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Ein Lied für alle Lebenslagen

Es gibt einen Ort, an dem der Anfang und das Ende dieser Geschichte so nahe beieinander liegen wie nirgendwo sonst. Dieser Ort ist das Heiligengeistfeld in Hamburg.

Am Rande des Feldes, auf dem schon um 1900 Fußball gespielt wurde, steht das Stadion des FC St. Pauli. Hier holten Anfang der 1990er Jahre die Fans den Song „You’ll never walk alone“ nach Deutschland. Das ist das Ende der Geschichte. Für ihren Anfang steht, was dreimal im Jahr neben dem Stadion stattfindet: der Hamburger Dom. Es ist ein traditionsreicher Rummelplatz wie dieser, auf dem der ungarische Schriftsteller Ferenc Molnár vor über 100 Jahren regelmäßig spazieren geht. Im Budapester Stadtwäldchen schaut er den Schaustellern und den Dienstmädchen zu, die sich auf den Karussells vergnügen. 1909 schreibt Ferenc Molnár ein Theaterstück, das auf diesen Beobachtungen basiert: „Liliom“ handelt vom Leben und Sterben des Karussellausrufers Liliom, der sich in eines der Dienstmädchen verliebt.

Dieses Theaterstück bildet den Anfang der langen Geschichte von „You’ll never walk alone“. Weil „Liliom“ auch in den Vereinigten Staaten sehr erfolgreich ist, entsteht 1945 in New York das Musical „Carousel“, dessen Höhepunkt der Song „You’ll never walk alone“ bildet. Die Verfilmung des Musicals sieht Ende der 1950er Jahre der junge Liverpooler Musiker Gerry Marsden. 1963 macht er „You’ll never walk alone“ mit seiner Band Gerry and The Pacemakers zu einem englischen Nummer-eins-Hit, der schon bald darauf von den Fans des FC Liverpool gesungen wird. Von dort aus verbreitet sich der Song auf der britischen Insel und kommt irgendwann auch im Stadion am Rande des Hamburger Heiligengeistfeldes an.

Genau 50 Jahre ist es dieses Jahr her, dass die Musical-Ballade „You’ll never walk alone“ in Liverpool zu einer Fußball-Hymne wurde. Das ist Anlass genug, sich mit der Geschichte des Songs zu beschäftigen, der im europäischen Fußball ungebrochen populär ist. „You’ll never walk alone“ beschimpft nicht den Gegner und überhöht nicht die eigenen Erfolge. Die Tatsache, dass der Song von jedem Verein in jedem Land gesungen werden könnte und bei so unterschiedlichen Klubs wie Liverpool, Celtic Glasgow, FC St. Pauli, Borussia Dortmund, Eintracht Braunschweig, Austria Wien, FC Brügge und Feyenoord Rotterdam regelmäßig gesungen wird, macht ihn zu der Hymne des Fußballs. Daneben geht es in diesem Buch darum, ein wenig Ordnung in die ausufernde Vielfalt der Zusammenhänge zu bringen, in denen einem das Lied oder auch nur sein Titel inzwischen begegnet – im Fußball und anderswo.

Ein paar Beispiele? Frank Sinatra, von dem im Kapitel Hollywood noch die Rede sein wird, hat „You’ll never walk alone“ 1989 bei der Amtseinführung des republikanischen US-Präsidenten George Bush gesungen. Die Opernsängerin Renée Fleming tat 2009 Gleiches bei der Inauguration des Demokraten Barack Obama. Der Bordcomputer in „The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ hat „You’ll never walk alone“ gesampelt, in der Muppets-Show piepste eine Raupe den Song, während sie durch ein sturmumtostes Feld kroch. „You’ll never walk alone“ lief 2001 nach der Drei-Minuten-Meisterschaft von Schalke 04 und bei den Emmy Awards in Los Angeles in Erinnerung an die Toten der Anschläge vom 11. September.

I’ll never walk alone, You’ll never walk alone, We’ll never walk alone. No one walks alone.

Natürlich heißt die offizielle Geschichte des FC Liverpool „You’ll never walk alone“. Und die des FC St. Pauli. Das Buch „And you’ll never walk alone“ wirft den Blick zurück auf die großen Tage des FC Celtic Glasgow im Europapokal. Eine Ausgabe des japanischen Fußballmangas „Whistle“, eine Fußball-Kantate sowie eine Broschüre über die religiöse Bedeutung des Fußballsongs – sie alle tragen den Titel „You’ll never walk alone“.

Aber „You’ll never walk alone“ ist darüber hinaus zu einem Schlagwort geworden, das in jeden Kontext zu passen scheint – und damit, so scheint es, klammheimlich wieder zu seinen Wurzeln jenseits des Fußballs zurückgekehrt ist. „You’ll never walk alone“ heißen ein deutscher Aufsatz über „Das sozialdemokratische Projekt in der globalisierten Welt“, die Autobiografie eines englischen Pfarrers, ein Schweizer Kunstprojekt, ein niederländischer Bildband über die Kulturgeschichte des Schuhs und die Festschrift zum 35-jährigen Jubiläum der Marburger Buchhandlung Roter Stern. Nicht zu vergessen das Buch über das Hotel Bangkok Hilton sowie ein Roman des „Sportfreunde Stiller“-Schlagzeugers Florian Weber.

