Читать книгу Nochmal tanzen - Maja Peter - Страница 6
Оглавление3
Lehrerin Wehrli rollt den Fernseher ins Schulzimmer. Ohne aufzusehen, sagt sie: «Michael und Cleophea, würden Sie bitte die Jalousien herunterlassen?» Die beiden stehen auf und ziehen an den Gurten, bis die Sonne ausgesperrt ist. Wehrli erläutert die Aufgabe: Den Gesprächsverlauf notieren und danach über eine der aufgeworfenen Fragen einen Aufsatz schreiben. Benotet wird beides.
Fleur protokolliert: «Thema Sterbehilfe, Diskussionssendung mit TV-Moderator, Psychiater, Chefarzt, Leiter Sterbehilfeorganisation EX, reformierter Theologe, Modedesignerin». Sie schüttelt ihre Rechte und schreibt weiter. «Ich hatte noch nie einen Patienten, für den ich Selbstmord als Lösung in Betracht zog», sagt der Psychiater. Sie möchte einwenden, über Selbstmord entscheide nicht er, sondern der Patient, doch sie überhört, was der Leiter der Sterbehilfeorganisation entgegnet. Nicht denken jetzt, notieren. «Chefarzt: ‹dank neuster Medikamente müssen Todkranke nicht mehr leiden, deshalb lehne ich Suizidhilfe ab. Ich plädiere für Pali ... ›», Fleur schaut fragend zur Deutschlehrerin. Diese beugt sich über ein Heft. Fleur notiert: «Modedesignerin widerspricht. Ihr Partner habe drei Jahre im Spital gelegen, Lungenmaschine, Schmerzen trotz Morphium, Atemnot. Eine Qual, auch für sie. Deshalb sei sie der Sterbehilfeorganisation beigetreten. Sie wolle selber entscheiden, wann genug gelebt sei. Das sei ihr freier Wille. Der Theologe fällt ihr ins Wort. Den freien Willen gebe es nicht. Der Wille werde von der Gesellschaft beeinflusst. Die Freiheit sei Gott. Fleur denkt an den Brief in der Klosterkirche. Ein Gott, der straft, Gebote erlässt und Verzweifelte im Stich lässt, soll Freiheit bedeuten. Der Ex-Leiter sagt: «Jeden Tag bringen sich in der Schweiz vier Menschen um. Im Jahr sind das 1300 Menschen. Dazu kommen 6000, die versuchen, sich das Leben zu nehmen, und dabei scheitern. Viele dieser Versuche haben Behinderungen zur Folge.» Ihr fällt die Schülerin ein, die sich von der Schulterrasse im fünften Stock gestürzt hatte, als Fleur noch in der Probezeit war. Sie weiß nicht, warum die Schülerin sterben wollte. Der Druck sei zu groß, schrieb die Schülervertreterin damals in einem offenen Brief an den Rektor. Seither ist die Terrasse geschlossen.
Fleur hat den Psychiater versäumt. Diesmal ist es ihr egal, die Männer wiederholen sich. Die Modedesignerin schweigt. Warum meldet sie sich nicht zu Wort, sie müsste doch widersprechen, jetzt, wo der Chefarzt sagt: «Wer sich umbringen will, kann das auch ohne EX tun.» Michael hat Fleur erzählt, den Lokführern werde in der Ausbildung beigebracht, zu hupen, wenn sich ein Selbstmörder auf dem Gleis befinde. Danach kehren sie der Fahrtrichtung den Rücken zu, um das Sterben nicht zu sehen. «Wie soll sich ein Zerebralgelähmter, der ohne Hilfe nicht einmal seine Blase leeren kann, das Leben nehmen?», fragt der Leiter von EX. Fleur horcht auf. Nicht einmal die Blase leeren. Grosi haben sie Windeln angezogen. Bei Fleurs letztem Besuch lag sie auf dem Rücken im Bett und hielt einen Teddy im rechten Arm. Mutter sagte: «Schau, Floriana hat sich Zeit genommen, dich zu besuchen!» Großmutter war die Einzige, die Fleur Floriana nennen durfte. Sie legte ihre Wange an den Bären und streifte Fleur mit den Augen. «Was will die», sagte sie. Fleur trat an die seitliche Bettkante. «Ich bins, Grosi.» Großmutter wandte das Gesicht ab. «Sie ist deine Enkelin», sagte Mutter. Großmutter presste den Teddy mit beiden Armen an sich, bis der Körper knackte. Fleur entfernte sich, betrachtete Grosi von der Tür aus. Das war nicht die Frau, mit der sie Kekse ausgestochen hatte. Die mehr Gedichte auswendig konnte als sie. Die «Lass meine Floriana in Ruhe» geschrien hatte, als Fleur, noch ein Kind, am See von einem Schwan angefaucht worden war. Wo ist sie hin?
