Читать книгу Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung - Malte Wietfeld - Страница 67
ОглавлениеTeil 5 Der Deliktscharakter des § 370 Abs. 1 AO › C. Stellungnahme › I. Interpretation als reines Pflichtdelikt
I. Interpretation als reines Pflichtdelikt
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Im Ergebnis vermag zunächst die Auffassung, § 370 Abs. 1 AO könne als reines Pflichtdelikt interpretiert werden, nicht zu überzeugen. Der gesetzgeberische Wille, nur im Unterlassungsbereich auf Pflichtwidrigkeit abstellen zu wollen, wird durch den Wortlaut der Vorschrift eindeutig dokumentiert. Für die Annahme, auch § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO wolle die Verletzung einer außerstrafrechtlichen, dem allgemeinen Steuerrecht entspringende, Verhaltenspflicht sanktionieren, findet sich dagegen keinerlei Andeutung im Wortlaut der Vorschrift. Hinzu kommt Folgendes: Im Rahmen dieser These wird ausgeführt, dass es einer wertenden Korrektur der herkömmlichen Tatbestandsinterpretation bedürfe, um Schwierigkeiten in der Abgrenzung von Handeln und Unterlassen zu umgehen.[1] Hierbei wird aber offensichtlich nicht beachtet, dass eine derart wertende Korrektur zwingend auch zu Verschiebungen im Bereich potentieller Tathandlungen führen würde. Im Rahmen von Pflichtdelikten werden weniger hohe Anforderungen an die Qualität der Tathandlung gestellt als dies im Bereich der Herrschaftsdelikte der Fall ist.[2] Dies ist eine logische Folge aus dem Umstand, dass bei Pflichtdelikten weniger die konkrete Handlung als mehr die Verletzung einer spezifischen Pflicht im Fokus steht. Die Haftung des Verpflichteten ist daher derjenigen eines Garanten angenähert.[3] Bei einer Interpretation der Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO als Pflichtdelikt, besteht die Gefahr, dass eine Person in den Fokus der Ermittlungsbehörden rückt, der zwar keine konkrete Tathandlung im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, wohl aber eine Pflichtverletzung vorgeworfen werden kann. Da nur § 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO ausdrücklich eine Pflichtverletzung genügen lassen, muss an das Verhalten, welches den objektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO verwirklicht, im Gegensatz dazu ein erhöhter Maßstab angelegt werden. Die bloße Verletzung einer Pflicht darf gerade nicht ausreichen, um den Tatbestand zu erfüllen. Ohne eine entsprechende Änderung des Wortlautes von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO würde eine Anwendung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO bei bloßer Verletzung einer spezifischen Pflicht daher gegen den Grundsatz „nullum crimen sine lege“ aus Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen.
Auch die systematischen Überlegungen, die scheinbar für eine Interpretation des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO als Pflichtdelikt sprechen, greifen im Ergebnis nicht durch. Das Tätigen unvollständiger Angaben im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AO ist im Ergebnis nicht mit dem Unterlassen steuerlicher Angaben im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO vergleichbar.[4] Unvollständige Angaben im Sinne der Nr. 1 kann jedermann tätigen, der überhaupt steuerlich erhebliche Angaben macht. Auf eine spezielle steuerliche Erklärungspflicht kommt es hierbei nicht an. Demgemäß ist es zwar zutreffend, dass einer Person, die spezielle steuerliche Erklärungspflichten im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO treffen, beim Tätigen unvollständiger Angaben im Rahmen von Nr. 2 und Nr. 3 gleichzeitig der Vorwurf gemacht werden kann, keine vollständigen Angaben im Sinne der Nr. 1 getätigt zu haben. Auf diese Personen beschränkt sich diese Möglichkeit aber nicht. Derselbe Vorwurf kann daneben auch noch an Personen gerichtet werden, die keine Erklärungspflichten nach Nr. 2 und Nr. 3 treffen. Dies erweitert den persönlichen Anwendungsbereich des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO über die Fälle der Nr. 2 und Nr. 3 hinaus und macht deutlich, dass auch nicht persönlich verpflichtete Personen in der Lage sind, einen derartigen Tatverlauf zu beherrschen.[5] Würden solche Personen nicht von dem Anwendungsbereich des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO erfasst, hätte dies vermeidbare Strafbarkeitslücken zur Folge.[6] Wollte man § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO als Pflichtdelikt begreifen, könnte sich hiernach jedoch konsequenterweise nur ein persönlich Verpflichteter strafbar machen.
Insgesamt kann der Auffassung, § 370 Abs. 1 AO sei vollständig als Pflichtdelikt zu interpretieren, deshalb nicht gefolgt werden.