Читать книгу Herz des Todes - Magret Kindermann - Страница 6

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Aru wusste, dass etwas mit ihr nicht stimmte, weil sich jeder ihr gegenüber seltsam benahm, aber sie wusste nicht, woran es lag. Niemand wollte ihr die Geschichte erzählen, lieber unterhielten sie sich darüber ohne sie. Mit der Zeit kamen immer mehr Details dazu, ob der Tod nun auf einem Bullen angeritten kam, sie am Tag ihrer Geburt schon holen oder sie gar zu seiner Nachfolgerin machen wollte.

Ihre Eltern verstärkten Arus Ängste. Ihr Vater, der Redner, vollzog in regelmäßigen Abständen eine Reinigung. Dabei bedeckte er ihre gesamte Haut mit einer Paste aus Umbutkraut, das an den Unterseiten der Holzbretter bis in die Tiefen des Moores hinein wuchs, und setzte sie in die Sonne, bis die Masse trocknete und von alleine abfiel. Nicht selten leisteten die Hühner ihr Gesellschaft und spielten mit den herabgefallenen Umbutklumpen. Manchmal fanden sie darin eine Schnecke.

Wenn Aru Pech hatte, sah ein anderes Schulkind sie. Diese wurden nie müde, ihr neue Spitznamen zu geben. Aru-Stinkekuh hielt sich am hartnäckigsten, nach den Kühen, die am Rande des Moores lebten, weil sie die jungen Umbut-Triebe liebten, die dort auf toten Bäumen wuchsen. Manchmal wagten sie sich zu weit hinein und verendeten in Schlamm. Noch schlimmer fand Aru aber Todeshure, auch wenn sie den Begriff nicht ganz verstand.

Ihre Mutter beachtete sie nicht. Aru hatte schon erlebt, wie sie von ihren vier Kindern sprach und damit ihre älteste Tochter ausschloss. Die Frau des Redners fürchtete sich vor der seltsamen Kleinen, die oft lange ins Leere blickte. Eines Tages schrie sie den Redner an, er solle sie aus dem Haus werfen. Doch er weigerte sich, da er nicht den Zorn des Todes auf sich lenken wollte.

»Sie steht unter seinem Schutz und wir haben die wichtige Aufgabe, Jui vor ihr zu schützen«, sagte der Redner.

Die Köchin mischte sich in den Streit ein: »Oh, hätte ich bloß nie den Rhabarberkuchen für Armondin gebacken!«

Sie war es gewesen, die die gute Bilgrim mit dem Kuchen vor der Geburt gnädig stimmen wollte. Noch zehn Jahre später machte sie sich Vorwürfe, dass sie keine kleinere Frucht gewählt hatte, an der man nicht so gut ersticken konnte.

Was Arus Eltern und die Köchin nicht wussten, war, dass Aru unter dem Küchentisch saß und zuhörte. Den Ort hatte sie einige Tage vorher entdeckt, als das Huhn, das nach der Geburt auf ihr gelegen hatte und seitdem nicht mehr von ihrer Seite wich, darunter lief und sich in einen großen Suppentopf legte.

Der Ort brachte Bilder in Arus Kopf, die Geschichten aus uralten Zeiten zeigten, als es Jui noch nicht gab und die Mooräpfel sich von den Wurzeln lösten und an die Wasseroberfläche ploppten. Niemand sammelte sie ein und sie trieben davon, um irgendwo neue Moorapfelbäume wachsen zu lassen.

Unter dem Tisch blieb Aru verschont von Schlammsäuberungen oder Hänseleien. Dafür bekam sie die Gespräche der Erwachsenen mit und hatte schon viel über die Nacht, in der sie geboren wurde, erfahren.

»Wir verheiraten sie, so schnell es geht mit einem Mann von anderswo«, sagte ihr Vater. Aru sah nur seine erdverkrusteten Schuhe und Hosenbeine.

»Geht das denn? Sie ist noch sehr jung. Vielleicht ja auf dem Festland.« Ihre Mutter stand weiter weg und so sah Aru sie nur bis zum dicken Bauch, in dem ihr neues Geschwisterteil heranwuchs.

Aru umklammerte ihre Knie, um nicht laut schluchzen zu müssen. Stattdessen weinte sie still.

»Ein paar Jahre werden wir noch warten müssen«, sagte der Redner. »Aber sie sieht auch älter aus, als sie ist. Das wird schon gehen.«

Arus jüngster Brüder Kamur hing an der Hand ihrer Mutter. Er war erst knapp über einem Jahr, doch auch er hatte schon mitbekommen, dass Aru nicht wirklich zur Familie gehörte.

Das Kleinkind streckte den Arm aus, zeigte auf seine große Schwester unter dem Tisch und rief: »Da!«

Die Mutter zog ihr Kind an sich, ohne es weiter zu beachten. Es verstummte und krallte sich am Bein fest, doch der Blick blieb auf das Versteck gerichtet.

Aru wünschte sich, dass sie sie bemerkt hätten. Sie wollte den Ausdruck in ihren Augen sehen, der zeigte, dass sie wussten, dass ihre Gedanken falsch waren. Als ihre Eltern mussten sie sie doch lieben, sie war doch gut, ein braves, gesundes Kind, genau wie die anderen. Aber ihre Geschwister waren anders, das spürte sie. Vor ihnen schreckte niemand weg.

Sie kroch unter dem Tisch hervor und stellte sich mit verheultem Gesicht und erhobenem Kopf vor ihre Eltern. Zu gerne hätte sie etwas gesagt, hätte ein Urteil gesprochen. Aber für den Schmerz in ihr gab es keine ihr bekannten Ausdrücke und so schaute sie nur in die überraschten Augen. Sie zog den Rotz hoch, doch er rann ihr sofort wieder aus der Nase.

»Da!«, sagte ihr Bruder erneut, doch er wurde von Arus Schluchzen übertönt.

Niemand rührte sich, selbst der Marktplatzlärm schien nicht mehr hinein zu dringen. Nie hatten ihre Eltern ihr gezeigt, dass sie mit ihnen reden durfte, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte. Sie hatte beobachten müssen, wie ihre Geschwister umarmt und gedrückt wurden. Berührungen kannte sie nur, wenn sie aus Versehen geschahen.

Selbst jetzt wurde sie nicht erhört. Niemand beugte sich hinunter und zog sie an sich. Niemand, und das Verlangen danach war so groß, dass sie dieses schlussendlich herunterschlucken musste.

