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Der entführte König: Der elfjährige Heinrich IV. zwischen den Fronten der Großen des Imperiums (1062)

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Der elfjährige König war bester Laune. Gerade hatte er gemeinsam mit seiner Mutter und etlichen Großen des Reiches vorzüglich gespeist. Die Stimmung war ungezwungen und heiter, Musikanten spielten im Hintergrund auf. Da erhob sich Erzbischof Anno von Köln, trat an das Kind heran und kündigte ihm eine hübsche Überraschung an: Am Ufer wartete ein eigens für ihn hergerichtetes Schiff, das ihm der Oberhirte gerne zeigen wollte. Begeistert folgte ihm der Knabe und staunte über die herrliche Ausstaffierung des Schiffes mit Fahnen und Wimpeln. Aber mit einem Mal lösten die Schiffsleute die Leinen und ruderten mit kräftigen Schlägen zur Flussmitte. Der junge König brach in Panik aus, weil er einen Mordanschlag befürchtete. Er überlegte nicht lange und sprang in die Fluten. Als das kalte Wasser ihn umtoste, erkannte er, dass er nun erst recht in Lebensgefahr schwebte. Kaum spürte er mehr die rettenden Arme, die ihn wieder auf das Schiff zogen. Er lebte, aber das Schiff brachte ihn fort von seiner Mutter und dem großen Fest. Heinrich IV. war entführt worden.

Wie so viele Geschichten hatte auch diese mit etwas sehr Schönem begonnen – der Geburt eines Kindes. Endlich, seufzt der Universalgelehrte Hermann von Reichenau in seiner Chronik. Denn Kaiser Heinrich III. aus dem Haus der Salier hatte bereits vier Töchter, als am 11. November 1050 sein erster Sohn geboren wurde, der zunächst nach dem Großvater den Namen Konrad erhielt. Dies war der lang erwartete Thronfolger, mit dem der Kaiser die Herrschaftsfolge seiner Dynastie sichern wollte. Und er zögerte nicht lange. Als zu Weihnachten in Pöhlde am Südrand des Harzes alle Großen aus dem ganzen Reich zusammengekommen waren, ließ er sich von ihnen seinen noch ungetauften Sohn als Thronerben bestätigen. An dem darauffolgenden Osterfest wurde er dann auch getauft – nun auf den Namen Heinrich – und kein Geringerer als Abt Hugo von Cluny nahm die Rolle des Taufpaten ein. Doch dem Salier war die Anerkennung seines Thronfolgers noch nicht sicher genug, weil es in den Jahren zuvor große Spannungen zwischen ihm und den Fürsten des Reiches gegeben hatte. Er ließ es bei der einmaligen Königsweihe nicht bewenden und veranlasste im November 1053 eine weitere Wahl seines Sohnes zum ebenbürtigen König, dem die Fürsten Unterwerfung schwören mussten. Auch in seinem Testament, das er im Oktober 1056, kurz vor seinem Tod, aufsetzte, betonte der Kaiser noch ein drittes Mal seinen Nachfolgewunsch. Als sein Vater starb, hatte Heinrich IV. seinen sechsten Geburtstag noch nicht erreicht. Immerhin war ihm nun der Weg auf den römisch-deutschen Königsthron geebnet. Seine Herrschaft hätte er auch gleich antreten können – wenn, ja wenn er nicht noch minderjährig gewesen wäre.

