere an der Kaffeetafel von damals Platz genommen hatten.

>>Und du glaubst wirklich, was du da sagst? Woran soll es denn nach der Meinung meiner ach so neunmal klugen kleinen Schwester liegen, dass es im Westen niemals so etwas wie einen Sozialismus geben könne, der die freie Äußerung der Gedanken mit der Gerechtigkeit vereint und versöhnt?<<

Irgendwie hatte Paula damals auf diese oder eine ähnliche Frage gewartet. Innerlich triumphierte sie. Und sie befürchtete damals, ihr Bruder könne das von ihren schmunzelnden Wangen ablesen. Doch diese Sorge war vollkommen unbegründet, weil Hans zu sehr von sich überzeugt war, und davon, dass Paula nun nicht würde schlagfertig kontern können.

>>Die Frage rührt an die Grundfesten unserer Ordnung im besseren Teil Deutschlands, Hans. Meine Meinung ist da ganz klar: Der Weg zum Sozialismus wird nur funktionieren, wenn wir uns über schnöde materielle Interessen und über ideologische Hürden, über die Scheren in den Köpfen der bei uns entmachteten Bourgeoisie hinwegsetzten. Das passiert jetzt seit Jahren. Die Bauern und die Handwerker mussten in die Genossenschaften hinein. Und die Beamten, die Lehrer und die Professoren dürfen einfach nichts mehr lehren und tun, das den Interessen der Arbeiterklasse widerspricht. - So weit wird es im Westen niemals kommen. Das liegt nun daran, dass es da nie die Mehrheit für echte Änderungen des Grundgesetzes geben wird. Es liegt aber noch mehr daran, dass in der so genannten pluralistischen Gesellschaft der Anreiz für jeden Einzelnen doppelt so groß ist wie im Sozialismus, egoistisch zu sein und sich um die Zukunftsfragen einen Dreck zu scheren!<<

Beinahe ungläubig lässt sich Paula ihre letzten Worte von damals noch einmal auf der Zunge zergehen. - Und das hast du damals tatsächlich geglaubt? Ja sicher. Das war es doch, warum Mutter und ich uns so himmelhoch über Hans erhaben fühlten, nachdem er gegangen war. Er hatte den Sozialismus verraten! Das glaubte ich damals ganz fest.

Und heute? Paula zwingt sich dazu, sich selbst eine kurze Antwort zu geben, bevor sich ihre Aufmerksamkeit wieder der Unterhaltung am Tisch zuwendet. Heute bin ich desillusioniert! Ich weiß, dass die Herrschaft der Partei nicht zum Sozialismus, sondern zur Erstarrung, zum Überwachungsstaat geführt hat. Aber trotzdem habe ich mir einen ganz anderen Optimismus erhalten, der auch etwas mit der Lebenseinstellung der echten Sozialistin zu tun haben muss. Den Optimismus nämlich, dass der Sozialismus nur entstehen kann, wenn genügend Menschen dafür kämpfen und daran glauben, und zwar mit friedlichen Mitteln. Und das wird für die Zukunft nur noch gelingen, wenn die Freuden des Kapitalismus ganz allmählich, wie über den Perfusor, in unseren Alltag eindringen, unsere Ideale nicht auf einen Schlag zu zersetzen vermögen. Stattdessen muss es einfach gelingen, den Elan von Montagsdemonstrationen und Runden Tischen zu erhalten, um eine neue, menschlichere und zugleich demokratische Gesellschaft aufzubauen. Ich hoffe nur, dass es dafür nach dem Fall der Mauer durch die nicht mehr zu übersehende Selbstaufgabe der SED nicht schon zu spät ist.

Ost und West

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