Großvater verschwand von einem Tag auf den anderen. Er verließ frisch pensioniert das Haus, um in der Badeanstalt einen Jass zu klopfen. Grosi habe er unter der Tür zugerufen, er komme nicht zum Mittagessen. In der Badeanstalt habe er die Karten verteilt und sei mit der Entschuldigung, er fühle sich schlecht, auf die Toilette gegangen. Als einer der Männer nach einer Weile nachsah, wo Großvater blieb, lag er tot in der Kabine. «Ein schöner Tod», sagte Mutter und weinte.
Fleur überlegt, was sie im Aufsatz schreiben soll. Warum finden es die Experten am Fernsehen so schlimm, dass Menschen anderen helfen, sich schmerzlos zu töten? Sie findet es viel schlimmer, dass mehr als vier Menschen pro Tag das Leben nicht aushalten. Nicht mehr können. Wie M.S. und der Schüler, der sich vor den Zug warf, weil herausgekommen war, dass er Geld aus der Klassenkasse genommen hatte.
Fleur schreibt «freier Wille» oben aufs Blatt. Dieser Theologe und das «Geschenk des Lebens». Ein Geschenk kann man ablehnen. Das Leben wird einem aufgezwungen. Die Eltern werfen einen in die Welt und erwarten erst noch Dankbarkeit dafür. Ist man einmal da, muss man aufstehen, essen, lernen. Jeden Tag aufstehen, essen, lernen. Nur Tote sind frei. Es müsste Geschenk des Todes heißen.
Das kann sie nicht schreiben. Sie will nicht, dass die Deutschlehrerin ihre Gedanken liest.
Alice setzt sich mit Zeichenstift und Papier in die Küche. Am Radio spielen die Berliner Philharmoniker eine Sonate von Chopin. Was soll sie zeichnen? Der Sprung in der Suppenschüssel fällt ihr ins Auge. Sie sollte die Schüssel nicht mehr verwenden. Nicht dass das letzte Erinnerungsstück an die Großmutter zerbricht. Sie zeichnet eine Frau mit Schürze, zu deren Füßen Scherben liegen. An der Tür klingelt es. Hat ein Nachbar den Schlüssel vergessen? Beim zweiten Mal fällt ihr ein, dass sie zum Kaffee eingeladen hat.
«Bist du krank?», fragt Elsa zur Begrüßung und deutet mit dem Kopf auf Alice’ Trainerhose. «Nein, ich bin am Zeichnen. Kommt rein, ich ziehe mich schnell um.» Vom Schlafzimmer aus hört sie Susanne sagen: «Alice wird schrullig. Sie zeichnet zerbrochenes Geschirr.» Alice knöpft die Bluse zu und gesellt sich zu den Frauen. «Ich bin eigenwillig, schrullig sind Alte. Kaffee wie immer?» Sie nicken.
Alice füllt den Kaffeefilter und legt Geschirr, Zucker, Milch und Butterherzen auf ein Tablett. Beim Auftragen hört sie Elsa «Hirnschlag» und Britt «Jesses» sagen. Elsa wiederholt für Alice: «Frau Hitz. Ihr Mann ist gestern Abend zu mir gekommen. Sie ist halbseitig gelähmt.» Alice versucht sich zu erinnern, wer Frau Hitz ist. «Die Frau mit den Blumenschals?» Elsa bejaht. Einen Moment lang ist nur das Blubbern des Kaffees in der Küche zu hören. Alice verteilt die Tassen. Fast bei jedem Treffen erzählt eine der Frauen von jemandem, der erkrankt, verunfallt, gestorben ist.
Susanne lenkt das Gespräch auf den Handlesekurs, den sie besucht. Alice geht in die Küche. «Ich kann schon Charakterzüge erkennen», sagt Susanne. «Solange du nicht mein Schicksal voraussagst, kannst du erzählen, was du willst», bemerkt Elsa. Ein typischer Elsa-Satz. «Ich will nicht leiden», hat Alice von ihr schon vernommen und «außer Krankheiten erwarte ich nichts mehr Neues». Sie bringt den Kaffee ins Wohnzimmer und schenkt ein. Susanne sagt zu Elsa: «Du erfährst deine Zukunft im Fernsehprogramm von nächster Woche.» Elsa bricht in Gelächter aus. Alice, Britt und Susanne stimmen ein. Britt lacht mit den Brüsten, Elsa von Mund- zu Augenwinkeln, Susanne mit trockenen Lauten. Ihre Haut bleibt ernst.
