Читать книгу Herausforderndes Verhalten in Kita und Grundschule - Maike Rönnau-Böse - Страница 6
1 Einführung
ОглавлениеIn vielen Bildungsinstitutionen, Kindertageseinrichtungen wie Schulen, empfinden die dort tätigen pädagogischen Fachkräfte bzw. Lehrkräfte seit Längerem eine Zunahme von Kindern, die ›auffälliges‹ Verhalten zeigen: Es wird beklagt, dass Kinder sich weniger an Regeln halten, dass sie impulsiver sind und sich schlechter selbst steuern/regulieren können oder dass die Aufmerksamkeitsspannen immer geringer würden. Exemplarisch für eine Vielzahl von entsprechenden Äußerungen sei das Ergebnis einer Befragung von 1308 LehrerInnen aus verschiedenen Regionen Deutschlands zitiert: »In beinahe 40% der Klassen gibt es drei oder mehr Kinder, die in mindestens vier Verhaltensauffälligkeiten als stark auffällig eingestuft wurden. In diesen Klassen ist ein geregelter Unterricht kaum noch möglich« (Berg & Tisdale, 2004, S. 2).
Im Unterschied dazu geben breite epidemiologische Studien keine Hinweise auf die Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten: Die in Deutschland größte, repräsentativ durchgeführte Untersuchung (12 368 Kinder und Jugendliche), die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts, kann Zahlen über einen Sechs-Jahres-Vergleich vorlegen. Dabei zeigt sich:
»Insgesamt 20,2% der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren ließen sich in der KiGGS Welle 1 [2009–2012] mit dem SDQ-Symptomfragebogen einer Risikogruppe für psychische Auffälligkeiten (grenzwertig auffällig oder auffällig) […] zuordnen: In der KiGGS-Basiserhebung [2003–2006] waren dies 20,0% […]. Damit ließ sich insgesamt keine bedeutsame Veränderung über die Zeit in der Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten nachweisen« (Hölling et al., 2014, S. 809).
Die zur Verfügung stehenden (wenigen) Studien zeigen allerdings deutlich zum einen die Sensibilität pädagogischer Fachkräfte für die Thematik ›herausforderndes kindliches Verhalten‹. Rudow konnte schon 2004 feststellen, dass 75,4% der befragten ErzieherInnen berichten, dass eine große Anzahl an Kindern in ihrer Gruppe herausfordernde Verhaltensweisen zeigt und sie sich dadurch belastet fühlen (Rudow, 2004). Zum anderen wird deutlich, dass die PädagogInnen durch das Verhalten einiger Kinder stark emotional belastet sind; dies gilt für den Bereich der Kindertageseinrichtungen (Rudow, 2004; Fröhlich-Gildhoff et al., 2013) ebenso wie für den Bereich der Schulen (Ulich, Inversini & Wülser, 2002; Schaarschmidt, 2004). Die Fachkräfte geben an, dass sie Unterstützung im täglichen Umgang mit herausforderndem Verhalten benötigen. Deutlich werden in diesem Zusammenhang auch spezifische Fortbildungswünsche – z. B. zum Thema ›Diagnostik/Erkennen von herausfordernden Verhaltensweisen‹ – geäußert (GEW-Kita-Studie, 2007; Fröhlich-Gildhoff et al., 2013).
Lorenz et al. (2015) beschreiben in ihrer Untersuchung, dass ein sehr kleiner Teil der Kinder mit besonders herausforderndem Verhalten ein besonders großes Maß an Aufmerksamkeit und psychischer Energie der LehrerInnen und pädagogischen Fachkräfte in Kitas bindet; zugespitzt bedeutet dies, dass etwa 5% der Kinder in einer Gruppe 80% der Energie der Fachkräfte einfordern. Um dem entgegenzuwirken, braucht es adäquate Professionalisierungsmaßnahmen, die pädagogische Fachkräfte dazu befähigen sollen, individuell ausgerichtete Handlungsstrategien zu entwickeln, anzuwenden und zu reflektieren. Dieser Bedarf steigt angesichts der Realisierung des Inklusionsprinzips im Rahmen der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland.
Zugleich bieten Kindertageseinrichtungen und Schulen grundsätzlich gute Möglichkeiten, Kinder gezielt in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung zu unterstützen und im Sinne eines präventiven Vorgehens zumindest für einen Teil der Kinder (und ihrer Familien) neue Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen und seelischen Störungen vorzubeugen (z. B. Fingerle & Grumm, 2012; Opp, 2007) – auch hier ist ein kompetentes, systematisches, mit Eltern und externen Diensten abgestimmtes Handeln der Fachkräfte in Kitas und Schulen nötig.