Also musste vorläufig ein Stellvertreter seinen Platz einnehmen. Wer kam dafür überhaupt in Frage? Denkbar war einerseits eine Gestalt aus dem Kreis der weltlichen und geistlichen Fürsten, die den jungen Heinrich gewählt hatten; und zum anderen bewegte sich Heinrichs Mutter, die Kaiserin Agnes, auf der politischen Bühne. Aus den zeitgenössischen Quellen erfahren wir, dass die weltlichen Fürsten – bestimmte Namen fallen in diesem Zusammenhang nicht – das Kind der Kaiserin Agnes zur Erziehung übergeben und ihr die Regentschaft übertragen haben. Demnach hatte also Heinrichs Mutter die Vormundschaft übernommen. Eine Frau stand tatsächlich an der Spitze des Imperiums! Das war für die damalige Zeit eine sehr besondere Situation, die die Reichsfürsten kaum ohne wirklich triftigen Grund hingenommen hätten. Auf der Seite von Agnes und Heinrich muss demnach mindestens ein starker Verbündeter gestanden und diese Akzeptanz gefördert haben. Doch wer war dafür mächtig genug? Da sich der weltliche Adel im Hintergrund hielt, konnte es sich nur um einen geistlichen Fürsten handeln. Kein Geringerer als der Papst übernahm in diesem Moment der Unsicherheit die Fürsprache: Victor II., der zusammen mit den anderen Reichsfürsten den neuen König gewählt, in dessen Obhut der sterbende Heinrich III. seinen Sohn gegeben und der den verstorbenen Kaiser in Speyer bestattet hatte. Victor brachte den neuen König im direkten Anschluss an die Begräbnisfeierlichkeiten auch nach Aachen und setzte ihn auf den Thron Karls des Großen, um allen im Reich den Thronwechsel als vollzogen und gültig bekannt zu machen. Der Papst hatte demnach großen Anteil an Heinrichs Anerkennung. Aber nicht nur das: In der Folgezeit erreichte er außerdem, dass die Fürsten Kaiserin Agnes als Stellvertreterin nicht nur akzeptierten, sondern ihr auch unter Eid das Versprechen gaben, dass sie im Fall von Heinrichs IV. frühzeitigem Tod einen bindenden Wahlvorschlag für den neuen König abgeben dürfe. Zudem würden die Fürsten nicht ohne ihr Einverständnis den Nachfolger wählen. Diese Zusage zeigt uns, dass Agnes als voll regierungsfähiges Oberhaupt der salischen Dynastie anerkannt worden ist – ein eindeutiges Verdienst des Papstes. Trotz des frühen Todes Heinrichs III. und der Minderjährigkeit des neuen Königs standen die Zeichen für die Zukunft günstig. Doch wo Licht ist, gibt es auch Schatten! Das Engagement Victors weckte böse Stimmen, die behaupteten, dass er im Geheimen sogar die Regentschaft für den Kindkönig und die Kaiserin übernommen habe. Die Zweifel an dieser Behauptung sind berechtigt, weil die Quellen dem Papst lediglich eine Vermittlerrolle bei wichtigen Verhandlungen mit den Reichsfürsten zusprechen und immer wieder betonen, dass die Herrschaft bei Agnes und ihrem Sohn lag. Victor II. übte also mit Sicherheit großen Einfluss auf die politischen Entwicklungen am Königshof aus, aber er lenkte Heinrich und seine Mutter nicht wie Marionetten, um in seiner Person die Kaiser- und Papstgewalt zu vereinen. Mit Hilfe des Papstes war der Thronwechsel glücklich und fast problemlos gelungen.

Doch dann zogen sich dunkle Wolken am politischen Himmel zusammen: Mit dem Tod Victors am 23. Juli 1057 verloren der junge König und seine Mutter diesen wichtigen Verbündeten. Die anfängliche Hochstimmung verflog angesichts der sich abzeichnenden Probleme schnell. Die Annalen des Klosters Niederaltaich berichten über das Jahr 1060 betrübt, dass es schmerzensreiche Zeiten gewesen seien, da der König ein Knabe gewesen und die Mutter gemäß ihrer weiblichen Natur leicht den Ratschlägen gewisser Leute gefolgt sei. Die Zeitgenossen zeichnen das Bild einer versagenden Regentin. Was war geschehen? Am Königshof müssen Ministeriale, also unfreie königliche Dienstleute, in führende Positionen gelangt sein, die sonst vom Adel besetzt wurden. So übernahm zum Beispiel der Ministeriale Kuno die Erziehung des jungen Heinrich. Aber auch andere Unfreie traten zunehmend in den politischen Vordergrund und zogen den Hass des Adels auf sich. Vor allem, dass sie die Ansichten des Königs beeinflussen und formen konnten, rief größte Bedenken bei den Fürsten hervor.

Um einen festeren Regierungskurs verfolgen zu können, bevorzugte die Kaiserin fortan Bischof Heinrich von Augsburg als ihren persönlichen Ratgeber und überging damit viele einflussreiche Männer wie Erzbischof Anno von Köln und Bischof Adalbert von Hamburg-Bremen – zwei miteinander konkurrierende Männer, die an den folgenden Ereignissen wichtigen Anteil tragen sollten. So finden wir die Chronisten in zwei Lager aufgespalten und jedes berichtet zugunsten des eigenen Kandidaten: Sowohl von dem einen als auch von dem anderen lesen wir, Heinrich III. hätte ihn kurz vor seinem Tod zum Tutor und Lehrer seines Sohnes und Nachfolgers bestimmt. Er sei also vom Kaiser höchstpersönlich dazu auserkoren worden, den noch unmündigen König bis zum Erwachsenenalter zu lenken und zu formen. Also nicht der Ministeriale Kuno, sondern Anno respektive Adalbert sei für die Erziehung des Königs der Richtige.

