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Auf den Spuren der Erdgöttin

Das vorliegende Buch möchte jenen machtvollen Hymnus an die Mutter Erde, der im 12. Gesang des altindischen Atharva Veda steht, in einer zeitgemäßen Nachdichtung der Öffentlichkeit neu zugänglich machen. Der Atharva Veda, ein rund 4000 Jahre alter Text, gehört zu den geheiligten Schriften des Hinduismus, aber dass sich ein Hymnus an die Erdgöttin darin befindet, ist gewiss eine überraschende Entdeckung. Es gibt im Rig Veda wohl einige Hymnen an Indra, Agni, Surya und Varuna, aber galt die Erde denn im Alten Indien ebenfalls als Gottheit, die man mit Hymnen, Opfergaben und Dankgebeten feierte?

Die Erde als Gottheit – unter welchem Namen verehrte man sie wohl in Altindien? War sie nicht eine Namenlose, Unbekannte? Und welche Stellung nahm sie in der Hierarchie der Götter ein? Ist sie nicht, diese unbekannte Erdgöttin, durch machtvolle männliche Göttergestalten wie vor allem Brahma, Vishnu und Shiva längst verdrängt worden? Nur eine lange Forschungsarbeit, die bis in die ältesten Zeiten zurückgeht, wird in der Lage sein, die Spuren der unbekannten Erdgöttin in der menschlichen Kulturgeschichte wieder neu sichtbar zu machen.

Die ältesten Kunstwerke der Menschheit sind bekanntlich jene kleinen, aus Elfenbein geschnitzten Bildnisse der Magna Mater, die wie die berühmte Venus von Willendorf ein Alter von rund 20.000 Jahren aufweisen. Aber wen sollen diese altsteinzeitlichen Figurinen darstellen? Die Urmutter allen Lebens, die Fruchtbarkeitsgöttin, oder die Macht des Weiblichen überhaupt? Aber sind sie auch schon Erdgöttinnen im engeren Sinne? Viel eher könnte es sein, dass wir die Spuren der Erdgöttin in den ersten sesshaften Ackerbaukulturen vorfinden, also in der Jungsteinzeit Europas und Vorderasiens.


Die Polarität von »Mutter Erde« und »Vater Himmel« und ihre Heilige Hochzeit schien im Mittelpunkt der europäischen Jungsteinzeit zu stehen, und dieses Denkbild verwendet noch um 700 v. Chr. der griechische Mythendichter Hesiod, wenn er aus der geheiligten Ehe zwischen der Erdgöttin Gaia und dem Himmelsgott Uranos die Titanen, Kyklopen und Erinnyen wie auch die olympischen Götter hervorgehen lässt. Gab es in Griechenland einen Gaia-Kult? Alle Zeichen weisen darauf hin. Im Kult wurde Gaia besonders in Attika verehrt; in der bildenden Kunst findet man sie meist mit Füllhorn und Früchten dargestellt. Bekannt ist die Darstellung der Gaia auf dem Gigantenfries des Pergamonaltars.

Zuerst vor allen Göttern ehr ich im Gebet / die Erde als die früheste Seherin

– so beginnt Aischylos, der Begründer der griechischen Tragödie, sein Drama Die Eumeniden. Auch war das Kultheiligtum von Delphi ursprünglich der Erdgöttin Gaia geweiht – erst viel später wurde es dem Licht- und Sonnengott Apollon zugesprochen.

Es hat sich übrigens gezeigt, dass im vor- und frühgeschichtlichen Europa die Göttin Erde mit ganz ähnlichen Hymnen angerufen wurde wie in Altindien. So gibt es einen Orphischen Hymnus, der anhebt mit den Worten: »Göttliche Erde, Mutter der seligen Geister und der sterblichen Menschen, Allgeberin, Allernährerin«. Und in einem anderem, dem Homer zugeschriebenen Götterhymnus heißt es: »Erde, du aller Mutter, du festgegründete, singen will ich von dir, uralte Nährerin der Geschöpfe«. Die Erdgöttin trug in der Tat keine bestimmten Bezeichnungen, sondern einfach den Namen »Mutter Erde« – ein Ausdruck, der im Volksbrauchtum, in Flursegen und Fruchtbarkeitsriten immer wieder auftaucht.


Die alten Italiker kannten ursprünglich eine die Erde verkörpernde Göttin namens Tellus Mater, die in der Frühzeit große Bedeutung genoss, später aber völlig in den Hintergrund gedrängt wurde. Der Dichter Ovid kennt noch diese Göttin: »nährende Tellus« nennt er sie in seinen Metamorphosen, aber ihre Spuren verlieren sich im Dunkeln, da sie von römischen Haupt- und Staatsgöttern wie Jupiter, Juno, Mars und Apollo schon früh abgedrängt wurde. Überall dieselbe Geschichte der Verdrängung, der Entmachtung, Verbannung der Erdgöttin – in Indien wie im antiken Europa.

Die Beschäftigung mit den Kulten und Mythen um die göttliche Mutter Erde kann uns heute dazu verhelfen, uns mit der Erde als lebendigem geistbeseeltem Organismus neu zu verbinden. Der Klimawandel, die dramatische Erderwärmung, das Waldsterben, die Bedrohung unserer Biosphäre – das sind heute die grundlegenden Probleme, denen sich eine ins 21. Jahrhundert aufbrechende Menschheit konfrontiert sieht. Liegt die tiefere geistige Ursache dieser ganzen Misere vielleicht darin, dass der Mensch die Göttlichkeit der Erde vergessen, dass er die Erdgöttin gleichsam in die Verbannung geschickt hat – und die Erde nur noch als ein vom Menschen auszubeutendes Reservoir von Rohstoffen und Bodenschätzen ansieht? Die Göttlichkeit der Erde gilt es also wiederzuentdecken, und Bestrebungen dazu sind schon im Gange. Dazu zählt vor allem die weltweite Klimaschutz-Bewegung Fridays for Future, die als ein Symbol für das Wiedererwachen Gaias gelten mag. Und vielleicht kann auch das vorliegende Buch zu einem Umdenken in diese Richtung beitragen, da es mit seinem ergreifenden Hymnus an die Mutter Erde an eine Zeit erinnert, in der es allgemein üblich war, unserer Erde als einem lebendig-beseelten Organismus gegenüber zu treten, ja als einer Wesenheit, der man Respekt, Dankbarkeit und Verehrung schuldete.


Hymnus an die Mutter Erde

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