Aru war fertig mit der Hoffnung. Sie hatte keinen Platz auf der Welt. Das, was sie schon lange wusste, begriff sie nun.

Sie rannte aus dem Haus. Noch immer weinte sie bitterlich, doch das Rennen half und schließlich versiegten die Tränen. Als die Häuser weniger dicht standen, verlangsamte sie ihren Schritt.

Weite Moorapfelfelder lagen vor ihr. Man erkannte sie an den rechteckig angeordneten Stegen, von deren Eckpfählern je ein Ende eines Netzes ins Wasser reichte. Im Hochsommer wurden damit die Mooräpfel geerntet und weiterverarbeitet.

Aru lief jedoch weiter, ignorierte die Mücken, die um sie schwirrten und sie stachen, und erreichte nach einer langen Wanderung den Rand des Moores. Die Sonne stand bereits tief und glitzerte in den letzten Pfützen. Danach wurde der Boden höher und weniger wässrig. Aru sprang vom Steg und landete auf der festen Wiese.

Sie überlegte, ob sie bis zu den Kastanien laufen sollte, doch sie empfand keine Lust, auf ihren Ästen zu schaukeln. Hinter sich vernahm sie ein Gackern und wusste, dass ihr das Serenikahuhn gefolgt war.

Unschlüssig stand sie im Gras, bis es kühl wurde. Die Sonne war schon fast hinter den Bäumen verschwunden. Sie wollte nicht zurück nach Jui, aber sie fürchtete sich zu sehr, um im Dunkeln draußen zu bleiben. Ihr Elternhaus war kein Ort, an dem sie willkommen war, aber sie wusste nicht, wohin sie sonst sollte. Also kletterte sie zurück auf den Steg. Das Serenika breitete die Flügel aus und flog in den Himmel. Es erkannte, dass sie nach Hause gehen würde, und bewachte Arus Weg von oben.

Das Wasser schmatzte unter dem Holz und ihre Stiefel machten dumpfe Geräusche darauf. Die Schatten wurden länger und sie rannte schneller.

Nachts kamen die Hexen aus dem Moor, erzählte man sich, und die darin versunkenen Kühe würden einen zu sich ziehen wollen. Dann wäre sie wirklich Aru-Stinkekuh.

Bei den Moorapfelfeldern sah sie einige aus ihrer Klasse. Alele erkannte sie im Dämmerlicht, dann mussten die anderen Khuto und Pele sein. Aru blieb stehen. Sie wollte ihnen nicht in die Arme laufen, aber ein Umweg würde bedeuten, in noch dunklere Ecken zu kommen und länger zu brauchen. Trotzdem bog sie ab, als sich zwei Stege kreuzten. Der Wind trug nun die Stimmen ihrer Klassenkameraden zu ihr. Kaum konnte sie den Weg vor sich noch ausmachen.

»... nicht wirklich Unterricht kriegen? Dann hast du noch mehr Schule.«

»Singen ist kein Unterricht, Dummkopf!«

Über sich hörte sie die beruhigenden Schwingen der Serenika.

Dann: »Ist da drüben nicht Aru?«

Arus Herz schlug schneller und sie beschleunigte ihren Schritt.

Aufgeregt riefen die Kinder: »Todeshure! Hier drüben! Komm zu uns, putt, putt, putt, putt, putt!«

Aru rannte jetzt wieder, dabei sah sie kaum, wo der Steg abknickte. Schrilles Gelächter erklang hinter ihr.

»Hinterher!«, brüllte Alele.

Aru wusste nicht, ob sie sie schon hinter sich atmen hören konnte oder ob die Laute nur von ihr selbst waren. Fast wäre sie auf dem klammen Holz ausgerutscht, doch sie konnte sich gerade noch halten, und hastete weiter.

»Wir sind fast da, kleine Kuh, dann stopfen wir dich dorthin, wo du hingehörst!«

Wohin gehörte Aru? Ja, das würde sie wirklich auch wissen wollen.

Und der Steg endete, doch Aru hatte es nicht gesehen. Ohne ein Geräusch zu machen, fiel sie ins Wasser. Sie spürte nicht, wie das Huhn sich in ihren Rücken krallte und versuchte, sie rauszuziehen. Sie hörte nicht, wie die Kinder, die sie verfolgt hatten, schrien. Nach ein paar panischen Bewegungen hatte sie so viel Schlamm aufgewühlt, dass weitere Bewegungen schwer wurden. Sie konnte den Kopf nicht mehr drehen und ihre Lungen brannten.

Vielleicht war das der Ort, an den sie gehörte. Auch wenn sie wusste, dass sie keine Luft erwarten konnte, wurde der Drang zu atmen unerträglich. Also gab sie nach.

Aru öffnete den Mund und Schlamm strömte in sie hinein.


In seinem Haus in den Bergen begann der Tod zu schwitzen. Vor einer Weile hatte er gesehen, dass Arus Tod bevorstand. Er war erleichtert!

Obwohl er zwar jeden Todeszeitpunkt einsehen konnte, waren die meisten Vorgänge inzwischen automatisiert. Einige schwierige Seelen verlangten seine Anwesenheit, da sie in der Vergangenheit gerne mal geblieben sind und umhergeisterten. Andere hatten schlichtweg einen Pakt geschlossen, dass sie vom Tod höchstpersönlich abgeholt werden würden, obwohl das am Ende keinen Unterschied machte. Manche Leute wollten einfach umgarnt werden.

Arus Seele war weder wichtig noch schwierig. In Kürze würde sie im Totenreich sein. Damit wäre sein Problem gelöst, er könnte sein Herz zurückholen und er musste dafür nichts tun, als diesen Tag zu überstehen.

Hoch auf dem Berg sah er länger die Sonne und er starrte in ihr glühendes Gesicht. Nur warten musste er, nur warten.

Am Morgen hatte er sich gut gefühlt. Er hatte einige Tode begleitet, viele davon freiwillig, um beschäftigt zu sein. Das Abendessen hatte er noch summend begonnen, doch beim Kauen hatte er zu viel Zeit zum Denken.

Es war natürlich unmöglich, Zuneigung zu empfinden, er war der Tod! Unter anderem war er deswegen der Tod geworden. Er wollte nicht, dass ihm da jemand anderes hineinredete. In alles, in seinen Job, sein Leben. Er war allein und glücklich.

Der Tod beschloss, nach Jui zu reisen. Nicht um Arus Seele zu begleiten, er wollte nur zusehen. Es passierte nicht jeden Tag, dass eine Seele starb, die sich mit seiner verbunden hatte.