Dieses Buch hat das Ziel, die beschriebenen Bedarfe aufzugreifen und zumindest teilweise zu ›beantworten‹. Zuvor ist jedoch eine Begriffsklärung nötig:
Verhaltensweisen von Kindern (und Erwachsenen) werden immer in Relation zu einer sozialen Norm gesetzt: Wenn ein Kind zu Beginn des ersten Schuljahres noch nicht in der Lage ist, eine Schulstunde lang, also 45 Minuten, still an seinem Platz sitzenzubleiben, so liegt dies im Rahmen der erwarteten Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes, es liegt nicht ›außerhalb‹ der Norm – in diesem Fall der Norm-Vorstellungen der Lehrkräfte. Wenn das Kind am Ende des ersten Schuljahres immer noch nicht 45 Minuten an seinem Platz sitzen bleiben kann, so verstößt es gegen diese Norm, es fällt ›auffällig‹ aus der Norm heraus. Diese Normen werden immer für soziale Gruppen definiert, von der Gruppe selbst oder denjenigen, die die Gruppe leiten. Es gibt eine Vielfalt dieser Normen, manchmal sind sie statistisch ›untermauert‹: So sind bspw. 95% der 10-jährigen Kinder in Deutschland zwischen 127 und 152 cm groß – ein Kind mit einer Größe von 120 oder 160 cm wäre ›unnormal‹ klein bzw. groß, es würde ›auffallen‹.1
Ein Kind, das häufig oder dauerhaft gegen Regeln oder Normen verstößt, wird dann als ›auffällig‹ beschrieben (zur Diskussion um die Normen vgl. ausführlich Fröhlich-Gildhoff, 2017, S. 15ff.). Dabei ist der Begriff der ›Auffälligkeit‹ oder ›Störung‹ immer eine Zuschreibung, eine Etikettierung. An einem plastischen Beispiel verdeutlicht Kriz diese Problematik von begrifflichen Zuschreibungen, wie ›Verhaltensstörung‹ oder ›Verhaltensauffälligkeiten‹:
»So wirkt ein Begriff, wie ›Verhaltensstörung‹ – […] ›Der kleine Hans hat eine Verhaltensstörung‹ – als Verdinglichung – eben ›ding‹-haft und damit statisch und festschreibend. Schon die Formulierung: ›Hans verhält sich gestört‹, lässt Fragen aufkommen wie: ›Wann?‹ Und: ›In welchem Zusammenhang?‹. Und deren nähere Erörterung führt zu einem komplexen Gefüge aus unterschiedlichen Situationen, in denen manches von Hans’ Störungen verständlich wird (als ›natürliche Reaktion‹ auf das aktuelle Verhalten seiner Schwester) oder in anderem Licht erscheint (als ›Signal für mehr Zuwendung‹ oder als ›Ablenken vom sich anbahnenden Streit von seinen Eltern‹)« (Kriz 2004, S. 61f.).
Das Konzept der ›Verhaltensauffälligkeit‹ verstellt den Blick auf die komplexe Vielfalt des Verhaltens und seiner Ursachen und schreibt diese einseitig dem Kind Hans zu.
Daher wird von den AutorInnen dieses Buches der Begriff des ›Herausfordernden Verhaltens‹ benutzt. Die AutorInnen gehen davon aus, dass in der pädagogischen Arbeit die Berücksichtigung des Kontextes, in dem das Verhalten deutlich wird, im Fokus liegt und von einer individuumzentrierten Betrachtungsweise der Auffälligkeit abgesehen werden sollte (s. a. Vernooij, 2000). Es geht letztlich um Verhaltensweisen eines Kindes, das für andere – zumeist für die Erwachsenen – eine (besondere) Herausforderung darstellt. Warum dieses Verhalten zur Herausforderung wird, liegt im Zusammenspiel der Beteiligten Kind(er) und Erwachsenen und den situativen (institutionellen) Rahmenbedingungen. Der Begriff ›Herausforderndes Verhalten‹ verweist auf eine systemische Sichtweise: Es ist nicht das Kind, das eine ›Auffälligkeit‹ zeigt, sondern in der Interaktion wird das Verhalten zur Herausforderung.
Zugleich soll nicht geleugnet werden, dass es bedeutsam ist, Kriterien zur Verfügung zu haben, um das Verhalten anderer beschreiben und z. B. mögliche Entwicklungsbesonderheiten oder -rückstände einschätzen zu können. Auf Bedeutung und Möglichkeiten eines entsprechenden systematischen Vorgehens wird in Kapitel 4.1 ausführlich eingegangen.