Doch damit nicht genug. Mit der Wahl Heinrichs von Augsburg nicht nur zum Erzieher ihres Sohnes, sondern auch zu ihrem ersten Ratgeber zog Kaiserin Agnes erheblichen Ärger auf sich. Nachdem der Bischof für seine Unterstützung mehrere Schenkungen erhalten hatte, unterstellte man den beiden ein unzüchtiges Verhältnis. Die Kaiserin reagierte äußerst verbittert auf diese Vorwürfe. Am Hof herrschte ein zunehmend schärferer Ton. In dieser ohnehin angespannten Situation kam noch eine dritte Entwicklung hinzu, die die Kaiserin noch härter traf. Agnes galt als sehr fromme Frau. Mit dem Tod von Papst Victor II. waren auch die guten Verbindungen nach Rom abgerissen. Unter seinen Nachfolgern, Stephan IX. und Nikolaus II., wurden die Rechte des römisch-deutschen Königs und künftigen Kaisers bei der Papstwahl und der Besetzung der Bischofsstühle drastisch eingeschränkt. In der Folge kam es zu einem Bruch mit Rom und die Kirche wurde nach dem Tod Nikolaus’ II. von einem Schisma, also der gleichzeitigen Wahl von zwei Päpsten, zerrissen. Damit war die fromme Kaiserin zum Ende des Jahres 1061 zur Gegnerin Roms geworden. Das war zu viel für sie! Es muss sie derart erschüttert haben, dass sie ihre königlichen Gewänder ablegte und den Schleier nahm. Sie schwor, ihr restliches Leben in Ehelosigkeit, Askese und Frömmigkeit zu verbringen, ohne jedoch in ein Kloster einzutreten. Eine solche Lebensführung ließ sich aber natürlich nicht mit den Verpflichtungen einer Regentin vereinbaren.

Nun sollte sich Unheil über dem Kopf des kleinen Königs zusammenbrauen: Einige Fürsten hatten den unerhörten Plan gefasst, den inzwischen elfjährigen Heinrich zu entführen und so die Regierung des Reiches in die eigenen Hände zu nehmen. Lampert von Hersfeld berichtet als einziger zeitgenössischer Chronist über die Geschehnisse im April 1062 in aller Ausführlichkeit. Da alle anderen Quellen seinen Beschreibungen folgen, bestehen keine Zweifel an ihrer Richtigkeit, denn seine Darstellung enthält weder Unmögliches noch Unwahrscheinliches. Zudem ist belegt, dass Lampert drei Monate später persönlich mit dem König und Anno von Köln in Hersfeld zusammentraf und dort wohl über alle Ereignisse aus erster Hand unterrichtet wurde. Hier sein Bericht:

Schließlich fuhr der Erzbischof [Anno] von Köln, nachdem er sich mit Graf Ekbert [von Braunschweig] und Herzog Otto von Bayern beraten hatte, zu Schiff auf dem Rhein an einen Ort, der Insel des heiligen Switbert [Kaiserwerth] heißt. Dort hielt sich damals der König auf. Als dieser eines Tages nach einem festlichen Mahl besonders heiter war, überredete ihn der Erzbischof von Köln, ein Schiff, das er zu diesem Zweck überaus prächtig hatte herrichten lassen, zu besichtigen. Dazu ließ sich der arglose […] Knabe leicht überreden. Kaum aber hatte er das Schiff betreten, da umringten ihn die vom Erzbischof bestellten Helfer seines Anschlags, stemmten rasch die Ruder hoch, warfen sich mit aller Kraft in die Riemen und trieben das Schiff blitzschnell in die Mitte des Flusses. Der König, fassungslos über diese unerwarteten Vorgänge, dachte nichts anderes, als dass man ihm Gewalt antun und ihn ermorden wolle, und stürzte sich kopfüber in den Fluss. Er wäre wohl in den reißenden Fluten ertrunken, wäre ihm nicht Graf Ekbert von Braunschweig trotz der großen Gefahr, in die er sich begab, nachgesprungen und hätte er ihn nicht mit Mühe und Not vor dem Ertrinken gerettet und auf das Schiff zurückgebracht. Nun beruhigte man ihn mit möglichst freundlichem Zuspruch und brachte ihn nach Köln. Eine Menge von Menschen folgte zu Lande nach, und viele erhoben die Beschuldigung, die königliche Majestät sei verletzt und ihrer Selbstbestimmung beraubt worden. Um die Missstimmung über diese Tat zu beschwichtigen und den Anschein zu zerstreuen, als hätte er mehr aus persönlichem Ehrgeiz als um des allgemeinen Besten willen so gehandelt, ordnete der Erzbischof an, dass jeder Bischof, in dessen Diözese sich der König aufhalte, dafür zu sorgen habe, dass die Belange des Reiches keinen Schaden erleiden und dass bei Angelegenheiten, die vor den König gebracht würden, die erforderlichen Weisungen erteilt werden. Die Kaiserin wollte weder ihrem Sohn nachreisen noch für das ihr zugefügte Unrecht Genugtuung fordern.