In Jui angekommen, musste er den richtigen Ort erst suchen. Es gab massenhaft Stege in dieser Stadt. Dann hörte er den Lärm der heraneilenden Bewohner. Aha, dort lag sie im Wasser!

Er erschien direkt dort, wo das Holz endete und wo sie hinabgefallen war. Mit dem Gesicht lag sie nach unten und rührte sich nicht. Es mussten schon mehrere Minuten gewesen sein. Der Mond beleuchtete ihr Sterben.

Noch immer hielt das Huhn am Rücken das Kleid fest und hielt sich flatternd in der Luft. Es war unüblich für Serenika, so anhänglich zu sein. Zwar genossen sie die Menschen, weil sie sie fütterten, doch für sie war ein Menschenleben zu kurz, um sie zu schätzen. Immerhin war ihre Lebenszeit die Ewigkeit.

Der Tod tastete innerlich nach ihrer Seele. Sie war noch da, schwach pulsierte sie und löste sich schon von den Zellen. Es würde nicht mehr lange dauern. In der Ferne rannten Menschen mit Fackeln und Öllampen auf ihn zu, die die Kinder geholt haben mussten. Sie würden nicht rechtzeitig kommen.

Hallo.

Der Tod erstarrte.

Noch einmal: Hallo.

War es die Erinnerung an den Tag ihrer Geburt? Oder erkannte ihre Seele ihn erneut? Er tastete erneut nach ihr. Ja, da war sie, winzig klein und fast losgelöst.

Erkennst du mich?, fragte er.

Immer.

Du stirbst.

Ja.

Er spürte einen leichten Ruck. Ein weiterer Faden zu ihrem Körper hatte sich gelöst.

Ich war an deinem ersten Tag deines Lebens da, sagte der Tod.

Schweigen.

Du hattest alles noch vor dir und hattest mich schon getroffen.

Schweigen. Vielleicht war die Seele zu beschäftigt.

Das hier ist nicht meine Schuld. Aber ich will, dass du weißt, dass ich traurig bin.

Ein weiterer Ruck. Nur noch ein Faden war übrig.

Sehr traurig.

Der Tod seufzte. Er hielt sich die Hand vor die Augen, obwohl der Tod nichts Sichtbares war.

Warum sprichst du nicht mit mir?, schrie er.

Arus Seele schwieg. Der letzte Ruck stand bevor.

Der Tod zog die Hand weg. Arus lebloser Kinderkörper lag im schimmernden Wasser, das Huhn hatte losgelassen und kreiste über ihr. Er sprang ins Wasser und watete zu ihr, zog ihren Kopf aus dem Wasser und schlug ihr kräftig in den Nacken, bis braunes Wasser herausspritzte.

Aru hustete.

Der Tod trug sie zum Steg und hob sie darauf. Er selbst folgte mit wenigen, kräftigen Bewegungen und hievte sich hoch. Er hob den Kopf des Kindes auf seinen Schoß und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.

»Atme, Aru! Atme!«

Er war zwar der Tod, aber er konnte niemanden zurückholen. Tot war tot. Doch zufrieden stellte er fest, dass die Seele noch da war und nach wenigen Momenten hob und senkte sich der Brustkorb. Aru schlug die Augen auf.

»Hallo«, sagte er.

»Ich kenne dich«, sagte sie.

Er sollte stutzen, denn sie konnte sich unmöglich an ihn erinnern. Allerdings er wunderte sich nicht, das war immerhin Aru. Er lächelte.

Die Dutzend Bewohner von Jui sahen, dass Aru gerettet wurde, und blieben einige Schritte vor ihnen stehen.

Der Tod hob eine Hand und bewegte sie im Kreis zum Gruß. »Hallo.«

»Das ist der Tod!«, rief jemand.

Mehrere Schreie hallten durch die Nacht und einer wurde ohnmächtig. Er wurde gerade so von einem zweiten aufgefangen, sonst wäre er ebenfalls ins Moor gefallen.

Der Tod seufzte. Er hatte wenig Lust, sich mit mehreren Fackelträgern rumschlagen zu müssen. Er war müde. Und er hatte an diesem Abend womöglich einen schrecklichen Fehler gemacht. Sorgenvoll blickte er auf das gerettete Mädchen in seinen Armen. Dann verschwand er.

Von der Menge löste sich eine Gestalt und rannte auf Aru zu. Sie hob sie hoch und drückte sie schluchzend an die Brust.

»Mutter?«, fragte Aru ungläubig.

»Sei still«, sagte diese erstickt. »Sei einfach still.«

In dieser Nacht kam ihre Mutter später zu ihr ans Bett. Ihre Kinder schliefen schon, doch Aru wachte auf, sobald sie ihre Präsenz neben sich spürte. Aru sagte nichts, weil sie sich nicht traute, zu fragen, ob ihre Mutter sie wirklich umarmt hatte.

»Du weißt, dass ich dich liebe, oder?«, fragte ihre Mutter.

Aru wusste nicht, was sie mit den Worten anfangen sollte. Sie verstand nicht einmal, wie es möglich war, dass jemand sie an sie richtete. Sie hielt sie für einen Traum.

»Das tue ich«, sagte ihre Mutter. »Das tue ich wirklich, es ist nur ... Du bist schon verloren. Von Anfang an warst du verloren und ich will nicht ...« Sie pausierte für einen Moment, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Ich kann nicht darauf warten, bis du mir entrissen wirst und alle mitnimmst. Du bist die Bringerin des Todes. Du bist verflucht. Und deswegen liebe ich dich einfach nicht.« Wieder eine Pause, wieder ein hartes Schlucken. »In Ordnung?«

Aru schloss die Augen. Wie konnte sie diese Worte genehmigen? Ihr Kopf schwirrte.

Ihre Mutter liebte sie und liebte sie nicht.

Sie verstand sie nicht, diese Fetzen aus der Erwachsenenwelt. Sie hörte, wie ihre Mutter aufstand und das Zimmer verließ. Heiße Tränen rannen ihr die Wangen hinab.

In dieser Nacht schlief sie keine Minute.


Der Tod erschien direkt in Kalinikas Grotte. Er stürmte die Hütte, ohne anzuklopfen.