Noch einmal: Das vorliegende Buch will einen Beitrag leisten, um die Kompetenzen von pädagogischen Fachkräften/LehrerInnen in Kita und Schule in der Begegnung mit Kindern (und deren Familien), deren Verhalten als herausfordernd erlebt wird, zu stärken und weiter zu fördern. Dabei wird von einem Grundprinzip ausgegangen, das Aufbau und Inhalte des Buches strukturiert und auf das immer wieder zurückgegriffen wird: Der Kern professionellen pädagogischen Handelns sowohl in Kindertageseinrichtungen als auch in Schulen besteht darin, (1) zunächst systematisch ein Kind und seine ›Lebensäußerungen‹ – sei es das Bewältigen einer Mathematikaufgabe, das Malen eines Bildes oder als ungewöhnlich empfundenes Verhalten – zu beobachten. Dann muss (2) das Beobachtete analysiert und verstanden werden. Dieses Verstehen wird zur Grundlage für eine (3) Handlungsplanung, die dann wiederum (4) zum konkreten Handeln führt. Die Ergebnisse, die Folgen des Handelns, werden (5) überprüft und sind möglicherweise Ausgangspunkt erneuter Beobachtung ( Abb. 1 und 8). Dieser Kreislauf vollzieht sich manchmal sekundenschnell – ein Kind nimmt einem anderen ein Spielzeug weg und stößt es dabei, und die begleitende Fachkraft muss reagieren. Der Kreislauf ist aber auch die Basis für die Entwicklung gezielter Angebote oder ›Fördermaßnahmen‹.
Dieser Kreislauf hat Entsprechungen z. B. in den Kompetenzbeschreibungen frühpädagogischer Fachkräfte (vgl. Robert Bosch Stiftung, 2011; Fröhlich-Gildhoff et al., 2014a), in didaktischen Konzepten im Schulkontext – wie der »Förderspirale« zur individuellen Bildungsplanung (Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Württemberg, 2009) oder auch dem »Public Health Action Cycle« (Rosenbrock & Hartung, o. J.) der Gesundheitswissenschaften.
Der Kreislauf verweist zugleich darauf, dass professionelles Handeln darin besteht, nicht direkt vom Beobachten zum Handeln zu ›springen‹ – wenn ein Kind bspw. eine Regel mehrfach missachtet, geht es zunächst nicht darum, immer und immer wieder die angekündigten Konsequenzen umzusetzen. Professionalität besteht darin, zu verstehen, warum das Kind dennoch die Regel übertritt. Hier gilt es, Hypothesen zu bilden und auf deren Grundlage das eigene Handeln zu planen.
Dieser Kreislauf ist außerdem die Grundlage für die Strukturierung des vorliegenden Buches: Für das Beobachten ist es nötig, die eigene Subjektivität der Wahrnehmung zu reflektieren ( Kap. 3.2) und unterschiedliche Instrumente zur Systematisierung des Beobachtens zur Verfügung zu haben ( Kap. 4.1). Das Verstehen des Kindes, seiner Verhaltensweisen und Lebenssituation, ist eine Kernkompetenz ( Kap. 4.2); hierzu ist allgemeines Wissen über die Entstehung von Verhalten ( Kap. 2) und spezifischer Verhaltensformen ( Kap. 2, Exkurs) nötig. Die Generierung spezifischen Wissens über das einzelne Kind und seine Familie wird in den Kapiteln 4.2 und 6 angesprochen.
Handlungsplanung und Handlungsmöglichkeiten – als einzelne Fachkraft, aber auch auf Ebene der Institution – werden für unterschiedliche Altersstufen in den Kapiteln 4.3 und 5 beschrieben. I. d. R. müssen dabei die Eltern des Kindes einbezogen werden, mögliche Kooperationsformen beschreibt Kapitel 6. Oftmals ist es nötig, Netzwerke über die einzelne Institution hinaus zu knüpfen ( Kap. 7) und hier mit anderen Professionen und Institutionen zusammenzuarbeiten. Die Zusammenhänge zwischen dem Kreislauf professionellen Handelns und den Voraussetzungen dafür sind in Abbildung 1 dargestellt:
Abb. 1: Kreislauf professionellen Handelns und dessen Voraussetzungen
Immer wieder werden Handlungsmöglichkeiten der je individuellen Fachkraft und der Institution Kita oder Schule aufgezeigt. Dies verweist darauf, dass individuelles Handeln als in den institutionellen Kontext eingebettet betrachtet wird: Die LehrerIn oder PädagogIn in der Kita muss konzeptionell verankerte Reflexions- und Unterstützungsmöglichkeiten im Team erhalten ( Kap. 3).
Das vorliegende Werk soll den Charakter eines Arbeitsbuches haben. Dazu werden Wissensbestände dargestellt, die anschließend durch konkrete Fallbeispiele verdeutlicht werden. Reflexionsfragen dienen dazu, das Gelesene zu vertiefen und auch mit der eigenen Praxis in Verbindung zu bringen. Zusätzlich bieten gezielte Literaturhinweise die Möglichkeit, noch weitergehende Informationen einzuholen.
An einzelnen Stellen sind Exkurse, z. B. zum koordinierten Vorgehen bei häufig vorkommender Gewalt in der Schule, eingefügt. Auch diese dienen dazu, relevante Themen zu vertiefen.
1 Nach dem gleichen Prinzip der Orientierung an der ›Normalverteilung‹ sind standardisierte psychologische Tests, z. B. zur Messung der Intelligenz oder des Angstniveaus, konstruiert (vgl. Fröhlich-Gildhoff, 2017, S. 15ff.).