Zu Zeiten des Balleros kannte Alice außer Britt niemanden im Dorf. Sie war nur zum Schlafen hier. Nach dem Verkauf meldete sie sich fürs Seniorenturnen an, um Anschluss zu finden. Trotzdem machte sie sich nach dem Unterricht auf den Heimweg, während die anderen Teilnehmerinnen in der Dorfkneipe den Durst löschten. Sie wusste nicht, ob sie willkommen war. Die anderen schienen sich seit langem zu kennen. Eines Tages gab sie sich einen Schubs und ging mit. Seither denkt sie Turnen und Trinken zusammen.
Susanne kramt in ihrer Handtasche und zieht die Lippen nach. Alice sieht ihr zu. Gefällt sich Susanne? Ihr Mund ist wulstiger als der von anderen Frauen ihres Alters, das Kinn kleiner, die Stirn glatter, die Bäckchen sind runder, die Mundwinkel gerader. Martin hatte einmal bemerkt, das chirurgische Anlitz des Alters sei zwar faltenlos, habe aber verräterische Proportionen.
«Hast du etwas von Martin gehört?», fragt Britt.
«Ja. Es geht ihm gut.»
«Ich würde sterben vor Heimweh», sagt Britt. «Was macht Martins Freund schon wieder?»
«Pong und Martin führen in einem Dorf im Nordosten von Thailand einen Tante-Emma-Laden», sagt Alice.
«Wo genau?», fragt Susanne.
«Ich kann mir den Namen der Ortschaft nicht merken. Vielleicht weiß ich ihn nach meinem Besuch. Ich habe vor, Martin im November zu besuchen.» Die drei Frauen schauen sie an. «Dass du den Mut hast, so weit zu reisen», sagt Elsa. Alice entgegnet nichts. Sie ist nicht mutig. Sie will Martin sehen. «Wie gehts dir, Elsa? Schläfst du besser?», fragt sie.
«Ja. Ich gehe später zu Bett. Ich habe eine neue Serie entdeckt, die um halb elf Uhr ausgestrahlt wird, eine französische. Sie spielt in einem Restaurant. Ein Koch, eine Kellnerin, ein paar Stammgäste und in jeder Folge ein Unbekannter, der für Aufregung sorgt. Ganz nach meinem Geschmack.»
«Kannst du so gut Französisch?», fragt Susanne. «Ich möchte meines seit langem auffrischen. Aber ich komme zu nichts.»
«Was machst du denn die ganze Zeit?»
«Momentan miste ich das Haus aus.»
«Ziehst du um?», fragt Alice.
«Nein, wo denkst du hin. Ich räume auf, damit die Kinder es nach meinem Tod nicht tun müssen.»
«Wenn ich mir vorstelle, dass meine Tochter meine Stoffe und Schnittmuster fortwirft», Britt beendet den Satz nicht.
«Vermache sie dem Tanzclub», sagt Alice schnell, um eine Tirade ihrer ehemaligen Kostümschneiderin abzuwenden.
Fleur verstaut die Schultasche in ihrem Schließfach und überlegt, wo sie essen soll. Früher aß sie mit Sarah zu Mittag. Bei schönem Wetter am See oder im Park hinter der Kantine, bei Regen auf einer Fensterbank im Schulhaus. Sie blödelten herum, machten Hausaufgaben oder dösten. «Hallo Fleur, machst du mit uns Mittagspause?», fragen Manu und Lis von der Parallelklasse.
«Gerne. Wohin geht ihr?»
«Ich möchte bummeln», sagt Manu. «Lass uns auf dem Weg ein Sandwich essen.»
«Ich habe kein Geld, komme aber mit.» Lis schaut Fleur fragend an.
«Ist gut.» Außer wenn sie zwei Stunden Mittagspause hat, kommt Fleur nicht zum Bummeln. Manchmal fragt ihre Mutter an einem Samstag, ob sie zusammen in die Stadt gingen, aber es kommt ihr albern vor, mit der Mutter Kleider auszusuchen. Wie sie «Das würde dir stehen» oder «Ist das nicht zu bunt für mich?» sagt. Wie sie vor dem Spiegel steht, die Hände in die Taille stützt, sich mustert. Das Gesicht, mit dem sie die Verkäuferin ruft. Mutter weiß, dass ihr Buntes steht, warum fragt sie. Zu Fleurs weißer Haut und den roten Haaren passen nur Schwarz und Weiß.