»Es wirkt nicht! Dein Zauber mit dem stinkenden Fisch, er wirkt nicht!« Er missachtete den großen, alten Mann, der bei Kalinika und ihrem Mann am Tisch saß, zog die Hexe am Kragen hoch und drückte sie an die Wand. »Was ist das für ein Spiel? Versuchst du, mich für irgendeinen perversen Rettungsversuch reinzulegen?«

Kalinika konnte nicht sprechen, der Kragen schnitt ihr in den Hals, also nickte sie nur. Lert, der die Wutausbrüche des Todes schon kannte, legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Ruhig sagte er: »Lass sie los.«

Der Tod gehorchte. Er stolperte rückwärts, bis er auf dem Tisch saß. »Immer versucht sie, mich zu retten, ich bin nicht zu retten! Sag ihr das.«

Er schaute an sich herunter und glaubte, noch das Gewicht des Mädchens in seinen Armen zu spüren. Er war nass und dreckverkrustet.

»Du kannst froh sein, dass dich überhaupt noch jemand retten will«, sagte Kalinika und rückte sich das Oberteil zurecht.

Die Jahre hatten ihr feine Falten ins Gesicht gezeichnet, die sie noch interessanter machten, wie der Tod fand. Er selbst war nicht gealtert.

»Wir brauchen erst einmal einen Ehinwein, dann erzählst du uns alles in Ruhe«, sagte Lert und ging zum Weinregal, das Schmuckstück des Zimmers.

Der Tod ließ sich auf einen Stuhl sinken. War sein Herz noch immer verloren? Was war da eben geschehen, warum hatte er Aru gerettet?

»Ich bin Baobam«, sagte der Alte, der ihm gegenübersaß.

Der Tod nickte abwesend. »Ich weiß, wer du bist. Du bist bald an der Reihe.«

Baobam wurde grau um die Nase.

»Nur ein Scherz.« Der Tod winkte ab. Er machte den Scherz oft und er funktionierte jedes Mal. »Ich habe keine Ahnung, wer du bist.«

Erleichtert, aber beschämt lächelte der Alte. »Kalinika hat nie erwähnt, wie humorvoll du bist.«

»Sie hat wahrscheinlich auch nie erwähnt, wie gut aussehend ich bin.«

»Wenn du noch Blödsinn reden kannst, geht es dir wohl noch nicht schlecht genug«, sagte Kalinika und stellte geräuschvoll einen Becher vor ihn. Ihre kühle Hand auf seiner Schulter verriet, dass der strenge Blick nur Teil des Spiels zwischen ihnen war. »Baobam kommt aus dem Süden, aus Lerts Heimatdorf.«

»Wir kennen uns seit meiner Kindheit«, rief Lert. Er hatte sich noch immer nicht für einen Jahrgang entschieden.

»Tatsächlich? Also sind bei euch nicht alle Menschen klein.«

Lert schwang halb drohend, halb belustigt eine Weinflasche in seine Richtung: »Pass auf, du!«

»Ich wünschte, du könntest erst scherzen und dann überlegen, ob du jemanden würgen musst«, sagte Kalinika und rieb sich den Hals.

Der Tod zog sie zu sich. »Hab ich dir wehgetan? Zeig mal her. Es tut mir leid.«

Kalinika präsentierte ihren Hals, auf dem noch der Abdruck ihres Kragens zu sehen war.

»Das geht bald wieder weg«, sagte sie.

Lert stellte eine Flasche Ehinwein auf den Tisch. »Die könnte entweder die beste sein, die auf der Insel je produziert wurde, oder der Wein ist gekippt.«

»Ich nehme auch gekippten Wein«, sagte der Alte. »Meine Geschmacksnerven sind nach den vielen Jahren schon abgetötet.«

Nach einem Glas Ehinwein war der Tod bereit, von seinem Tag zu berichten. Er war ein leidenschaftlicher Erzähler und rechnete nach dem Bericht mit einer leidenschaftlichen Antwort.

»Das Kind hat dich nicht gebeten, es zu retten, oder?«

»Nein, aber –«, begann der Tod enttäuscht.

»Was? Willst du, dass ich dir deinen freien Willen nehme?«

»Du hast gesagt, ich würde keine Gefühle mehr für sie haben!«

»Ich nahm dir deine extremen Gefühle und das war klar. Sympathien blieben dir erhalten. Zwing mich nicht, dich zu einem Stein zu machen, und glaube mir, oft genug hatte ich den Wunsch. Du hast dich entschieden, ihr zu helfen. Du hast es nicht getan, weil sie es wollte. Sie hat keine Macht über dich.«

»Aber mein Herz hat Macht über mich.«

Kalinika schüttelte den Kopf. »Der Mensch ist mehr als nur ein Herz.«

Der Tod sprang auf und sein wilder Blick hätte viele in die Knie gedrängt, jedoch nicht Kalinika. »Ich bin kein Mensch! Ich bin der Tod.«

Die Hexe nahm einen Schluck. »Du bist geboren worden wie jeder andere Mensch auch.« Sie nahm einen Schluck Ehinwein und ließ ihn lange im Mund, bevor sie ihn hinunterschluckte. »Und du wirst auch sterben wie jeder andere.«

Er setzte sich wieder. Er war nicht einverstanden, aber er wusste, dass es keine Einwände gab.

»Tilonn«, raunte die Hexe. »Was ist so schlimm daran, wenn dich das Kind fasziniert?«

Der Tod antwortete nicht.

»Komm, spielen wir eine Runde«, sagte Lert schließlich und teilte die Karten schon aus.

»Es tut mir leid für die Unterbrechung. Wir kümmern uns morgen um euch. Heute Nacht könnt ihr hierbleiben«, sagte Kalinika zu Baobam.

»Es ist mir eine Freude. Vor allem die Bekanntschaft mit dem Tod gemacht zu haben. Wo ich herkomme, verehren wir dich.« Die Augen des Alten glitzerten vor Scham.

»Tatsächlich?«, fragte der Tod und warf Lert einen grinsenden Seitenblick zu.

»Man hat mich und meinen Enkelsohn vom Festland vertrieben. Wir suchen eine neue Bleibe.« Der Blick des Alten wurde trüb. »Mein Enkel ist erst zehn und hat jeden Menschen verloren, den er kannte. Ich möchte ihm eine schöne Zukunft bieten.«

»Er hat noch dich«, erwiderte der Tod.

Baobam lächelte traurig. »Ja. Auch wenn das vorhin ein Scherz war: Lange habe ich nicht mehr, das weiß ich.«

Lert legte die letzte Karte vor den Tod.

»Darf ich dieses Mal der Tod sein?«, fragte er.