Der Songtitel ist sogar zum Werbeslogan geworden. In einem TV-Spot des amerikanischen Pampers-Herstellers Procter & Gamble sangen ein Dutzend Mütter den Song, während sie ihre Kinder versorgten. Und auch der britisch-niederländische Konkurrent Unilever warb in einer Anzeige für das Deodorant RexonaMen Sport mit „You’ll never walk alone“.

Wie konnten diese fünf Worte solche Bedeutung bekommen? Es liegt jedenfalls nicht daran, wie der Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Bohrer glaubt, dass der Song aus dem englischen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert stammt und schon die Soldaten Oliver Cromwells „You’ll never walk alone“ gesungen haben. Die tatsächlichen Gründe für das Doppelleben des Songs als amerikanischer Standard und als europäische Fußballhymne stehen in diesem Buch.

Als habe die Alte mit der Neuen Welt über den Atlantik hinweg Pingpong gespielt – so entsteht der Song „You’ll never walk alone“. Von Budapest nach New York, von New York nach Hollywood, wieder zurück nach Liverpool und schließlich nach Hamburg. Es ist eine Geschichte, in der sich die europäische und amerikanische Populärkultur des 20. Jahrhunderts – Hans Albers und Frank Sinatra, Fritz Lang und Orson Welles, Kurt Weill und Richard Rodgers, Giacomo Puccini und Oscar Hammerstein, Gerry and The Pacemakers und Elvis Presley, Ingrid Bergman und Shirley Jones – gegenseitig auf vielfältige Weise überblenden.

Daher ist dieses Buch kein klassisches Fußballbuch. Es geht auch um die Kaffeehaus-Tradition in Österreich-Ungarn, um die jüdische Emigration nach Amerika, die Geschichte des Broadway-Musicals, die Erfindung des Cinemascope-Verfahrens und die Liverpooler Beatmusik-Szene der frühen 1960er Jahre. Dafür entschädigen die letzten beiden Kapitel, in denen der FC Liverpool und der FC St. Pauli im Vordergrund stehen. Überhaupt spielt die Stadt Hamburg, auch das sei gesagt, von Zeit zu Zeit so etwas wie die heimliche Hauptrolle.

Darüber hinaus erzählt dieses Buch auch die vergessene jüdische Geschichte von „You’ll never walk alone“: Der ungarische Jude Ferenc Molnár schreibt das Theaterstück, der Wiener Jude Alfred Polgar verhilft ihm mit seiner Übersetzung zum Durchbruch, der amerikanische Jude Richard Rodgers und sein Partner Oscar Hammerstein, dessen Vorfahren deutsche Juden waren, machen aus dem Theaterstück das Musical. Und ohne den englischen Juden Brian Epstein wäre die „You’ll never walk alone“-Version, die vor genau 50 Jahren aufgenommen wurde und ins Stadion des FC Liverpool gelangte, überhaupt nicht auf den Markt gekommen.

So steckt in „You’ll never walk alone“ nicht nur der klassische jüdische Broadway und die ausgelöschte deutsch-jüdische Symbiose Österreich-Ungarns, wie sie Friedrich Torberg in seinen Büchern „Die Tante Jolesch“ und „Die Erben der Tante Jolesch“ so unnachahmlich beschrieben hat. Vielleicht kann man die Tatsache, dass dieser Song heute in deutschen Fußballstadien gesungen wird, auch als einen Kommentar zur Geschichte des Landes verstehen, das seine jüdischen Fußballer 1933 aus den Vereinen ausschloss und seinen jüdischen Nationalspieler Julius Hirsch 1943 nach Auschwitz deportierte.

Wenn in Hamburg Dom ist und der FC St. Pauli ein Heimspiel hat, dann geraten der Anfang und das Ende dieser Geschichte auf das Lebhafteste durcheinander. Dann laufen die Fans, die im Millerntor-Stadion vielleicht eben noch „You’ll never walk alone“ angestimmt haben, an Riesenrad, Schießbude und Geisterbahn vorbei. Nur wenige bleiben vor dem altmodischen Karussell stehen, auf dem die Pferdchen im Kreis fahren und allenfalls ein paar Kinder auf die nächste Runde warten. Und wenn der Lärm der neumodischen Fahrgeschäfte nebenan weniger laut wäre, während sie die kreischenden Menschen gen Himmel schleudern, und die Lichter weniger grell, vielleicht würde dann für einen Augenblick aufscheinen, wie der Karussellausrufer Liliom und das Dienstmädchen Julie sich hier gerade begegnen.

Die Hymne des Fußballs

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