Übersetzung aus dem Lateinischen. Originaltext bei:

Lampert von Hersfeld, Annalen, S. 74.

Die gewaltsame Entführung Heinrichs IV., der Raub des Königs, war eine ungeheuerliche Tat. Wie wir Lamperts Darstellung entnehmen können, lenkte Erzbischof Anno von Köln als führender Kopf die Aktion. Doch da derjenige, der über die Drahtzieher hätte richten können, nicht nur der Geschädigte, sondern auch minderjährig war und die Kaiserin, seine Mutter, nicht gegen den Erzbischof und dessen Komplizen vorging, blieb diese Tat ohne gerichtliche Konsequenzen. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht auch als Vergehen wahrgenommen wurde: Die Zeitgenossen und die nächste Generation, die darüber berichtet haben, waren sich jedenfalls darüber einig, dass sie gewalttätig und unrechtmäßig war.

Wie wir der Quelle entnehmen können, musste sich auch der Erzbischof rechtfertigen und seine Tat mit der Einführung eines Erziehungs-Rotationsprinzips mildern, das heißt, der junge König sollte in Zukunft von einer Diözese zur nächsten reisen und so der Reihe nach unter der Aufsicht jedes einzelnen Bischofs stehen. Fortan war also nicht mehr der Ministeriale Kuno für die Ausbildung Heinrichs zuständig und der von der Kaiserin Agnes bevorzugte Bischof Heinrich von Augsburg fungierte nicht mehr als alleiniger Ratgeber. Eine hervorragende Idee, die dazu noch völlig selbstlos wirkt! Doch eine gleichmäßige Rotation hat nie stattgefunden. Dieser Vorgang wirft noch einmal ein ganz neues Licht auf die Bemerkungen der Chronisten, dass Kaiser Heinrich III. Anno von Köln zum Mentor und Lehrer des jungen Königs bestimmt habe. Diese Aussage sollte beim Leser den Eindruck erwecken, der Erzbischof habe nur die letztwilligen Verfügungen des verstorbenen Kaisers umgesetzt. Wer mag sich aber in Anbetracht dieser Tatsachen noch darüber streiten, ob die von Anno vorgebrachten Motive wie die Sorge um die Erziehung des Königs, die Kritik am Regiment der Kaiserin oder die Wiederherstellung der Ordnung im Reich seinen wahren Antrieb darstellten oder ob sie lediglich dazu dienten, seinen Machthunger zu kaschieren?

Doch sollte Anno seine Ziele nicht erreichen, im Fortgang der Geschichte zeigte sich vielmehr eine Tendenz zur ausgleichenden Gerechtigkeit: Die neuen Regelungen führten nicht zu einer Stabilisierung der politischen Verhältnisse zugunsten des Kölner Oberhirten, da mehrere Erzbischöfe nun um den Einfluss auf den jungen Salierkönig rivalisierten. Anno gelang es nicht, sich gegen seinen stärksten Kontrahenten, Bischof Adalbert von Hamburg-Bremen, durchzusetzen, von dem einige Chronisten ja ebenfalls behaupten, dass der sterbende Kaiser die Erziehung seines Sohnes an ihn übertragen hätte. Zwischen Heinrich IV. und Adalbert entwickelte sich rasch eine enge Bindung, die vom persönlichen Treueverhältnis des Bischofs getragen wurde. Allerdings rief der Erfolg Adalberts auch viele Neider auf den Plan, denen es schließlich gelang, ihn zu stürzen und vom Hof zu vertreiben. Auch wenn uns die Quellen nicht darüber unterrichten, wie viel Heinrich IV. von all dem erfuhr und wie er die Ereignisse empfand, so ist doch gewiss, dass der Zwist nicht spurlos an ihm vorüberging: Der Salier hegte in seinem späteren Leben gegen den führenden Adel generelles Misstrauen, aber auf Anno von Köln war er besonders schlecht zu sprechen. Sobald er eigenständig regieren konnte, nahm er einige politische Entscheidungen Annos zurück. Zudem vermochte er es während seiner Königsherrschaft nicht, einen akzeptierten Beraterkreis um sich aufzubauen und seine Entscheidungen unter Beteiligung und im Konsens mit den ranghöchsten Fürsten im Reich zu treffen. Es ist davon auszugehen, dass seine gewaltsame Entführung und die Kompetenzstreitigkeiten seiner Berater während seiner Minderjährigkeit sein Zutrauen in ihre Integrität erschüttert und er sie auch in der Folgezeit trotz laut werdender Vorwürfe nicht in seine Entscheidungsprozesse eingebunden hat.

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