Einige Wochen später hatte der Tod Arus Mutter auf der Liste. Eine schwierige Seele, die er begleiten sollte. Er zerriss die Seite in seinem Terminkalender und warf sie aus dem Fenster. Er beobachtete, wie die Schnipsel zwischen den Schneeflocken verschwanden und gemeinsam mit ihnen hinunter schwebten. Auf seinem Berg schneite es oft, außer es war zu kalt, so hoch war sein Berg.

»Du benimmst dich wie ein Kind«, sagte Safferle, der ihn von der Tür aus beobachtet hatte.

»Und du übertrittst damit eine Grenze!« Der Tod setzte sich an seinen Schreibtisch.

Die Termine für heute würde er ignorieren, sollten doch alle Seelen zu Geistern werden. Er könnte sie noch später einfangen, ohne damit in Arus Nähe zu müssen.

»Verzeihung«, sagte Safferle und zog sich zurück.

Hatten denn alle den Respekt vor ihm verloren? Er war der Tod! Er war kein Ausgebeuteter seines Herzens, er rettete keine Mädchen und vor allem hatte er keinen Vorgesetzten!

Der Tod lehnte sich zurück. Diese drei Punkte waren es gewesen, die den Posten so lukrativ für ihn gemacht hatten. Er wollte in Ruhe leben, sich nicht rechtfertigen müssen und sich nicht mit dem Menschsein herumschlagen müssen.

Ich benehme mich wie ein Kind, dachte der Tod.

Das gefiel ihm nicht, das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Er stand auf und ging ins Lager.

Das Lager war ein lichtdurchfluteter Raum, dessen Ende der Tod bisher noch nicht finden konnte. In langen Regalreihen standen kleine leere Fläschchen, die dem mit der Seele des Zauberers glichen. Sie glitzerten im Sonnenlicht. Auf vergilbten Etiketten standen die Namen von den Menschen, deren Seele am Tag ihres Todes hineingehörten.

Am Abend rückten die leeren Fläschchen automatisch auf, um den leergewordenen Platz beim Eingang aufzufüllen. Der Tod liebte es, in diesem Moment vor Ort zu sein, denn das Klirren klang wie eine heranrollende Glaswelle. Danach klang es in allen Regalen nach, bis auch jede Flasche wieder ruhig stand. Immer mit dem Etikett nach vorne, nie ging eine zu Bruch.

Alle paar Tage ging der Tod in die Halle und notierte sich die Namen auf den vorderen Flaschen. Der nächste Schritt war mühselig und er wünschte sich, ihm würde etwas Besseres einfallen.

Mit diesen Namen ging er in die Bibliothek und suchte in den alphabetisierten Büchern den genauen Todeszeitpunkt heraus und ob die Seelen überhaupt seine Anwesenheit benötigten. Diese landeten dann in seinem Kalender. Mit den Flaschen konnte er automatisch an den richtigen Ort kommen. Die meisten kamen freiwillig mit, selten musste er noch jemanden in der Flasche einfangen. Vielleicht war das früher noch anders.

Der Tod kümmerte sich nur um Menschen. Tiere wussten intuitiv, wohin sie mussten, und blieben nie aus Sturheit auf der Erde zurück. Pflanzen teilten ihre Seele in ihre Samen und Früchte auf und lebten so auf ihre eigene Art ewig. Wie das bei den Mischformen wie Pilzen oder den laufenden Büschen war, wusste der Tod nicht, aber seine Aufgabe waren sie nicht.

Nun trat der Tod an das vorderste Regal heran und notierte sich die Namen der Fläschchen, die auf seiner Augenhöhe standen. Es waren 24 Stück, darunter Resis aus Jui, Arus Mutter.

Mit der Liste ging er in die Bibliothek. Sie war ähnlich angerichtet wie das Lager, jedoch gab es keine Fenster, um den Büchern nicht zu schaden. Die Bücher waren alphabetisch sortiert und manchmal, wenn der Tod ein Buch nicht richtig zurückstellte, sortierten sie sich selbst korrekt ein.

Der Tod hatte folgende Theorie: Der Raum beinhaltete die Namen der gesamten Welt zu jeder Zeit. Jedoch hatte man immer nur zu denen Zugang, die aktuell am Leben waren. Denn er hatte beobachtet, dass die Namen aus den Büchern nach einer Weile verschwanden, wenn die Seelen im Totenreich angekommen waren. Denn dort blieben diese nicht, nach ein paar Tagen oder Wochen, jede schien ihren eigenen Rhythmus zu haben, löste sie sich auf. Und dann verschwand der Name. Der Tod wusste nicht, was mit den Seelenpartikeln passierte. Vielleicht hatte das was mit neuem Leben zu tun, aber damit kannte er sich nicht aus.

Die Bibliothek war mit dickem Teppichboden ausgelegt, auf dem der Tod sogar mal geschlafen hatte, weil er bei der Arbeit eingenickt war. Seitdem dachte er darüber nach, die harten Stühle und den Tisch lieber mit einer gemütlichen Sitzecke mit Kissen auszutauschen.

Safferles Frau könnte das ja für ihn erledigen, aber wahrscheinlich würde sie sich weigern. Sie hatte schon mehrmals verkündet, dass sie nicht für ihn arbeitete und nur im Haushalt mithalf, weil sie – wie die zwei Männer und ihr Sohn übrigens auch – hier wohnte. Aber sie hatte so einen guten Geschmack! Und der Tod kannte sich nicht mit Stoffen und Stilen aus.

Er lief die Regale entlang, bis er zum Buchstaben R kam. Diese Lettern waren mit schwerem Eisen an den ledernen Buchrücken eingestanzt. Er zog das erste Buch heraus – das erste war immer das richtige – und blätterte bis zum Namen Resis. Dort stand:

Resis aus Jui, eine Stunde und drei Minuten nach Mitternacht, 46°14′06.70″N 8°0′55.60″O, Resis Schlafzimmer, Haus des Redners, Jui: schwierige Seele.

Der Tod hatte die Koordinaten nie gebraucht, da ihn das Fläschchen bisher immer geführt hatte. Jedoch konnte er sich gut vorstellen, dass sie nützlich waren, wenn man ein Fläschchen verlor. Er war ein akribisch ordentlicher Mensch, aber sicher war es einigen Vorgängern schon passiert.