Am Fuß des Schulhügels kaufen sie Sandwiches und fahren ins Stadtzentrum. Im Tram kommentiert Manu laut das Aussehen von Passantinnen. Eine mit viel Make-up deckt sie ein mit «Wo weniger drin ist, ist mehr drauf». Über eine Geliftete am Gehstock spöttelt sie «Mein Mann geht jetzt mit einer Jungen aus – mit mir». Mit einem Ruck steht sie auf, stolziert durch den Wagen, als wäre er ein Laufsteg. Manu und ihre Parodien. Keine im Theaterclub ist lustiger. Alle kennen Manu. Und wer Manu kennt, kennt Lis, die Freundin, die sich um Bühnenbild, Requisiten und Kostüme kümmert. Lis, die weiß, was in Secondhand-Läden und Brockenhäusern zu finden ist, und einen Grafiker zum Freund hat, der schon 23 Jahre alt ist.
Die Passagiere beobachten Manu aus den Augenwinkeln, nur ein Kind dreht sich nach ihnen um. Hätte Fleur doch die Kamera nicht in der Schule gelassen. In Begleitung von Manu und Lis würde sie sich trauen, in der Umkleidekabine zu fotografieren. Mit Sarah ging sie einmal in ein Fünfsternehotel. Sarah posierte am Frisiertisch in der Toilette, im Lift, im Flur. Alleine hätte Fleur nicht einmal den Mut gehabt, hineinzugehen.
Im Laden dirigiert Lis Manu und Fleur in eine Ecke mit Kleidern aus großblumigen Stoffen. Fleur hält sich eine Tunika vor den Oberkörper und schaut in den Spiegel. Zu Sarahs Schneewittchenhaar sähe sie hübsch aus, aber an ihr? Sie hängt die Tunika zurück und durchstöbert die T-Shirts. Ein weißes mit Rüschen ums Décolleté gefällt ihr. Lis zeigt auf ein Jeanskleid: «Das sähe an dir super aus.»
Fleur mustert es. «Meinst du?».
«Ich würde es mit Häkelsocken kombinieren», sagt sie. Fleur weiß nicht, wie sie Lis verstehen soll. Ist sie schlecht angezogen, dass sie ihr Tipps gibt? Oder tut sie es, weil ihr Fleurs Stil gefällt? Sie hängt das Kleid über den Arm und schnappt sich auf dem Weg zur Umkleidekabine eine kurzärmlige schwarze Bluse.
Die Bluse ist zu kurz. Schnell zieht Fleur sie aus. Im Jeanskleid tritt sie mit einem «Typisch, wenn ich einmal shoppen will, passt mir nichts» zu Lis heraus. Das Kleid schlottert ihr um die Brust, am Po sitzt es perfekt. Lis zupft daran. «Schade. Abnäher sind schwierig zu machen, so gut bin ich nicht im Nähen», sagt sie. «Zieh doch einen gepolsterten BH an», rät Manu, die sich in einer paillettenbesetzten Jacke zu ihnen gesellt. Fleur käme sich lächerlich vor mit ausgestopftem Busen. Wenigstens passt das weiße T-Shirt.
«Hi Girls.» Pascal legt Manu und Lis im Tram je eine Hand auf die Schulter. «Was Schönes gekauft?», fragt er mit einer Kopfbewegung Richtung Manus Einkaufstüte. «Eine Paillettenjacke.» Fleur überlegt, ob sie etwas sagen soll. Sie kennt Pascal nur vom Sehen – wie alle, die das letzte Stück des Theaterclubs gesehen haben. «Ihr kennt euch, oder?», fragt Lis. Bevor Fleur antworten kann, sagt Pascal: «Du hast doch die letzte Vorstellung fotografiert.» Sie nickt. «Mit einem der Bilder habe ich mich an der Schauspielschule beworben.» Er schaut sie freundlich an. Sie bringt nur «Wirklich?» heraus.
Im Geografieunterricht spukt ihr die Szene wieder und wieder durch den Kopf. Sie wälzt Sätze, mit denen sie hätte reagieren können. Mit einer Frage zur Schauspielprüfung oder mit «Ich hoffe, meine Fotos bringen dir Glück».