Er notierte den Namen in seinem Kalender. Das Tintenfass balancierte er dabei auf dem offenen Buch und tunkte mehrmals die Füllfeder hinein. Ebenso handhabte er es mit den anderen Namen. Zwei weitere schwierige Namen und drei wichtige. Die letzte Seele würde Arus Mutter sein, tief in der Nacht. Noch wusste sie nichts davon. Wahrscheinlich! Manche hatten einen siebten Sinn, wie sie dem Tod nach ihrem Ableben erzählten.

Der Tod schob das letzte Buch zurück an seinen Platz und klappte den Kalender zu. Also würde er den Tag doch in Angriff nehmen! Er war stolz auf sich, den Mut dafür aufgebracht zu haben. Diese Aru und ihre Familie hatten seinen Alltag ganz schön durchgeschüttelt.

»Safferle!«, rief er, als er die Tür der Bibliothek hinter sich schoss.

Sein Koch reagierte nicht.

»Safferle!«

Er fand den Koch in seiner Küche, wo er Gemüse zerhackte, ein wenig stärker als nötig.

»Safferle«, sagte der Tod. »Ich esse heute auswärts zu Abend. Ich will gucken, ob sie in Jui einen neuen Wirt für diese großartige Schänke gefunden haben.«

»Na toll!« Sein Koch ließ das Messer scheppernd auf die Holzarbeitsfläche fallen. »Und das ganze Gemüse kann ich wegwerfen?«

»Das könnt ihr doch essen.«

»Es ist viel zu viel!«

»Dann bleibt was übrig, was ist daran so schlimm?«

»Ich werfe nun mal nicht gerne etwas weg! Das ganze Zeug ist wertvoll, was man hier vielleicht nicht immer merkt, es gibt ja alles. Trotzdem muss man nicht alles verschwenden!« Safferle hatte beim Schimpfen das Messer wieder aufgehoben und hackte nun weiter.

Dem Tod dämmerte, dass es nicht um das Gemüse ging.

»Bist du sauer?«, fragte er.

»Fünfzehn Jahre sind es nächstes Jahr und ich stand immer an deiner Seite. Ich weiß, dass ich nur dein Koch bin, aber ich hab uns für Freunde gehalten!«

Der Tod kam hilflos näher. Zwar vertraute er Safferle, aber er hatte sie immer in einer Art persönlicher Geschäftsbeziehung gesehen. Freunde, das waren für ihn Kalinika und Lert.

»Ich doch auch«, sagte er.

»Ich dachte, man könnte auch mal eine leichte Kritik anmerken, aber anscheinend bin ich hier wirklich nur ein Angestellter!«

Der Tod unterdrückte ein Lachen, endlich wusste er, worum es geht!

»Ach das! Nein, das war gut, wirklich. Ich bin danach ins Labor und hab die Namen neu notiert. Schau!« Er zog den Kalender aus seiner Manteltasche und klappte ihn an der herausgerissenen Seite auf. »Hier stehen wieder alle Namen, auch der von Arus Mutter, schau doch. Ich werde den Tag über ganz normal arbeiten. Gar kein Problem. Das hab ich dir zu verdanken, weil du mich so zurechtgewiesen hast.«

Das stimmte nicht, aber der Tod konnte noch nie gut Streitereien ertragen. Und wer weiß, vielleicht hatte Safferle mehr ausgerichtet, als ihm bewusst war.

Safferle hörte mit dem wütenden Hacken auf.

»Ja?«, fragte er.

Der Tod trat um den Tisch herum und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ja. Und du und deine Familie sind das, was dieses Haus zum Zuhause macht.«

Die Augen des Kochs leuchteten. »Ach, wir machen doch gar nichts.« Er lächelte breit und schnitt wieder das Gemüse, nun mit gleitenden Bewegungen. »Was wolltest du?«

»Ich esse heute auswärts, in Jui.«

»Sehr gut. Ich mache Pfannengemüse und stelle den Rest auf die Terrasse in den Schnee. Dann kannst du es morgen noch essen. Wenn du dazu kommst, bring mir doch eingelegte Mooräpfel mit. Ich bin auf ein altes Rezept gestoßen, Moorapfelcreme, das würde ich gerne probieren.«

Der Tod verließ die Küche und streckte sich lange. Er war nicht nur ein guter Tod, er war auch ein guter Freund! Zufrieden schnipste er und weil er das Geräusch mochte, gleich noch zweimal.

Dann verschwand er.


Zwei Königinnen starben fast zeitgleich beim gemeinsamen Mittagessen. Die erste, Wlerta pon Kjasch probierte den neuen Wein und fiel in einen tiefen Schlaf, der zu ihrem unbemerkten Tod führte. Ihre Schwester Pfunta pon Kjasch, die nun Königin war, ohne es zu wissen, nahm den Becher aus der Hand der anscheinend volltrunkenen Wlerta und probierte ihn mit dem gleichen Ergebnis. Nun ging der Thron an den jüngsten Bruder Omp, der, misstrauisch geworden, das Schwert zückte, jedoch von hinten niedergestochen wurde. Seine Frau und die zwei Kinder starben durch Pfeile.

Der neue König war der Attentäter Klibb, der Neffe und ehemals siebter in der Rangfolge. Innerhalb zwei Minuten hatte er sämtliche Thronanwärter vor ihm ausgelöscht.

Er trat durch die Flügeltür und bestaunte sein Werk. Die Ritterin Marwa nahm ihren Helm ab und wischte das Blut vom Schwert mit der Tischdecke ab. Sie half Klibb, weil sie hoffte, er würde sie zur Frau nehmen und somit zur Königin machen. Was sie nicht sehen konnten, waren die beiden schwierigen Seelen, Wlerta und ihr Bruder, die um ihn herumschwirrten, und den unsichtbaren Tod, der ihnen mit den Fläschchen hinterherrannte.

»Er soll brennen!«, schrie Wlertas Seele.

»Er soll leiden!«, schrie Omps Seele.

»Was für Irre«, murmelte der Tod.

Er war mehrmals im Jahr hier, um tote Königinnen oder Könige einzusammeln, bald würde in dem Reich niemand mehr übrig sein. Warum war diese Position auf dem Thron bloß so beliebt, wenn es nichts Tödlicheres gab?

Kurz darauf holte er eine wichtige Seele aus einem Bergdorf ab. Ein junger Mann, fast noch ein Kind, war in eine Felsspalte gestürzt.

»Hallo Tergol, du bist tot«, sagte der Tod.

»Schade«, sagte der Junge. »Ich hätte fast ein Schwert kaufen können. Wer beschützt jetzt meine Familie? Meine älteren Geschwister sind nicht flink genug.«

»Sie werden es werden.« Der Tod hatte in Wirklichkeit keine Ahnung, was werden würde. Aber er hatte es sich angewöhnt, es den Seelen nicht noch schwieriger zu machen.

»Fast hätte ich Gahami angesprochen. Vielleicht hätten wir geheiratet und Kinder bekommen. Vielleicht wären wir in eine Stadt gezogen.«

»Jetzt bist du tot«, sagte der Tod.

»Und ich wollte noch das Dach reparieren, meine Familie wird sonst erfrieren.«

»In deinen früheren Leben warst du ein wichtiger Zauberer. Was ist passiert?«

Tergol schaute traurig auf seinen verdrehten Körper. »Ich hab schon gespürt, dass da etwas war. Aber Magie ist nur etwas für Reiche. Dafür muss man Zeit haben.«

»Das nächste Mal vielleicht«, sagte der Tod und öffnete die Flasche.

Die nächste Seele war ein Zauberer, der auch ein Zauberer wurde. Fixdarial wohnte an einem Strand zwischen den Bergen. Der Tod konnte sogar die Bergspitze sehen, auf der er wohnte.

»Ich wusste es, ich habe es geahnt, dass du heute kommst«, sagte der Zauberer und schwirrte durch sein unordentliches Haus, als würde er noch leben.

»Das sagen viele, ich glaube es nie«, sagte der Tod.

»Darf ich noch etwas loswerden?« Fixdarial setzte sich auf die Stufe vor dem Kamin und überschlug die Beine. »Wirklich bereuen tue ich ja nichts, aber da gibt es–«

»Nein«, sagte der Tod und fing ihn ein.

Die letzte Seele vor Arus Mutter war eine alte Bekannte. Er war mit Zuje in die Schule gegangen. Offiziell war sie nicht wichtig, aber der Tod nahm sich gerne Zeit für die, die er kannte.

»Hallo Tilonn«, sagte Zuje. »Schön, dass du derjenige bist, der mich holt.«

»Du musst nicht mehr bei deinem Körper sein. Du hast wieder Kraft, weißt du.«

Zujes Seele löste sich und ließ ihren Körper im Bett zurück. Ein Mann saß auf einem Stuhl neben ihr, hielt ihre Hand und schlief mit dem Kopf auf ihrem Bauch.

»Das ist mein Mann, ihr habt euch nie kennengelernt, oder? Du warst ja immer schnell wieder weg.«

»Ich kann meine Schwester nie lange ertragen.«

»Ich auch nicht!« Zuje kicherte. »Gut, dass sie nicht der Tod wurde, sondern du. Es ist viel schöner, von dir geholt zu werden.«

Der Tod blickte sie gerührt an. Ihre einstmals tiefschwarzen Haare wurden schon grau, aber sie war noch viel zu jung zum Sterben. Schon lange war sie krank, seit einigen Monaten bettlägerig. Wahrscheinlich war es besser so.

»Brauchst du noch einen Moment?«, fragte er.

»Das wäre schön.«

Der Tod machte es sich auf der Kommode an der gegenüberliegenden Wand bequem. Zuje schwebte durch das Zimmer, betrachtete jeden Gegenstand eingehend und lehnte sich eine lange Weile gegen den Rücken ihres Mannes. Als die Sonne unterging, kam sie zum Tod.

»Ich bin jetzt bereit«, sagte sie.

»Sicher?«

Zuje warf einen letzten Blick auf ihren Mann. »Unsere Liebe war ja so groß. Vielmehr hätten wir wohl nicht verkraftet. Ich lasse ihn gehen. Ich lasse ihn endlich gehen. Bring mich fort.«

Und der Tod gehorchte.


In Jui war es weit nach Mitternacht, als der Tod im Haus des Redners erschien. Er hatte sich im Hungrigen Stein Mut angetrunken und stank nach Wollgrasschnaps.

Resis schrie hinter ihrer Schlafzimmertür. Diese Geburt würde sie umbringen. Doch sie hatte noch Zeit und der Tod steuerte das Kinderschlafzimmer an, in dem die Geschwister gemeinsam schliefen. Arus Bett stand gegenüber vom Fenster, gleich an der Tür. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Auch ihre beiden Brüder schliefen.

Nach einer Weile sagte der Tod: »Deine Mutter stirbt gerade.« Er pausierte und dachte nach. »Ich weiß nicht, ob du das gut oder schlecht findest.«

Der Brustkorb bewegte sich nicht mehr und Aru setzte sich auf.

»Ist das wahr?«, fragte sie.

Der Tod sprang vor Schreck zurück und stolperte. Es krachte, als er in einen Korb mit Holzschwertern fiel.

Der ältere Junge wurde wach. »Schon Morgen? Ich bin so müde.« Er gähnte und streckte sich. »Ich hab geträumt, dass ich eine riesige Kröte mit einem langen, leuchtenden Schwanz fand, und sie brachte mich heim.« Er sprang aus dem Bett. »Willst du wissen, was die Kröte mir gesagt hat?«

»Nein!«, knurrte der Tod.

»Sie sagte: ›Das Putzen hinter den Ohren ist überbewertet, weil da niemand hinguckt.‹ Versteht ihr? Kröten haben überhaupt keine Ohren!« Der Junge realisierte den Tod, der versuchte, sich aus dem Korb zu befreien. »Was ...?«, begann er, dann schrie er.

Er erwartete, dass ein Erwachsener aus dem Haus ihnen zu Hilfe kommen würde, um den Eindringling in die Flucht zu schlagen, aber niemand kam. Jeder war mit der schwierigen Geburt beschäftigt.

Arus Bruder hob ein zu Boden gefallenes Holzschwert auf und richtete es auf den Tod. »Was suchst du hier? Sprich!«

Endlich schaffte es der Tod, wieder auf die Beine zu kommen. Er blickte auf den Knaben herunter, der ihm bis an den Bauchnabel reichte. Die Schwertspitze tanzte vor seiner Nase.

»Er ist der Tod und hier, um Mutter zu holen«, sagte Aru. Sie saß noch immer im Bett. Ihr Gesicht war fahl.

Durch die Hektik, die ausbrach, wachte Kamur, der kleine Bruder, auf und weinte.

Das Schwert tippte dem Tod auf die Brust und der Schwertführer sagte im gebieterischen Ton: »Das lasse ich nicht zu!« Der Kleine zog an seinem Ärmel und schluchzte.

»Seid doch mal leise!«, sagte Aru und jeder lauschte.

Durch die Wände drang das verzweifelte Schreien ihrer Mutter. Die Kinder rannten los, allen voran Aru, und ihr ältester Bruder hatte noch immer das Holzschwert in der Hand. Der Tod hastete hinterher, so war das nicht geplant! Als die Horde das elterliche Schlafzimmer stürmte, blieb er unsichtbar.

»Raus hier!«, brüllte die Geburtshelferin. »Raus hier, ihr Plagen!«

Die blutdurchweichten Laken ließen die Kinder fahl werden. Ihre Mutter war bewusstlos.

»Der Tod ist hier«, sagte der älteste Bruder und seine Stimme versagte.

»Es ist schon so weit«, sagte der Tod, obwohl er wusste, dass ihn niemand hören konnte, wenn er unsichtbar war.

Da ergriff eine kleine Hand die seine. Er schaute hinunter und erblickte Aru, die mit ernster Miene die Tragödie beobachtete.

Ich weiß. Sei gut zu ihr.

Sie hatte die Worte nicht ausgesprochen, doch sie erreichten ihn. Es gab nicht viele Menschen, die ihn immer sehen konnten, vor allem waren sie nie so jung. Normalerweise mussten sie diese Fähigkeit erst erlernen.

Mit einem Schrei löste sich Resis’ Seele vom Körper. In ihren Augen leuchtete eine irre Wut.

»Geh in euer Schlafzimmer und nimm deine Brüder mit«, sagte der Tod.

Nein!

Er seufzte. Wie auch immer, er hatte keine Zeit, jemanden in Sicherheit zu bringen. Nicht jemanden, Aru. Trotzdem!

Während die Geburtshelferin den Tod der Mutter feststellte und ihren Bauch aufschnitt, um wenigstens das Neugeborene zu retten, kam die entkommene Seele auf den Tod zu. Sie blickte ihn mit gesenktem Kopf an, sodass ihre Augen hervorzutreten schienen. Obwohl sie keine physische Macht ausüben konnte, löste ihr Verhalten Panik beim Tod aus.

»Ich bleibe hier! Hier ist mein Platz und ich bin lange noch nicht fertig!«, zischte Resis.

Der Tod streifte Arus Hand ab, packte die Seele und warf sie von sich. Resis wurde durch den Raum geschlagen und schlug Funken. Der Tod rannte ihr hinterher und packte sie an den Haaren, doch sie riss sich los.

»Du willst mich haben, nicht wahr? Aru hat dich geschickt, dieses energiesaugende Monster hat dich geschickt, um mich zu töten!« Resis entwischte ihm immer wieder. »Ich bleibe und räche mich! Du kannst mich nicht fangen!«

Der Tod bekam ihren Fuß zu packen. Sie wand sich schreiend, doch er hielt sie fest. Mit der anderen Hand öffnete er ihre Flasche und stopfte den Fuß hinein. Die wildgewordene Seele zappelte, doch der Tod zog immer mehr von ihr zu sich und drückte sie ins Glas, bis er hinter ihrem Haaransatz den Korken hineindrücken konnte.

Es wurde still.

Der Tod drehte sich um.

Aru stand an der offenen Tür und starrte sie mit geweiteten Augen an, ihre Mundwinkel zuckten. Sie konnte nicht nur ihn sehen, sondern auch die Seele ihrer toten Mutter.

»Aru«, sagte er hilflos.

Nicht.

Aru drehte sich um und rannte hinaus.

Hinter ihm schrie das neugeborene Kind, doch er lief dem einen Kind hinterher, vor dem er sich zuvor nur verstecken wollte. Er konnte sich nicht fernhalten. Selbst ohne die Liebe, die weggesperrt in seinem Herzen unter den Bäumen ruhte, blieben seine Empathie und Neugierde.

Wer war dieser sonderbare Mensch, der über allen Regeln der Magie zu stehen schien? Hatte er sie durch seine stümperhafte Weihung so gemacht oder war sie schon vorher so gewesen?

Er fand Aru draußen auf dem Geländer des Moorpfades. Das Serenikahuhn saß neben ihr auf einem Pfosten.

»Es tut mir, so, so, so, so, so leid. Ich wollte sie nicht grob anfassen. Ich musste schnell sein und sie hätte gefährlich werden können, aber ich hätte sie trotzdem sanfter behandeln sollen. Sie war deine Mutter!«

»Sie hat mich Monster genannt!«, brach es aus Aru heraus und sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.

An das andere Wort, das sie viel mehr verletzt hatte, konnte sie sich nicht mehr komplett erinnern.

Der Tod ließ seine Arme sinken und trat näher. So auf dem Zaun sitzend, reichte sie ihm bis ans Kinn. Hätte er noch ein Herz gehabt, hätte er ihren Kopf an es drücken können. Er streckte die Hand nach ihr aus, doch hielt inne.

Was würde passieren, wenn er sie berührte? Würde er damit Kalinikas Zauber entkräften? Sie hatte nichts in der Richtung gesagt, aber es kam dem Tod so vor, als müsse eine Berührung etwas bewirken. Sie konnte nicht nichts bedeuten.

»Kann ich mit dir kommen?«, fragte das Mädchen.

Der Tod erstarrte.

»Kann ich mit dir kommen und bei dir leben? Ich will woanders sein, ich kann hier nicht bleiben.«

»Ich bin der Tod, das geht nicht, du kannst nicht einfach ...« Er betrachtete sie und dachte nach.

Aru hatte keine Angst vor diesem großen Mann, der immer wieder in ihrem Leben auftauchte. Wer immer er war, er konnte nicht schlimmer sein als das, was sie bereits kannte.

Der Tod streckte die Hand aus. »Komm mit. Ich bringe dich hier weg.«

Aru blickte zum Haus ihrer Familie. »Was passiert jetzt mit ihr? Mit dem Teil, den du eingepackt hast, meine ich.«

Er zögerte. Das Totenreich war sicher nichts, was ein kleines Mädchen hören sollte.

»Ich bringe sie nach Hause«, sagte er.

Sie nickte und ergriff seine Hand. Damit verschwanden sie. Die Serenika flatterte erschrocken hoch.

Wo war der Mensch, den sie nie wieder aus den Augen lassen hatte wollen?

Noch nie zuvor hatte der Tod jemand Lebenden mitgenommen. Für einen winzigen Moment spürte er, wie sie neben der seinen flog, als triebe ihre Seele die seine an und nicht umgekehrt.

Herz des Todes

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